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Die blutige Gräfin 

von Günther Herbst 

scanned by : horseman 

kleser: Larentia 

Version 1.0 

Es war ein rauschendes Hochzeitsfest gewesen, von dem 
man noch lange sprechen würde. Mehr als zweihundert 
Gäste hatten sich auf Burg Falkenberg versammelt. Zehn 
Ochsen und Dutzende von Laiben edlen Weißbrots waren 
in hungrige Mägen gewandert, ungezählte Fuder Wein und 
Met durch durstige Kehlen geflossen. Zwei berühmte 
Troubadoure aus der  Provence hatten die Feiernden mit 
ihrem herrlichen Gesang erfreut. Es war eine wahre 
Freude gewesen, wie sich alle belustigt und amüsiert 
hatten. 

Auf Helmbrecht von Falkenberg jedoch, den Burgherren, 

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wartete noch ein Vergnügen, das alle anderen 
Lustbarkeiten weit in den Schatten stellte: die 
Hochzeitsnacht mit seiner ihm angetrauten Gemahlin. 
Ungeduldig harrte er des Augenblicks, in dem er den 
jungfräulichen Leib der traumschönen Birgitta endlich in 
seine Arme schließen konnte. Dazu jedoch würde es 
niemals kommen, denn noch in dieser Nacht sollte Graf 
Helmbrecht von Falkenberg den Tod finden... 

 

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Helmbrecht lag auf dem mit feinstem Linnen ausgeschlagenen Lager 
des gräflichen Schlafgemachs und wartete. Aber Birgitta kam noch 
nicht. Sie war hinausgetreten auf den Erker und blickte hinunter auf 
den Burghof, von dem das Gelächter der letzten noch feiernden 
Festgäste nach oben drang. 

»Geliebte«, rief Helmbrecht, »wo bleibst du denn? Komm endlich 

ins Bett!« 

Birgitta antwortete nicht, obgleich er sich ganz sicher war, daß sie 

ihn gehört hatte. Leichter Unmut wallte in ihm hoch. Was stand sie 
da draußen herum und ließ ihn mit seinem Sehnen nach ihrer Liebe 
allein? Wußte sie nicht, daß sie ihm Gehorsam zu erweisen hatte, 
wenn er diesen von ihr verlangte? 

Abermals rief er ihren Namen und wiederholte sein Begehr  - 

abermals vergeblich. 

Helmbrechts Unmut verwandelte sich in Ärger. Ein mächtiger 

Markgraf wie er war es wirklich nicht  gewohnt, daß man ihn mit 
Nichtachtung und Unbotmäßigkeit strafte. Böse Falten gruben sich 
auf seiner Stirn ein, als er sich vom Bett schwang und zur 
offenstehenden Erkertür hinüberging. 

Da stand Birgitta. Sie drehte sich nicht um, als sie ihn hinter sich 

hörte, sondern fuhr fort, auf den Hof hinunterzublicken. 

»Birgitta!« 
Jetzt erst wandte sie langsam den Kopf und sah ihn an. Der 

Feuerschein vom Hof tauchte ihr Gesicht und ihre Gestalt in rosiges 
Licht. Helmbrechts Ärger verflüchtigte sich sofort, als er sie in ihrer 
ganzen Schönheit so vor sich stehen sah. Das ebenmäßige, stolze 
Gesicht, umwallt von schulterlangem Blondhaar, das aussah wie 
gesponnenes Gold, der makellos gewachsene Körper, schlank und 
biegsam wie eine Tanne, der prächtige, hoch angesetzte Busen, das 
milchige Weiß ihrer Haut  - dies alles machte es ihm unmöglich, ihr 
ernstlich böse zu sein. Ihr Blick war dazu angetan, selbst einen Stein 
zum Schmelzen zu bringen. Und sein Herz war nicht aus Stein. 

»Birgitta«, sagte er wieder und trat mit ausgestreckten Armen auf 

sie zu. Er versuchte, sie in seine Arme zu ziehen, aber sie wich einen 

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Schritt zurück. 

»Nicht hier, Helmbrecht«, wehrte sie ihn ab. »Die Gäste können 

uns von unten sehen.« 

Das konnten sie in der Tat. Mehrere der Feiernden blickten schon 

nach oben. Ritter Armbold winkte mit einer gerösteten 
Schinkenkeule, zwei andere Getreue hoben ihre Trinkbecher. Aber 
das kümmerte Helmbrecht nicht im mindesten, und auch die 
Tatsache, daß er sich bereits des größten Teils seiner Kleidung 
entledigt hatte, machte ihm überhaupt nichts aus. Ein Hundsfott und 
Dummkopf, wer etwas dabei fand, daß er der Jungfernschaft seiner 
Angetrauten ein lustvolles Ende zu bereiten gedachte. 

»Was scheren uns die Gäste?« fragte er deshalb. »Ich bin der Graf 

von Falkenberg und tue und lasse, was mir beliebt!« 

Wieder griff er nach ihr. Zwar versuchte Birgitta erneut, ihm 

auszuweichen, aber es gelang ihr nicht, weil ihr die Erkerbrüstung im 
Wege war. Seine Hände schlossen sich um die schwellenden Brüste 
seiner Gemahlin. Er fühlte ihr köstliches Gewicht und spürte, wie das 
Feuer in seinen Lenden erwachte. 

»Komm, Geliebte«, sagte er heiser. »Gehen wir ...« 
»Laß mich los«, zischte Birgitta und machte dabei ein Gesicht, als 

sei er der letzte Stallknecht, an dessen Händen noch der Mist der 
Schweine klebte. 

Helmbrecht dachte nicht daran, sie freizugeben. Lange, zu lange 

schon, hatte er auf diese Nacht gewartet. Und der Teufel sollte ihn 
holen, wenn er noch länger auf das verzichtete, was ihm nun auch 
rechtens zugesprochen war. Fester noch als zuvor umspannte er 
Birgittas Brüste und zog die herrliche Frau dichter an seinen 
liebesbereiten Körper. 

»Loslassen«, sagte Birgitta zum zweiten Mal, und ihre Stimme 

klang dabei scharf und schneidend wie ein Schwert. 

Helmbrecht von Falkenberg wußte nicht genau, ob er wütend 

werden oder lachen sollte. Die Situation war peinlich und lächerlich 
zugleich. Wenn die Feiernden merkten, daß sich ihm seine Gemahlin 
verweigerte ... Das trug nicht dazu bei, sein Ansehen zu erhöhen, und 

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wenn er dreimal der Markgraf war. 

Grobheit schien ihm angebracht. Einmal, um den Männern dort 

unten zu zeigen, wie man mit einer widerspenstigen Frau umsprang. 
Zum zweiten aber auch, um diese Posse zu beenden. 

»Mir reicht es jetzt, Weib!« herrschte er seine Angetraute halblaut 

an. »Du kommst jetzt sofort mit mir ins Schlaf gemach und ...« 

»Nein!« 
Helmbrecht blickte in Birgittas Augen. 
Und er spürte, wie ihn ein Schauder durchlief. 
Kein heißer Schauder der Begierde und Lust, sondern ein eisiger 

Schauder plötzlicher Furcht. Ein Feuer loderte in Birgittas 
bernsteinfarbenen Augen, ein Feuer, das ihn zu verschlingen und zu 
verzehren drohte. 

Helmbrecht wollte den Blick abwenden. Aber er spürte, daß er 

dazu nicht in der Lage war. Birgittas Augen hielten  ihn fest, zogen 
ihn mit unheimlicher Macht in ihren Bann, machten ihn hilflos wie 
ein Reh, das die Wolfsmeute gestellt hatte. 

»Nimm deine Hände weg«, befahl Birgitta. 
Und Graf Helmbrecht von Falkenberg, der sonst niemandem 

gehorchte außer dem König  - und diesem auch nur, wenn es sich 
ganz und gar nicht vermeiden ließ  -, löste gehorsam die Hände von 
den Brüsten der Frau, die ihm auf einmal so fremd vorkam wie ein 
mörderisches Hunnenweib. Er nahm seine Hände nicht weg, weil er 
es wollte, sondern weil er es mußte, weil er einen Zwang spürte, dem 
er sich nicht widersetzen konnte, gegen den er nicht ankämpfen 
konnte. 

Er wollte etwas sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Seine 

Kehle war wie zugeschnürt, die Zunge wie gelähmt. 

Und noch immer waren Birgittas Augen auf ihn gerichtet, diese 

Augen, die das ewige Feuer der Hölle widerzuspiegeln schienen. Das 
teuflische Glühen verlor sich auch nicht, als die Gräfin jetzt lächelte 
und ihr Gesicht dabei engelhafte Züge annahm. 

»Liebst du mich, Helmbrecht?« fragte sie. 
Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr scharf, sondern sanft und weich 

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wie ein Mooskissen, das den müden Wanderer zum Schlummer 
einlud. Aber Helmbrecht ließ sich dadurch nicht täuschen. Die 
Augen waren die wahre Birgitta, eine Birgitta, die er bisher nicht 
gekannt hatte, eine Birgitta, die er ganz sicherlich nicht liebte. 

Er wollte ihr dies sagen, aber er mußte zu seinem Entsetzen 

feststellen, daß er es nicht konnte. Statt dessen kamen ihm Worte 
über die Lippen, die ein anderer an seiner Stelle zu sagen schien. 

»Ja, ich liebe dich«, hörte er sich sagen. »Ich liebe dich von 

ganzem Herzen.« 

Das Lächeln seiner Gemahlin verstärkte sich. Offenkundige 

Belustigung kräuselte ihre Lippen. 

»Es freut mich, daß du mir deine Liebe gestehst, mein Gemahl«, 

erwiderte sie mit einem kurzen Auflachen. »Und sicher würdest du 
auch alles tun, um diese Liebe unter Beweis zu stellen, nicht wahr?« 

»Ja«, sagte Helmbrecht wider Willen, »ich würde alles tun, was du 

verlangst.« 

»Wirklich alles?« 
»Alles«, bestätigte der Graf. »Alles, was in meiner Macht steht.« 
Birgittas Augen leuchteten wie ein offenes Herdfeuer. Dunkle, 

alptraumhafte Gestalten schienen in den lodernden Flammen 
umherzutanzen, Gestalten, die Helmbrecht einen Schauder des 
Entsetzens nach dem anderen den Rücken hinunterjagten. 

»Gut«, sagte sie, »sehr gut. Du sollst Gelegenheit haben, mir deine 

Liebe zu beweisen. Klettere auf die Erkerbrüstung, und springe 
hinunter auf den Hof!« 

Helmbrecht glaubte, nicht recht zu hören. »Ich soll...?« Die 

Stimme versagte ihm. 

»Ja, das sollst du«, nickte Birgitta. »Und zwar sofort!« 
»Aber das ... Das wäre mein sicherer Tod«, stammelte der Graf. 
Der Burghof lag mehr als zwanzig Klafter unter dem Erker und 

war mit hartem Schiefergestein gepflastert. Kein Mensch konnte 
einen Sprung aus dieser Höhe überleben. 

»Ich weiß, daß du dabei den Tod finden wirst«, sagte Birgitta 

beinahe gleichmütig. »Dennoch bestehe ich darauf. Spring!« 

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Nein, wollte Helmbrecht sagen, nein, nein, nein! 
Aber er sagte es nicht. Sein Mund war wieder wie verschlossen, 

die Zunge gehorchte ihm nicht. Und er war auch nicht mehr Herr 
seines Körpers. Dieser machte sich selbständig, strebte wie von 
Geisterhand geführt zur Erkerbrüstung hinüber. Schon schnellte sein 
rechtes Bein hoch und schwang sich über die steinerne Schutzmauer. 

Verzweifelt bemühte sich Helmbrecht, gegen das wahnsinnige, 

selbstmörderische Geschehen anzukämpfen. Aber er stand dabei auf 
verlorenem Posten. Eine unheimliche Kraft beherrschte und lenkte 
ihn, eine Kraft, die stärker war als er und der er nichts 
entgegenzusetzen hatte. 

»Weiter«, hörte er Birgitta sagen. »Jetzt das andere Bein!« 
Helmbrecht stützte sich mit beiden Händen ab und zog das linke 

Bein nach. Im nächsten Augenblick hockte er auf der Brüstung wie 
die Henne auf dem Ei. 

Unten auf dem Hof war man auf sein ungewöhnliches Tun 

aufmerksam geworden. Helmbrecht sah vor Verblüffung 
aufgerissene Münder, spürte fassungslose Blicke auf sich ruhen. 

»Herr Graf, was tut Ihr?« drang die Stimme Ritter Armbolds an 

sein Ohr. »Seid Ihr trunken?« 

Nein, wollte Helmbrecht antworten, nicht der Wein ist schuld. Sie 

ist es, die mich treibt! Birgitta, meine engelgleiche Gemahlin, die in 
Wirklichkeit eine Tochter des Teufels ist. 

Aber natürlich sagte er nichts von alledem, denn dazu war er nicht 

fähig. Die unheimliche Macht hielt ihn unerbittlich in ihren Klauen, 
gab ihm keine Möglichkeit, das zu sagen oder zu tun, wonach sein 
eigenes Wollen so brennend verlangte. 

»Und nun ... Spring!« befahl Birgitta. 
Ihre Stimme war so leise, daß sie unten auf dem Hof nicht gehört 

werden konnte. Und doch war sie so zwingend, so unwiderstehlich, 
daß ihr der Graf gehorchen mußte. 

Er sprang ... 

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Zwei Monde lang trauerte die Gräfin um den Verlust ihres 
heißgeliebten Gemahls. Dann war sie bereit, die Herrschaft über 
Falkenberg anzutreten. 

Und von diesem Tag an wurde alles anders im Lande ... 

Seit Stunden schon ritten Roland und Volker vom Hohentwiel mit 
ihren Gefährten am Strom entlang, ohne einen Überweg zum anderen 
Ufer gefunden zu haben. Fast hatten sie den Eindruck, daß die 
Grafschaft Falkenberg unerreichbar war, obwohl man sie klar und 
deutlich dort drüben sehen konnte. Es schien, als schirmten sich die 
Falkenberger ganz bewußt gegen alle Fremden ab. 

»Letzten Endes wird uns nichts anderes übrigbleiben, als den Fluß 

schwimmend zu durchqueren«, stellte Ritter Volker fest und lachte 
dabei vergnüglich. 

Seine Worte riefen ungeahnten Schrecken hervor. Der dickliche 

Knappe Pierre fiel vor Entsetzen fast vorn Pferd. 

»Schwim ... men?« wiederholte er mit mehlgrauem Gesicht. »Das 

kann nicht Euer Ernst sein!« 

»Warum nicht? Oder solltest du dich fürchten, dir den dicken 

Hintern naß zu machen, Pierre?« 

»Das ist es nicht«, erwiderte der Knappe. »Aber bedenkt doch die 

reißende  Flut des Stroms, die haushohen Wellen, die mörderischen 
Strudel, die eisige Kälte ...« 

»... die gewaltigen Flußdrachen und die teuflischen Wasserhexen«, 

fiel ihm Roland lachend ins Wort. »Du kannst aufhören zu jammern, 
Pierre. Eine halbe Meile flußaufwärts, drüben auf der anderen Seite, 
sehe ich etwas. Es könnte sich um eine Fährstation handeln.« 

Die anderen drei Männer blickten dorthin, wohin sein 

ausgestreckter Arm wies. 

Volker legte die Hand an die Stirn, um das Licht der 

schrägstehenden Sonne abzuwehren. »Du mußt vorzügliche Augen 
haben, wenn du dort etwas siehst, Freund Roland. Ich kann jedenfalls 

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nichts erkennen.« 

»Doch, doch, er hat recht«, sagte der Knappe Louis. »Auch ich 

kann die Station ausmachen.« 

Bevor Louis in die Dienste Rolands trat, war er ein Räuber 

gewesen, der den größten Teil seines Lebens in der Wildnis 
zugebracht hatte. Diese schwere Zeit hatte seine Augen geschärft. 
Genauso wie die seines Herrn, der ebenfalls größtenteils in der freien 
Natur aufgewachsen war. Volker und Pierre, die ihre früheren Jahre 
weniger entbehrungsreich verbracht hatten, konnten es in dieser 
Hinsicht nicht mit ihren Gefährten aufnehmen. 

Bald war für alle vier Männer ersichtlich, daß in der Tat ein 

Fährbetrieb aufrechterhalten wurde. Auf dieser Seite des Stroms 
befand sich eine Anlegestelle, die eigentliche Station am 
gegenüberliegenden Ufer. Und natürlich lag auch die Fähre drüben 
vor Anker. Gegenwärtig ließen sich weder hüben noch drüben andere 
Reisende blicken, die das Wassergefährt benutzen wollten. 

Roland und seine Freunde zügelten ihre Pferde vor der 

Anlegestelle und stiegen aus den Sätteln. 

Louis trat auf den Anlegesteg und ruderte mit den Armen. 
»Hol über!« ließ er seine Stimme erschallen. 
Seine Stimme war laut genug, um am anderen Ufer gehört zu 

werden. Es kam ein kurzer Bestätigungsruf, und wenig später legte 
die Fähre drüben ab. 

Es dauerte eine ganze Weile, bis das ochsenbetriebene 

Seilzugsystem die Fähre über den Fluß geführt hatte. Schließlich 
aber näherte sie sich doch dem Steg, auf dem die vier Gefährten mit 
ihren Pferden warteten. 

Mit einem gewissen Erstaunen nahm Roland zur Kenntnis, daß 

sich auf dem flachen, kiellosen Wassergefährt nicht nur die beiden 
Fährleute befanden. Auch vier Ritter fuhren auf der Fähre mit, harte, 
kampferprobte Recken, wie man auf den ersten Blick erkennen 
konnte. Der Raubvogel auf ihren Schilden wies sie als Getreue der 
Gräfin von Falkenberg aus. Es stand außer Zweifel, daß die vier 
Ritter keine Reisenden waren, die auf dieser Seite des Flusses 

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irgendwelche Dinge verrichten wollten. Sie hatten keine Pferde bei 
sich, beabsichtigten also, wieder mit der Fähre zurückzufahren. 

Auch Volker vom Hohentwiel war zu derselben Ansicht gelangt. 
»Die Falkenberger scheinen sehr höfliche Leute zu sein«, raunte er 

Roland zu. »Wo wird man sonst schon an der Landesgrenze von 
einer ritterlichen Abordnung empfangen?« 

Roland war sich nicht so sicher, daß es die reine Höflichkeit war, 

die die vier Ritter auf die Fähre geführt hatte. Erschreckende 
Gerüchte waren nach Camelot gedrungen, Gerüchte, in denen von 
Mord und Tod berichtet wurde, die in der Mark angeblich gang und 
gäbe sein sollten. Aus diesem Grund hatte König Artus den Ritter 
mit dem Löwenherzen nach Falkenberg geschickt. Er sollte nach 
dem Rechten sehen und die verabscheuungswürdigen Übelstände 
beseitigen, wenn es in seiner Macht stand. Und als Roland die 
Falkenberger Ritter jetzt so auf der Fähre sah, erwachte sofort das 
Mißtrauen in ihm. 

Kurz darauf machte die Fähre am Steg fest.  Schweigend blickten 

die beiden Fährleute und die Ritter der Gräfin den Gefährten 
entgegen. Keiner von ihnen lächelte, keiner sagte ein freundliches 
Begrüßungswort, wie es eigentlich Sitte war. 

Volker wollte sein Pferd auf die Fähre treiben. Aber dazu ließen es 

die Falkenberger nicht kommen. 

»Gemach, Ritter!« 
So schnell, daß das Auge kaum zu folgen vermochte, zogen sie 

ihre Schwerter aus den Scheiden und bauten sich wie eine 
menschliche Mauer am Rand der Fähre auf. 

Volker vom Hohentwiel verhielt seinen Schritt. Ein Zucken des 

Unmuts huschte über sein olivfarbenes, männliches Gesicht. Eine 
Augenbraue anhebend, fragte er mit einem Blick auf die vier 
gezückten Klingen: »Was hat dies zu bedeuten?« 

»Beantwortet uns eine Frage, Ritter«, sagte der Sprecher der 

Falkenberger, ein vierschrötiger Mann mit einer tiefen, schlecht 
verheilten Narbe auf der rechten Wange. »Warum wollt Ihr über den 
Strom setzen?« 

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»Wir gedenken, der Mark einen Besuch abzustatten.« 
»Zu welchem Behufe?« 
Volker stampfte mit dem Fuß auf. »Wir sind freie Ritter und 

brauchen niemandem über unser Tun Rechenschaft abzulegen, sofern 
dieses Tun nicht gegen die Gesetze des Landes verstößt!« 

»Gut gesagt«, meinte der Vierschrötige. »Wenn Ihr unsere Gesetze 

achtet, steht dem Übersetzen in der Tat nichts im Wege. Ihr sollt 
gleich Gelegenheit bekommen, eine Probe Eurer Gesetzestreue 
abzulegen.« 

Die vier Falkenberger traten einen Schritt zur Seite, öffneten 

Volker eine Gasse. 

»Kommt, Ritter!« 
Der Vierschrötige geleitete Volker auf die Fähre, während die drei 

anderen Roland und den beiden Knappen weiterhin den Zutritt 
verwehrten. 

»Einer nach dem anderen«, wurde Roland beschieden, als er gegen 

diese Zurücksetzung Einspruch erheben wollte. 

Volker wurde unterdessen vor ein eigenartiges Gebilde geführt, das 

die Falkenberger auf der Fähre aufgebaut hatten. Es handelte sich um 
einen kindergroßen Findlingsblock, in den altgermanische Runen 
eingraviert waren. Der rechteckige Gesteinsbrocken war mit 
grünenden Eichenzweigen und einem grotesk geformten 
Wurzelgeflecht geschmückt. 

»Dies ist ein Heiligtum der wahren Götter«, sagte der 

Vierschrötige. »Huldigt ihnen, wie es Gesetz ist in unserem Land!« 

»Was ... soll ich?« fragte Volker erstaunt. Mit 

zusammengekniffenen Augen blickte er auf den Findling hinunter. 

»Ihr hörtet, was ich sagte! Schwört dem falschen Gott ab, und 

erweist denen die Ehre, die des Geschickes Mächte seit Anbeginn in 
ihren starken Händen halten!« 

Am liebsten hätte Volker laut gelacht. Was ihm der Falkenberger 

da gesagt hatte, dünkte ihm als reine Torheit. Als Sänger und Dichter 
war er ein gebildeter Mann. Er kannte die alten Götter der Germanen 
- Wodan, Donar, Loki und wie sie alle hießen. Ihnen jetzt nach 

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Heidenart zu huldigen, das war Narretei. Aber bitte sehr, wenn die 
Falkenberger Vergnügen daran hatten ... 

»Ist es Euch recht, wenn ich Donar mit einer Hymne ehre?« fragte 

er den Vierschrötigen. 

Der nickte. 
Volker stellte sich in Positur, ließ dann seine strahlende Stimme 

erschallen: 

Ich weiß, daß ich hing am windigen Baume 
Neun Nächte lang, 
Mit dem Speer verwundet, 
Geweiht dem Wodan, 
Ich selbst mir fremd, 
An jenem Baum, da jedem fremd, 
Aus welcher Wurzel er wächst. 
Dieses Lied war eins der wenigen, zu denen er Text und Noten 

nicht selbst geschrieben hatte. Er hatte die Hymne vor einigen  Jahren 
von einem Sänger aus dem hohen Norden gelernt, und sie gehörte 
gewiß nicht zu jenen, die er am liebsten vortrug. Den Falkenbergern 
jedoch schien sie sehr gut gefallen zu haben. Ritter und Fährleute 
waren sichtlich beeindruckt. 

»Seid willkommen in Falkenberg«, sagte der Vierschrötige. »Wir 

werden Euch mit Vergnügen übersetzen.« 

Roland entnahm diesen Worten, daß auch er und die beiden 

Knappen nun die Fähre betreten durften. Aber dies war ein Irrtum. 

»Gemach, Ritter«, wandte sich der Sprecher der Falkenberger an 

ihn. »Nun müßt auch ihr den wahren Göttern huldigen.« 

Der Ritter mit dem Löwenherzen verzog unmutig den Mund. »Mir 

ist die Gabe des Gesangs nicht vergönnt.« 

»Dann ehrt die Götter auf andere Weise!« 
Der Teufel soll mich holen, wenn ich zu heidnischen Göttern bete, 

dachte Roland wütend. Schon wollte er seiner Entrüstung Luft 
machen, da fiel ihm ein Spottgedicht auf den Gott Donar ein, das ihm 
einst in einem Wirtshaus zu Ohren gekommen war. 

»Nun denn, so höret«, sagte er und ließ das Gedicht vom Stapel: 

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Donar ist mächtig 
Donar ist groß 
Drei Klafter sechzig 
Und arbeitslos 
»Hundsfott, Elender!« brüllte der Vierschrötige. »Du wagst es, die 

Götter zu beleidigen?« 

Er hob sein Schwert, und die drei anderen Falkenberger taten es 

ihm nach. 

Roland, der seine Waffe noch in der Scheide stecken hatte, machte 

ein paar blitzschnelle Schritte rückwärts, griff dabei nach dem Knauf 
seines Eisens. 

Es wurde jedoch nicht erforderlich, das Schwert einzusetzen. Die 

vier Ritter machten keine Anstalten, ihm auf den Leib zu rücken. Sie 
blieben auf der Fähre. 

Aber es geschah etwas anderes, was Roland kaum weniger 

unangenehm war. Der Vierschrötige gab den beiden Fährleuten 
Befehl abzulegen. Und ehe es sich der Ritter mit dem Löwenherzen 
richtig versah, lagen  bereits mehrere Klafter Wasser zwischen Fähre 
und Ufer. 

»He«, rief Roland, »ich könnt doch nicht...« 
»Wir können!« rief ihm der Vierschrötige mit einem breiten 

Grinsen zu. »Für Spötter wie Euch ist in Falkenberg kein Platz. 
Hebet Euch von hinnen!« 

Zusehends entfernte sich die Fähre, einen zornbebenden Roland 

und zwei verblüffte Knappen am Ufer zurücklassend. 

»Nimm es nicht so schwer, mein Freund«, rief Volker von der 

Fähre aus. »Du wirst einen anderen Überweg finden. Wir sehen uns 
bald wieder!« 

Roland war so wütend, daß er das Abschiedswinken seines 

Freundes nicht einmal erwiderte. 

So wisset denn, Brüder und Schwestern 

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Schreckliches widerfährt euch allen 

Mißachtet ihr des Donnerers Begehr 

Der Sonne güldener Glanz verblaßt 

Der Nacht dunkler Mantel bedeckt das Land 

Rot vor Blut sind die Sterne 

Unsichtbar durchpflügt der Hammer das Dunkel 

Zerschmettert sinken nieder die Entleibten 

Ihrer Bürde wird die Erde nicht Herr 

Drum hütet euch, Brüder und Schwestern 

Und seid dem Donnerer zu Willen 

(Weissagung des Sehers Snorri Thorgnyr) 

Nacheinander betraten die Männer, die für die Geschicke 

Steinmülheims Sorge trugen, die Versammlungsstube des Dorfes. Sie 
alle machten bedrückte, betretene Gesichter. Kein einziger von ihnen 
offenbarte Anzeichen von Frohsinn oder Heiterkeit, was auch 
wirklich nicht geziemend gewesen wäre. 

»Nehmt Platz«, empfing sie Karl Waldner. 
Schweigend ließen sich die Männer auf den Holzbänken der Stube 

nieder. 

»Du hast nach uns geschickt, Schultheiß!« brach der Müllner 

Rupold schließlich das Schweigen. »Was steht an?« 

Die Frage war überflüssig wie der Eimer Wasser während des 

Regens. Jeder im Raum wußte dies. Und doch hatten sie jetzt alle 
Mienen aufgesetzt, als würden sie etwas erfahren, das ihnen gänzlich 
unbekannt war. Es lag in der Natur des Menschen, sich ahnungslos 
zu stellen, wenn es um Dinge ging, die man am liebsten vergessen 
hätte. 

Karl Waldner konnte es den Männern nachfühlen. Auch er selbst 

hatte eine große Scheu vor dem Kommenden. Aber er wußte nur zu 
genau, daß es keine Möglichkeit gab, sich an der Sache 
vorbeizudrücken. Für ihn am allerwenigsten, denn er würde der erste 

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sein, den die Getreuen der blutigen Gräfin zur Rechenschaft zogen, 
sollte Steinmülheim es wagen, sich den Befehlen der Herrin zu 
widersetzen. Was sein mußte, mußte sein. 

Er räusperte sich und sagte: »Das Fest der Sonnenwende steht vor 

der Tür. Ihr wißt, was dies für uns bedeutet!« 

Ja, sie wußten es. Die stummen Blicke, die sie jetzt tauschten, spra-

chen eine unmißverständliche Sprache. Und ohne  daß es einer sagte, 
stand ein Wort nun deutlich im Raum. 

Das Opfer! 
»Ich habe eine Liste der Mädchen gemacht, die in Frage kommen«, 

sprach Karl Waldner weiter. 

Er holte ein Stück Pergament hervor, daß er mit mehreren Namen 

beschrieben hatte. Normalerweise trafen ihn bei solcher Gelegenheit 
Blicke der Bewunderung, denn er war der einzige im Dorf, der lesen 
und schreiben konnte. Deshalb war er auch als Schultheiß eingesetzt 
worden. Diesmal jedoch konnte von Bewunderung wahrlich keine 
Rede sein. Es war eher  Haß, der ihm aus den Augen der Männer 
entgegenleuchtete. Ein Haß allerdings, den er sicherlich nicht 
verdiente. Schließlich tat er nur seine Pflicht, handelte er nur im 
Auftrag der Herrin. Was konnte der Schmiedehammer dafür, wenn er 
das glühende Eisen zum Stöhnen bringen mußte? 

Unfroh blickte er auf das Pergament. Vier Namen nur standen 

darauf. Und zwei davon waren auch die Sippennamen von Männern, 
die sich unter den Anwesenden befanden. 

Wieder räusperte er sich. Mehrmals mußte er ansetzen, bevor er 

endlich die Sprache wiederfand. 

»Fangen wir an«, sagte er mit belegter Stimme. »Da wäre 

zunächst... Frotlina Kotbauer.« , Einige der Anwesenden nickten 
beifällig. Der Kotbauer war nicht beliebt im Dorf, weil er stets übel 
roch und roh und unflätig war. Und natürlich mußte auch seine Sippe 
diese Mißliebe teilen. 

»Eine gute Wahl«, sagte der Müllner Rupold sofort. »Eine wirklich 

sehr gute Wahl, Schultheiß!« Nach Zustimmung heischend blickte er 
sich im Kreis der anderen um. 

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Aber ihm wurde keine allgemeine Zustimmung zuteil. 
»Die Kotbauer Frotlina kommt nicht in Betracht«, sagte der 

Stellmacher Heiner. 

»Warum nicht?« stieß Rupold Müllner fragend hervor und 

bedachte den Stellmacher mit einem bösen Blick. 

Dieser zuckte die Achseln. »Ich sah des Kotbauern Tochter auf der 

Fähre bei den Drei Steinen. Sie hat die Mark Falkenberg verlassen.« 

»Wann?« bellte der Müllner. 
»Drei Tage mag es her sein.« 
Rupold Müllner hämmerte erbittert mit der Faust auf die Bank. 

»Geflüchtet ist das Luder  - gewiß auf Geheiß ihres Vaters! Dafür 
muß der Kotbauer zur Rechenschaft gezogen werden!« 

Karl Waldner machte eine abwehrende Handbewegung. »Was hilft 

es uns? In jedem Fall ist Frotlina nicht mehr da. Wir müssen sie von 
der Liste streichen.« 

»Wen haben wir noch?« wollte Friedrich Imthal wissen. 
Der Schultheiß blickte auf sein Pergament. 
»Hedwig Einhäuser«, las er vor, obgleich er recht wohl wußte, daß 

auch dieses Mädchen kaum in Frage kommen konnte. 

Der Stellmacher war es, der dies auch gleich bestätigte. »Hedwig 

Einhäuser hat den Aussatz«, stellte er fest. »Ist einer unter uns, der 
sie berühren möchte?« 

Heftiges Kopfschütteln der Anwesenden war die Antwort. Einige 

schüttelten sich, als würde sie es bereits bei dem bloßen Gedanken 
jucken und kratzen. 

»Du sprachst von vier Namen, Schultheiß«, sagte Friedrich Imthal. 

»Wer wäre der nächste?« 

Am liebsten hätte Karl Waldner den Kopf gar nicht mehr von 

seinem Pergament gehoben. Es fiel ihm ungeheuer schwer, den 
Namen zu nennen, den er jetzt nennen mußte. Aber ihm blieb keine 
andere Wahl. Er konnte nicht verhindern, daß seine Mundwinkel 
zuckten, als er den Feldner Christian anblickte. 

»Die nächste wäre deine Tochter Berthe, Christian!« 
Schweigen folgte diesen Worten. Alle Anwesenden blickten 

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stumm auf den Bauern Feldner. 

Der aber blieb ganz ruhig, zuckte keineswegs zusammen. Zur 

Überraschung aller lachte er sogar kurz auf. 

»Es dauert mich zutiefst, euch enttäuschen zu müssen, meine 

Freunde«, sagte er. »Aber die Berthe steht nicht zur Wahl.« 

»Warum nicht?« begehrte Friedrich Imthal auf. »Glaubst du, deine 

Tochter hätte einen Freibrief, nur weil du der Dorfversammlung 
angehörst, Christian?« 

»Dies ist gewiß nicht der Grund«, antwortete der Feldner. »Wohl 

weiß ich, daß die Gräfin nicht nach Stand und Würden fragt.  Aber es 
gibt einen anderen Grund, aus dem Berthe nicht in Frage kommt.« 

»Und der wäre?« 
»Meine Berthe ist keine Jungfrau mehr!« 
»Was?« 
»Sie ist im dritten Monat schwanger«, erklärte Christian Feldner 

wie beiläufig. 

Der Schultheiß runzelte die Stirn. »Das  ist die Wahrheit, Christian? 

Du versuchst nicht, uns einen Bären aufzubinden, um deine Tochter 
zu retten?« 

»Dies kann ich schwören«, erwiderte der Feldner und hob auch 

bereitwillig die Finger der rechten Hand. 

»Wer war es?« rief der Müllner mit hochrotem Kopf. »Wer hat sie 

geschwängert - du selbst etwa?« 

Christian Feldner sprang auf, ging mit geballten Fäusten auf den 

Müllner los. 

»Nimm das zurück, du Lump, sonst...« 
»Setz dich«, sagte Karl Waldner scharf. 
Immer noch vor Zorn bebend nahm der Feldner wieder auf der 

Bank Platz. Das Wort des Schultheiß hatte Gewicht in Steinmülheim. 

»Des Müllners Frage ist nicht unberechtigt«, fuhr er fort. »Wer hat 

Hand an deine jungfräuliche Tochter gelegt, Christian?« 

»Mein Knecht Ceslin war es«, gab der Feldner zur Antwort. »Und 

wenn ihr es ganz genau wissen wollt  - ich hatte nicht einmal etwas 
dagegen einzuwenden!« 

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»Pfui, Teufel!« rief Rupold Müllner und spuckte auf die rohen 

Bretter des Bodens. »Ein Kind von fünfzehn Jahren ... Und der 
eigene Vater läßt zu, daß ein Knecht seine Lust daran befriedigt!« 

»Besser mit fünfzehn geschwängert, als mit sechzehn den Opfertod 

gestorben«, sagte Christian Feldner trotzig. 

Wild blickte er sich in der Runde um. Niemand sagte mehr etwas. 

Auch Rupold Müllner nicht, der jetzt düster auf seine Schuhe 
hinunterblickte. 

Sein düsterer Blick war nur allzu berechtigt. Denn der vierte und 

letzte Name auf Karl Waldners Liste ... 

»Luitgart Müllner«, las der Schultheiß vor. 
Wiederum sagte niemand etwas. Es war eine Stille in die 

Versammlungsstube eingekehrt, wie sie nicht einmal auf dem 
nächtlichen Gottesacker herrschte. 

Rupold Müllner selbst war es, der die Stille brach. Ein tiefes, 

herzzerreißendes Schluchzen kam aus seiner Kehle, ein Schluchzen, 
das wenig später in ein haltloses Weinen überging. 

Niemand im Raum verübelte ihm seine Tränen. Das galt auch für 

Christian Feldner, der dem Müllner kurz zuvor beinahe an die Kehle 
gesprungen wäre. Alle Anwesenden hatten volles Verständnis für 
den jetzt gramgebeugten Mann. Seine Tochter war nicht schwanger, 
litt nicht an Aussatz und hatte sich auch nicht über den Strom 
geflüchtet. Sie würde es sein, die sich dem grausamen Willen der 
Gräfin von Falkenberg zu unterwerfen hatte. 

Luitgart Müllner war dem Opfertod geweiht... 

Mehrere Meilen noch waren Roland und seine beiden Knappen am 
Ufer des Stroms entlanggezogen. Eine Brücke oder eine andere 
Fähre hatten sie jedoch nicht gefunden. 

Langsam war  die Geduld des Ritters mit dem Löwenherzen 

erschöpft. Beinahe ruckartig brachte er seinen Schimmel zum 
Stehen. 

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»Wir kehren um«, sagte er entschieden. 
Fragend blickten ihn Pierre und Louis an. 
»Zurück nach Camelot?« erkundigte sich Pierre hoffnungsvoll. 
Der dickliche Knappe liebte das gemütliche, geruhsame Leben. 

Und dies ließ sich am Königshof eher führen als in den rauhen 
deutschen Landen. 

Roland bereitete ihm eine bittere Enttäuschung. 
»Zurück nach Camelot geht es erst, wenn ich meinen Auftrag 

ausgeführt habe«, machte er Pierre klar. »Mit Umkehren meinte ich, 
daß wir uns wieder zu der Fähre begeben werden, mit der Volker 
vom Hohentwiel über den Fluß gelangt ist.« 

»Aha«, machte Pierre unfroh. 
Louis runzelte die Stirn. »Wollt Ihr klein beigeben und den 

unchristlichen Forderungen der Falkenberger nachgeben, Ritter 
Roland?« wollte er wissen. 

»Keineswegs! Donar müßte mich schon mit seinem Hammer zu 

Boden schlagen, bevor ich mich vor seinem Götzenaltar verneige.« 

»Diese Worte vernehme ich gerne«, sagte Louis befriedigt. 

»Andererseits ... Die Falkenberger werden sich weigern, uns 
überzusetzen, fürchte ich.« 

»Das dürfte gewiß sein«, nickte Roland. »Aber ich beabsichtige 

auch nicht, die Fähre zu benutzen.« 

»Aber Ihr sagtet doch ...« 
»Ich sagte, wir kehren zur  Fähre zurück. Ich sagte nicht, daß wir 

sie auch benutzen werden.« 

»Das ist mir zu hoch«, warf Pierre kopfschüttelnd ein. 
»Dabei ist es ganz einfach«, erklärte Roland. »Wir werden den 

Fluß tatsächlich schwimmend überqueren.« 

»Nein!« rief Pierre entsetzt. 
»Doch! An der Stelle, wo die Fährstation liegt, ist der Fluß am 

schmalsten. Außerdem können wir uns am Fährseil festhalten.« 

»Die Falkenberger werden uns sehen«, gab Louis zu bedenken. 
»Nicht, wenn wir warten, bis es dunkel geworden ist. Nachts ruht 

der Fährbetrieb.« 

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Louis dachte kurz nach, machte dann eine zustimmende 

Kopfbewegung. »Ja, so könnte es gehen. Findest du nicht auch, 
Pierre?« 

Der dickliche Knappe hockte wie ein Häufchen Unglück im Sattel 

seines Pferdes. 

»Wir werden den Tod dabei finden«, murmelte er. »Unsere 

Leichname werden den Fluß entlangtreiben und ...« 

»Hör auf mit dem Gejammer«, fiel ihm Louis ins Wort. 

»Außerdem hast gerade du nichts zu befürchten, Pierre. Du kannst 
gar nicht im Fluß untergehen.« 

»Wieso nicht?« fragte der dickliche Knappe verblüfft. 
»Weil Fett bekanntlich oben schwimmt!« 
Pierre fand den derben Scherz gar nicht zum Lachen. Ihm war eher 

weinerlich zumute. Aber was sollte er machen  - die Gefährten im 
Stich lassen? Nein, das kam für ihn nicht in Frage. Bei aller 
Hasenfüßigkeit war er doch ein unbedingt treuer Diener seines 
Herrn. Tatsächlich würde er sich eher in Stücke hauen lassen, als sich 
von Roland zu trennen. Ihm blieb also gar nichts anderes übrig, als 
sich Roland und Louis wieder zuzugesellen, die ihre Pferde bereits 
gewendet hatten und zurückritten. 

Die Sonne schickte sich an, hinter den Bergen im Westen 

unterzugehen. Der Himmel hatte eine rosarote Färbung 
angenommen. Ein kühler Wind kam auf und kündigte den Abend an. 

Die drei Gefährten ließen sich jetzt Zeit.  So lange es noch hell war, 

durften sie sich nicht am Anlegesteg blicken lassen. Sie konnten es 
sich deshalb sogar leisten, eine einstündige Rast einzulegen. Diese 
Rast brauchten sie auch, denn die Überquerung des Flusses würde 
Kraft kosten. Und das galt für die Männer genauso wie für die 
Reittiere. 

Dann verschwand die Sonne ganz. Der Himmel wurde dunkler und 

dunkler, und bald konnte man nur noch wenige Klafter weit sehen. 
Roland und die beiden Knappen brachten das letzte Stück Weg hinter 
sich und erreichten die Anlegestelle. 

Tiefe Ruhe herrschte ringsum. Zu hören waren nur der 

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Wellenschlag des Flusses und das gelegentliche heisere Krächzen 
eines beutehungrigen Nachtvogels. 

Angestrengt blickten die drei Männer zum anderen Ufer hinüber. 

Schwacher, flackernder Lichtschein drang an ihre Augen. Die 
Fährleute hatten ganz offensichtlich ein Feuer angezündet. 

Pierre nahm dies mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis. 
»Wir müssen warten, bis sie das Feuer löschen«, meinte er. »Sonst 

sehen sie uns unweigerlich.« 

Roland schüttelte den Kopf. »Da können wir wahrscheinlich ewig 

warten. Ich könnte mir vorstellen, daß das Feuer die ganze Nacht 
brennt. Das ist bei Wachfeuern so üblich.« 

Pierre druckste. »Das bedeutet also, daß ..., daß wir sofort...« 
»Ja!« 
Roland selbst machte den Anfang. Es war nicht ratsam, vom 

Anlegesteg aus in den Fluß zu gehen. Hier würde das Wasser 
bestimmt schon so tief sein, daß die Pferde sofort den Boden unter 
den Füßen verloren. Roland wählte deshalb eine Stelle neben dem 
Steg, an der das Ufer gemächlich abfiel. Sein edler Hengst scheute 
nicht im mindesten, ließ sich willig in den Strom führen. 

Als ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, machte 

Roland noch einmal halt. Louis war schon unmittelbar hinter ihm, 
während Pierres Pferd noch am Ufer stand. 

»Nun, Pierre, hast du dich entschlossen hierzubleiben?« rief 

Roland dem dicklichen Knappen zu. 

»Nein, nein, ich komme ja schon«, antwortete Pierre hastig und 

lenkte auch sein Reittier ins Wasser. Er stöhnte tief auf, als seine 
Beine naß wurden. 

Nicht von ungefähr klapperte er mit den Zähnen. »Eisige Kälte 

schleicht mir ins Gebein«, verkündete er. »Wir werden als 
Eisklumpen drüben ankommen. Falls wir überhaupt ankommen!« 

Er übertrieb maßlos. Das Wasser  war kühl und alles andere als 

angenehm, ja. Aber von eisiger Kälte konnte ganz bestimmt keine 
Rede sein. In jedem Fall ließ es sich aushalten. 

»Damit wir uns unterwegs nicht verlieren, werden wir unsere 

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Pferde durch die Zügel miteinander verbinden«, gab der Ritter mit 
dem Löwenherzen Anweisung. 

Dies war schnell geschehen. Nun stand dem feuchten Abenteuer 

nichts mehr im Wege. 

Roland hatte inzwischen mit einer Hand das Fährseil gepackt, das 

den Fluß ein paar Handbreit über der Wasseroberfläche überspannte. 
Pierre und Louis taten es ihm nach. 

»Seid ihr bereit?« 
»Ja«, sagte Louis mit fester Stimme. 
Pierres Bestätigung fiel um einiges kläglicher aus. Einwände hatte 

jedoch auch er nicht mehr zu erheben. 

Roland bewegte seinen Schimmel mit einem Fersendruck 

vorwärts. Das brave Tier leistete keinen Widerstand, obwohl Wasser 
wahrlich nicht sein Element war. Nach wenigen Schritten war es 
dann so tief, daß Samun keinen Boden mehr unter den Hufen fand. 
Sofort begann er mit natürlichen Schwimmbewegungen, so, als sei 
das Überqueren eines Flusses für ihn eine alltägliche Angelegenheit. 
Roland mußte ihn bald sogar etwas bremsen, da sich die Zügelleine 
zu den beiden folgenden Pferden spannte  - ein Zeichen dafür, daß 
Pierre und Louis kaum mitkommen konnten. 

Alles ließ sich  recht gut an. Nach kurzer Zeit war das 

zurückbleibende Ufer in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Viel 
wollte das allerdings noch nicht besagen. In Ufernähe war die 
Strömung ziemlich schwach und stellte keine großen Anforderungen 
an die Kräfte der Pferde. Als es jedoch weiter hinausging, fingen die 
Schwierigkeiten bald an. 

Die Strömung wurde stärker und stärker, versuchte, Pferde und 

Reiter stromabwärts zu ziehen. Roland klammerte sich mit starker 
Faust am Fährseil fest und schloß beide Beine um den  Leib seines 
Reittiers, um ein Abtreiben zu verhindern. 

Es gelang ihm ... Knapp. 
Wie aber sah es mit den beiden Knappen aus? 
Auch Louis war es bisher gelungen, die immer größer werdenden 

Probleme zu meistern. Pierre jedoch war in einer unangenehmen 

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Lage. Mit aller Kraft, die in ihm steckte, hielt er das Fährseil 
umklammert. Aber seine etwas zu kurzen Beine waren nicht in der 
Lage, seinem Pferd ausreichende Unterstützung zu geben. Mehr und 
mehr geriet er in die Gefahr, aus den Steigbügeln zu rutschen. Dies 
konnte er eigentlich nur verhindern, wenn er das Fährseil losließ. 

Und genau das tat er dann schließlich auch. 
Die Folgen bekamen Roland und Louis schon im nächsten 

Augenblick zu spüren. Pierres Pferd wurde sofort von der Strömung 
erfaßt und trieb ab. Durch die Zügelverbindung mit den anderen 
beiden Reittieren traten dadurch zusätzliche Zugkräfte auf, die auf 
Rolands und Louis' Pferde einwirkten. Dazu kam jetzt auch noch ein 
starker Wellengang, der gegen Mensch und Tier klatschte und das 
ganze Unternehmen zu einer einzigen Tortur machte. 

»Ich ... kann das Seil nicht länger festhalten!« stieß Louis hervor 

und spuckte Wasser aus, das ihm in den Mund gedrungen war. 

Auch Roland spürte, wie seine Kraft nachließ. Er hatte das Gefühl, 

daß ihm der Arm langsam, aber sicher aus dem Schultergelenk 
gerissen wurde. Es hatte keinen Zweck, sich noch länger an das Seil 
zu klammern. Da war es schon besser, sich den Wellen und der 
Strömung zu überlassen und dagegen anzukämpfen. 

»Sei's drum«, rief er Louis zu. »Laß das Seil los!« 
Der Knappe kam der Aufforderung unverzüglich nach. Und auch 

Roland selbst nahm seine Hand von dem Fährseil. 

Sofort zog die Strömung sie in ihren Bann. Selbst Roland hatte 

einige Mühe, sich im Sattel zu halten. Für den Augenblick verlor er 
beinahe die Gewalt über seinen Schimmel. Innerhalb weniger 
Sekunden trieben die drei Gefährten weit ab, unkontrolliert, ziellos, 
Spielbälle des Zufalls. Ohne die Zügel, die sie miteinander 
verbanden, hätten sie sich jetzt bereits verloren. Und bei den 
herrschenden Lichtverhältnissen wäre es mehr als zweifelhaft 
gewesen, ob sie sich wiedergefunden hätten  - in dieser Nacht gewiß 
nicht mehr. 

Fast hatte Roland seinen Schimmel wieder voll unter Kontrolle, als 

er Pierres Schrei hörte. 

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»Hilfe, ich ...« 
Weiter kam der dickliche Knappe nicht. Roland, der sich 

unmittelbar neben ihm befand, sah, wie sich sein Pferd plötzlich wie 
wild im Kreis drehte. Offenbar war es in die Gewalt eines Strudels 
geraten. Pierre, darauf nicht vorbereitet, kippte aus dem Sattel, ging 
genau vor Rolands Augen in den Wellen unter. 

Blitzschnell packte der Ritter mit dem Löwenherzen zu. Gerade 

noch rechtzeitig. Er bekam Pierres Haarschopf zu fassen und krallte 
seine Hand hinein. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Kopf des 
Knappen wieder nach oben. 

Prustend und spuckend tauchte Pierre auf. 
»Ich habe gewußt, daß es unser Tod sein wird«, blubberte er 

keuchend. »Ich habe gewußt...« Eine Welle klatschte ihm ins Gesicht 
und verschloß seinen Mund. 

Das Pferd Pierres drehte sich noch immer wie verrückt im Kreise. 

Die Zügel, die mit Louis' Reittier verbunden waren, lösten sich. Im 
nächsten Augenblick war die Mähre des dicklichen Knappen in der 
Dunkelheit verschwunden. Derweil hatte Roland seine liebe Not, 
Pierre über Wasser zu halten. Der Knappe war kein sehr guter 
Schwimmer. Auf sich allein gestellt wäre er vermutlich jetzt bereits 
ein Opfer des Flusses geworden. 

»Halte dich an Samuns Sattel fest«, rief ihm der Ritter mit dem 

Löwenherzen zu. 

Pierres Hand tauchte aus dem Wasser, fuhrwerkte zuerst blind in 

der Luft herum, fand dann am Sattelhorn des Schimmels festen Halt. 
Roland konnte nun den Haarschopf loslassen. Die Gefahr, daß Pierre 
verlorenging, war fürs erste gebannt. 

Jetzt konnte sich der Ritter mit dem Löwenherzen wieder darum 

kümmern,  die beiden noch verbliebenen Pferde auf den richtigen 
Kurs zu bringen. Mit hartem Schenkeleinsatz übte er entsprechenden 
Druck auf seinen Schimmel aus. 

Und er hatte Erfolg damit. Samun, der zwischendurch die 

Orientierung ziemlich verloren hatte, schlug jetzt wieder die 
Richtung zum gegenüberliegenden Ufer ein und zog Louis' Pferd in 

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sein Kielwasser. Pierres Reittier mußte wohl als verloren betrachtet 
werden. Von ihm war nichts zu sehen und nichts zu hören. Der 
dickliche Knappe selbst jedoch, der sich krampfhaft an Samuns 
Sattel festhielt, verlor die Verbindung mit seinen Gefährten nicht. 

Schließlich war mehr als die Hälfte des Flusses überquert. 

Langsam verlor die Strömung an Kraft. Das Ufer auf Falkenberger 
Seite kam näher. 

Die beiden braven Tiere wurden zusehends müder, konnten ihre 

Beine kaum noch bewegen. Aber sie hielten wacker durch, obwohl 
Samun auch noch das zusätzliche Gewicht Pierres mitzuschleppen 
hatte. Und endlich war das Wasser wieder so flach, daß die 
zitternden Beine Boden unter den Hufen fanden. 

Die drei Männer und die beiden Tiere wankten an Land, 

durchgefroren, erschöpft und nur noch von dem Verlangen beseelt, 
sich irgendwo lang ausstrecken und erholen zu können. 

Aber dazu bekamen sie keine Gelegenheit, denn am Ufer warteten 

bereits die Falkenberger Ritter ... 

Volker vom Hohentwiel ließ sich keine grauen Haare wachsen, weil 
er Roland und die beiden Knappen auf der anderen Seite des Stroms 
zurückgelassen hatte. Sein ritterlicher Freund war ein Mann, der es 
verstand, mit allen Situationen fertig zu werden. Er würde schon 
einen Weg über den Fluß finden, daran hatte Volker nicht den 
geringsten Zweifel. Und er war sich auch ganz sicher, daß sie sich in 
absehbarer Zeit wiedersehen würden. Ihr gemeinsames Ziel war Burg 
Falkenberg gewesen. Es lag deshalb kein Grund vor, warum er sich 
nicht schon einmal auf den Weg zur Burg machen sollte. 

Von der Fährstation führte ein gut begehbarer Weg landeinwärts. 

Wagenräder und zahllose Pferdehufe hatten dem Boden ihren 
Stempel aufgedrückt und machten  das Vorwärtskommen zu einem 
Kinderspiel. 

Nach gut zwei Stunden eines nicht allzu scharfen Ritts verspürte 

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Volker Hunger und Durst. Er beschloß, dem nächsten Gasthaus einen 
Besuch abzustatten. 

Eine gute Meile weiter tauchte am Wegesrand ein Gebäude auf. Es 

war kein Gasthaus, sondern eine Schmiede, wo die Reisenden bei 
Bedarf die Hufeisen ihrer Zug- oder Reitpferde erneuern lassen 
konnten. Volkers Pferd brauchte keine neuen Hufeisen. Trotzdem 
machte er halt, denn üblicherweise gab es in solchen  Häusern auch 
etwas zu trinken und zu essen. 

Als Volker aus dem Sattel kletterte, trat ein Mann aus dem Haus. 

Nicht nur seine Größe und kräftige Statur ließen erkennen, daß er das 
Schmiedehandwerk ausübte. Die rußgeschwärzte Arbeitsschürze und 
die schwieligen, mit Brandnarben übersäten Hände waren sozusagen 
ein Wahrzeichen seiner Profession. 

Dienernd kam der Mann näher. »Der Herr Ritter wünschen? 

Beschläge für das edle Reittier?« 

Volker erklärte dem Schmied, daß ihm mehr an einer kräftigen 

Mahlzeit und einem guten Schluck gelegen war. 

»Gewiß«, sagte der Schmied. »Wenn der Herr Ritter belieben, sich 

mit einem Brei zufriedenzugeben ...« 

Natürlich wäre Volker ein saftiger Wildbraten oder ein gut 

geräucherter Schinken lieber gewesen. Aber das konnte er 
schlechterdings nicht erwarten. Fleisch stand nie oder höchst selten 
auf der Speisekarte der einfachen Leute. Man mußte mit dem 
vorliebnehmen, was zur Verfügung stand. Ein fahrender Ritter wie 
Volker war in dieser Beziehung nicht wählerisch. 

Der Schmied führte  ihn in eine kleine und einfach eingerichtete 

Gaststube. Ein Mädchen, dicklich und nicht sehr anziehend wirkend  - 
offenbar die Tochter des Schmieds  - brachte einen Krug Wein nebst 
Becher. 

»Bring noch einen Becher, mein Kind«, sagte Volker. Er wandte 

sich  an den Schmied: »Trinkt einen Schluck mit mir, guter Mann. 
Einverstanden?« 

»Wenn der Herr Ritter es wünschen ...« Der Hausherr machte 

einen artigen Diener und setzte sich zu seinem Gast an den Tisch. 

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Der Wein, den das Mädchen brachte, war nicht sonderlich gut. Er 

schmeckte viel zu süß, war ganz offenbar mit Zuckerknollensaft 
gepanscht worden. Wenn man zuviel davon trank, bekam man einen 
Kopf, der unter keinen Helm mehr paßte. 

»Erzählt mir etwas über die Mark Falkenberg, mein Freund«, sagte 

Volker. 

Der Schmied blinzelte. »Ich verstehe nicht, was ihr meint, Herr 

Ritter.« 

»Nicht? Nun ...« Volker trank einen Schluck Wein. »Man hört 

Gerüchte. Gewalt und Tod sollen das Land regieren. Und verrückter 
Aberglaube, wie mir scheint.« 

Der Schmied blickte vor sich auf die Tischplatte, gab keine 

Antwort. Er hatte die Lippen aufeinandergepreßt, so, als wollte er 
gewaltsam verhindern, daß ihm ein unbedachtes Wort entschlüpfte. 

»Nun redet schon, mein Freund«, drängte Volker. 
Der Schmied blickte hoch. Unverhohlene Furcht blinkte in seinen 

Augen. 

Volker senkte seine Stimme auf Flüsterniveau herab. »Ihr braucht 

keine Angst vor mir zu haben. Ich bin ein Fremder, kein 
Falkenberger. Zu niemandem werde ich von dem sprechen, was Ihr 
mir sagt.« 

»Das ... gelobt Ihr bei Eurer Ehre?« stieß der Schmied hervor und 

fuhr sich über die Stirn. 

»Ich gelobe es«, nickte Volker. 
Es gab eine kurze Unterbrechung, als die Tochter des Hauses an 

den Tisch trat und Volker das Essen brachte. Haferbrei mit Pflaumen 
- keine Speise für den verwöhnten Gaumen, aber der Hunger trieb es 
hinein. Volker aß und spülte mit Wein nach. 

Dann erzählte der Schmied. 
»Vor einem guten Jahr noch«, begann er, »war die Mark 

Falkenberg ein halbwegs glückliches Land. Graf Helmbrecht war ein 
gerechter Herrscher und  verlangte nicht mehr Dienstleistungen und 
Abgaben, als Land und Leute hergeben konnten. An dem Tag jedoch, 
an dem der Graf die Nordländerin Birgitta zur Frau nahm, begann 

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unser Unglück. In der Hochzeitsnacht entleibte sich der Graf selbst, 
indem er in einem Anflug von Trunkenheit aus dem Fenster sprang. 
Nun war die Nordländerin die neue Herrin Falkenbergs. Alles wurde 
anders. Feld- und Fuhrdienste beanspruchen nun mehr Zeit, als der 
Tag Stunden hat, die Abgaben in Geld und Naturalien sind selbst von 
den  Fleißigsten kaum zu erbringen. Dies ist die eine Seite. Aber es 
gibt noch eine andere, die viel schlimmer ist. Die neue Herrin von 
Falkenberg verlangt von uns, daß wir dem wahren christlichen 
Glauben entsagen und uns statt dessen verfluchtem Götzendienst 
hingeben!« 

»Ich verstehe schon«, warf Volker ein. »Ihr sollt die alten Götter 

unserer Vorfahren verehren - Wodan, Donar, Loki ...« 

»Ja, so ist es«, bestätigte der Schmied unglücklich. »Wir müssen 

den falschen Göttern sogar Opfer darbringen. Menschenopfer!« 

»Menschenopfer?« 
Volker konnte es kaum fassen. Verständnislos schüttelte er den 

Kopf. »Und was geschieht, wenn ihr euch weigert?« 

»Schreckliches geschieht! Die Ritter der blutigen Gräfin kommen 

und machen jeden nieder, der nicht gehorcht.« 

»Ungeheuerlich«, murmelte Volker. »Wie ist es nur möglich, daß 

sich Ritter von Ehre zu Handlangern solcher Verbrechen machen?« 

Der Schmied beugte sich über den Tisch und flüsterte: »Die Gräfin 

ist mit finsteren Mächten im Bunde. Alle Ritter sind ihr hörig und 
können gar nicht anders, als ihr unbedingten Gehorsam zu  leisten. 
Auch Euch würde es genauso ergehen!« 

»Mir?« 
»Ja, Herr Ritter, auch Euch! Niemand ist imstande, sich der 

unheiligen Macht der Nordländerin zu entziehen.« 

»Ihr irrt, mein Freund«, sagte Volker selbstsicher. 
Beinahe traurig sah der Schmied jetzt aus. »Das hat schon so 

mancher Ritter gesagt, der des Weges kam und bei mir einkehrte. 
Sobald die edlen Herren jedoch erst einmal auf Burg Falkenberg 
waren ...« Er seufzte tief. »Ihr wollt doch auch zur Burg, nicht 
wahr?« 

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»Wie kommt Ihr darauf, mein Freund?« 
»Jeder Ritter will zur Burg, um sein Glück bei der Gräfin zu 

versuchen.« 

Volker runzelte die Stirn. »Was meint Ihr damit?« 
»Ihr wißt nicht Bescheid?« 
»Über was weiß ich nicht Bescheid?« Langsam wurde Volker ein 

bißchen ärgerlich. 

»Daß die Gräfin sich wieder vermählen will und ihr jeder adlige 

Herr willkommen ist, der um sie freit?« 

»Nein, das wußte ich nicht«, erwiderte Volker nachdenklich. 

»Aber das bringt mich auf einen Gedanken. Vielleicht ist es auf 
diesem Wege möglich, die Herrin von Falkenberg von ihrem bösen 
Treiben abzubringen!« 

Bitter lachte der Schmied auf. »Mit Verlaub gefragt, Herr Ritter  - 

glaubt Ihr, Ihr seid der erste, der diesen Plan faßte? Das hat schon so 
mancher getan!« 

»Ich bin nicht >so mancher<«, sagte Volker. »Ich bin Volker vom 

Hohentwiel. Und dies ist ein himmelweiter Unterschied!« 

Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Was bin ich Euch 

schuldig?« 

»Nichts«, sagte der Schmied. »Wenn Ihr der blutigen Gräfin 

wirklich Herr werdet... Ich wünsche Euch alles Glück der Welt, Herr 
Ritter. Und uns einfachen Leuten auch!« 

Volker verabschiedete sich. 

Mit düsterer Miene saß Rupold Müllner am Tisch seiner Wohnstube 
und starrte leeren Blicks vor sich hin. Der Kopf war ihm schwer. 
Aber diese Schwere kam weniger von dem vielen Bier, das er 
getrunken hatte, um sich zu betäuben. Der Schmerz fraß in ihm wie 
ein wildes Tier und machte ihn krank. 

Müllners Frau betrat das Zimmer und blieb vor dem Tisch stehen. 

Sie hatte verweinte Augen und schien während des letzten Tages um 

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Jahre gealtert zu sein. 

»Der Hellenthaler Friedbert ist da«, sagte sie. »Er will mit dir 

sprechen, Mann.« 

Rupold Müllner blickte nicht einmal hoch. »Ich bin jetzt für 

niemanden zu sprechen.« 

»Es sei wichtig, sagt er.« 
»Nichts kann angesichts des bevorstehenden Opfertodes unserer 

Tochter wichtig sein«, sagte Müllner müde. »Der Hellenthaler soll 
sich zum Teufel scheren. Sag ihm das!« 

»Nicht nötig«, erklang eine Stimme von der Tür her. »Ich habe 

schon alles gehört.« 

Unaufgefordert betrat Friedbert Hellenthaler die Stube. 

Normalerweise sah Rupold Müllner seinen Nachbarn nicht ungern. 
Nach der harten Tagesarbeit hatten die beiden Männer schon so 
manchen Humpen Bier gemeinsam geleert. Jetzt aber hatte Müllner 
nur das Bedürfnis, mit sich und seinem Kummer allein zu sein. Er 
konnte die Gegenwart anderer Leute nicht ertragen. 

»Was fällt dir ein, hier so einfach hereinzuplatzen?« fuhr er den 

Nachbarn unwirsch an. »Verschwinde!« 

Friedbert Hellenthaler  ließ sich nicht beirren. »Du solltest mich 

nicht wegschicken, ohne mich anzuhören, Rupold. Ich habe dir etwas 
zu berichten, was dich nicht gleichgültig lassen wird.« 

»Außer dem Leben meiner Tochter ist mir alles gleichgültig«, 

antwortete Müllner. »Verstehst du das nicht?« 

»Oh, das verstehe ich sogar sehr gut. Und genau aus diesem 

Grunde bin ich gekommen.« 

»Was willst du damit sagen?« 
»Es gibt vielleicht eine Möglichkeit, das Leben deiner Tochter zu 

retten!« 

Sofort war es mit Rupold Müllners ablehnender Haltung vorbei. 

Voller innerer Spannung blickte er seinen Nachbarn an. Ein 
Hoffnungsfunke flackerte in ihm hoch. 

»Erzähle!« 
»Eine Gruppe von Spielleuten und Gauklern ist auf dem Wege 

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nach Steinmülheim«, sagte Hellenthaler. 

Rupold Müllner spürte, wie der Hoffnungsfunke in ihm erlosch, als 

sei ein Bottich Wasser darüber entleert worden. 

»Na und?« stieß er hervor. »Glaubst du, der Sinn steht mir nach 

Lustbarkeiten dieser Art? Du mußt wahnsinnig geworden sein, mich 
auf diese Weise trösten zu wollen!« 

»Ich rede nicht davon, daß die Gauklertruppe dir Vergnügen 

bringt, das in der Tat nicht ziemlich wäre.« 

»Sondern?« 
»Ich habe das fahrende Volk gesehen«, sagte Friedbert 

Hellenthaler. »Es handelt sich um etwa fünfzehn, sechzehn Leute. 
Und darunter befinden sich auch drei Mädchen, die ungefähr im 
Alter deiner Tochter Luitgart sind!« 

Müllner verstand noch nicht, auf was sein Nachbar hinauswollte. 
»Was kümmern mich anderer Leute Töchter?« erwiderte er. »Es 

geht um meine Tochter.« 

»Eben!« 
Müllners Frau schlug plötzlich die Hand vor den Mund. Sie hatte 

begriffen, was der Hellenthaler meinte. 

»Es ist schrecklich«, murmelte sie. 
»Aber wenn wir unsere eigene Tochter auf diesem Wege retten 

können ...« 

Jetzt hatte es auch Rupold Müllner selbst gedämmert. Ein Zucken 

ging über sein Gesicht. 

»Du willst sagen, daß eine der Gauklerdirnen an die Stelle meiner 

Tochter treten könnte, Friedbert?« 

»Genau das wollte ich sagen, ja«, bestätigte Hellenthaler. 

»Welcher Hahn kräht schon nach einer, die zum fahrenden Volk 
gehört?« 

Rupold Müllner stieß seinen Schemel so heftig zurück, daß er 

umstürzte. 

»Das muß sofort mit dem Schultheiß besprochen werden!« 
Friedbert Hellenthaler nickte. »Ich begleite dich, mein Freund«, 

sagte er. 

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»Ei, ei, wen haben wir denn da?« 

Breit grinsend stand der vierschrötige Ritter der Gräfin Falkenberg 

wenige Schritte vom Uferrand entfernt. Er und seine drei Gefährten 
hielten ihre Schwerter in der Hand. Im Licht der Fackeln, die zwei 
der Männer trugen, blinkten die Klingen kalt und tödlich. 

Pierre gab einen unterdrückten Überraschungsschrei von sich, dem 

man deutlich anhörte, daß die Furcht in ihm hochkroch. Auch Roland 
und Louis fühlten sich nicht all zu wohl in ihrer Haut. Aber sie ließen 
sich davon nicht das geringste anmerken. 

»Gebt den Weg frei«, verlangte Roland. »Wir haben Eure Fähre 

nicht benutzt. Was wollt Ihr also noch?« 

Die vier Männer wichen keine Elle zur Seite. Roland und seinen 

Gefährten blieb nichts anderes übrig, als stehenzubleiben, wenn sie 
nicht geradewegs in den blinkenden Stahl hineinlaufen wollten. 

Der Vierschrötige grinste noch breiter. 
»Es geht nicht um die Fähre«, erklärte er. »Es geht darum, daß Ihr 

unerlaubt unser Land betreten habt. Und wir sind nicht gewillt, dies 
hinzunehmen!« 

»Warum nicht?« fragte Roland. »Ist Falkenberg kein freies Land?« 
Er stellte die Frage nicht, weil er glaubte, daß ein Gespräch die 

Männer anderen Sinnes werden lassen könnte. Ihm ging es einzig 
und allein darum, Zeit zu gewinnen. Diese Zeit brauchten er und die 
beiden Knappen, um neue Kräfte zu sammeln, da die 
Flußüberquerung sie bis an den Rand der Erschöpfung gebracht 
hatte. 

»Falkenberg ist ein freies Land«, antwortete der Vierschrötige. 

»Aber nur für diejenigen, die die Gesetze achten. Diese Gewähr ist 
bei euch nicht gegeben. Oder habt Ihr Eure  Meinung unterdessen 
geändert?« 

»Welche Meinung? Ich habe keinerlei Ahnung, wovon Ihr sprecht, 

Ritter.« 

»Wollt Ihr uns foppen?« erwiderte der Vierschrötige, während das 

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Grinsen aus seinen grobschlächtigen Zügen wich und 
unübersehbarem Ärger Platz machte.  »Ihr wißt recht gut, was ich 
meine!« 

Roland schüttelte sich, um Flußwasser aus Haar und Kettenhemd 

zu vertreiben. Daß die Falkenberger von einer Anzahl Tropfen 
getroffen wurden, schien er gar nicht zu bemerken. 

»Tut mir leid«, sagte er, »aber mein Kopf hat offenbar unter der 

Kälte des Wassers gelitten. »Ich weiß wirklich nicht...« 

»Seid Ihr nun bereit, den alten Göttern die gebührende Ehre zu 

erweisen?« fuhr der Vierschrötige dazwischen. 

Bevor der Ritter mit dem Löwenherzen antworten konnte, tat es 

der Knappe Pierre. 

»Ja, ja, ja«, erklärte er übereifrig, »wir sind dazu bereit!« 
Im nächsten Augenblick warf er sich auf die Knie und berührte mit 

der Stirn den Erdboden. 

»Ich, Pierre, der Knappe, sprechend auch im Namen meines Herrn 

und meines Gefährten, versinke in Demut und Andacht. Oh, ihr 
Götter des Donners und der Fruchtbarkeit...« 

Das war zuviel für Louis. Hitzig, wie es seiner Natur entsprach, 

schwang er den rechten Fuß zurück und trat dem dicklichen Knappen 
dann mit aller Kraft in den Hintern. 

»Verdammter Feigling, hast du überhaupt keine Ehre in deinem 

feisten Leib? Was fällt dir ein, in meinem Namen zu irgendwelchen 
Götzen zu beten?« 

Die Wucht des Trittes hatte Pierre vollends zu Boden gebracht. 

Auf dem Rücken liegend bedachte er seine Gefährten mit einem 
kläglichen Blick. 

Ich wollte doch nur erreichen, daß wir unseres Weges gehen 

können«, erklärte er weinerlich. 

»Steh auf«, sagte Roland energisch. 
Mühsam rappelte sich Pierre hoch. Er machte keine Anstalten 

mehr, den falschen Göttern zu huldigen. 

»Das klärt die Dinge wohl«, sagte der vierschrötige Falkenberger 

grimmig. »Ihr seid also nicht bereit, unseren Landesgesetzen zu 

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gehorchen?« 

»Sofern diese Gesetze Götzendienst von uns verlangen, habt Ihr 

vollkommen recht«, bestätigte Roland. 

»Dann gibt es für Euch nur eins!« 
»Und das wäre?« 
»Ihr verlaßt Falkenberg auf demselben Weg, auf dem Ihr 

gekommen seid«, sagte der Vierschrötige mit satter Genugtuung in 
der Stimme. 

»Ihr meint...?« 
»Zurück ins Wasser, ja!« 
Pierre stöhnte tief auf. Aber die Maßregelung, die er soeben 

erfahren hatte, ließ ihn die Worte zurückhalten, die ihm mit 
Sicherheit auf der Zunge lagen. 

Louis tauschte einen schnellen Blick mit seinem Herrn. Roland 

nickte ihm kaum merklich zu. Die beiden Männer verstanden sich 
auch ohne Worte. Seit sie aus dem Wasser gekommen waren, hatten 
sie ein paar Minuten Zeit gehabt, sich zu erholen. Es lag also nicht 
mehr der geringste Grund vor, sich der Willkür der Falkenberger 
kampflos zu beugen. 

»Ich zähle jetzt bis drei«, sagte der Vierschrötige. »Wenn Ihr dann 

immer noch nicht den Rückzug angetreten habt...« 

»Jetzt!« stieß Roland hervor. 
Ruckartig riß er am Zaumzeug seines Schimmels. Und Samun tat 

genau das, was er tun sollte: Er ging auf der Hinterhand hoch und 
fuhrwerkte mit den Vorderhufen in der Luft herum. 

Die vier Ritter wichen instinktiv ein paar Schritte zurück, um nicht 

getroffen zu werden. 

Darauf hatte Roland gehofft. Er bekam die Bewegungsfreiheit, die 

er brauchte, um sein Schwert zu zücken. Auch Louis fand Zeit und 
Gelegenheit,  nach seinem Hirschfänger zu greifen, mit dem er ganz 
vorzüglich umzugehen verstand. 

Sogleich startete der Ritter mit dem Löwenherzen seinen Angriff. 

Er nahm sich dabei nicht den Vierschrötigen vor, sondern einen der 
beiden, die in ihrer linken Hand eine Fackel hielten. 

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Seine Attacke war von Erfolg gekrönt. Zwar gelang es dem 

Falkenberger, Rolands Schwerthieb zu parieren. Dem gleichzeitigen 
Fußtritt gegen seinen linken Arm jedoch konnte er nicht entgehen. 
Aufstöhnend ließ der Mann die Fackel fallen. 

Jetzt hatten sich die übrigen drei von ihrer Überraschung erholt. 

Samun, dessen Zügel Roland indessen losgelassen hatte, stellte keine 
Gefahr mehr für sie dar. Der Vierschrötige kam dem Mann zu Hilfe, 
den Roland angegriffen hatte. Die anderen beiden stürzten  sich auf 
den Knappen Louis. 

Rolands Absicht war es gewesen, die zu Boden gefallene Fackel zu 

löschen. Bei Dunkelheit würde sich die zahlenmäßige Überlegenheit 
der Falkenberger nicht so auswirken, hoffte er. Aber er mußte sich 
jetzt seiner Haut wehren, kam nicht dazu, das Feuer auszutreten, das 
auch auf dem Boden weiterbrannte und die Szenerie mit Licht 
erfüllte. 

Zu zweit drangen die Ritter der Gräfin auf ihn ein. Ein wuchtiger 

Schlag, den der Vierschrötige führte, verfehlte nur deshalb sein Ziel, 
weil Roland blitzschnell zur Seite sprang. Gleichzeitig zuckte sein 
Schwert nach vorne, um dem zweiten Mann eine Lektion zu erteilen. 

Der Aktion war ein voller Erfolg beschieden. Tief bohrte sich die 

Klinge unterhalb des schützenden Kettenhemds in den Oberschenkel 
des Falkenbergers. Der Ritter stöhnte zum Steinerweichen auf und 
brach in die Knie. Er würde in den Kampf nicht mehr eingreifen 
können. Aber da war immer noch der Vierschrötige, mit dem sich 
Roland auseinandersetzen mußte. 

Louis hatte unterdessen größte Mühe, sich der Attacken der beiden 

übrigen Falkenberger zu erwehren. Nur seiner Schnelligkeit und 
Geschicklichkeit konnte er es verdanken, daß er noch lebte. Mit der 
Geschmeidigkeit einer Katze wich er den wuchtigen Schwerthieben 
seiner Gegner aus. Aber er beschränkte sich nicht nur auf 
Rückzugsgefechte, er griff auch seinerseits an. Sein Hirschfänger 
zuckte nach vorne wie eine hochschnellende Feuerzunge und traf den 
einen Ritter an der Schwerthand. Der Falkenberger stieß eine böse 
Verwünschung aus. Er sah sich gezwungen, das Schwert in die 

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andere Hand zu nehmen, um weiterkämpfen zu können. Ganz klar, 
daß dadurch seine Kampfkraft stark gemindert wurde. Dennoch war 
er nach wie vor ein tödlicher Gegner für den Knappen. 

Auch Roland war sich dessen bewußt. Er setzte alles daran, schnell 

mit dem Vierschrötigen fertig zu werden, um Louis beispringen zu 
können. Der Anführer der Falkenberger Ritter erwies sich jedoch als 
hervorragender Kämpfer. Immer wieder gelang es ihm, Rolands 
Angriffe abzuwehren. Und er ließ sich auch durch Finten nicht ins 
Bockshorn jagen. Andererseits mußte der Ritter mit dem 
Löwenherzen selbst höllisch aufpassen, um nicht ernstlich ins 
Hintertreffen zu geraten. 

Louis ging es jetzt an den Kragen. Gleichzeitig stürmten seine 

beiden Gegner auf ihn ein, der eine von vorne, der andere von hinten. 
Es gab keine Möglichkeit mehr für den Knappen, sich durch einen 
schnellen Sprung in Sicherheit zu bringen. Schon hob der eine das 
Schwert, um den entscheidenden Hieb anzubringen. 

Da griff Pierre ein ... 
Der dickliche Knappe hatte sich bis jetzt zurückgehalten, hatte sich 

ganz still verhalten, um ja nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu 
ziehen. Nun aber, da sein Freund in höchster Gefahr war, überwand 
er seine Angst vor dem gewalttätigen Geschehen und stürzte sich 
ebenfalls ins wilde Kampfgetümmel. 

Niemand hatte bislang auf ihn geachtet, niemand hatte ihn ernst 

genommen. Das nutzte Pierre jetzt aus. Mit einer Behendigkeit, die 
man seinem dicklichen Körper kaum zutrauen konnte, warf er sich 
auf den Falkenberger, der Louis gerade den Garaus machen wollte. 
Der gräfliche Ritter verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. 
Pierre wälzte sich auf ihn und hielt ihn im feuchten Gras fest. Louis 
fand so wieder Zeit, sich gegen seinen zweiten Gegner zu wenden. 

Derweil gewann Roland langsam, aber sicher doch die Oberhand 

über den Vierschrötigen. Er war beweglicher als sein Gegner, 
schneller und auch listenreicher. Und vor allem war er jünger und 
hatte den längeren Atem. Der Falkenberger begann zu keuchen, seine 
Schritte wurden schwerfälliger, seine Abwehrbewegungen 

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mühevoller. Roland deckte ihn mit einer Serie von Schwertstreichen 
ein  - links, rechts, links, rechts. Dann schloß er den Angriff mit 
einem Stoß ab, der genau auf die Brust des Falkenbergers zielte. 

Der Vierschrötige war nicht mehr in der Lage, diesen Stoß zu 

parieren. Rolands Klinge kam voll durch und setzte dem Kampf ein 
Ende. 

Sofort wirbelte der Ritter mit dem Löwenherzen herum, um Louis 

und Pierre zu unterstützen. 

Es wurde höchste Zeit... 
Dem Ritter, den Pierre zu Fall gebracht hatte, war es gelungen, den 

auf ihm lastenden Körper des dicklichen Knappen abzuschütteln. In 
diesem Augenblick hob er seinen Schwertarm, um dem wehrlosen 
Pierre den Schädel zu spalten. 

Aber Roland gab ihm keine Gelegenheit, seine Absicht in die Tat 

umzusetzen. Ein Schwerthieb genügte, um dem Falkenberger ein für 
allemal das Ritterhandwerk zu legen. 

Nun war von den vier Gegnern nur noch ein einziger kampffähig. 

Nicht mehr lange jedoch. Wahrscheinlich wäre Louis allein mit ihm 
fertig geworden. Aber Roland wollte kein Risiko eingehen. Er griff, 
ohne zu zögern, in das Duell ein. 

Der Falkenberger erkannte, daß er der gefährlichere Gegner war, 

wandte sich augenblicklich von Louis ab und stellte sich Roland zum 
Kampf. 

Auf diese Gelegenheit hatte Louis nur gewartet. Bevor der 

Falkenberger den ersten Hieb gegen Roland führen konnte, war der 
Knappe schon bei ihm. Sein Hirschfänger zuckte nach vorne, und 
Roland konnte es sich sparen, von seinem Schwert Gebrauch zu 
machen. 

Der Kampf war beendet. 
Und der Weg nach Burg Falkenberg lag frei vor Roland und seinen 

beiden Gefährten. 

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Es waren mehr als fünfzig Männer, die Steinmülheim in dieser Nacht 
verließen. Sie alle hatten sich bewaffnet, so gut es ging  - mit 
Dreschflegeln, Mistgabeln, Sensen und Messern. Und. es waren auch 
ein paar dabei, die mit ungeübter Hand ein altes Schwert 
umklammerten. 

Die Männer waren ungewöhnlich schweigsam. Fast schien es so, 

als scheue sich jeder einzelne von ihnen, seinem Nebenmann ins 
Gesicht zu sehen. Aber dies änderte nichts an der eisernen 
Entschlossenheit aller, den gefaßten Plan in die Tat umzusetzen. Der 
Beschluß der Dorfversammlung war einstimmig gewesen. Zwar 
wußte jeder einzelne, daß es bitter unrecht war, was sie zu tun 
gedachten. Aber es hatte keinen einzigen gegeben, der auf den 
Gedanken gekommen wäre, sich dagegen auszusprechen. 

Karl Waldner war natürlich ebenfalls unter den Männern. Er trug 

kein Hieb- oder Stichinstrument bei sich. Nicht, weil es unter seiner 
Würde als Schultheiß gewesen wäre. Es war mehr sein schon etwas 
gesetztes Alter, das es ihm gebot, sich nicht auf Handgreiflichkeiten 
einzulassen. Dennoch oblag ihm so etwas wie eine Führungsrolle. 
Normalerweise hätte er dagegen nichts einzuwenden gehabt. In der 
gegenwärtigen Situation jedoch wäre er am liebsten im Dorf 
geblieben und hätte das verantwortliche Handeln anderen überlassen. 
Dem Müllner Rupold zum Beispiel, der den Anstoß zu diesem 
nächtlichen Unternehmen gegeben hatte. Aber was half es? Ein 
Schultheiß mußte auch Dinge tun, die er aus tiefstem Herzen 
verabscheute, die er haßte. Wenn diese Dinge im Interesse des 
Dorfes und seiner Menschen lagen, mußte man die Stimme des 
Gewissens überhören. 

Das fahrende Volk hatte seinen Lagerplatz ungefähr zwei Meilen 

von Steinmülheim entfernt aufgeschlagen. Aller Wahrscheinlichkeit 
nach beabsichtigten die Gaukler und Spielleute, morgen ins Dorf zu 
kommen und um die Spielerlaubnis nachzusuchen. Nun, wenn die 
Nacht vorüber war, würden sie wohl anderen Sinnes geworden sein. 

Den Weg zum Lagerplatz zu finden, bereitete selbst in der 

Dunkelheit keinerlei Schwierigkeiten. Die Steinmülheimer brauchten 

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nur immer dem Mühlbach zu folgen. Dort, wo sich dieser in das 
Flüßchen Foller ergoß, hatten sich die Fremden zur Nachtruhe 
niedergelassen. 

Karl Waldner war einer der Männer, die sich an der Spitze der 

schwerbewaffneten Gruppe befanden. Neben ihm gingen Christian 
Feldner und natürlich der Müllner Rupold. Feldner war es, der 
plötzlich seinen Schritt verhielt. 

»Dort, seht ihr es?« 
Er deutete mit dem ausgestreckten Arm nach vorne. 
Der Schultheiß hatte nicht mehr die besten Augen. Rupold Müllner 

hingegen nahm sofort wahr, was der Feldner meinte. 

»Feuerschein!« 
Ja, jetzt, wo er wußte, wonach er Ausschau halten mußte,  sah Karl 

Waldner es ebenfalls. Das schwache Leuchten dort vorne konnte nur 
von dem Lagerfeuer kommen, das die Spielleute entzündet hatten. 

Fragend blickten ihn die Männer an. Sie erwarteten, daß er das 

weitere Vorgehen bestimmte. 

Karl Waldner entzog sich seiner Pflicht nicht. 
»Wir teilen uns in mehrere Gruppen«, ordnete er an. »Rupold, du 

nimmst dir zwanzig Leute und überschreitest den Mühlbach. Ihr teilt 
euch auf und nähert euch dem Lager in einem großen Bogen. Wir 
anderen tun dasselbe auf dieser Seite des Baches. Auf diese Weise 
können wir die Spielleute einkreisen und verhindern, daß sie die 
Flucht ergreifen. Sind noch Fragen?« 

Rupold Müllner hatte keine Fragen. Er wählte seine Männer aus 

und durchwatete dann mit ihnen den Mühlbach. Das Wasser war nur 
hüfthoch und bereitete keinerlei Schwierigkeiten. In kürzester Zeit 
standen Müllners Leute drüben. 

»Wenn ihr den Schrei des Eichelhähers hört, stürmen wir auf das 

Lager los«, rief Karl Waldner halblaut hinüber. 

»Verstanden«, bestätigte der Müllner. 
Im nächsten Augenblick waren er und seine Männer in der 

Dunkelheit untergetaucht. 

Auch die Steinmülheimer auf dieser Seite des Mühlbachs setzten 

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sich wieder in Bewegung. So lautlos wie möglich näherten sie sich 
dem Lagerfeuer, dessen Schein immer deutlicher hervortrat. Als die 
Entfernung kaum mehr als fünfzig Ruten betrug, ließ der Schultheiß 
die Männer ausschwärmen. Im Schutz der überall stehenden 
Weidenbäume und Haselnußsträucher schoben sie sich immer  näher 
an das Lager heran. 

Es war offenbar, daß die Spielleute noch nicht bemerkt hatten, daß 

sie ungebetenen Besuch bekamen. Vom Lager drangen Fideltöne und 
Gesang herüber. Ohne Zweifel saßen die Fremden noch in fröhlicher 
Runde beisammen und ahnten nicht das geringste. 

Karl Waldner winkte den jungen Hirten Ingo Stallacher an seine 

Seite. »Du kannst den Schrei des Eichelhähers nachahmen, nicht 
wahr, Ingo?« 

»Ich kann alle Vogelstimmen nachmachen«, sagte der junge 

Bursche stolz. 

»Dann tu es!« 
Ingo Stallacher legte beide Hände vor den Mund. Und schon 

ertönte der Ruf des Eichelhähers so echt, daß sich selbst das 
Weibchen des Vogels hätte täuschen lassen. 

Der Ruf wurde von allen Steinmülheimern gehört. Wie ein Mann 

sprangen sie aus ihren Verstecken hervor und stürmten auf das Lager 
der Spielleute zu. In Sekundenschnelle waren die Fremden von 
sämtlichen Seiten umstellt. Keine Maus hätte entkommen können, so 
lückenlos hatten Karl Waldners Männer das Lager abgeriegelt. Alles 
war so rasch gegangen, daß nicht einmal die Schindmähren, die die 
Wagen der Gaukler zogen, etwas von der Annäherung der 
Einheimischen bemerkt hatten. 

Die Fremden waren vollkommen überrascht. Es mochten zehn, 

zwölf Menschen sein, die sich rings um das Lagerfeuer versammelt 
hatten  - Männer,  Frauen und Kinder. Ob das alle waren, ließ sich auf 
Anhieb nicht sagen. Möglicherweise befanden sich auf den drei 
Planwagen noch weitere Angehörige der Gauklersippe. 

Erschrocken sprangen die Überraschten hoch und blickten mit fas-

sungslosen Mienen um sich. 

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Karl Waldner, geschützt von zwei Steinmülheimern mit zum 

Schlag bereiten Sensen, ergriff das Wort. 

»Bleibt, wo ihr seid!« rief er den Spielleuten zu. »Wer Widerstand 

leistet oder zu fliehen versucht, wird es bereuen!« 

Es fiel ihm nicht leicht, solche Drohungen auszustoßen. Von Natur 

aus war er ein friedlicher Mensch, der am liebsten niemandem etwas 
zuleide getan hätte. Aber es half nichts. Die Situation, in die sie alle 
durch die blutige Gräfin gebracht worden waren, ließ kein anderes 
Handeln zu. 

Der Anblick der schwerbewaffneten Steinmülheimer brachte die 

Spielleute zum Zittern. Keiner von ihnen wagte, sich vom Fleck zu 
rühren. 

Ein weißhaariger Mann, dem ein hartes, entbehrungsreiches Leben 

die Schultern gebeugt hatte, nahm seinen ganzen Mut zusammen. Er 
machte einen Schritt auf den Schultheiß zu, den er als Anführer der 
nächtlichen Besucher erkannt hatte. 

»Was ... wollt Ihr von uns?« fragte er stockend. 
Karl Waldner antwortete nicht sofort. Er ließ seine Blicke über die 

Fremden streichen, hielt dabei Ausschau nach einem Mädchen, das 
den Anforderungen der verabscheuungswürdigen Opferzeremonie 
gerecht werden konnte. Er hatte große Mühe, seine Enttäuschung zu 
verbergen. Unter den Anwesenden befand sich niemand, der in Frage 
kam. Neben den Personen männlichen Geschlechts, deren Alter von 
zehn bis über siebzig reichen mochte, waren auch ein paar Frauen 
dabei. Abgesehen von zwei kleinen Mädchen um die zwölf hatten 
diese Frauen ein Alter erreicht, bei dem von Jungfernschaft längst 
keine Rede mehr sein konnte. 

»Wollt Ihr mir nicht antworten?« machte sich der alte Mann mit 

dem gebeugten Rücken abermals bemerkbar. 

Karl Waldner räusperte sich. »Ihr braucht keine Angst vor uns zu 

haben«, sagte er und spürte dabei, wie falsch und unaufrichtig seine 
Worte klangen. 

Und natürlich konnte er die Spielleute auch nicht überzeugen. 

Angesichts der drohenden Haltung seiner Leute war das auch kein 

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Wunder. Selbst der Einfältigste hätte wohl kaum an friedliche 
Absichten der Steinmülheimer geglaubt. 

»Wenn Ihr unsere Besitztümer wollt...«, sagte der Weißhaarige mit 

verkniffenem Mund. »Wir sind arm wie die Kirchenmäuse. Wir 
besitzen nur das, was wir am Leibe tragen, unsere Pferde, unsere 
Wagen ...« 

»Schon gut«, unterbrach ihn der Schultheiß. »Wir sehen selbst, daß 

ihr nicht mit Reichtümern gesegnet seid. Und ihr solltet auch nicht 
denken, daß wir ehrlose Straßenräuber sind, die es auf eure armselige 
Habe abgesehen haben. Wir sind ..., äh ..., gesetzestreue Untertanen 
unserer Landesherrin.« 

»Wir auch«, antwortete der alte Mann sofort. »In welchem Lande 

wir auch sind - wir halten uns an die dort herrschenden Gesetze!« 

»Um das festzustellen, sind wir hier«, sagte Karl Waldner. 
Wieder ließ er seine Blicke durch das Lager der Spielleute 

schweifen. Und dabei sah er im Schein des hell aufleuchtenden 
Feuers, daß sich die Plane eines Wagens bewegte. Ganz offen-
sichtlich saßen also nicht alle Angehörigen der Sippe am Feuer. 
Zumindest auf diesem einen Wagen befand sich noch jemand. 

Waldner beschloß, jetzt sofort zur Sache zu kommen. Langes Hin- 

und Hergerede führte zu nichts, machte die ganze Situation nur noch 
viel unerfreulicher. 

»Ist das eure ganze Truppe?« fragte er und machte eine 

Handbewegung, die alle Männer, Frauen und Kinder am Feuer 
umfaßte. 

Der alte Mann zögerte, warf seinen Leuten einen schnellen, 

fragenden Blick zu. 

»Ja«, sagte er dann, »das sind alle.« 
»Der Kerl lügt!« brüllte Rupold Müllner und fuchtelte mit einem 

Dreschflegel in der Luft herum. »Da im Wagen... Es beobachtet uns 
jemand durch ein Loch in der Plane!« 

Das deckte sich mit Karl Waldners eigenen Feststellungen. Keine 

Frage, der Alte sagte ganz bewußt die Unwahrheit. 

Und der alte Mann gab das nach abermaligem kurzem Zögern auch 

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gleich zu. »Entschuldigt, ich habe nicht so genau hingesehen. Ein 
paar von uns haben sich bereits zum Schlafen niedergelegt und ... « 

»Sie sollen rauskommen!« bellte der Müllner. »Sonst machen wir 

ihnen Beine!« 

Drohend trat er auf den Weißhaarigen zu, den Flegen zum Schlag 

erhoben. 

»Laß das, Rupold«, sagte der Schultheiß scharf. 
Der Müllner verhielt seinen Schritt, verlor aber nichts von seiner 

drohenden Haltung. 

Waldner wandte sich wieder an den Alten. »Alle, die sich noch in 

den Wagen befinden, sollen ans Feuer treten.« 

»Auch die Säuglinge?« erkundigte sich dieser mit zuckenden 

Mundwinkeln. 

»Nein, das ist nicht nötig.« 
Der Weißhaarige beriet sich kurz mit den Angehörigen seiner 

Sippe. Er tat dies in einer Sprache, die die Steinmülheimer nicht 
verstanden. Dennoch hatte niemand den Eindruck, daß die Spielleute 
einen Plan zur Gegenwehr ausheckten. Die Fremden hatten erkannt, 
daß sie hoffnungslos in der Minderzahl waren, daß es nur gut für sie 
sein konnte, wenn sie alles taten, was man von ihnen verlangte. 

Und so geschah es dann auch. Der alte Mann rief etwas in seiner 

Sprache, und schon wenige Augenblicke später kletterten weitere 
Sippenangehörige von den Wagen. Es waren fünf, sechs, sieben 
Personen. Und darunter ... 

Karl Waldner atmete etwas schneller, als er unter den sieben zwei 

junge Mädchen sah, die im richtigen Alter waren. Wenn sie nun auch 
noch ihre Jungfernschaft besaßen ... 

Den übrigen Steinmülheimern gingen dieselben Gedanken durch 

den Kopf. Sie flüsterten miteinander, so leise allerdings, daß die 
Gaukler noch nicht ahnen konnten, um was es ging. 

»Laß diese beiden vortreten«, forderte Karl Waldner den 

Weißhaarigen auf und deutete auf die beiden Mädchen. 

»Was ... wollt Ihr von ihnen?« 
»Laß sie vortreten!« 

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Der Alte rief die beiden. 
Sie kamen sogleich, scheu, zögernd, aber gehorsam. Mit 

angstvollen Gesichtern blieben sie neben dem Weißhaarigen stehen. 

Der Schultheiß sprach die erste der beiden an, ein derbes, junges 

Frauenzimmer, das der Herrgott mit wenig Anmut und Liebreiz 
gesegnet hatte. 

»Wie alt bist du, mein Kind?« fragte er und bemühte sich dabei um 

einen freundlichen Tonfall. 

»Vierzehn«, antwortete das Mädchen. 
Beinahe hätte Waldner laut geflucht. Erst vierzehn Jahre alt? 

Damit war das Mädchen noch ein Kind und kam nicht in Frage. Ein 
Grund, an der Lauterkeit ihrer Antwort zu zweifeln, lag nicht vor. 
Die Dirn konnte nicht wissen, daß sie das jugendliche Alter vor dem 
Verderben schützte. 

Waldner wandte sich an die andere, stellte auch ihr die Frage, wie 

alt sie sei. 

Auch das  zweite Mädchen antwortete bereitwillig. Und es war 

genau die Antwort, die die Steinmülheimer hören wollten. 

»Ich werde in einem Mond siebzehn.« 
Der Schultheiß triumphierte innerlich. Jetzt brauchte das Mädchen 

nur noch eine Voraussetzung mitzubringen, und dann ... 

Prüfend blickte er das junge Frauenzimmer an. Die Kleine war 

hübsch, sehr hübsch sogar. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge und 
einen Körper, der es mit dem jeder voll erblühten Frau aufnehmen 
konnte. Ihr lockiges Schwarzhaar glänzte im Feuerschein wie 
byzantinische Seide. Es würde eine wahre Schande sein, dieses 
bildschöne Menschenkind den grausamen Launen der blutigen 
Gräfin zu opfern, aber... 

Karl Waldner rang die in ihm aufkeimenden Gewissensbisse nieder 

und stellte die entscheidende Frage. 

»Bist du noch Jungfrau, mein Kind?« 
Furcht trat in die Augen des Mädchens. »Was ... habt ihr mit mir 

vor?« 

»Nicht, was du denkst«, erwiderte Karl Waldner. »Wir haben 

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keineswegs vor, über dich herzufallen wie die wilden Tiere und dir 
die Unschuld zu rauben.« 

»Warum fragt Ihr dann?« 
»Die Gesetze des Landes verlangen es!« 
Der Weißhaarige legte einen Arm um die Schulter seiner 

Sippentochter. 

»Von einem solchen Gesetz haben wir noch nie gehört«, stellte er 

fest. 

»Willst du mir unterstellen, daß ich lügnerische Worte im Munde 

führe?« entrüstete sich Waldner. 

»Nein, nein, natürlich nicht«, beeilte sich der alte Mann zu sagen. 
»Na also, dann beantworte meine Frage, Dirn!« 
Das Mädchen nickte. »Ja, ich bin noch Jungfrau. Auch wir Frauen 

des fahrenden Volkes wissen unsere Ehre hochzuhalten!« 

Karl Waldner überlegte, welchen Vorwand er nennen sollte, um 

das Mädchen zum freiwilligen Mitkommen nach Steinmülheim zu 
veranlassen. Aber er konnte sich seine Überlegungen sparen. 

»Das genügt«, stieß Rupold Müllner hervor. »Kommt, Freunde!« 
Mit ein paar schnellen Schritten war er bei dem alten Mann und 

der Jungfrau. Mehrere andere Steinmülheimer folgten ihm auf dem 
Fuß. Schon griff er nach dem Mädchen. 

Aber die junge Dirn war schnell auf den Beinen. Geschickt wich 

sie  dem Zugriff des Mannes aus und sprang zurück. Müllners Arm 
ging ins Leere. 

»Warte, du Metze«, rief er wütend und wollte dem Mädchen 

nachsetzen. 

Der Weißhaarige stellte sich ihm in den Weg. »Laßt sie in Ruhe! 

Sie hat euch nichts ...« 

Weiter kam er nicht. Die Sorge um seine eigene Tochter ließ den 

Müllner alle Bedenken vergessen. Er wollte die jungfräuliche 
Sippenangehörige, koste es, was es wolle. Mit einem kräftigen Hieb 
seines Dreschflegels fegte er den alten Mann aus dem Weg. Dann 
warf er sich mit einem mächtigen Sprung auf das junge 
Frauenzimmer. 

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Gellend schrie das Mädchen auf. 
Ihr Schrei war wie ein Signal für die anderen Spielleute. Auch sie 

erhoben jetzt voller Entsetzen ihre Stimmen und brüllten und 
kreischten laut los. 

Nicht alle jedoch ließen sich so vom Entsetzen übermannen, daß 

sie tatenlos zusahen, wie ihrer Sippenschwester Böses angetan 
wurde. Einige von ihnen eilten der von Rupold Müllner zu Boden 
gerissenen Jungfrau zu Hilfe. 

Dieses Tun wiederum ließ nun alle anderen Steinmülheimer 

eingreifen. Von allen Seiten stürmten sie auf das Lager los, Sensen, 
Knüppel und Schwerter in den erhobenen Fäusten. 

Innerhalb weniger Augenblicke war das Handgemenge 

entschieden. Die Steinmülheimer konnten in ihr Dorf zurückkehren. 

An der Spitze der Sieger schritt  der Müllner Rupold. Mit 

zufriedener Miene schleppte er die wimmernde Jungfrau mit sich 
fort. 

Ganz am Schluß der Truppe ging Karl Waldner. 
Er schämte sich. 

Volker vom Hohentwiel zügelte sein Pferd vor dem mehrere Klafter 
breiten Burggraben. Die Brücke war hochgezogen und gestattete es 
ihm zunächst nicht, auf den Burghof zu reiten. 

Ein recht beschwerlicher Weg lag hinter ihm. Burg Falkenberg war 

auf dem Gipfel eines Berges erbaut worden, der besonders im letzten 
Drittel steil anstieg. Sein Pferd hatte Mühe gehabt, den schmalen 
Pfad zu bewältigen, der sich der Bergspitze entgegenwand. Jetzt aber 
war er endlich am Ziel. 

Oben auf der Burgmauer standen zwei Torwächter, die zu ihm 

hinabblickten. 

»Wer seid Ihr?« rief ihn der eine der beiden Männer an. »Und  was 

wollt Ihr?« 

»Ich bin der Ritter Volker vom Hohentwiel. Und es ist mein 

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Begehr, Eurer Herrin meine Aufwartung zu machen.« 

»Volker vom Hohentwiel - der hochgerühmte Minnesänger?« 
»Nämlicher!« 
»Geduldet Euch einen Augenblick. Ich werde nachhören, ob Ihr 

willkommen seid.« 

Der Sprecher verließ die Burgmauer, und für Volker hieß es zu 

warten. Lange brauchte er sich jedoch nicht mit Geduld zu wappnen. 
Schon nach wenigen Minuten verriet ihm ein knarrendes Geräusch, 
daß seinem Einlaßbegehren stattgegeben werden sollte. Die 
Zugbrücke wurde hinuntergelassen. 

Kurz darauf überquerte Volker den Burggraben und ritt auf den 

Hof der gräflichen Burg. 

Zwei Ritter nahmen ihn in Empfang. Es waren nicht gerade 

freundliche Blicke, mit denen sie ihn bedachten.  Aber Volker konnte 
in ihren Augen auch keine echte Feindschaft lesen. 

»Seid willkommen, Volker vom Hohentwiel.« 
Volker erwiderte den Gruß und schwang sich vom Rücken seines 

Reittiers. 

Der eine Ritter winkte einen der Knechte herbei, die sich im 

Hintergrund aufhielten. 

»Versorge das Pferd unseres Gastes«, befahl er. 
Dienernd kam der Knecht der Aufforderung nach und entfernte 

sich mit Volkers Pferd. 

»Die Gräfin erwartet Euch, Volker vom Hohentwiel. Habt die 

Güte, uns zu folgen.« 

»Es ist mir ein Vergnügen und eine hohe Ehre«, erklärte Volker 

lächelnd und nickte den Falkenbergern zu. 

Die beiden Ritter geleiteten ihn zum Portal des Hauptgebäudes der 

Burg und betraten dann gemeinsam mit ihm die Eingangshalle. 
Mehrere andere Ritter und auch einige Burgfräulein standen dort 
umher und sahen herüber. Die Blicke der Männer waren genauso 
zwiespältig wie die der beiden, die ihn in Empfang genommen 
hatten. Die Frauen jedoch betrachteten ihn mit offenem, 
unverhohlenem Interesse, und ein paar von ihnen lächelten ihn auch 

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vielversprechend an. Volker fand dies nicht ungewöhnlich. Er war es 
gewohnt, von der holden Weiblichkeit umschwärmt und bewundert 
zu werden. Normalerweise hatte er nichts dagegen und ging gerne 
darauf ein. Diesmal jedoch nicht. Diesmal konzentrierte sich sein 
ganzes Sinnen und Trachten auf die Burgherrin selbst. 

Die beiden Ritter führten ihn durch die Halle und beschritten dann 

mit ihm einen Säulengang, an dessen Ende eine reichverzierte 
Eichentür lag. Rechts und links davon standen zwei Bewaffnete, die 
wie steinerne Statuen wirkten, so starr und unbeweglich nahmen sie 
ihre Wächteraufgabe wahr. Die Morgensterne in ihren Fäusten waren 
eine einzige nicht ausgesprochene Drohung. 

»Öffnet«, sagte einer der Begleiter Volkers. 
Jetzt kam Bewegung in die Wächter. Beinahe ruckartig rissen sie 

die massive Flügeltür auf. 

Einer von Volkers Begleitern trat in den Raum, der hinter der 

Eichentür lag. 

»Der Ritter Volker vom Hohentwiel«, meldete er. 
»Der Ritter möge eintreten«, antwortete eine weibliche Stimme, 

die wie Musik in Volkers Ohren klang. 

»Kommt«, wurde Volker aufgefordert. 
Das ließ sich Volker nicht zweimal sagen. Unverzüglich schritt er 

durch die geöffnete Tür, die hinter ihm sofort wieder geschlossen 
wurde. Er blieb stehen und ließ seine Blicke durch  den Raum 
schweifen. 

Zwei Menschen befanden sich in dem Raum, ein Mann und eine 

Frau. Volker hatte in seinem Leben schon viele Frauen gekannt und 
ließ sich nicht mehr so schnell durch weibliche Reize 
gefangennehmen. Diese Frau jedoch schlug ihn sofort in ihren Bann. 

Sie war schön, wunderschön im wahrsten Sinne des Wortes  - 

klassisch geschnittene Gesichtszüge, der Körper einer Gestalt 
gewordenen Liebesgöttin, schulterlange Haare, die ihr Gesicht und 
ihren Oberkörper wie ein Goldflor umrahmten. 

Das war sie  also  - Birgitta, die Herrin der Mark Falkenberg, der 

man soviel Böses nachsagte! 

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Sie saß in einem aufwendig mit Gold- und Silberfiligran 

versehenen Sessel. Nein, sie saß nicht, sie thronte vielmehr, ganz wie 
eine geborene Fürstin, obwohl sie dies, wie Volker mittlerweile 
erfahren hatte, keineswegs war. 

Der Mann, der neben ihrem Sessel stand, war ebenfalls eine 

imposante Erscheinung. Groß und mächtig wie ein Baum, mit Armen 
und Beinen, die an Säulen denken ließen. Sein kantiges Gesicht, von 
einem dichten roten Bart überwuchert, der unwillkürlich an eine 
Feuerlohe erinnerte, verriet Härte und Willensstärke. Volker scheute 
so leicht vor niemandem zurück. Diesem Mann jedoch hätte er nur 
höchst ungerne im Kampf gegenübergestanden. 

»Tretet näher, Volker vom Hohentwiel«, sagte die Gräfin und 

machte eine einladende Handbewegung. 

Volker kam der Aufforderung nach. 
»Seid gegrüßt, Gräfin«, sagte er mit einer ritterlichen Verbeugung. 
Ganz dicht stand er jetzt vor der herrlichen Frau. Er blickte ihr in 

die Augen. 

Und versank regelrecht darin ... 
Ihm war, als würde er in einen klaren Bergsee stürzen. Auf dem 

Grunde dieses Bergsees war etwas, das ihn lockte, das ihn mit 
unwiderstehlicher Kraft an sich zog. Volker fühlte sich gefangen, 
gefangen mit Haut und Haaren. Und obwohl er ein Mensch war, der 
seine Freiheit über alles liebte, hatte er gegen diese Gefangenschaft 
nicht das geringste einzuwenden. Ja, es schien ihm geradezu 
erstrebenswert zu sein, zum Sklaven der Gräfin zu werden. Er 
verspürte den brennenden Wunsch, alles zu tun, was sie von ihm 
verlangte, auch wenn er dabei gezwungen wurde, sich selbst 
aufzugeben. 

»... seid Ihr nach Burg Falkenberg gekommen?« drang die Stimme 

Birgittas wie aus weiter Ferne an sein Ohr. 

Die Worte rissen Volker in die Wirklichkeit zurück. Er hatte das 

Gefühl, aus einem Traum zu erwachen. 

»Ich ...« 
Er brauchte ein paar Augenblicke, um sich zu sammeln, um wieder 

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klar denken zu können. 

»Ich bin gekommen, um Eure Hand anzuhalten«, steuerte er dann 

geradewegs auf sein Ziel zu. 

Die Gräfin lächelte, während der .Mann an ihrer Seite eine finstere 

Miene aufsetzte und den Besucher mit bösen, unheilverkündenden 
Blicken maß. 

»Es freut mich sehr, daß mir ein so berühmter Mann wie Ihr die 

Ehre antut, um mich zu werben«, sagte Birgitta. 

»Aber Ihr solltet wissen, daß es nicht ausreicht, eine schöne 

Stimme zu besitzen, wenn Ihr der Mann an der Seite der Gräfin zu 
werden gedenkt«, warf der Rotbärtige mit grollender Stimme ein. 

Volker tat so, als würde er den Mann erst in diesem Augenblick 

bemerken. 

»Wer ist er?« erkundigte er sich bei der Gräfin, ohne den anderen 

dabei anzusehen. 

Dennoch war es der Rotbärtige selbst, der ihm eine Antwort auf 

seine Frage gab. 

»Mein Name ist Fridjof von der Heide«, ließ er Volker wissen. 

»Vielleicht habt Ihr schon einmal von mir gehört.« 

Und ob Volker schon einmal von ihm gehört hatte! Fridjof von der 

Heide war ein Ritter, von dessen Heldentaten man an so manchem 
Fürstenhof und in zahllosen Gasthäusern wahre Wunderdinge 
berichtete. Sein Mut, seine beispiellose Kampfkraft waren weithin 
hochgerühmt. Volker hatte sich schon lange gewünscht, diesem 
Mann einmal persönlich zu begegnen. Daß es nun unter solchen 
Umständen geschah, da er Fridjof von der Heide ohne jeden Zweifel 
als Nebenbuhler um die Gunst der Gräfin ansehen mußte, hatte er 
sich allerdings mitnichten erträumt. 

»Fridjof spricht Wahres«, sagte die Gräfin jetzt. »Derjenige, dem 

ich mein Herz und meine Hand schenke, muß mehr zu bieten haben 
als schönen Gesang und die Kunst des Reimens. Ich erwarte an 
meiner Seite einen Mann, der jederzeit in der Lage ist, allen meinen 
Feinden Trotz zu bieten, und seien sie auch noch so stark und 
mächtig!« 

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»Ein solcher Mann bin ich«, antwortete Volker im Brustton der 

Überzeugung. 

Fridjof von der Heide ließ ein polterndes Lachen erschallen. 
»Ihr sprecht große Worte gelassen aus, Sänger«, sagte er mit 

unverhohlenem Spott. »Wenn ich Euch so höre, so schließe ich 
beinahe daraus, daß Ihr auch bereit wärt, Euch im Zweikampf mit 
jederman zu messen. Oder sollte ich mich irren?« 

»Ihr irrt Euch nicht«, erwiderte Volker, ohne auch nur eine 

Sekunde zu zögern. 

»Auch mit mir würdet Ihr des Schwertes Klinge kreuzen?« fragte 

Fridjof mit lauerndem Unterton. 

Volker sah die Gräfin an, sah den Ritter an. 
»Gewiß«, sagte er dann, »auch Euch würde ich mitnichten aus dem 

Wege gehen!« 

Birgitta von Falkenberg lächelte. 
»So sei es«, sagte sie. »Euer Zweikampf soll stattfinden, noch 

bevor die nächste Nacht beginnt!« 

»Ja«, nickte Volker. 
Und Fridjof von der Heide lachte triumphierend. 

Pierre hatte ein neues Pferd bekommen, nachdem das seine im Fluß 
untergegangen war. Der Einfachheit halber hatte Roland eins der 
Reittiere genommen, die den Falkenberger Rittern gehörten. Nicht 
umsonst, verstand sich, denn er war schließlich kein Pferdedieb. Er 
hatte den Fährleuten, in deren Obhut sich die Pferde befanden, einen 
Silberdenar dafür gegeben. Dies erschien ihm ein angemessener 
Preis, zumal wenn er bedachte, daß die Falkenberger indirekt  die 
Schuld am Verlust von Pierres Pferd trugen. 

Die drei Gefährten waren in dieser Nacht nicht mehr allzu weit 

geritten. Nach ein paar Meilen hatten sie ein Gasthaus gefunden und 
waren dort eingekehrt, um bis zum neuen Tag zu schlafen. Nach 
einem kräftigen Frühstück befanden sie sich nun wieder auf dem 

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Weg. 

Es war ein prächtiger Morgen. Die Sonne tauchte das Land in 

goldenes Licht, die Vögel zwitscherten und jubilierten, Felder und 
Wiesen zeigten ihr üppiges Grün. Die Natur hatte die Mark 
Falkenberg reichlich aus ihrem Füllhorn bedacht, und man sollte 
meinen, daß die Bewohner ein zufriedenes Leben führten. Daß dem 
tatsächlich nicht so war, wußte Roland inzwischen. Und er sollte es 
alsbald noch einmal nachdrücklich bestätigt bekommen. 

Die Gefährten folgten dem Lauf eines kleinen Flüßchens, das sich 

auf verschlungenem Weg durch die liebliche Landschaft wand. 
Gegen Mittag, als ihre Mägen wieder zu knurren begannen, sahen sie 
vor sich ein paar Planwagen, die an einer Biegung des Flüßchens 
standen. 

»Fahrendes Volk, wie mir scheint«, sagte der Ritter mit dem 

Löwenherzen. 

Pierre zog die Mundwinkel nach unten. »Fahrendes Volk! Das sind 

alles Hungerleider, die nicht einmal einen Bissen Brot für uns übrig 
haben werden. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn wir eine 
ritterliche Jagdgesellschaft getroffen hätten!« 

»Mußt du immer ans Essen denken?« entrüstete sich Louis. »Du 

tust ja gerade so, als ob du am Verhungern bist!« 

»Ein gutes Essen hält Leib und Seele zusammen«, verteidigte sich 

der dickliche Knappe. »Oder?« 

Louis gab ihm keine Antwort mehr, sondern ließ nur ein 

verächtliches Grunzen hören. Er gab seinem Reittier die Hacken, um 
wieder zu Roland aufzuschließen, der schon ein Stück vorgeritten 
war. 

Die Planwagen kamen näher. Mehrere Leute zeigten sich  - 

Männer, Frauen und Kinder. Ja, es waren tatsächlich Gaukler und 
Spielleute, wie ihre bunte Kleidung zweifelsfrei erkennen ließ. Von 
der unbeschwerten Heiterkeit allerdings, die Angehörige des 
fahrenden Volkes oft auszeichnete, war allerdings nichts zu spüren. 
Im Gegenteil, die Spielleute blickten den Ankömmlingen geradezu 
feindselig entgegen. 

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Roland ließ sich dadurch jedoch nicht abschrecken. Unbeirrt ritt er 

auf die Menschengruppe zu. Und die beiden Knappen folgten seinem 
Pferd auf den Hufen. 

Jetzt aus nächster Entfernung sah er, daß irgend jemand den 

Spielleuten übel mitgespielt haben mußte. Fast alle, die älteren 
Kinder und die Frauen nicht ausgenommen, machten einen 
mitgenommenen und lädierten Eindruck. Beulen, blaue Flecken und 
Schlimmeres überall. Einige hatten sich Tücher um die verletzten 
Glieder geschlungen, durch die das Blut hindurchsickerte. Eine 
Horde von Barbaren schien über die Gaukler hergefallen zu sein. 

Roland zügelte sein Pferd und hob grüßend die rechte Hand. 
»Ihr braucht keine Furcht vor uns zu haben«, sagte er. »Wir 

kommen als Freunde.« 

Ein älterer Mann mit weißem Haar trat vor. Er hatte den rechten 

Arm in einer Schlinge und hinkte leicht. 

»Wer seid Ihr?« fragte er, während das Mißtrauen in seinen Augen 

glänzte. 

»Mein Name ist Roland. Und dies sind meine beiden Knappen 

Louis und Pierre.« 

»Ihr steht im Sold der Gräfin von Falkenberg?« 
»Ich stehe in niemandes Sold!« 
Die Stirn des alten Mannes legte sich in grüblerische Falten. 
»Roland, Roland«, murmelte er. »Seid Ihr der, den man den  Ritter 

mit dem Löwenherzen nennt?« 

Roland nickte stumm. 
»Derjenige, der den letzten Lindwurm tötete?« 
»Nämlicher«, bestätigte Roland. 
Jetzt lächelte der alte Mann. »Dann haben wir in der Tat nichts von 

Euch zu befürchten. Seid uns willkommen!« 

Der Bann war gebrochen. Feindseligkeit und Mißtrauen wichen 

aus den Gesichtern der Spielleute. Allgemeine Freundlichkeit schlug 
den drei Ankömmlingen jetzt entgegen. Sie wurden zum Essen 
eingeladen, und Pierre hatte dabei sogar die Freude, einen frisch 
erlegten Hasen verzehren zu können. 

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Roland erfuhr von dem alten Mann, was der Sippe Böses 

widerfahren war. 

Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Aber warum? Einfache 

Dorfbewohner, die sich wie eine Rotte gemeiner Straßenräuber 
aufführen? So etwas habe ich noch nie gehört.« 

»Und doch ist es wahr«, sagte der Alte. »Sie haben unsere Ilona 

mit sich fortgeschleppt. Was sie mit ihr vorhaben ... Ich wage gar 
nicht, es mir vorzustellen!« 

»Wie weit ist das Dorf entfernt?« erkundigte sich Roland. 
»Wenige Meilen nur.« 
»Und habt ihr nicht versucht, Ilona wieder zu befreien?« 
Hilflos hob der alte Mann die Arme. »Was könnten wir schon 

ausrichten? Wir sind wenige, die Steinmülheimer aber viele. Sie 
hätten uns abermals zusammengeschlagen. Sonst wäre nicht das 
geringste dabei herausgekommen.« 

Entschlossen schob Roland das Kinn nach vorne. 
»Wir werden sehen, ob sie es schaffen, auch mich 

zusammenzuschlagen«, sagte er. 

»Was ... meint Ihr?« »Ich werde Ilona befreien!« »Das wollt Ihr 

wirklich tun, edler Ritter?« 

»Ja«, bekräftigte Roland. »Ich habe es mir zum Lebensziel gesetzt, 

den Schwachen und Hilflosen beizustehen, wann immer es in meiner 
Macht steht. Wenn eure Ilona noch zu retten ist, dann werde ich sie 
retten. Seid unbesorgt.« 

Der alte Mann war außer sich vor Freude. Und seine  Sippenbrüder 

und - Schwestern konnten ihre Begeisterung ebenfalls kaum zügeln. 

Weniger erfreut war Pierre. Der dickliche Knappe wäre viel lieber 

am Lagerfeuer sitzengeblieben und hätte sich an einer weiteren 
Hasenkeule gütlich getan. Aber als Roland zum Aufbruch mahnte, 
war er doch gleich bereit, der Gemütlichkeit zu entsagen. 

Von den besten Wünschen des fahrenden Volks begleitet, machten 

sich Roland und seine Gefährten auf den Weg nach Steinmülheim. 

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Volker vom Hohentwiel wußte, daß ihm wahrscheinlich der 
schwerste Kampf seines Lebens bevorstand. Fridjof von der Heide 
war ein Gegner, mit dem es kaum jemand aufgenommen hätte, der 
ganz bei Tröste war. Dennoch hatte Volker nicht eine einzige 
Sekunde gezögert, die Herausforderung anzunehmen. Die schöne 
Birgitta hatte ihn so tief beeindruckt, daß er bereit war, sein Leben 
aufs Spiel zu setzen. Er wollte sie besitzen, wollte den Platz an ihrer 
Seite einnehmen. Und wenn er dieses Ziel nur erreichen konnte, 
indem er den rotbärtigen Ritter besiegte ... 

Alle Vorbereitungen zum Duell waren getroffen. Der Burghof war 

mit einer Lage Sand bedeckt worden, um zu vermeiden, daß sich 
einer der beiden Kämpfenden beim Sturz vom Pferd den Hals brach. 
Die Burgbewohner, Hochgeborene und Gesinde gleichermaßen, 
hatten ihre Plätze eingenommen, um Zeuge des kämpferischen 
Schauspiels zu werden. Auch die Gräfin war zugegen. Sie saß in 
ihrem Thronsessel und ließ sich von einer Zofe frische Luft 
zufächern. 

Volker vom Hohentwiel und Fridjof von der Heide hatten bereits 

ihre Kampfpositionen bezogen. Sie saßen auf ihren Pferden, hundert 
Ellen voneinander getrennt, die Lanzen in der Faust und tödliche 
Entschlossenheit im Herzen. Beide blickten zur Gräfin hinüber, die 
das Signal zum Kampfbeginn geben würde. 

»Seid Ihr bereit, edler Ritter?« fragte Birgitta. 
»Ja, Herrin«, bestätigte Fridjof von der Heide. »Meine Lanze 

wartet schon darauf, dem Sänger die goldene Kehle zu 
durchbohren!« 

Er begleitete seine derben Worte mit einem rauhen Lachen, in das 

mehrere der Falkenberger einfielen. Die Ritter hielten Volker für 
einen Mann, dessen Talente ausschließlich auf dem Gebiet der 
Sangeskunst und des Reimeschmiedens lagen. Daß er auch ein 
außerordentlicher Kämpfer war, wußten sie nicht. 

Volker machte dies nichts aus. Im  Gegenteil, er begrüßte es sogar, 

daß man ihn unterschätzte, was besonders für Fridjof galt. Ein Mann, 
der seinen Gegner zu leicht nahm, neigte zur Überheblichkeit und 

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war deshalb fehleranfällig. 

»Seid auch Ihr bereit, Volker vom Hohentwiel?« erklang abermals 

die Stimme der Gräfin. 

Sie bedachte ihn dabei mit einem Lächeln, das sein Herz 

schmelzen ließ wie den Tau in der Morgensonne. Volker fühlte 
regelrecht, wie sich sein Blut erhitzte. Er konnte es kaum noch 
erwarten, daß der Kampf begann. 

Er hob die linke Hand zum Zeichen seiner Bereitschaft. 
»So sei es denn«, sagte Birgitta. »Möge der Bessere von Euch den 

Sieg davontragen. Fangt... an!« 

Kaum waren die Worte der Gräfin verklungen, da hielt es die 

beiden Ritter nicht mehr. Sie gaben ihren Pferden die Hacken und 
jagten im Galopp aufeinander los. 

Rasend schnell verkürzte sich der Abstand zwischen ihnen. 

Achtzig Ellen, fünfzig, vierzig ... 

Volker hatte die Zügel losgelassen, lenkte sein Reittier nur mit der 

Kraft seiner Schenkel. Mit beiden Fäusten hielt er die Lanze 
umklammert, zum wuchtigen Stoß bereit. 

Zwanzig Ellen trennten ihn jetzt noch von seinem Gegner. Fridjof 

hatte das Visier seines Helms geschlossen, aber hinter den 
Sehschlitzen konnte Volker das mörderische Funkeln seiner Augen 
erkennen. 

Zehn Ellen noch, fünf, drei... 
Volker stieß mit der Lanze zu und wurde im selben Augenblick 

von der Waffe seines Gegners getroffen. 

Ihm war so, als würde ihm das Herz aus dem Leibe gepreßt. Seine 

Brust war auf einmal wie zugeschnürt. Er bekam kaum noch Luft, 
und alles drehte sich vor seinen Augen. Nur mit allergrößter Mühe 
gelang es ihm, sich im Sattel zu halten. 

Dann war Fridjof von der Heide an ihm vorbei. Nach wie vor saß 

der rotbärtige Ritter aufrecht und stolz auf dem Rücken seines 
Pferdes. Volkers Lanzenstoß hatte ihn nicht erschüttert, war offenbar 
harmlos von seiner Rüstung abgeglitten. 

Volker hatte nicht viel Zeit, sich zu erholen. Er mußte sein Pferd 

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wenden und sich seinem Gegner zum zweiten Mal stellen. 

Wieder jagten die beiden Ritter aufeinander los. Schon zuckte die 

Lanze des Rotbärtigen nach vorne, so schnell wie der Kopf einer 
zuschnappenden Kreuzotter. 

Diesmal jedoch wandte Volker eine andere Taktik an. Er stieß 

seinerseits nicht zu, wehrte statt dessen mit seiner Lanze lediglich die 
Attacke des Gegners ab. 

Und mit dieser Taktik fuhr er gut. Während er selbst nicht 

erschüttert wurde, riß der Schwung des fehlgegangenen Stoßes den 
Rotbärtigen beinahe aus dem Sattel. 

Die beiden Kämpfer waren wieder aneinander vorbei. 
Da jedoch tat Fridjof von der Heide etwas, worauf Volker in keiner 

Weise vorbereitet war. Gänzlich unerwartet drehte er sich im Sattel 
um und schlug seinem Gegner von hinten die Lanze über den 
Schädel. 

Volker hatte das Gefühl, als sei ein Felsblock auf ihn 

herabgestürzt. Ein dunkler Schleier legte sich vor seine Augen, 
machte ihn für den Moment beinahe blind. Er schwankte im Sattel 
hin und her wie jemand, der zuviel Met getrunken hat. Das Grölen 
der Zuschauer drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Der Zorn 
jedoch, der in ihm tobte, gab ihm die Kraft, sich auf dem Rücken 
seines Pferdes zu halten. 

Was der Rotbärtige getan hatte, war ein eindeutiger Verstoß gegen 

die Regeln des ritterlichen Reiterduells. Die Lanze durfte nur zum 
Parieren der gegnerischen Attacke oder zum eigenen Stoß verwandt 
werden, keineswegs aber war es erlaubt, sie als Schlaginstrument zu 
mißbrauchen. 

Hier auf Falkenberg schien man dies nicht zu wissen oder aber 

nicht wissen zu wollen. Kein Wort des Protestes erhob sich, niemand 
untersagte Fridjof sein heimtückisches Tun. 

Nun gut, mein Freund, dachte Volker vom Hohentwiel, wenn du 

mit falschen Würfeln spielst, dann wundere dich gefälligst nicht, 
wenn ich zu denselben Mitteln greife! 

Er tat so, als habe ihn der Schlag auf den Helm so mitgenommen, 

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daß er vor Schwäche aus dem Sattel rutschte und sich mit einer Hand 
auf dem Boden abstützen mußte. Daß er dabei seine Hand mit Sand 
füllte, konnte niemand ahnen. 

Das Gelächter der Zuschauer machte Volker nicht das geringste 

aus. Er wußte, daß stets derjenige am besten lacht, der zuletzt lacht. 

Im nächsten Augenblick saß er wieder aufrecht im Sattel und 

wendete sein Pferd. Er war bereit zum nächsten Zusammentreffen 
mit dem Rotbärtigen. 

Wieder sprengten die beiden Ritter aufeinander zu. Schnell 

verkürzte sich der Abstand zwischen ihnen. Als sie noch eine 
Pferdelänge voneinander entfernt waren, schleuderte Volker seinem 
Gegner die Handvoll Sand entgegen. 

Und er traf gut... 
Die feinen Sandkörner drangen mit Leichtigkeit durch die 

Helmschlitze und setzten sich in den Augen Fridjofs fest. Der 
Rotbart war geblendet. Volker hatte keine Mühe, Fridjofs 
unkontrolliertem Lanzenstoß durch eine blitzschnelle 
Körperverlagerung auszuweichen. Gleichzeitig nahm er selbst Maß, 
ganz ruhig und ohne Hast, peinlich darauf bedacht, seinen Gegner 
genau dort zu erwischen, wo es zählte. 

Als Fridjof fast schon an ihm vorbei war, stieß er pfeilschnell zu. 
Und er hatte richtig Maß genommen ... 
Die Lanzenspitze verhakte sich in der Rille, die Fridjofs Helm mit 

seinem Brustharnisch verband. Sie saß so fest, als sei sie 
angeschmiedet worden. 

Das, was geschehen mußte, geschah. Die Pferde galoppierten in 

entgegengesetzter Richtung davon. Volker brauchte den 
Lanzenschaft nur mit aller Kraft festzuhalten, alles andere ergab sich 
von selbst. 

Fridjof von der Heide, von den Sandkörnern noch geblendet, hatte 

keine Möglichkeit, sich dem Verhängnis entgegenzustemmen, denn 
natürlich konnte es selbst ein so bärenstarker Mann wie er nicht mit 
der gemeinsamen Kraft der Pferde aufnehmen. Er wurde aus dem 
Sattel gerissen und klatschte auf den Boden wie ein Sack Mehl. 

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Volker hätte nicht übel Lust gehabt, den heimtückischen Gegner 

noch ein Stück hinter sich herzuziehen. Aber seine ritterliche 
Gesinnung hieß ihn, diesen Gedanken nicht weiterzufolgen. Er ließ 
den Lanzenschaft los und ersparte dem Rotbärtigen damit die 
Schande, durch den Dreck des Burghofs geschleift zu werden. 

Sein Triumph war auch so vollkommen. 
Die Zuschauer, Edelleute und Gesinde gleichermaßen, jubelten 

ihm zu. Sie klatschten in die Hände, bedachten ihn mit Hochrufen, 
sahen ihn mit offener Bewunderung an. Er war der Sieger, der Mann, 
der den als unbezwingbar geltenden Fridjof von der Heide in den 
Staub gezwungen und gedemütigt hatte. 

Volker zügelte sein Pferd und schlug  die Klappe seines Helms 

hoch. Er blickte zu seinem Gegner hinüber. 

Der Sturz aus dem Sattel war dem Rotbärtigen nicht gut 

bekommen. Offenbar war er auf den Kopf gefallen oder hatte sich 
ein Bein verstaucht. Mühsam versuchte er, wieder auf die Füße zu 
gelangen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Immer wieder wurden 
seine Knie schwach. Er kippte zurück in den Sand. 

Die Zuschauer hatten keinen Blick für den Geschlagenen. Keiner 

trat vor, um ihm behilflich zu sein. Man beachtete ihn gar nicht, tat 
so, als würde er überhaupt nicht existieren. Alle hatten nur Augen für 
den stolzen Sieger. 

Birgitta von Falkenberg bildete keine Ausnahme. Vergessen war 

der Mann, der bisher an ihrer Seite gestanden hatte. Ihr strahlendes 
Lächeln galt nur noch Volker. 

Volker kletterte aus dem Sattel und schritt auf die Gräfin zu, um 

seinen Siegeslohn zu kassieren. 

Roland und seine beiden Gefährten brauchten nicht lange, um 
Steinmülheim zu erreichen. Eine knappe halbe Stunde nachdem  sie 
das Lager der Spielleute verlassen hatten, passierten sie die ersten 
Häuser und ritten in das Dorf ein. 

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Sogleich machte sich Überraschung in ihnen breit. In keiner Weise 

machte Steinmülheim auf sie den Eindruck, als würden hier 
Menschen hausen, die das Benehmen von Straßenräubern oder 
sonstigen Gewalttätern an den Tag legten. Das Dorf sah ganz alltäg-
lich aus, sauber, ordentlich und ... friedlich. Besonders überraschend 
aber war die Tatsache, daß sich Steinmülheim bar jeden Lebens 
erwies. Kein Mensch zeigte sich auf der Straße, niemand lugte hinter 
den Fenstern hervor. Nur ein räudiger Hund tauchte auf und rannte 
bellend und zähnefletschend neben den Pferden der Gefährten her. 

Langsam ritten Roland, Pierre und Louis die Dorfstraße entlang. 

Das ungewohnte Bild änderte sich nicht. Weder Mann noch Weib 
noch Kind ließen sich blicken. 

»Seltsam«, sagte Louis. »Es sieht fast so aus, als hätte die Pest die 

Bewohner hinweggerafft.« 

»Wohl kaum«, widersprach ihm Roland. »Noch in der 

vergangenen Nacht haben die Steinmülheimer das Lager der Gaukler 
überfallen. Und so schnell schlägt selbst der Schwarze Tod nicht zu. 
»Aber wo sind sie alle?« 

»Das werden wir herausfinden!« 
Daß sich alle Dorfbewohner auf den Äckern und Weiden befanden, 

zog Roland gar nicht in Betracht. Er hatte noch nie erlebt, daß ein 
ganzes Dorf gleichzeitig auf den Feldern arbeitete. 

Vor einem Haus, das durch ein handgemaltes Schild als Gasthof 

ausgewiesen wurde, machten die drei Männer halt. Roland stieg vom 
Rücken seines Pferdes. 

»Seid vorsichtig«, sagte Pierre mahnend. »Vielleicht haben sich 

die Mädchenentführer versteckt und fallen ganz überraschend über 
Euch her. Und über uns natürlich auch!« 

»Keine Bange«, erwiderte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Ich 

passe schon auf. Die rechte Hand am  Knauf seines Schwerts schritt 
er auf die Tür des Gasthauses zu. Sie war verschlossen. Rolands 
energisches Klopfen nutzte nichts. Niemand kam, um zu öffnen. 
»Hm«, machte Roland. 

Wenn sogar das dörfliche Gasthaus menschenleer war ... Seltsam, 

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sehr seltsam. 

Er wandte der Gasthaustür den Rücken zu und schritt auf das 

Nachbarhaus zu.  Auch hier klopfte er gegen Tür und Fenster  - 
vergeblich. Und auch als er die Prozedur bei einigen weiteren 
Häusern wiederholte, kam nichts dabei heraus. 

Dann aber erspähten Louis' scharfe Augen doch etwas. Er beugte 

sich im Sattel vor und deutete auf eine Kate, die auf der anderen 
Straßenseite stand. 

»Dort ist jemand!« 
»Bist du sicher?« fragte Roland. Für ihn selbst sah die Kate so leer 

und unbewohnt aus wie alle anderen Häuser auch. 

»Ganz sicher«, blieb der Knappe bei dem, was er gesagt hatte. »Ich 

habe ein Gesicht gesehen. Das Gesicht eines alten Mannes!« 

»Nun, das werden wir gleich haben.« 
Roland überquerte die Straße und trat auf die Katentür zu. Sie war 

nicht abgeschlossen. Der Ritter hatte keine Mühe, in das kleine Haus 
einzutreten. Er fand sich in einem düsteren Flur wieder, in dem es 
unangenehm nach Kohl roch. 

»Hallo, ist hier jemand?« rief er. 
Er bekam keine Antwort, auch nicht, als er seine Stimme zum 

zweiten Mal erschallen ließ. 

Jetzt reichte es Roland. Er war es müde, hier sinnlos seine Zeit zu 

vertun. Ohne anzuklopfen, stieß er eine der beiden Türen auf, die von 
dem Flur abgingen. Dabei ließ er die Vorsicht nicht außer acht. Nach 
wie vor lag seine rechte Hand am Knauf des Schwertes. 

Seine Vorsicht war gänzlich unbegründet. Niemand tauchte auf, 

um ihn hinterrücks zu überfallen. 

Er fand sich in einem winkligen Zimmer wieder, das genauso 

düster war wie der Flur. Der Kohlgeruch war allgegenwärtig. 
Gewaltsam mußte der Ritter einen Brechreiz unterdrücken. 

Es vergingen ein paar Augenblicke, bis er sich an die schummrigen 

Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. 

Dann sah er den Mann ... 
Ein alter, genau wie es Louis beschrieben hatte. Zahnlos, 

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glatzköpfig und ausgemergelt hockte er auf einem Stuhl und blickte 
Roland mit angstvollem Gesichtsausdruck entgegen. 

»Aha«, sagte der Ritter mit dem Löwenherzen und trat auf den 

Mann zu. »Warum meldest du dich nicht auf mein Rufen, Alter?« 

»Ich ... Ich ...« Der alte Mann zitterte,  kroch fast in die Lehne 

seines Stuhls hinein. Solche Angst hatte er. 

»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte Roland. »Ich 

habe nur ein paar Fragen an dich.« 

Stumm nickte der Steinmülheimer. 
»Was ist hier passiert?« wollte Roland wissen. »Wo sind die 

Dorfbewohner alle?« 

Noch immer schwieg der Alte. 
Roland wurde immer ungeduldiger. Stumm war der alte Mann 

nicht, dessen war er sich sicher. Warum, bei allen Elfen des Waldes, 
antwortete er also nicht?« 

»Fragen wir anders«, sagte er. »Weißt du etwas von einem 

Mädchen, das entführt wurde?« 

Die Lippen des Steinmülheimers bebten. »Ich ... weiß von nichts. 

Ganz bestimmt nicht.« 

Er log, da gab es für Roland gar keine Frage. Das schlechte 

Gewissen stand ihm im Gesicht geschrieben. Wenn er 
wahrscheinlich wegen seines Alters und seiner Gebrechlichkeit bei 
dem Überfall auf das Lager der Spielleute nicht dabeigewesen war, 
so wußte er ganz bestimmt doch darüber Bescheid. 

Es .widerstrebte Roland, rauh mit einem so alten Mann 

umzugehen. Aber wenn es gar nicht anders ging ... 

Drohend trat er noch näher an den alten Mann heran und zog sein 

Schwert halb aus der Scheide. 

»Paß auf, Alter«, sagte er. »Wenn du jetzt nicht den Mund 

aufmachst, geht es dir schlecht. Ist das klar?« 

Der Blick des alten Mannes saugte sich regelrecht an Rolands 

Waffe fest. Offenbar glaubte er, daß der Ritter wirklich sein Schwert 
zücken und ihn einen Kopf kürzer machen würde. 

»Ich ... Ich habe nichts damit zu tun«, stammelte er. »Niemand hat 

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mich gefragt. Der Schultheiß und der Müllner Rupold ...« 

»Wo ist das Mädchen?« 
»Ich ... Ich will alles sagen!« 
Und das tat der Alte dann auch. 
Wenig später wußte Roland, welches schreckliche Schicksal die 

Steinmülheimer der schönen Ilona zugedacht hatten. 

Und er wußte auch, wo sich sämtliche Dorfbewohner  gegenwärtig 

aufhielten. 

Im Opferhain ... 

Die Gräfin hatte geruht, Volker vom Hohentwiel zu einem Mahl in 
ihren Privatgemächern zu laden. Es verstand sich von selbst, daß der 
Ritter nicht eine einzige Sekunde zögerte, der höchst willkommenen 
Einladung zu folgen. 

Birgitta ließ das Feinste auftragen, was Falkenberg zu i>ieten hatte. 

Saftiger Rehrücken in einer köstlichen Sauce, verschiedene Gemüse, 
appetitlich geröstete Grundbirnen. Dazu gab es Wein von einer 
Erlesenheit, wie ihn Volker lange nicht mehr gekostet hatte. 

Dennoch schenkte er dem Mahl weniger Aufmerksamkeit, als 

dieses verdient hätte. Er hatte nur Augen für die herrliche Frau, die 
ihm am Tisch gegenübersaß. Aus allernächster Nähe kam sie ihm 
noch schöner vor. Das goldene Haar, die vollendeten Linien ihres 
Gesichts, die prächtigen Rundungen ihres Körpers  - er konnte sich 
gar nicht satt an ihr sehen. 

Birgitta genoß die Bewunderung, die Volker ihr zollte. Und sie 

bedankte sich mit einem Lächeln, das dem Ritter den  Himmel auf 
Erden versprach. Volker beherrschte sich jedoch. Er wußte, was sich 
geziemte. Es wäre höchst unschicklich gewesen, sich ihr bereits jetzt 
zu nähern. Dazu war nach dem Essen immer noch Zeit. In gewisser 
Weise fand Volker das Warten auf den Augenblick, in dem er ihren 
Körper endlich genießen konnte, höchst anregend. Die prickelnde 
Erwartung, die ihn erfüllte, erfuhr dadurch eine ungeahnte 

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Steigerung. 

Statt dessen plauderte er mit der Gräfin. Zunächst über ganz 

allgemeine Themen, dann aber über  das, was ihm ganz besonders am 
Herzen lag, über das, was ihn eigentlich überhaupt erst in die Mark 
geführt hatte. 

»Man hört ungewöhnliche Dinge über Falkenberg in den anderen 

Landen«, sagte er wie von ungefähr. 

»Ungewöhnliche Dinge?« wiederholte die Gräfin, während sie eine 

Weintraube verzehrte. 

»Man sagt, daß Ihr dem wahren Gott abgeschworen habt und statt 

dessen dem Aberglauben unserer heidnischen Vorfahren anhängt.« 

Ein Zug des Unwillens huschte über Birgittas schönes Gesicht. 

»Ich mag es ganz und gar nicht, wenn Ihr solche Töne im Munde 
führt, Ritter Volker! Von heidnischem Aberglauben kann überhaupt 
keine Rede sein. Die alten Götter leben!« 

»Das glaubt Ihr wirklich?« 
»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es! Schließlich haben mich die 

Götter auserwählt, ihre Hohepriesterin zu sein, deren Aufgabe es ist, 
die alten Sitten wieder einzuführen.« 

»Menschenopfer«, murmelte Volker. 
Der unwillige Zug um Birgittas Mundwinkel verstärkte sich. 

Beinahe böse sah sie ihn an. 

»Ihr sagt dies in einem Tonfall, der mich glauben läßt, daß Ihr die 

Opfer für ein Verbrechen haltet.« 

»In der Tat, das tue ich!« 
Der unwillige Zug verschwand aus dem Gesicht der Gräfin, 

machte einem Ausdruck Platz, der fast an Mitleid gemahnte. 

»Ihr seid ein Narr, Ritter Volker«, sagte sie. »Was Ihr ein 

Verbrechen nennt, ist in Wahrheit ein unabdingbares Gesetz. Wehe 
dem, der gegen dieses Gesetz verstößt!« 

»Für mich ist und bleibt es Mord«, blieb Volker beharrlich bei 

seiner Meinung. 

»Mord?« Birgitta lachte. »Den Opfertod zu Ehren der Götter zu 

sterben, ist eine Auszeichnung, nach der sich jede Jungfrau von 

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ganzem Herzen sehnen sollte. Auch Ihr werdet bald zu dieser 
Überzeugung kommen, Ritter Volker!« 

»Niemals!« 
»Oh, doch!« 
»Nun denn, Gräfin, wenn Ihr wirklich meint...« 
Volker verfolgte diesen Gesprächsfaden nicht weiter. Er war sich 

ganz sicher, daß es ihm gelingen würde, dem abergläubischen 
Opferspuk in der Mark ein Ende zu bereiten, wenn er erst einmal 
seinen Platz an der Seite der Gräfin eingenommen hatte. 

Noch ahnte er nicht, wie sehr er sich irrte ... 

Roland und seine beiden Knappen waren wieder unterwegs. 
Steinmülheim blieb hinter ihnen zurück. Das Waldstück, in dem sich 
der sogenannte »Heilige Hain« befand, kam näher und näher. 

Aufrechter Zorn kochte in Roland wie siedendes Wasser. Er 

verspürte einen regelrechten Haß auf die Gräfin von Falkenberg. Das 
Weib zwang ihre ehrsamen und gesetzestreuen Untertanen, zu 
Mädchenentführern und Mördern zu werden. Er war froh, daß König 
Artus ausgerechnet ihn in die Mark geschickt hatte. Er würde alles 
tun, um die Verbrecherin auf dem Grafenthron für ihre blutigen 
Taten zur Rechenschaft zu ziehen. 

Zunächst aber gab es etwas anderes für ihn zu tun. Zunächst mußte 

er das Mädchen Ilona retten. Er konnte nur hoffen, daß die 
Steinmülheimer Bauern noch nicht damit begonnen hatten, die 
grausame Opferzeremonie zu vollziehen. 

»Schneller«, forderte er Louis und Pierre auf. Gleichzeitig gab er 

Samun die Hacken zu spüren. Sofort ging das brave Tier in einen 
gestreckten Galopp über. So schnell flog das edle Pferd dahin, daß 
die beiden Knappen kaum zu folgen vermochten. 

Wenig später hatten die drei Gefährten den Waldesrand erreicht. 

Ja, da war der Karrenweg, den der alte Mann in Steinmülheim 
Roland beschrieben hatte. Über diesen Weg pflegten die Dörfler das 

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Holz abzutransportieren, das sie im Wald geschlagen hatten. 

»Kommt!« 
Das strahlende Licht der Sonne verschwand, als die drei Männer in 

den Wald hineinritten. Die dichtstehenden Nadel- und Laubbäume 
tauchten den Waldweg in ein diffuses Halbdunkel. Außerdem war 
der Boden von tiefen Furchen durchzogen, die von den Karrenrädern 
stammten. Unter diesen Umständen war es nicht möglich, weiterhin 
im Galopp zu reiten. Wohl oder übel mußte Roland auf Schrittempo 
zurückgehen. 

Nachdem etwa zweihundert Ruten zurückgelegt waren, hielt 

Roland sein Pferd an. Nach der Beschreibung des alten Mannes 
mußte irgendwo an dieser Stelle ein schmaler Pfad von dem 
Karrenweg abgehen, der geradewegs zum Opferhain führte. 

Wie so oft war es wieder einmal Louis, dessen scharfe Augen den 

Pfad erspähten. Er lag noch ein Stück voraus und wurde links und 
rechts von wucherndem Unterholz gesäumt. 

»Es scheint mir nicht ratsam zu sein, die Pferde mitzunehmen«, 

sagte Roland. »Sicher kommen wir auf unseren eigenen Füßen 
beträchtlich schneller vorwärts.« 

Zum großen Mißfallen Pierres, dem Fußmärsche nicht weniger 

zuwider waren als das Durchschwimmen eines kalten Flusses. Er 
maulte wie gewohnt. Aber sein Herr brauchte ihn nur einmal scharf 
anzublicken, um ihn zum Schweigen zu bringen. 

Hundert Ruten etwa, dann müßte der Pfad auf den Hain stoßen. 

Das jedenfalls hatte der alte Mann gesagt. Und da sich seine 
bisherigen Angaben als richtig erwiesen hatten, würde er wohl auch 
in diesem Punkt die Wahrheit gesagt haben. 

Roland zückte sein Schwert, während die beiden Knappen nach 

ihren Hirschfängern griffen. Diese Übung erfüllte einen doppelten 
Zweck. Einmal konnten sich die Männer damit besser einen Weg 
durch das Gestrüpp und Wurzelwerk bahnen. Und zum zweiten 
wollten sie sofort kampfbereit sein, wenn sie mit den 
Steinmühlheimern zusammentrafen. 

Anfänglich legten die Gefährten wenig Wert darauf, sich lautlos 

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vorwärts zu bewegen. Je näher sie dem Ziel jedoch kamen, desto 
vorsichtiger wurden sie. Es konnte wichtig sein, daß die 
Dorfbewohner ihre Annäherung erst im letzten Augenblick 
bemerkten. Schließlich waren sie viele, während Roland, Louis und 
Pierre nur zu dritt waren. 

Ungefähr die Hälfte des Wegs war zurückgelegt, als Roland 

plötzlich stehenblieb. 

Eigenartige Geräusche drangen an  sein Ohr. Geräusche, die Roland 

erst nach wenigen Sekunden als Gesang deuten konnte. 

Es war ein eigenartiger Gesang, dumpf, monoton und fremdartig. 
Pierre schüttelte sich. »Das ist ja ... unheimlich.« 
Roland kam nicht umhin, ihm recht zu geben. Dieser eigenartige 

Singsang, der so ganz anders klang als die gewohnten Minne- und 
Heldengesänge Volkers vom Hohentwiel, ließ sogar ihn leicht 
frösteln. 

»Ganz leise«, flüsterte er. »Wir schleichen uns an und versuchen, 

so nahe wie möglich heranzukommen, ohne daß uns die Bauern 
sehen.« 

Louis nickte und umspannte seinen Hirschfänger mit fester Hand. 

Auch Pierre gelobte, sich so leise zu verhalten wie ein 
beutesuchender Raubvogel im Flug. 

Mit Roland an der Spitze bewegten sich die drei Männer vorwärts. 

Und es gelang ihnen tatsächlich, jedweden Lärm zu vermeiden. Nur 
gelegentlich knackte es unter ihren Füßen, wenn einer von ihnen auf 
einen umherliegenden Zweig trat. 

Lauter und lauter drang der Gesang der Steinmülheimer auf sie ein. 

Und das nicht nur, weil sie den Sängern immer näher kamen. Roland 
konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Zeremonie dort 
einem Höhepunkt entgegenstrebte, der sich in der Intensität des 
Gesangs ankündigte. 

Dann waren die drei so nahe heran, daß sie nicht nur etwas hören, 

sondern  auch etwas sehen konnten. Aus der Deckung des 
Unterholzes konnten sie auf eine von Eichen gesäumte Lichtung 
blicken, auf der sich eine gespenstische Szene abspielte. 

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Mehr als hundert Menschen, Männer, Frauen und auch Kinder, 

hatten sich an den Händen gefaßt und einen großen Kreis gebildet. 
Im Mittelpunkt dieses Kreises hatten sie einen Stapel aus 
Eichenscheiten aufgebaut. Und auf diesem Stapel, an Händen und 
Füßen gebunden wie ein Stück Schlachtvieh, ein schwarzhaariges 
junges Mädchen. 

Ilona! 
Die Steinmülheimer umtanzten den Scheiterhaufen, in seltsam 

anmutenden, schaukelnden Bewegungen, und ließen dabei jenen 
monotonen Gesang ertönen, den Roland und seine beiden Knappen 
schon von weitem gehört hatten. 

Louis stieß hörbar die Luft aus. 
»Was tun wir?« raunte er Roland zu und hatte dabei Mühe, seine 

helle Empörung zu unterdrücken. »Wenn wir uns nicht beeilen, 
könnte es zu spät sein. Jeden Augenblick wird einer dieser 
Wahnsinnigen den Holzstapel anzünden.« 

Damit rechnete Roland auch. Aber noch schien das nicht der Fall 

zu sein. Er konnte kein Feuer erkennen. Im Augenblick drohte dem 
Opfer also noch keine akute Gefahr. 

Roland überlegte noch, wie der Situation am besten beizukommen 

war, als etwas Ungewöhnliches geschah. 

Gerade noch stand die Sonne schräg am Himmel und badete die 

Lichtung in ihrem goldenen Licht. Im nächsten Moment jedoch 
änderte sich das schlagartig. Dunkle Wolken, schwarz wie 
Holzkohle, zogen am Himmel auf und verdeckten das Gesicht der 
Sonne vollständig. 

Augenblicklich wurde es so dunkel, daß  man meinen konnte, die 

Abenddämmerung sei vorzeitig angebrochen. Zusätzlich kam ein 
Wind auf, obwohl sich Sekunden zuvor nicht ein Lüftchen geregt 
hatte. Einen derartig krassen Wetterumschwung hatte Roland noch 
nie in seinem Leben erlebt. 

Pierres Gesicht war so bleich geworden, als habe man es in einen 

Sack Mehl getaucht. 

»Das ... geht nicht mit rechten Dingen zu«, flüsterte er. 

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Fast war Roland geneigt, ihm beizupflichten. Auch ihm kam das 

Geschehen äußerst unheimlich vor. Der verrückte Gedanke, daß die 
Steinmülheimer den Wetterumschwung durch ihren immer 
eindringlicher werdenden Singsang bewirkt hatten, wollte ihm nicht 
aus dem Kopf. 

Schneller umtanzten sie jetzt den Scheiterhaufen, zuckend wie die 

Holzfiguren eines Puppenspielers. Und ihr Gesang wurde lauter und 
ekstatischer. 

Schärfer blies der Wind. Die Zweige der Bäume wurden hin und 

her gepeitscht. Die Kronen schwankten, als würden sie von einer 
Riesenfaust geschüttelt. Der Himmel war noch dunkler geworden, so, 
als stünde der Weltuntergang bevor. 

Und dann glaubte Roland, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. 
Rollender Donner erschütterte die Szenerie. Gleichzeitig flammte 

ein greller Blitz auf, der den Himmel in Flammen zu setzen schien. 
Das Licht des Blitzes verflüchtigte sich jedoch nicht, sondern nahm 
plötzlich Form an. Eine Gestalt bildete sich heran, die auf den 
dunklen Regenwolken zu stehen schien. 

Es war die Gestalt eines riesigen Mannes, eines Recken, wie ihn 

die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Hüne hielt einen gewaltigen 
Hammer in der Hand und schwenkte ihn über dem Kopf. 

Ein Stöhnen entrang sich Rolands Brust, als ihm klarwurde, was er 

da am Himmel sah. Donar! 

Der Gott der alten Germanen war also nicht nur ein Hirngespinst 

abergläubischer Tröpfe. So unvorstellbar es auch war, er mußte sich 
mit der Wirklichkeit abfinden. 

Donar existierte wirklich! 
Gebannt sah Roland zum Himmel empor. Wenn er es auch gewollt 

hätte, er wäre jetzt beim besten Willen nicht in der Lage gewesen, 
die Augen niederzuschlagen. 

Wie ihm ging es auch seinen beiden Knappen. Auch sie waren 

außerstande, den Blick von dem unglaublichen Geschehen am 
Himmel abzuwenden. 

Und dieses Geschehen hatte seinen schrecklichen Höhepunkt noch 

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nicht erreicht. Dieser kam erst jetzt. 

Der gewaltige Arm des Germanengottes ließ den Hammer in seiner 

Hand los, schleuderte ihn auf die Erde hinunter. Schneller als ein 
Pfeil fliegen konnte, jagte der Lichthammer heran. 

Und schlug auf dem Holzstapel ein, an den das Gauklermädchen 

Ilona gefesselt war! 

Ein dröhnendes Lachen, das von allen Seiten, von oben und unten 

gleichzeitig, zu kommen schien, klang auf, brach dann ab. Im 
gleichen Augenblick fing die unheimliche Lichtgestalt am Himmel 
an, sich aufzulösen, sich zu verflüchtigen. Eine Sekunde später war 
nichts mehr von ihr zu sehen. 

War der Spuk damit vorbei? 
Nein! 
Lodernde Flammen schossen von dem Holzstapel hoch. Der 

Lichthammer hatte den Scheiterhaufen in Brand gesetzt! 

Roland war noch immer wie gebannt. Er konnte nicht fassen, was 

er hier erlebt hatte. Seine Glieder waren wie gelähmt, und in seinem 
Kopf jagte ein wirrer Gedanke den anderen. 

Der gellende Entsetzensschrei einer schmerzgequälten 

Mädchenstimme riß ihn aus seiner Erstarrung. Erst jetzt wurde er 
sich richtig bewußt, daß der Holzstapel echtes Feuer gefangen hatte, 
daß die hochzüngelnden Flammen Wirklichkeit waren. 

Die junge Ilona war einem schrecklichen Tod geweiht, wenn nicht 

sofort etwas geschah! 

Noch immer sangen die Leute aus Steinmülheim und tanzten um 

den brennenden Scheiterhaufen herum. 

Roland hielt es nun nicht mehr in seinem Versteck. Er konnte und 

durfte nicht mitansehen, wie die Tochter des fahrendes Volkes 
elendig verbrannte. Er mußte ihr helfen. 

Sofort! 
Wie ein Pfeil, der von der Bogensehne schnellte, schoß er aus dem 

Gebüsch hoch und stürmte auf den Kreis der Tänzer los. Während 
des Laufens riß er sein Schwert aus der Scheide. 

Die Steinmülheimer bemerkten ihn erst, als er bereits bei ihnen 

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war. Wie ein Rammbock durchbrach er die Menschenkette, die den 
Scheiterhaufen abschirmte. Die Bauern waren so überrascht, daß sie 
zunächst gar nicht auf den Gedanken kamen, Widerstand zu leisten. 
Roland brauchte sein Schwert nicht einzusetzen, um sich den Weg zu 
dem brennenden Holzstapel zu bahnen. 

Die sengenden Flammen gar nicht beachtend, die wie gierige 

Hände nach ihm griffen, sprang Roland auf den Holzstoß. Seine 
Augen begannen zu tränen, und er hatte Mühe, das Mädchen auf 
Anhieb auszumachen. 

Da war es, hilflos auf dem Rücken liegend und von den zuckenden 

Flammen umzüngelt! 

Roland beugte sich über die Tochter des fahrendes Volkes. Im Nu 

hatte er mit Hilfe seines Schwerts ihre Arm- und Fußfesseln 
durchtrennt. 

Ilona war frei... 
Aber natürlich war sie nicht in der Lage, aus eigener Kraft auf die 

Füße zu kommen. Die Fesseln hatten das Blut gestaut, verurteilten 
sie auch jetzt noch zur Bewegungsunfähigkeit. 

Roland erkannte dies sofort und sorgte für Abhilfe. Er schob den 

linken Arm unter ihre Achseln und hob sie hoch. Dann sprang er mit 
einem mächtigen Satz von dem Scheiterhaufen hinunter, das 
Mädchen mit sich nehmend. Im nächsten Augenblick stand er mit 
gezücktem Schwert den Opferdienern des Germanengottes 
gegenüber. 

Auf seiner und des Mädchens Kleidung glomm hier und dort noch 

ein Funken, und an einigen Stellen schmerzte ihn die versengte Haut. 
Ernsthaft  aber waren weder er noch die junge Ilona in 
Mitleidenschaft gezogen worden. Er hatte zu schnell gehandelt, um 
dem Feuer eine Chance zu geben, bleibenden Schaden anzurichten. 

Die Leute aus Steinmülheim hatten inzwischen aufgehört zu singen 

und zu tanzen.  Sie starrten ihn an wie ein Gespenst, begriffen 
offenbar noch gar nicht so recht, wo er eigentlich hergekommen war. 
Niemand machte Anstalten, etwas gegen ihn zu unternehmen. 

Nach einigen Sekunden allseitigen Schweigens trat ein älterer 

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Mann zögernd auf ihn zu. 

»Was habt Ihr getan, Ritter?« fragte er gepreßt. »Ihr habt das Opfer 

entweiht!« 

»So, habe ich das?« erwiderte Roland. »Mich deucht eher, ich habe 

ein grausames Verbrechen verhindert!« 

»Der Gott und seine Hohepriesterin, die Gräfin von Falkenberg, 

werden außer sich vor Zorn sein. Gleich wird Donar wieder 
erscheinen und uns alle bestrafen.« 

Roland blickte zum Himmel empor. Dort waren die dunklen 

Wolken längst wieder im Begriff, sich aufzulösen. Schon lugte hier 
und dort die Sonne hervor. Auch der scharfe Wind hatte sich gelegt 
und sich in ein lindes Lüftchen verwandelt. 

Die Erinnerung an das Erscheinen des Germanengottes verblaßte 

bereits in Roland. Er fragte sich, ob das Unglaubliche wirklich 
geschehen war. Konnte es sein, daß er und alle anderen Anwesenden 
nur einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen waren? War nicht nur 
ein ebenso kurzes wie heftiges Unwetter niedergegangen? Auch daß 
sich der Scheiterhaufen entzündet hatte, kam ihm auf einmal gar 
nicht mehr so wundersam vor. Ein Blitz hatte das aufgetürmte Holz 
getroffen und das Feuer entfacht! Auch bei dem Lichthammer, den er 
gesehen zu haben glaubte, mochte es sich lediglich um ein Trugbild 
handeln, das einzig und allein der Einbildung entsprungen war. 

Ja, je länger er darüber nachdachte, desto glaubhafter erschienen 

ihm die Erklärungen, die er sich selbst gegeben hatte. 

Trugbilder! 
Trugbilder, hervorgerufen durch den sinnesverwirrenden Singsang 

der Dorfbewohner. Ja, so mußte es gewesen sein. 

Die Tatsache, daß der vorgebliche Germanengott gar nicht daran 

dachte, wieder am Himmel zu erscheinen, bestärkte Roland in seiner 
gewonnenen Überzeugung. 

Alles Humbug, alles Täuschung, alles pure Einbildung ... 
Die Steinmülheimer, wie arme Sünder standen sie da, verstrickt in 

ihrem Aberglauben und den verderblichen Einflüsterungen der 
blutigen Gräfin. 

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Die Gräfin war an allem schuld. Ihr mußte das finstere Handwerk 

gelegt werden, je eher, desto besser. 

»Macht Platz«, forderte Roland die Dorfbewohner auf. »Ich habe 

Wichtigeres zu tun, als mich mit euch aufzuhalten.« 

Und die Leute aus Steinmülheim waren noch so geschockt, daß sie 

ergeben zur Seite traten und ihn mit dem befreiten Gauklermädchen 
passieren ließen. 

Das Mahl war beendet. 

Jetzt hielt Volker vom Hohentwiel den Augenblick für gekommen, 

in dem er den Preis für seinen Sieg über seinen rotbärtigen 
Nebenbuhler zu kassieren gedachte. 

Er erhob sich von seinem Stuhl, ging um den Tisch herum und 

blieb vor der schönen Birgitta stehen. 

»Komm«, sagte er mit belegter Stimme. »Du hast mir versprochen, 

die Meine zu werden, wenn ich das Duell siegreich bestehe. Nun löse 
dein Versprechen ein.« 

Eine kleine Falte erschien auf der Stirn der Herrin von Falkenberg. 

»Wie meint Ihr das, Ritter Volker?« 

Volker lachte. »Ist das so schwer zu verstehen, meine Liebe? Ich 

muß einer Frau wie dir doch nicht erst auf die Sprünge helfen, oder?« 

Und als Birgitta immer noch keine Anstalten machte, auf ihn 

einzugehen, wurde Volker deutlich. Er beugte sich nieder und legte 
der herrlichen Frau die Arme um die Schulter. Mit sanfter Gewalt 
versuchte er, sie hochzuziehen. 

»Komm, führe mich in dein Schlafgemach«, sagte er mit jener 

schmeichelnden Stimme, der so leicht keine Frau widerstehen 
konnte, wie Volker aus Erfahrung nur allzu gut wußte. »Mach mich 
glücklich, Geliebte, und laß mich dich glücklich machen.« 

Seine schmelzenden Worte konnten Birgitta von Falkenberg 

jedoch in keiner Weise beeindrucken. Eher war das Gegenteil der 
Fall. Die Gräfin versteifte sich, schien plötzlich aus Stein geworden 

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zu sein. 

»Laß mich los«, zischte sie. 
Verwundert hob Volker die Brauen. »Was sagst du da? Das kannst 

du nicht im Ernst meinen!« 

»Und ob ich es im Ernst meine! Nimm sofort deine schmutzigen 

Finger von mir!« 

Schmutzige Finger? 
Das hatte noch niemand zu Volker gesagt. Im ersten Augenblick 

war er voller Zorn. Eine Ader schwoll auf seiner Stirn. Schmutzige 
Finger! Wen glaubte diese Frau vor sich zu haben? 

Schon ein paar Herzschläge später aber schwand sein Ärger  wieder 

dahin. Er begehrte diese Frau, begehrte sie mit allen Fasern seines 
Herzens und seines Körpers. Er konnte ihr nicht böse sein, war 
bereit, ihr ihre unfreundlichen Worte zu verzeihen. 

Sie kam ihm vor wie ein schlafender Vulkan, dessen Feuer erst 

geweckt werden mußte, bevor es ausbrach. Und er war ein Mann, der 
es bestens verstand, die Liebesglut in einer Frau zu entfachen. 

Seine Hände lösten sich von ihren Schultern, glitten zärtlich tiefer, 

berührten die Apfelbrüste unter dem weitgeschnittenen Gewand, das 
sie trug. 

Birgitta reagierte so, als würde eine widerwärtige Spinne über 

ihren Körper wandern. Sie stieß einen Zischlaut aus, der jeder 
Schlange Ehre bereitet hätte. Und wie eine giftige Otter schoß sie 
dann auch von ihrem Sitz hoch und schüttelte Volkers Hände ab. 

»Haderlump, du wagst es, mich zu betasten wie eine Dirne, die 

sich mit den Schweinen suhlt? Keinem Manne ist es gestattet, mich 
zu berühren, denn ich habe mich dem Donar geweiht!« 

Volker blinzelte. »Was sagst du da? Du hast dich dem ... Donar 

geweiht?« 

»So ist es!« 
»Soll das bedeuten, daß du noch ... Jungfrau, bist?« Volker wollte 

es gar nicht glauben. 

»Wie kannst du daran zweifeln, Erbärmlicher?« gab die Gräfin 

zurück. »Glaubst du wirklich, ich würde mir von einem elenden 

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Sterblichen die Unschuld rauben lassen? Diese Ehre gebührt allein 
dem hehren Gott, dessen überirdische Macht mich stets beschützt.« 

»Ich verstehe es nicht«, sagte Volker kopfschüttelnd. »Hast du dich 

nicht dem Mann versprochen ...?« 

Silberhell lachte Birgitta auf. »Ich habe mich vielen Männern 

versprochen, denn ich weiß sehr wohl, daß mein Körper ein Köder 
ist, dem ihr lächerlichen Mannsbilder nicht widerstehen könnt.« 

»Aber warum? Warum nur? Wenn du uns ... sterbliche Männer so 

sehr verabscheust ...« 

»Ja, ich verabscheue euch und eure niederen, gemeinen Triebe«, 

unterbrach ihn die Gräfin. »Aber ich brauche euch auch.« 

»Du brauchst uns - wozu?« 
»Trotz der Macht, die mir der hehre Gott als Dank für die 

Jungfräulichkeit verliehen hat, bin ich nur ein schwaches Weib. 
Niemals würde es mir allein gelingen, das große Ziel zu erreichen, 
das ich mir gesetzt habe.« 

»Welches große Ziel?« 
»Du bist dumm, Volker vom Hohentwiel, dumm wie Bohnenstroh. 

Hast du noch immer nicht begriffen, daß es mir darum geht, den 
alten Göttern wieder den Platz in den Herzen der Menschen zu 
verschaffen, der ihnen gebührt? Leider sind fast alle Menschen so 
dumm und einfältig wie du. Deshalb muß man sie zwingen, zum 
wahren Glauben zurückzukehren. Wie all die anderen Ritter, die ich 
zu meinen gehorsamen Dienern gemacht habe, wirst auch du in 
meinem Namen diesen Zwang ausüben, bis der letzte im Lande 
überzeugt und bekehrt ist. Weißt du nun, warum ich dich in mein 
Gemach gelockt habe?« 

Eine Falle, dachte Volker. Sie hat mich und sämtliche Ritter, die in 

ihren Diensten stehen, in eine Falle gelockt! 

Nur eins verstand er nicht. Warum blieben die Männer alle ergeben 

in der Falle sitzen, anstatt aufzustehen und dem tollen Weib zu 
zeigen, wer die Hosen anhatte? 

Nun, wie dem auch war, er würde gewiß nicht in der Falle sitzen 

bleiben wie ein Hanswurst. Er würde die Falle sprengen und der 

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Fallenstellerin ihre Grenzen zeigen. Und das würde ihm sogar 
höchstes Vergnügen bereiten. Birgitta mochte sein, was sie wollte, 
dies änderte jedoch nicht das geringste daran, daß sie eine 
begehrenswerte Frau von makelloser Schönheit war. Und mochten 
auch ihre Seele verrucht und ihre Gedanken böse sein, es war ein 
erstrebenswertes Ziel, ihren jungfräulichen Körper zu besitzen. Und 
eben die Tatsache, daß niemals zuvor die Liebe eines Mannes in sie 
eingedrungen war, verlieh dem Ganzen einen ganz besonderen Reiz. 

»Na warte, mein Täubchen«, sagte Volker, »ich werde dich lehren, 

wer von uns beiden der Herr und wer der Sklave ist!« 

Mit diesen Worten machte er einen Satz nach vorne, um nach 

Birgitta zu greifen. 

In diesem Augenblick sah er in ihre Augen... 
Ihm war, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen, die sich 

plötzlich zwischen ihm und der Gräfin aufgebaut hatte. Stocksteif 
stand er da, nicht mehr fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. 

Diese Augen! 
Ein unheimliches Feuer glomm auf einmal darin, ein Feuer, das 

alles zu zerschmelzen drohte, was den ritterlichen Mann Volker vom 
Hohentwiel ausmachte. Seine Zuversicht, sein Eroberungswille, sein 
Stolz  - nichts blieb mehr davon übrig. Jetzt fühlte er sich wirklich 
wie in einer Falle, aus der es kein Entkommen gab. 

Verzweifelt versuchte er, dagegen anzugehen. Er versuchte, sich 

der unheimlichen Kraft zu widersetzen, die Macht über ihn 
gewonnen hatte. Er wollte den Blick von ihren Augen abwenden, 
denn er spürte, daß es diese Augen waren, die ihn unterjochten und 
versklavten. Aber er war ganz einfach nicht in der Lage, sein 
Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er konnte den Blick nicht 
abwenden, mußte vielmehr fortfahren,  in das lodernde Feuer in 
Birgittas Augen zu sehen, das mehr und mehr von seinem Ich 
verschlang. 

Die Gräfin lächelte jetzt. Das Lächeln adelte ihr schönes Gesicht, 

und doch hatte Volker den Eindruck, geradewegs mit dem Antlitz der 
Hölle konfrontiert zu werden. Alles Böse, alles Schlechte, alles 

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Verderbte drückte sich in Birgittas Miene aus. Sie war der gefallene 
Engel, von dem die Schrift kündete und vor dem sie warnte. 

Diese Erkenntnis kam zu spät. Volker verlor sich selbst, verfiel der 

Gräfin mit Haut und Haaren, mit Herz und Seele. Und es gab nichts, 
was er dagegen tun konnte. 

Birgitta kostete ihren Triumph voll aus. Es genügte ihr nicht, ihn 

macht- und willenlos zu sehen. Sie wollte ihn auch demütigen, wollte 
ihm ein für allemal vor Augen führen, daß seine Sklaverei eine 
vollendete war. 

»Tritt näher, Volker vom Hohentwiel«, kommandierte sie. 
Jetzt konnte sich Volker wieder bewegen. Aber er war nicht der 

Herr seiner Glieder. Die wahre Befehlsgewalt darüber übte die 
Gräfin aus. Er war nur die Puppe, an deren Fäden sie zog. 

Gehorsam trat er näher, bis er unmittelbar vor seiner Herrin stand. 
»Knie nieder!« 
Volker kniete nieder. 
»Küsse meine Füße!« 
Volker beugte sich nach unten, bis seine Stirn fast den Fußboden 

berührte. Er spitzte die Lippen und drückte einen Kuß auf die Schuhe 
der Gräfin. 

Um das Maß der Demütigung vollzumachen, versetzte Birgitta ihm 

jetzt einen Tritt, der ihn rücklings zu Boden streckte. 

Seit langen, langen Jahren hatte Volker keine Träne mehr 

vergossen. Jetzt hätte er es am liebsten getan. Aber nicht einmal dazu 
war er in der Lage. 

Ohne von den Steinmülheimern belästigt oder gar aufgehalten zu 
werden, verließen Roland, die beiden Knappen und das befreite 
Mädchen den Opferhain, Die junge Ilona stand noch so unter der 
Wirkung des Schrecklichen, das sie durchgemacht hatte, daß sie 
kaum Worte fand, sich für die Rettung zu bedanken. Aber darauf 
kam es dem Ritter mit dem Löwenherzen auch gar nicht an. Ihm 

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genügte es, daß das Mädchen seine Freiheit wiedergewonnen hatte. 

Die Pferde standen noch dort, wo die drei Gefährten sie 

zurückgelassen hatten. Roland stieg in den Sattel und hob die Kleine 
dann zu sich herauf. Dem Abmarsch stand nichts mehr im Wege, 
denn von den Steinmülheimern ließ sich nach wie vor niemand 
blicken. 

Bald erreichten die vier das Dorf, in dem es noch genauso totenstill 

war wie zuvor. Es lag kein Grund zum Verweilen vor. Deshalb 
setzten sie ihren Ritt ohne Aufenthalt fort. 

Wenig später kamen sie im Lager der Spielleute an. Die Freude 

und die Begeisterung des fahrenden Volks kannte keine Grenzen. 
Roland wurde gefeiert und bejubelt, als hätte er das große Turnier 
von Xanten zum dritten Mal hintereinander gewonnen. 

Roland gab den Spielleuten noch den Rat mit auf den Weg, die 

Mark Falkenberg auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Mit diesem 
Vorschlag rannte er nur offene Türen ein. 

»Keine Minute länger bleiben wir in diesem gottlosen Land«, sagte 

der Sippenälteste. »Möge es verflucht sein bis ans Ende der Zeiten!« 

Roland schüttelte den Kopf. »Das solltest du nicht sagen, mein 

Freund. Im Grunde genommen sind die Menschen schuldlos an den 
furchtbaren Dingen, die sie tun. Und das gilt auch für die Bauern von 
Steinmülheim. Die wahre Schuldige sitzt auf dem Fürstenthron. Aber 
seid guten Mutes. Vielleicht könnt ihr schon bald zurückkehren, ohne 
um Leib und Leben fürchten zu müssen.« 

»Wie wollt Ihr das erreichen, edler Ritter?« 
»Indem ich die blutige Gräfin ganz einfach von ihrem Thron 

stoße«, sagte Roland. 

Daß dies allerdings nicht so einfach werden würde, wie er es sagte, 

ahnte er bereits jetzt. 

Eine weitere Nacht lag hinter Roland und seinen beiden Knappen, 
die sie in einem Gasthaus verbracht hatten. Jetzt saßen sie wieder auf 

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ihren Pferden, um das letzte Wegstück zurückzulegen. 

Gegen Mittag  hatten sie ihr Ziel vor Augen. Aus dem Tal konnten 

sie Burg Falkenberg auf dem Gipfel des Berges liegen sehen. 

»Vielleicht solltet ihr hierbleiben«, sagte Roland sinnend. »Es ist 

möglich, daß mir der schwerste Kampf meines Lebens bevorsteht. 
Wenn die Gräfin wirklich mit den alten Göttern im Bunde ist ... Ich 
kann nicht erwarten, daß ihr euer Leben aufs Spiel setzt.« 

»Wohin Ihr geht, dahin gehen auch wir«, sagte Louis beinahe 

feierlich. 

»Außerdem sind sechs Arme stärker als zwei.« 
Pierre sagte zwar nichts, aber er nickte beifällig. Ausnahmsweise 

hatte er einmal nichts zu maulen. 

»Wohlan denn«, erwiderte Roland. Dann lenkte er Samun auf den 

vielfach gewundenen Weg, der zur Burg hinaufführte. 

Eine Weile später standen die drei vor dem Burggraben. Die 

beiden Wächter, die oben auf der Mauer hin und her patrouillierten, 
blickten auf die Ankömmlinge hinunter. 

»Ein Ritter mit zwei Knappen?« rief er Roland an. »Ihr müßt ein 

bedeutender Mann sein. Wie ist Euer Name?« 

»Roland.« 
»Roland, der Drachentöter?« 
Bald konnte  es Roland nicht mehr ertragen, ständig an seinen 

siegreichen Kampf mit dem letzten Lindwurm erinnert zu werden. 
Aber natürlich konnte er sich nicht dagegen wehren. Von allen 
Heldentaten, die er in jüngster Zeit vollbracht hatte, war es vor allem 
der Drachenkampf gewesen, der ihm landesweiten Ruhm eingetragen 
hatte. 

»Seid Ihr gekommen, um unsere Herrin zu freien?« wurde er 

anschließend gefragt. 

Freien um eine Frau, an deren Händen das Blut zahlloser 

Unschuldiger klebte? Dies lag gewiß nicht in Rolands Absicht. Aber 
wenn er mit einem solchen Vorsatz das Tor öffnen konnte... 

»Deshalb bin ich hier, ja«, erwiderte er. 
»Wartet einen Augenblick, Ritter Roland!« 

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Der Augenblick währte ziemlich lange. Endlich wurde dann die 

Zugbrücke hinuntergelassen. Roland und seine beiden Gefährten 
konnten auf den Burghof reiten. 

Mehrere Ritter nahmen die Ankömmlinge in Empfang. Während 

Pierre und Louis ein Quartier im Gesindeteil der Burg zugewiesen 
wurde, tat man Roland die Ehre an, gleich bei der Landesherrin 
vorgelassen zu werden. 

Bald stand er der Gräfin gegenüber. Und ob er wollte oder nicht, er 

war beeindruckt von ihrer strahlenden Schönheit. Ganz entgegen 
seinen Absichten verspürte er den dringenden Wunsch, mit dieser 
Frau das Lager zu teilen und dabei alles zu vergessen, was zwischen 
ihm und ihr stand. 

Birgitta schien ähnliche Gedanken zu haben. Das Lächeln, das sie 

ihm schenkte, war schon mehr als ein Versprechen. 

Ein kühner Gedanke keimte in Roland auf. Wenn er sich wirklich 

darum bemühte, der Mann an ihrer Seite zu werden, hatte er da nicht 
die besten Chancen, ihren Umtrieben ein schnelles Ende zu bereiten? 

Ja, dies war ohne jeden Zweifel ein Weg, der es wert war, 

begangen zu werden. 

Ohne lange zu überlegen, machte Roland der Gräfin einen Antrag. 

Er verwendete dabei nicht die gesetztesten Worte, denn er war kein 
Mann der schönen Rede. Dennoch nahm Birgitta seinen Antrag mit 
sichtlichem Wohlwollen auf. 

»Der Ruhm Eures Namens ist auch nach Falkenberg gedrungen, 

Ritter Roland«, sagte sie mit einem holdseligen Lächeln, das so gar 
nicht dem düsteren Bild entsprach, das sich Roland bisher von ihr 
gemacht hatte. »Es wäre mir ein Vergnügen und eine große Freude, 
meinen Thron mit Euch teilen zu dürfen. Aber ich muß auf das Wohl 
meines Landes bedacht sein. Meine treuen Untertanen würden es mir 
niemals verzeihen, wenn ich einen Mann erwählen würde, der meiner 
nicht wirklich würdig ist.« 

»Was muß ich tun, um mich als würdig zu erweisen?« wollte 

Roland wissen. 

»Ihr müßt unter Beweis stellen, daß Ihr wirklich ein solcher Held 

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seid, wie man Euch nachsagt. Denn woher sollte ich sonst wissen, 
daß der Edle, den ich bisher auserkoren habe, nicht doch würdiger 
ist, als Ihr es seid?« 

»Und wer ist der Mann, mit dem Ihr meine Tugenden vergleicht?« 

fragte Roland. 

Die  Antwort gab nicht die Gräfin, sondern der Ritter, der 

unvermutet hinter einem Vorhang hervortrat. 

»Ich bin der Mann«, sagte Volker vom Hohentwiel. 

Selten zuvor hatte sich Roland so unwohl in seiner Haut gefühlt. 
Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Kampf auszufechten, zu dem 
inzwischen alle Vorbereitungen getroffen waren: der Kampf gegen 
seinen besten Freund Volker. 

Es ist verrückt, sagte er immer wieder zu sich selbst, vollkommen 

verrückt! 

Aber er war sich dabei ziemlich sicher, daß die Verrücktheit nicht 

von ihm, sondern von Volker ausging. Von Anfang an hatte ihn sein 
ehemaliger Gefährte nicht mehr als Freund angesehen. In seinen 
düsteren Augen, die das Lachen verlernt zu haben schienen, hatte 
nichts als offenkundige Feindschaft gestanden. Ja, Volker war 
geradezu versessen darauf gewesen, das Duell um die Gunst der 
Gräfin mit ihm auszutragen. Roland wäre kein Mann gewesen wenn 
er sich geweigert hätte, die Herausforderung anzunehmen. 

Sein Gefühl sagte ihm jedoch, daß irgend etwas nicht mit Volker 

stimmte. Irgend etwas war ihm widerfahren, das sein ganzes Wesen 
verändert hatte. So, wie sich Volker jetzt gab, hatte Roland ihn in der 
Vergangenheit niemals erlebt. 

Was war schuld an der Verwandlung des Freundes? Roland wußte 

es nicht mit Sicherheit zu sagen. Er ahnte allerdings, daß die schöne 
Birgitta irgendwie ihre Finger mit im Spiel haben mußte. 

Wie dem auch war  - der Kampf würde stattfinden. Es gab kein 

Zurück mehr. 

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Roland saß bereits auf seinem Samun. Er hatte seine volle Rüstung 

angelegt und hielt die Lanze in der Hand. 

Auch Volker vom Hohentwiel hatte seine Kampfposition auf der 

anderen Seite des Burghofs bezogen. Die beiden Ritter warteten nur 
noch auf das Zeichen der Gräfin, um mit dem Duell zu beginnen. 

Dann kam das Signal... 
Unverzüglich preschte Roland los, die Lanze zum Stoß erhoben. Er 

hatte gewiß nicht vor, den Mann, den er im stillen noch immer als 
seinen Freund ansah, ernstlich zu verletzen. Aber er beabsichtigte 
auch nicht, den Kampf zu verlieren. Zwei Gründe waren es, die ihn 
nach dem Sieg streben ließen. Einmal ging es um Birgitta. Und zum 
zweiten vertrug es sich nicht mit seiner Ritterehre, daß eine 
Niederlage an sein Banner geheftet wurde. 

Auch Volker hatte sein Reittier angespornt und jagte der Mitte des 

Burghofs entgegen. 

Die Zuschauer links und rechts von der Kampfbahn hielten den 

Atem an, als die beiden Kämpfer nur noch zwei, drei Pferdelängen 
voneinander getrennt waren. 

Noch wenige Herzschläge, dann ... 
Gänzlich unerwartet sah sich Roland einer Attacke ausgesetzt, mit 

der er ganz bestimmt nicht gerechnet hatte. 

Irgend etwas klatschte gegen sein Visier  - Sand oder kleine Steine, 

dem Geräusch nach zu urteilen. 

Volker, was tust du? schoß es ihm verblüfft und voller Abscheu 

durch den Kopf. Daß der ehemalige Freund zu solchen hinterhältigen 
Mitteln greifen würde, hätte er sich niemals träumen lassen. 

Die Wirkung der Attacke blieb nicht aus. Durch die Sichtschlitze 

waren zahllose Sandkörner in den Helm eingedrungen, die sich 
sofort in den Augen festsetzten. 

Roland konnte nichts dagegen tun, er mußte die Augen zumachen. 

Genau darauf war es Volker vom Hohentwiel natürlich 
angekommen. In dem Moment, in dem die beiden Reiter auf einer 
Höhe waren, konnte Roland nichts sehen. Es war sinnlos, in dieser 
Situation mit der Lanze  zuzustoßen. Kein blinder Jäger war in der 

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Lage, eine Flugente vom Himmel zu holen. 

Ganz anders hingegen Volker. Seine Lanze schnellte wuchtig und 

zielbewußt auf Roland zu. 

Und der ehemalige Freund traf gut. Der Lanzenstoß erwischte 

Roland zwischen Harnisch und Helm, hakte sich dort irgendwo fest. 

Es war nicht allein die Wucht des Stoßes, die Roland zu schaffen 

machte. Viel schwerwiegender war die Tatsache, daß er durch die 
festsitzende Lanzenspitze beinahe aus dem Sattel gerissen wurde. 
Roland glaubte sich bereits verloren, da rutschte Volkers Lanze doch 
noch ab und gab ihn frei. 

Schweratmend erreichte Roland die gegenüberliegende Seite des 

Burghofs. Es konnte noch keine Rede davon sein, daß sich seine 
Sehschwierigkeiten entscheidend verbessert hatten. Der Sand saß 
noch immer in seinen Augen, und da er wegen des Helms nicht die 
Möglichkeit hatte, ihn herauszureiben, würden die Schwierigkeiten 
auch noch während der nächsten Kampfrunde andauern. Roland 
konnte nur blinzeln und sich dabei lediglich ein ungefähres Bild von 
seiner Umgebung machen. 

Dennoch, es half nichts. Der Ritter mit dem Löwenherzen mußte 

seinen Samun wenden und sich Volker zum zweiten Vorbeiritt 
stellen. 

Wieder jagten die beiden Kämpfer aufeinander los, Roland stark in 

seiner Kampfkraft behindert, Volker siegesbewußt und im Vollbesitz 
seiner Kräfte. 

Und abermals war Roland nicht in der Lage, einen kontrollierten 

Stoß anzubringen. Er sah Volker und sein Pferd nur als einen 
Schemen, der in diesem Moment da war, im nächsten aber wieder 
verschwand. 

Die Attacke, die Volker diesmal startete, war kaum weniger 

hinterlistig als beim ersten Mal. Jetzt zielte er mit der Lanzenspitze 
auf Rolands Augenschlitz. 

Erst im allerletzten Sekundenbruchteil erkannte Roland die 

tödliche Gefahr. 

Gerade noch rechtzeitig ... 

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Blitzschnell machte er eine seitliche Kopfbewegung, so daß die 

Lanzenspitze nicht in den Visierschlitz eindringen konnte, sondern 
nur eine geschützte Stelle traf. 

Gleichzeitig ging er zur Gegenattakke über. Er ließ seine eigene, 

unter den obwaltenden Umständen recht nutzlose Lanze los und griff 
statt dessen nach Volkers Waffe. Trotz seiner beschränkten 
Sichtmöglichkeiten gelang es ihm, die Lanze mit fester Hand zu 
packen. 

Wilder Zorn wallte in ihm. Volker hatte hemmungslos versucht, 

ihn zu töten, hatte die Gesetze des ritterlichen Duells abermals auf 
das schwerste mißachtet. Und das gegen einen Mann, den auch er 
einst als seinen Freund angesehen hatte. 

Mit aller Kraft, die in ihm steckte, riß Roland an der Lanze. Volker 

reagierte ein bißchen zu langsam, ließ die Lanze ein bißchen zu spät 
los. 

Die Zugkräfte, die durch die wieder auseinanderstrebenden Pferde 

hervorgerufen wurden, wirkten sich verhängnisvoll für ihn aus. 
Ruckartig wurde er aus dem Sattel gerissen und schlug schwer auf 
dem Boden des Burghofs aus. 

Der vielstimmige Aufschrei der Zuschauer sagte Roland, daß er 

den Kampf trotz aller Widrigkeiten siegreich beendet hatte. Aber es 
war ein Sieg, über den er sich nicht freuen konnte. Er hatte den Mann 
in den Staub gezwungen, mit dem er schon so manches gefahrvolle 
Abenteuer bestanden hatte, der ihm stets ein guter, ja, sein bester 
Freund gewesen war. 

Und er sah Volker auch jetzt noch als Freund! 
Die Zurufe der Zuschauer nicht beachtend, hielt er sein Pferd an 

und schwang sich aus dem Sattel. Statt sich von Birgitta, der 
Schirmherrin des Duells, Glückwünsche aussprechen zu lassen, ging 
er dorthin, wo Volker auf dem Boden lag, und beugte sich über ihn. 
Blinzelnd blickte er auf den Freund hinunter. 

»Volker, kannst du mich hören?« 
Der gefallene Ritter war von dem Sturz noch ganz benommen. 

Mühevoll hob er den Kopf. 

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»Roland!« 
Der Ritter mit dem Löwenherzen sah noch immer nicht sonderlich 

gut, aber sein Gehör hatte nicht gelitten. Ihm entging nicht, daß 
Volkers Anrede nicht feindselig und haßerfüllt klang. Er hatte 
vielmehr den Eindruck, daß eine gewisse Traurigkeit angeklungen 
war. 

Und in dieser Überzeugung sah er sich nicht getäuscht. 
»Es tut mir unendlich leid, mein Freund«, sprach Volker weiter. 

»Ich weiß gar nicht...« 

»Geht es dir gut?« unterbrach ihn Roland. »Bist du ernstlich 

verletzt?« 

»Nein, ich glaube nicht. Aber das spielt jetzt auch keine Rolle. Ich 

muß dir etwas erklären, Roland.« 

»Nicht jetzt. Wir können später ...« 
»Nein, es ist zu wichtig«, widersprach Volker. »Du mußt sofort 

Bescheid wissen, damit es dir nicht ebenso ergeht wie mir. Birgitta 
ist eine Teufelin, der unbedingt das Handwerk gelegt werden muß. 
Sie hatte mich regelrecht... verhext, hatte mich zu einem willenlosen 
Sklaven gemacht. Ich war nicht mehr ich selbst und tat Dinge, die 
mir sonst niemals eingefallen wären. Erst als ich vom Pferd stürzte 
und auf dem Boden aufschlug, fand ich wieder zu mir selbst zurück. 
Der Schlag gegen den Kopf muß etwas in meinem Gehirn bewirkt 
haben, was es mir ermöglichte, den unheimlichen Bann der Gräfin 
abzuschütteln. Paß auf, mein Freund. Um mit der Teufelin fertig zu 
werden, mußt du folgendes tun ...« 

Mit äußerster Aufmerksamkeit hörte Roland zu. 

Und wieder gab die Gräfin von Falkenberg ein festliches Mahl zu 
Ehren des Siegers. 

Es war genauso köstlich, wie es Roland nach der Schilderung 

seines Freundes erwartet hatte. Und der Ritter mit dem Löwenherzen 
langte ordentlich zu. Der Kampf mit Volker hatte ihn einiges an 

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Kraft gekostet, und er war rechtschaffen hungrig. Außerdem war er 
einem guten Bissen und einem prächtigen Tropfen niemals abgeneigt 
gewesen. 

Wenn ihm nicht allzu gut bekannt gewesen wäre, daß Birgitta ein 

böses Weib war, das ihre teuflische Natur hinter einer schönen Larve 
verbarg, hätte er dem Beisammensein mit ihr durchaus einiges 
Vergnügen abgewinnen können. Er wäre kein richtiger Mann 
gewesen, wenn ihn die fraulichen Reize Birgittas unbeeindruckt 
gelassen hätten. Von einem Körper wie dem ihren mußte ganz 
einfach ein jeder träumen, dessen Lenden noch nicht erkaltet waren. 

Auch die Art und Weise, in der sie plauderte und dabei eine 

ungeahnte Schärfe des Geistes offenbarte, gefiel ihm. Ja, sie war von 
ihrer Natur her die geborene Fürstin, auch wenn sie den Gerüchten 
nach in einer nordländischen Holzfällerhütte das Licht der Welt 
erblickt haben sollte. Schade war nur, daß ihr Bestreben, der Macht 
des Bösen zum Sieg zu verhelfen, ihre unbestreitbaren Vorzüge null 
und nichtig machte. Eine Frau wie sie hatte ganz einfach nicht das 
Recht, ein Land zu regieren und dem Volk ihren unheiligen Willen 
aufzuzwingen. Nicht eine einzige Sekunde wurde Roland in seinem 
Beschluß schwankend, ihrer Herrschaft ein Ende zu bereiten. 

Ahnte sie bereits, daß er etwas plante, was ihr zum Verhängnis 

werden würde? 

Nein, es sah nicht so aus. Sie fühlte sich ganz als Fürstin, die sich 

huldvoll dazu herabgelassen hatte, mit einem zukünftigen Sklaven zu 
plaudern und sich dabei ein Bild über seine Nützlichkeit zu machen. 

Nun, sie sollte ihr blaues Wunder erleben ... 
Das Mahl neigte sich seinem Ende entgegen. Der Augenblick des 

Handelns kam näher und näher. 

Es lag Roland viel daran, daß er diesen Augenblick bestimmen 

konnte. Wenn Birgitta ihrerseits die Initiative  ergriff und ihn 
überraschte, war alles verloren. 

Dazu wollte es der Ritter mit dem Löwenherzen nicht kommen 

lassen. Es wurde Zeit... 

Wie unbeabsichtigt stieß er mit einer scheinbar ungeschickten 

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Handbewegung seinen Weinbecher vom Tisch. Mit erschrockenem 
Gesichtsausdruck sprang er auf. 

»Ich bitte um Vergebung, Gräfin. Denkt bitte nicht, daß ich ein 

geborener Tölpel bin.« 

Er ging in die Knie, scheinbar mit der Absicht, den Pokal vom 

Boden aufzuheben. Auf  diese Weise kam er höchst unauffällig bis 
auf zwei Ellen an Birgitta heran. 

Und er nutzte die Gelegenheit gut. Ehe es sich die Gräfin versah, 

hatte er sich wieder aufgerichtet und stand im nächsten Moment 
hinter ihrem Stuhl. 

Die Gräfin zuckte leicht zusammen. 
»Was soll das bedeuten, Ritter Roland?« fragte sie nicht ohne eine 

gewisse Schärfe. 

Sie wollte den Kopf wenden, aber dazu ließ es Roland gar nicht 

erst kommen. Er hatte eine Hand in ihr goldfarbenes Haar geschoben 
und hielt ihren Kopf so fest, daß sie ihn lediglich um wenige Zoll 
bewegen konnte. 

»Was tut Ihr, Ritter?« 
Roland lachte leise. Mit Leichtigkeit hinderte er sie daran, sich 

seinem Griff zu entziehen. 

»Was ich tue?« sagte er. »Nun, ich sorge dafür, daß du mich nicht 

mit deinen teuflischen Augen ansehen kannst, um mich wie alle 
anderen zu deinem ergebenen Diener zu machen, meine kleine 
Hexe!« 

Er gab sich nicht mehr die Mühe, die Form zu wahren und sie als 

Fürstin anzusprechen. Er hatte den Würfelbecher hochgehoben. Die 
Augenzahlen lagen auf dem Tisch. 

Das erkannte auch Birgitta. Ein leichtes Beben ging durch ihren 

schönen Körper. 

»Nun gut, Bube«, stieß sie hervor. »Du kennst also das Geheimnis 

meiner Macht. Was gedenkst du jetzt zu tun? Auf ewig wird es dir 
kaum gelingen, meinem Blick auszuweichen.« 

»Ich könnte dich töten, kleine Hexe!« 
»Das wagst du nicht! Meine Getreuen würden dich in Stücke 

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reißen. Und außerdem ...«,  sie ließ ein überhebliches Lachen ertönen, 
»... verträgt es sich nicht mit deiner albernen Ritterehre, eine 
wehrlose Frau umzubringen.« 

Roland hatte es schon gewußt: Birgitta war sehr scharfsinnig. Sie 

kannte ihn kaum, und doch war es ihr bereits gelungen, ihn ziemlich 
richtig einzuschätzen. Nein, es würde ihm in der Tat niemals 
einfallen, eine Angehörige des schönen Geschlechts zu töten. Frauen 
waren nicht für den Tod, sondern für etwas ganz anderes bestimmt ... 

»Sei unbesorgt«, sagte er, ohne seinen Griff zu lockern, »dein 

Leben ist nicht in Gefahr. Ich werde deine Macht auf andere Weise 
brechen!« 

»Und wie?« 
»Indem ich dir deine jungfräuliche Unschuld raube, die du deinem 

Gott geweiht hast!« 

Ein unterdrückter Aufschrei entrang sich Birgittas Kehle. Dieser 

Aufschrei bestätigte Roland, daß er genau ins Schwarze getroffen 
hatte. Nur ihre Jungfräulichkeit sicherte ihr die Gunst des 
Donnergottes mit dem Hammer. Wenn sie erst einmal eine Frau wie 
tausend andere war, würde sie die unheimliche Macht ihrer Augen 
verlieren. So hatte es Volker jedenfalls verstanden. Und so schien es 
auch zu sein. 

»Laß mich los«, keuchte die Gräfin, die ihre offenkundige Angst 

jetzt nicht mehr verbergen konnte. »Du weißt nicht, wen du vor dir 
hast!« 
»Und ob ich das weiß«, erwiderte Roland leichthin. »In meinen 
Augen bist du eine Hexe  - noch! Aber das wird sich gleich ändern. 
Mit der freien Hand zog er ein Tüchlein aus undurchsichtigem 
Leinen hervor und schlang es der Frau um die Augen. Im 
Handumdrehen hatte er es so fest verknotet, daß es nicht rutschen 
konnte. Natürlich wollte Birgitta sofort nach dem Tuch greifen. Aber 
Roland war wachsam und band mit einem anderen Tuch auch noch 
ihre Hände zusammen. Er zog die Gräfin von ihrem Stuhl hoch. Sie 
schrie und strampelte und versuchte auch, ihn zu beißen. Es war alles 
vergebliche Mühe. Roland gab ihr keine Chance. Kurz darauf hatte 

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er sie in das benachbarte Schlafgemach gezogen und auf das breite 
Bett gelegt. Mit kundiger Hand entkleidete er sie, bis sie in ihrer 
ganzen unvergleichlichen Schönheit nackt vor ihm lag. Anschließend 
legte er seine eigenen Kleider ab und schlüpfte zu ihr auf das Bett. 
Noch einmal versuchte Birgitta, sich zu wehren. Dann aber, als sie 
die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen einsah, gab sie auf. Ganz 
still lag sie da, und als Roland anfing, sie mit Lippen und Händen zu 
liebkosen, entspannte sich ihr verkrampftes Gesicht sogar. Bisher 
hatte sie niemals die Köstlichkeit der Liebe erfahren. Fast schien es 
Roland so, als habe sie insgeheim schon lange auf den Augenblick 
gewartet, in dem ihr Jungfrauendasein enden sollte. Roland ließ sich 
Zeit, ihre Lust und seine eigene zu steigern. Dann, als er das Gefühl 
hatte, daß Birgitta bereit war, ihn zu empfangen, legte er sich auf sie 
und drang behutsam in sie ein. Die Gräfin stöhnte leise auf, als seine 
Männlichkeit ihre Unschuld zerstörte. Aber Roland war sich nicht 
ganz sicher, ob es ein Stöhnen der Entsagung oder der Erleichterung 
war. Als der erste Akt des für Birgitta so neuen Spiels zu Ende war, 
wagte es Roland, ihr Augentuch zu lösen. Unwillkürlich hielt er den 
Atem an, als sie ihn ansah. Aber da war nichts zu sehen von dem 
unheiligen Feuer, das ihm Volker mit so warnender Eindringlichkeit 
beschrieben hatte. Es bestand kein Zweifel mehr: Die unheimliche 
Macht, die Birgitta über die Menschen besessen hatte, war 
dahingeschwunden. Irgendwo in weiter Ferne glaubte Roland, ein 
polterndes Lachen zu hören. Er kannte dieses Lachen. Zuletzt hatte 
er es gehört, als der Scheiterhaufen des Gauklermädchens Ilona 
Feuer fing. 

ENDE 

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Im Westen brodelte Unruhe. 
Wehte der Wind von See, roch es nach Brand. Am Tage 
hingen  leichte Rauchschleier zwischen Himmel und Erde. 
Nachts ging der Mond auf wie gelber Hauch. 
In Camelot, Schloß und Land, bereiteten sie das Jubiläum vor. 
Sie  hatten für nichts anderes Interesse als für König Artus' 
Ehrentag. 
Bis zu jenem Abend. 
Da erreichte ein Läufer mit dem letzten Licht die Waldringe vor 
dem Schloß. Der große, kräftige Mann war bis auf ein Fell um die 
Lenden  nackt. Er wankte und kam mehr taumelnd als laufend 
voran. Der  Stumpf eines Pfeiles ragte aus seinem Rücken. 
Keuchend rief er: 

Camelot in Piratenhand 

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