Günter Eich
Verwandtschaft (aus: Die Maulwürfe)
Mein Vetter François der erste, einsachtundneunzig groß, war Diktator eines mittelamerikanischen Zwergstaates. Anstatt seine Ersparnisse aus Steuereinnahmen auf eine Schweizer Bank zu transferieren, - ich wäre sein nächster Erbe gewesen und hoffte auf eine baldige Revolution - versuchte er, Geld in Zeit zu wechseln und flog fast ununterbrochen west-östlich, bei jeder Rundfahrt ein Tag gespart. Die entscheidende Strecke liegt zwischen Tokyo und Honolulu. Wenn man vormittags um zehn in Japan abfliegt, ist man um 23 Uhr des vorhergehenden Tages auf Hawai. So hoffte er, Zeit für seine Regierungsarbeit zu gewinnen. Tiefbefriedigt nahm er jeweils ein kleines Souper im Flughafenrestaurant und die nächste Maschine nach San Francisco. Soviel ich weiß, ist François immer noch unterwegs und hat schon vierzehn Tage herausgewirtschaftet. Zuhause in Mittelamerika ist inzwischen ein anderer an die Macht gekommen, der eine Schweizer Bank benutzt und leider nicht mit mir verwandt ist.
Die letzte Karte von François aus Honolulu zeigt den Palmenstrand und folgenden Gruß: Mein alter Erbschleicher, ich widerrufe nichts, du bleibst immer im Recht. Werfe dir demnächst, wenn ich Europa überquere, ein Päckchen von diesem feinen Sand ab. Fülle ihn in eine Sanduhr, sie wird nicht stehenbleiben, falls du sie fleißig umdrehst. Ich arbeite für dich. Wenn du dich eines fernen Tages zur Ruhe legst, hast du zwei Wochen Verspätung. Sei mir dankbar, sie sind von mir. Dein weiland Vetter François.
Ab und zu schaue ich hoch nach den Kondensstreifen. Alter Erblasser, denke ich grimmig und ahne nicht, ob die zwei Wochen schon begonnen haben. Aber jetzt ist er in der dritten. Der Nachfolger seines Nachfolgers überweist gerade die ersten hunderttausend nach Zürich. Wir sind auch nicht verwandt.