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»Was ist denn passiert?«

Eltons Antwort wurde von einer Alarmsirene laut

übertönt.  Dann  kam  Abbigens  in  den  Aufenthalts-
raum.  Er  sah  sich  triumphierend  um  und  nickte  je-
mandem zu. Wem? Glystra warf den Kopf herum. Zu
spät;  er  sah  nur  noch  Gesichter  und  offene  Münder.
Und jetzt – ein Bild, das er niemals vergessen würde:
die  Tür  schwang  auf,  der  Maat  taumelte  herein,  die
Hand am Hals, als würde er sich die Kehle reiben. Er
deutete  mit  einem  zitternden  Finger  auf  Abbigens.
Aus seinem Mund quoll Blut; seine Knie gaben nach,
und er fiel zu Boden.

Glystra starrte auf den untersetzten Mann mit den

blonden  Haaren.  Dunkle  Schatten  zogen  an  den
Sichtluken  vorbei.  Ein  furchtbares  Krachen;  der  Bo-
den des Aufenthaltsraums wölbte sich nach oben ...

PLANET  DER  AUSGESTOSSENEN  von  Jack  Vance,
ein packendes Weltraumabenteuer.

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Ullstein Buch Nr. 3256
im Verlag Ullstein GmbH,
Frankfurt/M – Berlin – Wien
Titel der Originalausgabe:
BIG PLANET
Aus dem Amerikanischen
von Michael Pross

Umschlagillustration: ACE
Umschlaggraphik: Ingrid Roehling
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 1957 by Jack Vance
Übersetzung © 1976 by
Verlag Ullstein GmbH,
Frankfurt/M – Berlin – Wien
Printed in Germany 1976
Gesamtherstellung:
Augsburger Druck- und
Verlagshaus GmbH
ISBN 3-548-03256-7

CIP-Kurztitelaufnahme der
Deutschen Bibliothek

Vance, Jack
Planet der Ausgestoßenen:
Science-Fiction-Roman /hrsg. von
Walter Spiegl. – Frankfurt/M.,
Berlin, Wien: Ullstein, 1976.
(Ullstein-Bücher; Nr. 3256:
Ullstein 2000)
Einheitssacht.: Big planet (dt.).
ISBN 3-548-03256-7

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Jack Vance

Planet der

Ausgestoßenen

SCIENCE-FICTION-Roman

Herausgegeben

von Walter Spiegl

ein Ullstein Buch

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!

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1

Er  nannte  sich  Arthur  Hidders.  Seine  Kleidung  war
irdischen  Zuschnitts,  und  wenn  man  von  der  Länge
seiner  Haare  und  seinem  Backenbart  absah,  unter-
schied er sich nicht im geringsten von einem Erden-
bürger.  Er  war  gut  einen  Meter  achtzig  groß  und
hellhäutig;  seinen  großen,  rundlichen  Kopf
schmückte  ein  durchaus  sensibles  Gesicht,  dessen
Züge aber etwas zu dicht beieinander lagen.

Er wandte sich von der Raum-Sichtluke ab und sah

den alten Eli Pianza mit einem Ausdruck fast kindli-
cher Durchtriebenheit an. »Das ist alles sehr interes-
sant  –  aber  muß  es  nicht,  nun  ja,  vergeblich  erschei-
nen?«

»Vergeblich?«  echote  Pianza  würdevoll.  »Ich

fürchte, das verstehe ich nicht.«

Hidders  machte  eine  achtlose  Geste.  »Die  Erd-

Zentrale hat in den letzten fünfhundert Jahren unge-
fähr während jeder Generation einmal eine Kommis-
sion  ausgesandt.  Einigen  Kommissionen  gelang  es,
wieder  lebend  zurückzukehren,  den  meisten  aber
nicht.  Auf  jeden  Fall  ist  nie  etwas  dabei  herausge-
kommen.  Ein  paar  Erkunder  haben  ihr  Leben  verlo-
ren,  eine  Menge  Geld  ist  weg,  man  flucht  –  Verzei-
hung  –  über  die  schrecklichen  Zustände  auf  dem
Großen  Planeten,  und  im  übrigen  geht  alles  weiter
wie zuvor.«

»Was Sie sagen, ist wahr«, antwortete Pianza, ohne

seinen Gleichmut zu verlieren, »aber diesmal werden
sich die Dinge vollkommen anders entwickeln.«

Hidders  zog  die  Augenbrauen  hoch  und  breitete

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zugleich  die  Arme  aus.  »Hat  sich  der  Große  Planet
verändert? Oder etwa die Erd-Zentrale?«

Pianza  sah  sich  unbehaglich  in  dem  Aufenthalts-

raum um, in dem sich außer ihnen nur eine Hilfreiche
Schwester  aufhielt,  die  unbeweglich  wie  eine  Statue
dasaß, der sichtbare Teil ihres Gesichts meditativ ent-
rückt.

»Die Bedingungen haben sich geändert«, gab er zu.

»Sehr geändert. Die früheren Kommissionen wurden
ausgesandt, um – nun ja, sagen wir, um das irdische
Gewissen  zu  beruhigen.  Wir  wußten,  daß  auf  dem
Großen  Planeten  Mord,  Folterung  und  Terror  Wirk-
lichkeit waren; wir wußten, daß etwas getan werden
mußte.«  Er  lächelte  bedauernd.  »Jetzt  gibt  es  etwas
Neues auf dem Großen Planeten: den Bajarnum von
Beaujolais.«

»Ach ja – ich bin oft durch seine Länder gereist.«
»Nun, auf dem Großen Planeten gibt es vermutlich

Hunderte  von  Herrschern,  die  nicht  weniger  grau-
sam,  arrogant  und  willkürlich  regieren  –  aber  der
Bajarnum  dehnt  sein  Reich,  wie  Sie  sicher  wissen,
ständig weiter aus, und er beschränkt seine Aktivitä-
ten  dabei  nicht  einmal  mehr  auf  den  Großen  Plane-
ten.«

»Hm«, meinte Hidders. »Sie sind also gekommen,

um sich um Charley Lysidder zu kümmern.«

»Ja, so könnte man das sagen. Und diesmal haben

wir die Befugnis, selbst einzugreifen.«

Ein dunkelhäutiger Mann von mittlerer Größe be-

trat den Aufenthaltsraum. Seine Muskeln lagen dicht
unter  seiner  Haut,  er  bewegte  sich  schnell  und  mit
scharfen,  bestimmten  Bewegungen.  Es  war  Claude
Glystra, der Leiter der Kommission.

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Glystra  sah  sich  mit  eisigen,  suchenden,  fast  miß-

trauischen Blicken im Aufenthaltsraum um. Er trat zu
Hidders und Pianza an die Sichtluke und deutete auf
eine  flammendgelbe  Sonne,  von  der  sie  nicht  mehr
weit  entfernt  waren.  »Das  ist  Phaedra.  Wir  werden
uns  in  wenigen  Stunden  auf  dem  Großen  Planeten
befinden.«

Ein  Gong  ertönte.  »Essenszeit«,  sagte  Pianza  und

erhob  sich  sichtlich  erleichtert.  Glystra  ging  den  an-
deren voraus, verhielt aber nahe der Tür, um die Hilf-
reiche Schwester in einer Wolke von Schwarz voran-
schweben zu lassen.

»Ein merkwürdiges Geschöpf«, murmelte Pianza.
Glystra  lachte.  »Auf  dem  Großen  Planeten  gibt  es

nur merkwürdige Leute; deshalb sind sie dort. Wenn
sie sie missionieren oder auch nur nach ihrer eigenen
Fasson  glücklich  werden  will,  so  ist  das  ihr  gutes
Recht. Und abgesehen von ihrer Art, sich zu kleiden,
würde sie einem jeden Planeten zur Ehre gereichen.«

Hidders nickte lebhaft. Die Hilfreichen Schwestern

genossen,  ähnlich  wie  die  Barmherzigen  Schwestern
der  Alten  Zeit,  eine  ausgesprochen  hohe  Wertschät-
zung  auf  allen  zivilisierten  Welten.  »Vollkommene
Demokratie  auf  dem  Großen  Planeten,  wie,  Mr.
Glystra?«

Pianza  sah  erwartungsvoll  drein;  Glystra  pflegte

stets  in  aller  Deutlichkeit  zu  sagen,  was  er  dachte.
Claude Glystra enttäuschte ihn nicht.

»Perfekte Anarchie, Mr. Hidders.«
Schweigend  gingen  sie  die  spiralförmige  Treppe

zur Kantine hinab und nahmen ihre Plätze ein. Einer
nach dem anderen kamen die übrigen Mitglieder der
Kommission  hinzu.  Zuerst  Roger  Fayne,  groß,  blü-

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hend,  lebhaft;  dann  Moss  Ketch,  dunkel,  mürrisch,
melancholisch, gleich dem »Vorher«-Typ in der Wer-
bung für ein Stärkungsmittel. Danach kam Steve Bis-
hop, das jüngste Kommissionsmitglied; hinter seinem
Schafsgesicht  und  seiner  aalglatten  Art  verbargen
sich ein Kopf voll von Gelehrsamkeit und starke hy-
pochondrische Tendenzen. Er befriedigte das eine mit
einer  tragbaren  Mikrofilmbibliothek  und  das  andere
mit  einem  Koffer  voll  von  Medikamenten  und  In-
strumenten.  Zuletzt  kam  Bruce  Carrot,  aufrecht,  mit
ausgesprochen  militärischer  Haltung  und  karotten-
farbenen  Haaren.  Seine  Lippen  waren  aufeinander-
gepreßt,  als  müßten  sie  einen  beständigen  Tempera-
mentsausbruch verhindern.

Die  Mahlzeit  verlief  ruhig,  war  aber  von  einer

Spannung belastet, die den ganzen Nachmittag über
anhielt und immer stärker wurde, während sich der
Große Planet in ihren Sichtbereich schob und diesen
schon bald vollkommen ausfüllte.

Ein  scharfer  Ruck,  ein  Schlingern,  ein  spürbarer

Richtungswechsel.  Glystra  wich  von  der  Sichtluke
zurück.  Das  Licht  flackerte,  erstarb,  glomm  dann
schwach  weiter.  Glystra  lief  die  Spirale  zur  Brücke
hinauf.  Auf  dem  höchsten  Absatz  stand  ein  unter-
setzter  Mann  in  einer  Schiffsuniform  –  Abbigens,
Funker und Zahlmeister.

»Was  ist  los?«  verlangte  Glystra  scharf.  »Was  ist

passiert?«

»Keine  Ahnung,  Mr.  Glystra.  Ich  wollte  selbst  da

hinein; aber die Tür ist verschlossen.«

»Sieht  so  aus,  als  wäre  das  Schiff  außer  Kontrolle

geraten, als stünde uns eine Bruchlandung bevor.«

»Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Mr.

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Glystra. Wir haben eine Notlandeausrüstung, die uns
sicher zu Boden bringen wird – alles automatisch. Die
Landung wird vielleicht ein bißchen hart, aber wenn
wir  ruhig  im  Aufenthaltsraum  sitzen  bleiben,  kann
uns eigentlich nichts passieren.«

Behutsam  ergriff  er  Glystras  Arm.  Glystra  schüt-

telte ihn ab und kehrte zu der Tür zurück; sie war so
fest wie die übrigen Wandungen.

Er  rannte  die  Stufen  hinunter,  während  er  sich

selbst  vorwarf,  nichts  gegen  eine  solche  Möglichkeit
unternommen  zu  haben.  Irgendwo  auf  dem  Großen
Planeten  außerhalb  der  Erdenklave  zu  landen,  be-
deutete nichts weniger als eine Katastrophe. Er stand
am  Eingang  des  Aufenthaltsraums;  da  war  ein
Durcheinander  von  Stimmen,  bleiche  Gesichter
wandten sich ihm zu. Fayne, Darrot, Pianza, Bishop,
Ketch, Hidders und die Schwester – sie waren alle da.
Er  lief  zum  Maschinenraum;  die  Tür  gab  nach.  Asa
Elton,  der  durch  nichts  zu  erschütternde  Chefinge-
nieur, schob ihn zurück.

»Wir brauchen die Rettungsboote«, bellte Glystra.
»Keine Rettungsboote mehr.«
»Keine  Rettungsboote  mehr!  Was  ist  mit  ihnen  ge-

schehen?«

»Sind  ausgeschleust  worden.  Wir  müssen  beim

Schiff bleiben, etwas anderes bleibt uns nicht zu tun.«

»Aber der Kapitän, der Maat –«
»Sie antworten nicht.«
»Aber was ist passiert?«
Eltons  Antwort  wurde  von  einer  Alarmsirene  un-

hörbar gemacht.

Abbigens kam in den Aufenthaltsraum. Er sah sich

triumphierend  um  und  nickte  jemandem  zu.  Wem?

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Glystra  warf  den  Kopf  herum.  Zu  spät;  er  sah  nur
noch Gesichter und offene Münder.

Und jetzt – ein Bild, das er niemals vergessen wür-

de:  die  Tür  schwang  auf;  der  Maat  taumelte  herein,
die Hand am Hals, als würde er sich die Kehle reiben.
Er deutete mit einem zitternden Finger auf Abbigens.
Aus seinem Mund quoll Blut; seine Knie gaben nach,
und er fiel zu Boden.

Glystra starrte auf den untersetzten Mann mit den

blonden Haaren.

Dunkle  Schatten  zogen  an  den  Sichtluken  vorbei.

Ein furchtbares Krachen; der Boden des Aufenthalts-
raums wölbte sich nach oben.

Claude  Glystra  gewann  sein  Bewußtsein  allmählich
wieder wie ein Stück Holz, das sich im Wasser voll-
sog. Er öffnete seine Augen; die Sicht kehrte zurück.

Er  lag  auf  einer  niedrigen  Bettstelle  in  einer  aus

Brettern  gezimmerten  Hütte.  Mit  einer  fiebrigen  Be-
wegung stützte er sich auf einen Ellbogen und sah zu
der  offenen  Tür  hinaus;  und  was  er  sah,  wirkte  auf
ihn wie der wundervollste Anblick seines Lebens.

Er sah auf einen grünen Hügel hinaus, mit gelben

und

 

roten

 

Blumen

 

besprenkelt,

 

der

 

zu

 

einem

 

Wald

 

hin-

aufführte. Durch das Blätterwerk hindurch waren die
Giebel eines Dorfes zu erkennen – schmale Giebel aus
geschnitztem, dunkelbraunem Holz. Die ganze Land-
schaft war wie in ein helles, goldenes Licht getaucht;
jede Farbe erstrahlte mit juwelengleicher Klarheit.

Drei  Mädchen  in  bäuerlicher  Kleidung  bewegten

sich  durch  sein  Gesichtsfeld;  sie  tanzten  im  Kreise.
Glystra hörte die Musik – Ziehharmonika, Mandoline
und Gitarre.

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Schritte

 

näherten

 

sich.

 

Aus

 

nur

 

halb

 

geöffneten

 

Au-

gen nahm er wahr, wie Pianza und Roger Fayne die
Hütte

 

betraten. Hinter ihnen kam ein junges Mädchen

mit blonden Pferdeschwänzen; sie trug ein Tablett.

Glystra  kämpfte  sich  erneut  auf  seine  Ellbogen,

und  Pianza  sagte  beruhigend:  »Entspanne  dich,
Claude. Du bist ein kranker Mann.«

»Ist jemand getötet worden?« verlangte Glystra zu

wissen.

»Die  Stewards.  Sie  haben  sich  im  äußeren  Bereich

des Schiffs aufgehalten. Und die Schwester ebenfalls.
Offenbar ist sie kurz vor dem Aufprall in ihre Kabine
gegangen. Die befindet sich jetzt sechs bis acht Meter
unter der Erde. Und dann natürlich der Kapitän und
der Maat, denen die Kehle durchgeschnitten wurde.«

Glystra schloß die Augen. »Wie lange ist das jetzt

her?«

»Etwa vier Tage.«
»Was ist passiert?«
»Das  Schiff  ist  völlig  hin«,  sagte  Fayne.  Er  zog  ei-

nen Stuhl heran und setzte sich. »Es ist in drei Teile
zerbrochen.  Ein  Wunder,  daß  wir  überhaupt  lebend
herauskamen.«

Das Mädchen stellte das Tablett auf das Bett, kniete

sich hin und breitete sich darauf vor, Glystra zu füt-
tern. Er sah etwas kläglich hoch. »Und das geht schon
seit vier Tagen so?«

»Du hast Pflege gebraucht«, sagte Pianza. Er strich

dem  Mädchen  über  die  Haare.  »Das  ist  Natilien-
Thilssa,  oder  kürzer  Nancy.  Sie  ist  eine  gute  Schwe-
ster.«

Fayne blinzelte mit den Augen. »Du hast vielleicht

ein Glück.«

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Glystra

 

wich

 

vor

 

dem

 

Löffel

 

zurück. »Ich kann selbst

essen.« Er sah zu Pianza hoch. »Wo sind wir, Eli?«

Pianza runzelte die Stirn. »Die Ortschaft heißt Jubi-

lith – irgendwo nahöstlich von Beaujolais.«

Glystra  preßte  die  Lippen  zusammen.  »Es  könnte

kaum schlimmer sein. Ich wundere mich, daß sie uns
noch nicht aufgegriffen haben.«

Pianza sah zur Tür hinaus. »Wir sind hier ziemlich

isoliert,  und  es  gibt  praktisch  keine  Kommunikati-
onsmittel ... Aber es hat uns trotzdem ziemlich nervös
gemacht, wie ich zugeben muß.«

Die Szene im Aufenthaltsraum trat vor Glystras in-

neres Auge. »Wo ist Abbigens?«

»Abbigens? Verschwunden.«
Glystra stöhnte und atmete schwer. Pianza sah un-

sicher zu Fayne.

»Warum habt ihr ihn nicht umgebracht?«
Pianza  vermochte  nur  den  Kopf  zu  schütteln.  »Er

ist uns entkommen«, sagte Fayne.

»Da  war  noch  jemand  anders«,  sagte  Glystra

schwach.

Eli Pianza lehnte sich nach vorn, seine grauen Au-

gen blickten scharf. »Jemand anders? Wer?«

»Ich weiß nicht. Abbigens hat den Kapitän und den

Maat umgebracht. Der andere hat den Antrieb sabo-
tiert  und  die  Rettungsboote  ins  All  geschickt.«  Er
wälzte  sich  ruhelos  auf  der  Liege  hin  und  her,  und
das  Mädchen  legte  eine  kühle  Hand  auf  seine  Stirn.
»Ich  war  also  vier  Tage  bewußtlos.  Ist  das  nicht  un-
gewöhnlich lange?«

»Du

 

hast

 

unter

 

dem

 

Einfluß

 

von Beruhigungsmitteln

gestanden«, erklärte Pianza. »Du hast dringend Ruhe
gebraucht. Eine Zeitlang warst du wie wahnsinnig.«

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2

Glystra setzte sich auf, obwohl Nancy ihn zurückzu-
halten  versuchte,  und  befühlte  seinen  Kopf.  Er  ver-
suchte,  auf  die  Füße  zu  kommen.  Fayne  sprang  auf.
»Um Himmels willen, Claude, mach mal langsam!«

Glystra  schüttelte  den  Kopf.  »Wir  müssen  hier

raus.  Und  zwar  schnell.  Überleg  doch  mal.  Wo  ist
Abbigens?  Er  ist  abgehauen,  um  Charley  Lysidder
Bericht zu erstatten, dem Bajarnum.« Er ging zur Tür
und  badete  sich  in  den  weiß-goldenen  Sonnenstrah-
len,  nahm  den  Anblick  der  Landschaft  des  Großen
Planeten in sich auf. Pianza schaffte einen Stuhl her-
bei; Glystra ließ sich darauf nieder.

Die Hütte, das Dorf und der Wald befanden sich in

halber Höhe einer Hügelformation, deren Größe sich
irdischen Vorstellungen entzog. Oberhalb vermochte
Glystra  keine  scharfe  oder  kammartige  Begrenzung
zu  erkennen;  das  Land  floß  in  die  blaßblaue  Ferne
hinein.

Fayne hielt seine schweren Arme in die wärmende

Sonne.  »Hierher  werde  ich  ziehen,  wenn  ich  alt  bin.
Wir hätten den Großen Planeten niemals diesen Ver-
rückten überlassen sollen.«

Nancy  ging  mit  etwas  steifen  Bewegungen  ins

Haus zurück.

Roger  Fayne  kicherte.  »Vermutlich  hat  sie  ange-

nommen, daß ich sie auch zu den Verrückten zähle.«

»Du  wirst  niemals  alt  werden,  Roger«,  sagte

Glystra,  »wenn  wir  hier  nicht  bald  herauskommen.
Wo ist das Schiff?«

»Ein Stück weit in dem Wald da oben.«

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»Wie weit sind wir von Beaujolais entfernt?«
Fayne blickte in Richtung Südwesten den Abhang

hinauf. »Die Grenzen von Beaujolais lassen sich nicht
so genau bestimmen. Jenseits dieser Erhebung befin-
det  sich  ein  weites  Tal  offenbar  vulkanischen  Ur-
sprungs.  Es  soll  voll  von  heißen  Quellen,  Geisiren,
sein – das Tal der Glasbläser. Letztes Jahr ist der Ba-
jarnum  mit  seinen  Truppen  eingerückt,  und  seither
gehört  das  Tal  zu  Beaujolais.  Bis  heute  hat  er  noch
keinen Statthalter oder Steuereintreiber nach Jubilith
gesandt,  aber  sie  werden  jeden  Tag  erwartet  –  zu-
sammen mit einer Garnison.«

»Wozu  eine  Garnison?  Um  die  vielzitierte  Ruhe

und Ordnung aufrechtzuerhalten?«

Fayne deutete hangabwärts. »Zum Schutz vor den

wilden  Nomaden,  die  sich  gern  als  Sklavenjäger  be-
tätigen – sie werden Zigeuner genannt.«

Glystra blickte zu der Stadt hinauf. »Sieht nicht so

aus,  als  ob  sie  darunter  sehr  gelitten  hätten  ...  Wie
weit ist Grosgarth entfernt?«

»Es  liegt  schätzungsweise  etwa  zweihundert  Mei-

len südlich. Eine Garnisonsstadt – sie wird Montmar-
chy genannt – befindet sich etwa fünfzig Meilen süd-
östlich am Rand der Hügelformation entlang.«

»Fünfzig  Meilen«,  überlegte  Glystra.  »In  diese

Richtung hat sich vermutlich Abbigens auf den Weg
gemacht, um ...« Ein dumpfes, metallisches Geräusch
war vom Wald her zu vernehmen. Glystra sah Pianza
fragend an.

»Sie schneiden das Schiff auseinander. Es ist mehr

Metall, als sie in ihrem ganzen Leben gesehen haben.
Wir haben sie alle zu Millionären gemacht.«

»Bis  der  Bajarnum  das  ganze  Ding  beschlag-

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nahmt«, ergänzte Fayne.

»Wir  müssen  hier  raus«,  murmelte  Glystra  und

bewegte sich in seinem Stuhl. »Wir müssen es bis zur
Enklave schaffen – irgendwie ...«

Pianza  preßte  die  Lippen  aufeinander.  »Der  näch-

ste Weg dahin geht um den ganzen Planeten, und das
sind vierzigtausend Meilen.«

Glystra  erhob  sich  mühsam.  »Wir  müssen  hier

raus. Wir sitzen hier wie Tontauben zum Abschießen.
Wenn sie uns kriegen, dann wird Lysidder ein Exem-
pel an uns statuieren ... Wo sind eigentlich die ande-
ren aus dem Schiff?«

Pianza nickte in Richtung auf das Dorf. »Sie haben

uns ein großes Haus überlassen. Hidders ist weg.«

»Weg? Wohin?«
»Grosgarth. Er sagte, er will zum Golf von Marwan

übersetzen und sich einer der Strandkarawanen nach
Wale anschließen.«

»Hmm.  Die  Stewards  tot,  der  Kapitän  und  der

Maat  tot,  die  Schwester  tot,  Abbigens  weg,  Hidders
weg«,  –  Glystra  zählte  sie  an  seinen  Fingern  ab  –
»bleiben  also  noch  acht;  die  Kommission  und  zwei
Offiziere aus dem Maschinendeck. Bringt sie am be-
sten hier runter, und dann werden wir Kriegsrat hal-
ten.«

Sorgenvoll sah Glystra Pianza und Fayne nach, wie

sie zum Dorf hinaufstiegen, ließ seinen Blick sodann
hangabwärts schweifen. Wenn sich Truppen von Be-
aujolais  bei  Tage  näherten,  dann  waren  sie  auf  viele
Meilen auszumachen. Glystra dachte dankbar daran,
daß  die  Kruste  des  Planeten  keine  Metalle  enthielt;
ohne Metalle keine Maschinen, ohne Maschinen keine
Elektrizität – daher auch keine Kommunikation über

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weite Entfernungen hinweg.

Nancy kam aus der Hütte heraus; sie hatte ihr ab-

getragenes blaues Kleid durch eine Art von Hosenan-
zug ersetzt, einen in Rot und Blau gemusterten Har-
lekinanzug. Eine enganliegende Kappe bedeckte ihre
Haare.

Claude  Glystra  starrte  sie  einen  Augenblick  lang

an. Nancy  wirbelte  vor  ihm  herum  und  zog  eine  Pi-
rouette – auf einer Zehenspitze balancierend, den an-
deren Fuß am Knie angelegt. »Sind alle Mädchen von
Jubilith so liebreizend wie du?«

Sie lächelte und ließ ihr Gesicht von der Sonne be-

scheinen. »Ich bin nicht von Jubilith ... Ich komme aus
dem Ausland.«

»Tatsächlich. Von woher?«
Sie  wies  in  Richtung  Norden.  »Von  Veillevaux  im

Walde. Mein Vater hatte die Gabe der Prophetie, und
die Leute kamen von weither, um nach ihrer Zukunft
zu fragen.«

»Mein  Vater  wurde  reich«,  fuhr  Nancy  fort.  »Er

bildete  mich  in  den  Künsten  aus.  Ich  reiste  nach
Grosgarth  und  Calliope  und  Wale,  und  durch  die
Stemvelt-Kanäle  ging  ich  ins  Ausland  als  Sängerin.
Ich  war  bei  den  besten  Spielgesellschaften,  und  zu-
sammen  kamen  wir  durch  viele  Städte  und  Burgen
und  wundervolle  Landschaften.«  Sie  erbebte  sicht-
lich.  »Und  wir  haben  auch  Schlimmes  gesehen.  Viel
Schlimmes in Claythree ...« Tränen traten in ihre Au-
gen.  Mit  ausdrucksloser  Stimme  fuhr  sie  fort:  »Bei
meiner  Rückkehr  in  die  Heimat  fand  ich  nur  noch
Niedergang und Verzweiflung. Die Zigeuner aus der
Nordheide hatten das Dorf überfallen und das Haus
meines  Vaters,  in  dem  sich  meine  ganze  Familie  be-

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fand, niedergebrannt. Und ich ging nach Jubilith, um
tanzen zu lernen und meine Trauer hinwegzutanzen
...«

Glystra musterte sie genauer. Sie hatte einen ausge-

sprochen  lebhaften  Ausdruck  –  ihre  Augen  blitzten,
ihre  Stimme  trällerte  geradezu,  wenn  sie  von  etwas
Freudigem  sprach  –  ihre  Lippen  bewegten  sich  flie-
ßend. Und wenn sie von Trauer sprach, dann wurden
ihre Augen ganz groß und nachdenklich.

»Und  warum  wurdest  du  damit  betraut,  mich  zu

pflegen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin eine Fremde

hier;  ich  kenne  die  Lehren  von  Grosgarth  –  die  teil-
weise aus irdischen Büchern abgeleitet wurden. Nai-
suka

Glystra  sah  erstaunt  hoch  und  wiederholte  das

Wort. »Was bedeutet das?«

»Es ist ein Wort, das in Beaujolais gebraucht wird.

Es bedeutet – nun ja, was immer einen Menschen da-
zu  bringt,  Dinge  zu  tun,  die  keinen  besonderen
Grund haben.«

Er deutete den Abhang hinab. »Wie heißt das Land

dort unten?«

Sie wandte sich um. »Das Gebiet von Jubilith endet

bei  den  Wäldern  von  Tsalombar.«  Sie  wies  auf  die
ferne Silhouette einer Waldregion. »Dort wohnen die
Baumleute.«

Beim  Dorf  oben  wurden  jetzt  die  Erdbewohner

sichtbar. Claude Glystra sah zu, wie sie näherkamen.
Keiner  wirkte  auch  nur  im  entferntesten  schuldbe-
wußt;  aber  jemand  hatte  Abbigens  geholfen,  und  je-
mand  anders  hatte  den  Antrieb  außer  Funktion  ge-
setzt. Das konnte natürlich Arthur Hidders gewesen

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sein, und der war jetzt weg.

»Setzt  euch«,  sagte  Glystra.  Sie  setzten  sich  ins

Gras. Glystra zögerte, bevor er sich den anderen zu-
wandte. »Wir sind ziemlich übel in der Klemme, aber
ich  glaube  ja  nicht,  daß  ich  das  näher  ausführen
muß.«

Keiner sagte etwas.
»Unser Schiff ist ein Wrack, und auf Hilfe von der

Erde  können  wir  nicht  hoffen.  Was  die  technische
Überlegenheit angeht, so sind wir nicht besser dran,
als die Leute aus dem Dorf. Vielleicht schlechter. Sie
sind den Umgang mit ihren Werkzeugen und Mate-
rialien gewohnt; wir nicht. Wenn wir unbegrenzt Zeit
hätten, dann könnten wir vielleicht eine Art von Sen-
der  zusammenbasteln  und  damit  die  Enklave  zu  er-
reichen  versuchen.  Diese  Zeit  haben  wir  nicht.  Wir
müssen in jeder Minute damit rechnen, von Soldaten
überrascht und nach Grosgarth gebracht zu werden ...
Wir  haben  nur  eine  Chance,  und  die  besteht  darin,
aus Beaujolais herauszukommen, soviele Meilen wie
möglich hinter uns zu bringen.«

Er hielt inne und sah einen nach dem anderen an.

Pianza ließ sich wenig anmerken; Faynes breite Stirn
war  in  tiefe  Falten  gelegt;  Ketch  hörte  nicht  auf,  mit
einem  kantigen  Stein  Furchen  in  den  Boden  zu  zie-
hen.  Bishops  Gesicht  wirkte  sorgenumwölkt;  über
seinen Augen hatten sich kleine Runzeln ähnlich um-
gekehrten V gebildet. Darrot fuhr sich mit der Hand
durch  seine  spärlichen  roten  Haare  und  murmelte
etwas zu Ketch, der dazu nickte. Elton, der Chefinge-
nieur, saß still da, als ginge ihn das alles nichts an.

Vallusser, der zweite Ingenieur, starrte Glystra an,

als  wäre  er  der  Grund  all  seiner  Schwierigkeiten.  Er

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fragte mit belegter Stimme: »Was machen wir dann?
Wohin  sollen  wir  flüchten?  Da  draußen«  –  er  wies
den Hang hinunter – »sind doch nur Wilde. Sie wer-
den uns umbringen. Einige von ihnen halten Sklaven,
aber das ist wenig besser.«

Glystra zuckte mit den Schultern. »Jeder kann na-

türlich machen, was er will, um seine eigene Haut zu
retten. Was mich angeht, ich sehe einen Ausweg. Es
ist ein harter, langer und gefährlicher Weg. Vielleicht
unmöglich. Es ist fast sicher, daß nicht alle von uns es
schaffen werden. Aber wir wollen mit unserem Leben
davonkommen; wir wollen nach Hause. Das ist« – er
betonte diese Worte besonders – »ein ganz bestimm-
ter  Ort  auf  dem  Großen  Planeten.  Die  Enklave.  Wir
müssen die Enklave erreichen.«

»Klingt  gut«,  meinte  Fayne.  »Ich  bin  dafür.  Aber

wie machen wir das?«

Glystra  grinste.  »Mit  dem  einzigen  Fortbewe-

gungsmittel, das wir haben – nämlich unsere Füße.«

»Füße?« Faynes Stimme geriet in eine höhere Ton-

lage.

»Hört sich nach einem ziemlich langen Marsch an«,

sagte Darrot.

Glystra  zuckte  die  Schultern.  »Wir  brauchen  uns

nichts vorzumachen. Wir haben nur eine Chance, zur
Erde  zurückzugelangen  –  und  die  besteht  darin,  die
Erdenklave zu erreichen.«

»Aber  vierzigtausend  Meilen?«  klagte  Fayne.  »Ich

bin  ja  nicht  gerade  leicht  und  auch  nicht  so  gut  auf
den Füßen.«

»Wir werden uns Packtiere zulegen«, sagte Glystra.

»Indem  wir  sie  kaufen,  stehlen  oder  wie  auch  im-
mer.«

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»Aber vierzigtausend Meilen.«
Glystra nickte. »Es ist ein weiter Weg. Aber wenn

wir  einen  entsprechenden  Fluß  finden,  werden  wir
eine  Floßfahrt  machen.  Oder  vielleicht  können  wir
uns  zum  Schwarzen  Ozean  durchschlagen,  dort  ein
Schiff auftreiben und um die Küste herumsegeln.«

»Unmöglich«,  sagte  Bishop.  »Die  australische

Halbinsel  können  wir  nicht  umschiffen,  zumal  sie
noch  einen  scharfen  östlichen  Ausläufer  hat.  Wir
müßten also zunächst bis Henderland und dann zum
Meer – um die Blackstone-Kordilleren herum bis zum
Parmarbo. Und nach dem Almanach des Großen Pla-
neten ist der Parmarbo praktisch nicht schiffbar auf-
grund  von  Riffen,  Piraten,  fleischfressenden  Seeane-
monen und wöchentlichen Hurrikanen.«

Roger  Fayne  stöhnte  wiederholt  auf.  Auch  Nancy

gab  einen  Laut  von  sich;  ihr  bebender  Mund  verriet
Glystra,  daß  sie  ein  Kichern  zu  unterdrücken  ver-
suchte.  Er  erhob  sich,  und  Pianza  sah  ihn  zweifelnd
an. »Wie fühlst du dich, Claude?«

»Schwach.  Aber  morgen  bin  ich  bestimmt  wieder

wie  neu.  Mir  fehlt  nichts,  was  nicht  mit  ein  bißchen
Übung behoben werden könnte. Wir haben eines, wo-
für wir dankbar sein können –«

»Was ist das?« fragte Fayne.
Glystra wies auf seine Füße. »Gute Stiefel. Wasser-

dicht und dauerhaft. Die werden wir auch brauchen.«

Fayne musterte seinen eigenen Körper. »Ich glaube,

meinen Bauch werde ich loswerden.«

Glystra  sah  sich  im  Kreise  um.  »Hat  noch  jemand

eine Idee? Vallusser?«

»Ich bleibe bei euch.«
»Gut. Hier also das Programm. Wir müssen unser

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Gepäck herrichten. Wir nehmen soviel Metall mit, als
wir  ohne  Schwierigkeiten  tragen  können;  es  ist  äu-
ßerst  wertvoll  auf  dem  Großen  Planeten.  Jeder  von
uns sollte etwa sechs bis sieben Kilo nehmen können.
Messer  und  Werkzeuge  wären  am  besten,  aber  wir
werden nehmen müssen, was geht ... Dann brauchen
wir  Kleider,  und  zwar  jeweils  ein  Stück  zum  Wech-
seln. Eine Schiffahrtskarte des Großen Planeten, wenn
eine aufzutreiben ist. Einen Kompaß. Jeder sollte sich
ein gutes Messer, eine Decke und – das ist am wich-
tigsten  –  Handwaffen  aussuchen.  Hat  sich  schon  je-
mand im Schiff umgesehen?«

Elton  langte  in  seine  Jackentasche  und  ließ  den

schwarzen  Lauf  einer  Ionenpistole  sichtbar  werden.
»Hat  dem  Kapitän  gehört.  Ich  habe  mir  erlaubt,  das
Ding an mich zu nehmen.«

»Ich habe bereits zwei solche Dinger«, fügte Fayne

hinzu.

»In  meiner  Schiffskabine  sollte  sich  noch  ein  Io-

nenentlader  befinden«,  sagte  Pianza.  »Gestern  war
der Zugang noch versperrt, aber vielleicht komme ich
doch noch irgendwie hinein.«

»In  meiner  Kabine  ist  noch  eine  Waffe«,  erklärte

Glystra.

Die  sieben  Männer  strebten  hangauf,  in  den  sei-

denblauen bis grünen Wald hinein. Glystra sah ihnen
von der Tür aus nach.

Nancy  erhob  sich.  »Du  solltest  jetzt  am  besten

schlafen.«

Er ging hinein und ließ sich auf die Liegestatt nie-

der.  Nancy  stand  daneben  und  sah  ihn  sinnend  an.
»Claude Glystra.«

»Was willst du?«

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»Kann ich mitgehen?«
Er wandte den Kopf und sah sie erstaunt an. »Mit-

gehen – wohin?«

»Wohin immer du gehst.«
»Um den ganzen Planeten?«
»Ja.«
Er  schüttelte  entschieden  Kopf.  »Du  würdest  mit

uns zusammen den Tod finden. Unsere Chance steht
nur tausend zu eins.«

»Das ist mir egal ... ich sterbe nur einmal. Und ich

möchte  einmal  die  Erde  sehen.  Ich  bin  weit  gereist,
und ich weiß von vielen Dingen ...«

Glystra  versuchte,  seine  Gedanken  zu  ordnen.  Es

gelang  ihm  nicht,  er  war  zu  erschöpft.  Irgend  etwas
stimmte  nicht.  Er  musterte  ihr  Gesicht;  war  sie  viel-
leicht in ihn vernarrt? Sie errötete.

»Du errötest leicht«, bemerkte Glystra.
»Ich bin stark. Ich kann die gleiche Arbeit verrich-

ten wie Ketch oder Bishop.«

»Ein  hübsches  Mädchen  kann  auch  eine  Menge

Ärger machen.«

Sie zuckte die Schultern. »Frauen werdet ihr über-

all auf dem Großen Planeten finden.«

Glystra  ließ  sich  auf  die  Liege  zurücksinken  und

schüttelte erneut den Kopf. »Du kannst nicht mit uns
kommen, Nancy.«

Sie beugte sich nach vorn. »Sag ihnen, daß ich euch

den Weg zeigen werde. Kann ich nicht bis zum Wald-
rand mitkommen?«

»Gut. Bis zum Waldrand.«

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3

Glystra  schlief  eine  Stunde,  zwei  Stunden,  sein  Kör-
per  saugte  die  erholsame  Ruhe  in  sich  auf.  Als  er
wieder erwachte, fiel die Nachmittagssonne wie eine
Flut von Saffran durch die Tür herein. Hangaufwärts
sah er, wie die Dörfler ihren abendlichen Reigen voll-
führten.  Reihen  von  Mädchen  und  jungen  Männern
in  buntgesprenkelten  Anzügen,  ähnlich  dem  von
Nancy,  bewegten  sich  tanzend  und  springend  hin
und  her.  Glystras  Ohren  vernahmen  eine  lebhafte
Tanzmusik,  die  mit  Fiedeln,  Ziehharmonikas  und
Gitarren  gespielt  wurde.  Mit  weitausholenden
Schritten  liefen  und  sprangen  die  Tänzer  innerhalb
seines Gesichtsfeldes hin und her.

Pianza  und  Darrot  sahen  durch  die  Tür  zu  ihm

herein. »Aufgewacht, Claude?« fragte Pianza.

Glystra schwang sich über den Rand der Liegestatt

hinweg und auf die Füße, setzte sich auf. »Bin so gut
wie  neu.«  Er  stand  auf,  streckte  sich  und  strich  sich
über den Hinterkopf; die Spuren seiner Verwundung
waren fast völlig vergangen. »Alles bereit?«

Pianza nickte. »Wir können gehen. Wir haben dei-

nen Ionenstrahler gefunden und außerdem noch ein
Hitzegewehr, das dem Maat gehörte.« Er sah Glystra
nicht  direkt  an.  »Wenn  ich  es  richtig  mitbekommen
habe,  dann  wird  Nancy  an  der  Expedition  teilneh-
men.«

»Nein«, sagte Glystra. »Ich habe ihr gesagt, daß sie

bis  zum  Wald  mitkommen  kann  –  das  ist  nur  zwei
oder drei Stunden von hier entfernt.«

Eli  Pianza  blickte  skeptisch  drein.  »Sie  hat  bereits

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ihr Tragegepäck zusammengestellt. Sie sagte, sie will
mit uns gehen.«

Darrot bewegte verneinend den Kopf hin und her.

»Ich mag das nicht, Claude. In unserer Marschgruppe
ist kein Platz für ein Mädchen. Das führt nur zu Rei-
bungen und Unzufriedenheiten.«

»Ich stimme da voll mit dir überein, Bruce«, sagte

Glystra. »Ich habe ihr Ansinnen rundweg abgelehnt.«

»Aber sie hat schon alles zusammengepackt«, sagte

Pianza.

»Wenn  sie  uns  mit  dreißig  Metern  Abstand  folgt,

dann  wüßte  ich  nicht,  wie  wir  sie  aufhalten  sollten,
ohne körperlichen Zwang anzuwenden.«

Pianza blinzelte mit den Augen. »Nun ja, natürlich

...« Seine Stimme verlor sich.

Darrot  war  noch  immer  nicht  überzeugt.  »Sie  ist

weit  gereist;  sie  war  in  Grosgarth.  Sie  könnte  eine
Geheimagentin  des  Bajarnum  sein.  Wie  ich  gehört
habe, sind seine Spione überall – selbst auf der ande-
ren Seite des Planeten; selbst auf der Erde.«

»Möglich. Es könnte aber auch sein, daß du für den

Bajarnum arbeitest. Einer von uns steht auf jeden Fall
in seinen Diensten.«

Darrot schnaufte verächtlich und wandte sich ab.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Glystra und klopfte

ihm auf die Schultern. »Wenn wir den Wald erreicht
haben,  dann  schicken  wir  sie  zurück.«  Er  ging  zur
Tür und trat durch sie hindurch ins Freie.

»Bishop hat den Ersten-Hilfe-Kasten aus dem Schiff

gerettet«,  berichtete  Pianza,  »mit  all  den  Nahrungs-
konzentraten  und  Vitaminpillen.  Wir  werden  es
brauchen können; was wir zu Essen bekommen, wird
nicht immer das Beste sein.«

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»Gut.«
»Fayne  hat  seine  Campingausrüstung  gefunden,

und wir werden den Kocher und den Wasserbereiter
mitnehmen.«

»Und  wie  steht  es  mit  Energiereserven  für  die  Io-

nenstrahler?«

»Nichts.«
Glystra  kaute  auf  seinen  Lippen  herum.  »Das  ist

schlecht ... Habt ihr die Leiche der Schwester gefun-
den?«

Pianza schüttelte den Kopf.
»Schade«, meinte Glystra, obwohl er es nur wenig

bedauerte. Die Frau war kaum als menschliches We-
sen  existent  gewesen,  was  ihn  anging;  er  erinnerte
sich  nur  an  ein  schmales  weißes  Gesicht,  einen
schwarzen Umhang und eine schwarze Kapuze, und
an ein Flair der Weltabgewandtheit; davon war jetzt
nichts mehr da.

Vom  Dorf  her  näherten  sich  die  Erdenmänner,

während  die  Tänzer  mit  fröhlichen  und  theatrali-
schen  Bewegungen  um  sie  herumsprangen,  nur  auf
ihre eigenen Bewegungen und auf die Musik achtend.
Da  waren  Ketch,  Elton,  Vallusser,  Fayne,  Bishop  –
und Nancy. Sie stand ein wenig abseits, verfolgte die
Tänze mit gelöster Distanz, als wäre sie bereits aller
Bänder ledig, die sie zu Jubilith unterhalten hatte.

Glystra sah über den Großen Planeten hinweg, der

jetzt bereits in dunkles Gold getaucht zu sein schien.
Während  er  den  weiten  Abhang  hinabsah,  fühlte  er
sich seiner Sache plötzlich nicht mehr so sicher. Jubi-
lith erschien ihm warm und behaglich und sicher, fast
wie ein Zuhause. Vor ihm lag nur eines – die Weite.
Vierzigtausend Meilen,  dachte  er;  einmal  um  die  Erde

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herum, und dann noch einmal halb so weit ...

Wenn er dorthin sah, wo sich der Horizont der Er-

de befunden hätte, dann konnte er den Blick anheben
und  über  die  Lande  hinwegsehen,  die  viel  weiter
reichten; Bleistiftlinien in subtilen Schattierungen, je-
de Linie eine Ebene oder ein Wald, ein See, eine Wü-
ste,  eine  Bergkette  ...  Er  ging  einen  Schritt,  sah  über
die Schulter zurück. »Laßt uns gehen.«

Noch lange hörten sie die Musik der Dörfler hinter

sich.  Erst  als  die  hellviolette  Dämmerung  über  sie
hereinfiel, lösten sich die Geräusche in der Stille der
Entfernung.  Der  Weg  führte  gleichmäßig  abwärts,
daher  machte  ihnen  auch  die  langsam  einsetzende
Dunkelheit kaum zu schaffen.

Fayne  und  Darrot  gingen  der  Gruppe  voran;  es

folgte  Glystra,  mit  Nancy  auf  der  einen  und  Pianza
auf der anderen Seite. Ein wenig links von ihnen ging
Ketch; hinter ihnen folgte Bishop, die Augen auf den
Boden  gerichtet.  In  weiteren  zwanzig  Schritten  Ab-
stand folgten Elton, der leichten Schrittes voranging,
und Vallusser, der vorsichtig seinen Weg suchte, als
hätte er einen verletzten Fuß.

Das  Zwielicht  löste  sich  auf,  und  die  Sterne  er-

schienen.  Jetzt  gab  es  nur  noch  die  Dunkelheit,  den
Himmel, den Planeten – und sie selbst.

Nancy hatte die ganze Zeit kaum ein Wort gesagt,

aber jetzt, da es dunkel geworden war, hielt sie sich
dichter bei Glystra. Mit tiefer und weicher Stimme bat
sie  ihn:  »Sag  mir,  welcher  dieser  Sterne  ist  die  Alte
Sonne?«

Glystra suchte den Himmel ab. Die Konstellationen

waren  ihm  fremd,  und  er  konnte  kein  bestimmtes
Muster erkennen.

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Er  versuchte  sich  an  ihren  Flug  und  die  Flugrich-

tung zu erinnern. »Ich glaube, das dort ist die Sonne –
direkt über dem hellen weißen Stern, in Richtung auf
diesen Spiralnebel.«

Sie  starrte  mit  geweiteten  Augen  gegen  den  Him-

mel. »Erzähl mir von der Erde.«

»Es  ist  unser  Zuhause«,  sagte  Glystra.  Er  sah  ein

paar Sekunden lang zu dem weißen Stern auf. »Was
gäbe ich dafür, wenn ich jetzt dort wäre ...«

»Ist die Erde schöner als der Große Planet?«
»Das  ist  eine  schwierige  Frage.  Ich  glaube,  nein.

Der große Planet ist ... groß. Und eindrucksvoll. Die
Himalaya-Berge  auf  der  Erde  sind  kleine  Hügel  im
Vergleich zur Sklaemon-Kette hier oder zu den Black-
stone-Kordilleren.«

»Wo befinden sie sich?«
Glystras Gedanken waren abgewandert. »Was?«
»Die Bergketten.«
»Die  Sklaemon-Kette  liegt  etwa  dreißigtausend

Meilen nordwestlich in einem Gebiet des Großen Pla-
neten, das Matador genannt wird. Dort leben die so-
genannten Ski-Menschen, glaube ich. Die Blackstone-
Kordilleren sind etwa fünftausend Meilen südöstlich
gelegen,  in  Henderland  oberhalb  der  australischen
Halbinsel.«

»Es gibt so viel zu lernen ... so viele Orte zu sehen

...«  Ihre  Stimme  wurde  ein  wenig  brüchig.  »Die  Er-
denmenschen  wissen  mehr  über  uns,  als  wir  selbst
wissen. Das ist nicht fair.«

Glystra  lachte.  »Der  Große  Planet  ist  ein  Kompro-

miß  aus  den  Ideen  der  verschiedensten  Leute.  Nie-
mand kann das für richtig halten.«

»Wir  wachsen  als  Barbaren  auf«,  erklärte  sie  mit

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nachdrücklicher Betonung. »Mein Vater ...«

Glystra sah sie überrascht an. »Ein Barbar kann sich

dessen nicht bewußt sein, daß er ein Barbar ist.«

»...  wurde  umgebracht.  Überall  ist  Mord  und  Tot-

schlag ...«

Glystra  tat  sein  bestes,  um  seiner  Stimme  nichts

anmerken  zu  lassen.  »Es  ist  nicht  eure  Schuld,  daß
das so ist – aber es ist auch nicht die Schuld der Er-
denmenschen.  Wir  haben  es  niemals  angestrebt,  un-
sere Regierungsautorität hier anzuwenden. Jeder, der
nach hier kommt, ist in jeder Hinsicht auf sich selbst
gestellt – und seine Kinder bezahlen den Preis dafür.«

Nancy verneinte mit einem Kopf schütteln.
Glystra versuchte die Sache noch einmal zu durch-

denken.  Er  verabscheute  es  nicht  weniger  als  sie,
wenn  Menschen  Schmerzen  zugefügt  und  sie  ins
Elend gestoßen wurden. Aber er war gleichermaßen
davon überzeugt, daß die Erdregierung ihre Autorität
nur  innerhalb  eines  begrenzten  Raums  aufrechter-
halten  konnte.  Ebenso  war  es  unmöglich,  die  Leute
zurückzuhalten,  die  die  Grenzen  passieren  und  sich
als frei erklären wollten. Er mußte sich zugeben, daß
möglicherweise viele unter den Fehlern einiger weni-
ger zu leiden hatten.

Nancy  hatte  die  Ungerechtigkeit  kennengelernt  –

den  kaltblütigen  Mord,  die  Trauer,  den  Zorn,  die
Fehlentwicklungen,  die  sich  im  Verlauf  der  Genera-
tionen  verstärkt  und  nach  und  nach  alle  Stämme,
Völker, Rassen, Kontinente, eine ganze Welt angegrif-
fen  hatten.  Diese  Dinge  beherrschten  natürlich  ihre
Gedanken,  und  es  war  nicht  leicht,  ihr  die  Zusam-
menhänge verständlich zu machen.

»Die irdische Bevölkerung, Nancy, hat sich seit un-

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seren ersten archaischen Geschichtsepochen auf ver-
schiedenen Ebenen entwickelt. Einigen Leuten gelang
es,  in  vollkommener  Harmonie  mit  ihrer  Zeit  zu  le-
ben,  andere  tragen  einen  Kern  nonkonformistischer
Unabhängigkeit  in  sich  –  eine  offenbar  angeborene
Eigenschaft, ein grundlegender Instinkt wie Hunger,
Furcht, Zuneigung. Diese Leute fühlen sich unglück-
lich und unsicher in einer starren Gesellschaft; durch
alle  Zeiten  hindurch  waren  sie  diejenigen,  die  sich
nicht  einordnen  ließen.  Sie  waren  die  Pioniere,  die
Forscher,  die  Eroberer;  die  Philosophen,  die  Krimi-
nellen,  die  Propheten  des  Untergangs  und  die  Vor-
läufer neuer kultureller Entwicklungen.«

Sie  schritten  durch  die  Dunkelheit  voran.  Der  Bo-

den  unter  ihren  Füßen  knirschte.  Vor  und  hinter  ih-
nen waren unterdrückte Stimmen zu vernehmen.

Nancy,  die  noch  immer  zur  Alten  Sonne  hochsah,

erwiderte:  »Aber  was  haben  diese  Leute  denn  mit
dem Großen Planeten zu tun?«

»Jubilith«,  erklärte  Glystra,  »wurde  von  einer  Bal-

lettgruppe  gegründet,  die  es  offenbar  nach  Einsam-
keit, Ruhe und Frieden verlangte, um ihre Kunst zur
Vollendung bringen zu können. Vielleicht wollten sie
nur für ein oder zwei Jahre nach hier kommen, aber
sie blieben. Die ersten Siedler, die vor fast sechshun-
dert  Jahren  nach  hier  kamen,  waren  Primitivisten  –
Leute,  die  Maschinen  verabscheuten,  von  einfachen
Karren  vielleicht  abgesehen.  Primitivisten  sind  auf
der  Erde  zwar  nicht  verboten,  aber  sie  wurden  wie
Halbverrückte  behandelt.  Also  kauften  sie  sich  ein
Schiff und unternahmen einen Erkundungsflug über
die Grenzen des Systems hinaus. Sie fanden den Gro-
ßen Planeten. Zuerst dachten sie, er wäre zu groß, um

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bewohnbar zu sein ...«

»Warum das?«
»Schwerkraft«, erklärte Glystra. »Je größer ein Pla-

net ist, desto stärker die Gravitation. Aber der Große
Planet besteht aus leichteren Materialien, deren spezi-
fische  Schwerkraft  nur  etwa  ein  Viertel  von  der  der
Erde beträgt. Die Erde ist ein sehr dichter Planet, der
mit  ziemlichen  Mengen  von  Metall  und  schweren
Elementen gesegnet ist, daher beträgt die Schwerkraft
hier  etwa  gleichviel  –  obwohl  diese  Welt  etwa  das
dreißigfache Volumen hat ... Die Primitivisten moch-
ten den Großen Planeten. Es war ein Paradies – son-
nig, hell, ein mildes Klima – und vor allem mit orga-
nischen  Verbindungen,  die  denen  der  Erde  ähnlich
waren. Mit anderen Worten, die auf dem Großen Pla-
neten  vorkommenden  Proteine  waren  nicht  unver-
träglich  mit  irdischem  Protoplasma.  Sie  konnten  die
Pflanzen und die Tiere essen. Sie ließen sich hier nie-
der,  während  ein  paar  von  ihnen  zur  Erde  zurück-
kehrten, um Freunde nachzuholen.«

»Es war Platz genug für Minderheiten – endlos viel

Platz. Und so zogen sie los – all die Kulte, misanthro-
pische  Gesellschaften,  Leute  überhaupt.  Manchmal
errichteten  sie  Siedlungen,  manchmal  lebten  sie  für
sich selbst – tausend, zweitausend oder fünftausend
Meilen vom nächsten Nachbarn entfernt. Verwertba-
re Erzvorräte gab es auf dem Großen Planeten nicht;
die  technische  Zivilisation  bekam  nie  eine  Chance,
und die Erde weigerte sich, moderne Waffen auf den
Großen  Planeten  zu  exportieren.  So  entwickelte  sich
der Große Planet zu einer Ansammlung von kleinen
Staaten und Städten, zwischen denen sich weite, leere
Landstriche dahinziehen.«

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Nancy  wollte  etwas  sagen,  aber  Glystra  kam  ihr

zuvor. »Ja, wir hätten eine einheitliche Regierung für
den  Großen  Planeten  organisieren  und  ein  einheitli-
ches  Gesetz  als  gültig  erklären  können.  Aber  erst
einmal  befindet  sich  diese  Welt  außerhalb  der  aner-
kannten Grenzen des Systems. Zweitens würden wir
dabei über die Absicht jener Leute hinweggehen, die
ihren Platz in einer der zivilisierten Welten aufgege-
ben  haben,  um  ihre  Unabhängigkeit  zu  gewinnen  –
was  durchaus  zu  respektieren  ist.  Drittens  würden
wir  damit  weiteren  ruhelosen  Seelen  diese  Zuflucht
verweigern,  was  nur  zur  Folge  hätte,  daß  sie  noch
weiter draußen nach anderen Welten suchen würden,
die ihnen wahrscheinlich weit schlechtere Vorausset-
zungen  böten.  Also  haben  wir  den  Großen  Planeten
quasi  zur  Rubrik  ›Verschiedenes‹  innerhalb  des  Sy-
stems  werden  lassen.  Wir  haben  die  Erdenklave  mit
ihrer  Universität  und  Handelsschule  für  diejenigen
eingerichtet, die zur Erde zurückkehren wollen. Aber
es bewerben sich nur wenige.«

»Natürlich nicht«, ereiferte sich Nancy. »Es ist ein

Ort des Wahnsinns.«

»Warum sagst du das?«
»Das  ist  bekannt.  Ein  Bajarnum  von  Beaujolais  ist

einmal  in  die  Enklave  gegangen.  Er  hat  dort  die
Schule  besucht  und  ist  völlig  verändert  wieder  zu-
rückgekommen.  Er  hat  die  Sklaven  befreit  und  alle
körperlichen Strafen abgeschafft. Als er das Landeig-
nersystem  aufheben  wollte,  stellte  sich  der  Rat  der
Herzöge  gegen  ihn.  Sie  brachten  ihn  um,  weil  er  of-
fensichtlich verrückt war.«

Claude  Glystra  lächelte  dünn.  »Er  war  der  ver-

nünftigste Mensch auf dieser ganzen Welt ...«

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Sie schnaufte verächtlich.
»Ja«, sagte Glystra. »Nur wenige kommen zur En-

klave. Der Große Planet ist ihre Heimat. Er bedeutet
Freiheit – offenes Land – keine Grenzen. Ein Mensch
kann sich die Art von Leben wählen, die er vorzieht,
obwohl  er  in  jeder  Minute  Gefahr  läuft,  getötet  zu
werden. Auf der Erde und den anderen Planeten des
Systems  haben  wir  eine  straff  regierte  Gesellschaft
mit starren Konventionen. Es läuft alles glatt und rei-
bungslos jetzt; die meisten Außenseiter sind mittler-
weile auf dem Großen Planeten gelandet.«

»Ich  stelle  mir  das  langweilig  vor«,  sagte  Nancy.

»Stupide und langweilig.«

»Das  stimmt  nicht  ganz«,  sagte  Glystra.  »Schließ-

lich  leben  fünf  Milliarden  Menschen  auf  der  Erde,
und nicht zwei von ihnen sind völlig identisch.«

Nancy schwieg einen Augenblick lang, dann fragte

sie fast ebenso vorwurfsvoll weiter: »Und was ist mit
dem  Bajarnum  von  Beaujolais?  Er  hat  vor,  den  Pla-
neten  zu  erobern.  Es  ist  ihm  bereits  gelungen,  das
Territorium von Beaujolais um das Dreifache auszu-
weiten.«

Glystra sah geradeaus nach unten, in die grenzen-

lose  Nacht  des  Großen  Planeten.  »Wenn  der  Bajar-
num von Beaujolais, der Nomarch von Skene, der Ba-
ron von Gaypride, die Neun Zauberer oder sonst ir-
gend  jemand  den  Großen  Planeten  dominiert,  dann
haben  die  Bewohner  des  Großen  Planeten  ihre  Frei-
heit  und  Beweglichkeit  mit  noch  größerer  Sicherheit
verloren, als wenn das System eine Bundesregierung
organisierte.  Weil  sie  dann  gezwungen  würden,  ihr
Leben  an  abweichende  Vorstellungen  anzupassen,
die nicht ihre eigenen sind, und nicht nur an ein paar

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Gesetze  und  Regelungen,  die  im  wesentlichen  aus
vernünftigen Gründen aufgestellt wurden.«

Sie war damit noch nicht überzeugt. »Ich bin über-

rascht, daß das System den Bajarnum für wichtig ge-
nug befand, sich um ihn zu kümmern.«

»Schon die Tatsache, daß wir hier sind, sagt dir et-

was über den Bajarnum. Er hat Spione und Agenten
überall  –  auch  auf  der  Erde.  Er  übertritt  regelmäßig
unser Gesetz Nummer eins: das Waffen- und Metal-
lembargo für den Großen Planeten.«

»Ein  Mann  kann  mit  einem  Birkenholzschwert

ebenso getötet werden wie mit einem Lichtstrahl.«

Glystra schüttelte den Kopf. »Dabei berücksichtigst

du nur einen Aspekt der Sache. Woher kommen diese
Waffen?  Das  System  verbietet  die  nichtlizensierte
Herstellung von Waffen. Es ist sehr schwierig, im ge-
heimen  eine  moderne  Herstellungsanlage  zu  errich-
ten,  daher  sind  die  Waffen  entweder  gestohlen  oder
durch Piraterie aufgebracht worden. Schiffe und De-
pots  werden  aufgesprengt,  Männer  getötet  oder  zu
Sklaven  gemacht  und  in  die  Ein-Mann-Königreiche
verfrachtet.«

»Ein-Mann-Königreiche? Was heißt das?«
»Unter  den  fünf  Milliarden  Bewohnern  der  Erde,

die ich vorhin erwähnte, gibt es ein paar recht seltsa-
me  Typen«,  erklärte  Glystra  gedankenvoll.  »Nicht
alle seltsamen Käuze sind zum Großen Piraten abge-
wandert. Wir haben überreiche und überreife Kreatu-
ren auf der Erde, von denen viele eine kleine Welt ir-
gendwo außerhalb des Systems gefunden haben, wo
selbst sie sich zum Monarchen erkürt haben. Die Pi-
raten verkaufen ihnen Sklaven, und in ihren kleinen
Königreichen  ist  ihr  Wille  Gesetz.  Nach  zwei  oder

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drei Monaten kehren sie ins System zurück und füh-
ren  sich  eine  Zeitlang  als  gute  Bürger  auf.  Wenn  sie
der  Kosmopolis  überdrüssig  sind,  dann  geht  es  zu-
rück  in  ihr  Ein-Mann-Königreich,  draußen  zwischen
den Sternen.«

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Nancy  schwieg.  »Was  hat  das  mit  Charley  Lysidder
zu tun?« fragte sie dann.

Glystra sah sie von der Seite her an; er konnte ihr

Gesicht  nur  als  weiße  Maske  in  der  Dunkelheit  er-
kennen.  »Wie  kann  der  Bajarnum  für  seine  von  der
Erde nach hier geschmuggelten Waffen bezahlen? Sie
sind teuer. Eine Menge Blut wird vergossen für jeden
Ionenstrahler.«

»Ich weiß nicht ... daran habe ich nie gedacht.«
»Es gibt kein Metall auf dem Großen Planeten, aber

es gibt Handelsgüter, die weit kostbarer sind.«

Nancy sagte nichts.
»Menschen.«
»Oh ...«
»Charley  Lysidder  ist  wie  der  Überträger  einer

Seuche, und er infiziert das halbe Universum.«

»Aber  –  was  ist  dagegen  schon  zu  unternehmen?

Ihr seid nur acht Männer. Ihr habt keine Waffen, kei-
ne Pläne, keine Dokumente ...«

»Nur unsere Gehirne.«
Nancy verfiel in ein Schweigen, das Glystra veran-

laßte,  ihr  einen  irritierten  Blick  zuzuwerfen.  »Das
scheint dich nicht zu beeindrucken?«

»Ich ... ich bin sehr unerfahren.«
Claude Glystra versuchte erneut, ihr Gesicht durch

die  Dunkelheit  hindurch  zu  mustern;  diesmal,  um
festzustellen, ob sie tatsächlich ernst meinte, was sie
sagte.  »Wir  bilden  ein  Team.  Jeder  von  uns  ist  ein
Spezialist.  Pianza  hier«  –  er  nickte  in  Richtung  auf
den grauen Schatten zu seiner Linken – »ist ein Orga-

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nisator  und  Verwalter.  Moss  Ketch  zeichnet  unsere
Erkundungen  mit  Kamera  und  Sonographen  auf.
Bruce Darrot ist ein Ökologe –«

»Was ist das?«
Glystra  sah  nach  vorn,  wo  Fayne  und  Darrot  gin-

gen, und lauschte auf ihre dumpfen Schritte. Sie ka-
men  jetzt  in  ein  Gebiet,  das  mit  vereinzelten  großen
Bäumen bestanden war; vor ihnen ragten die Wälder
von  Tsalombar  auf,  deren  Silhouette  noch  dunkler
war  als  der  nachtschwarze  Himmel.  »Ökologie«,
setzte  Glystra  an,  »beschäftigt  sich  letztlich  damit,
wie  man  die  Leute  satt  macht.  Hungrige  Menschen
sind oft zornig und gefährlich.«

Mit  unterdrückter  Stimme  sagte  Nancy:  »Die  Zi-

geuner sind immer hungrig ... Sie haben meinen Va-
ter umgebracht ...«

»Sie haben ihn nicht getötet, weil sie hungrig waren

– ein toter Mann nützt Sklavenhaltern wenig. Sie ha-
ben

 

vielmehr versucht, ihn lebendig zu bekommen ...«

»Nun, um fortzufahren, Fayne ist unser Mineralo-

ge. Ich bin der Koordinator und Propagandist.« Bevor
sie  dazukam,  fragte  er:  »Warum  kann  der  Bajarnum
seine Nachbarn besiegen?«

»Weil er die stärkere Armee hat ... Er ist sehr geris-

sen.«

»Angenommen, seine Armee verweigerte ihm den

Gehorsam.  Angenommen,  niemand  kümmerte  sich
um  seine  Befehle.  Was  könnte  er  dann  noch  unter-
nehmen?«

»Nichts. Er wäre machtlos.«
»Propaganda,  die  im  höchsten  Maße  wirksam  ist,

erreicht genau das. Ich arbeite mit Bishop zusammen.
Bishops  Gebiet  ist  die  Kultur  –  die  menschliche  Ge-

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sellschaft. Wenn man ihm eine Pfeilspitze zeigt, dann
kann er dir sagen, ob der Mann, der sie gemacht hat,
seinen  Namen  von  seinem  Vater  oder  von  seiner
Mutter bekommen hat. Aus dem kulturellen Hinter-
grund  eines  Volkes  kann  er  dessen  Besonderheiten,
dessen kollektive Motivationen entnehmen – die Vor-
stellungen,  aufgrund  derer  sie  reagieren  wie  eine
Herde von« – er wollte eben »Schafe« sagen, aber er
dachte noch rechtzeitig daran, daß der Große Planet
eine solche Tierart nicht beherbergte – »wie eine Her-
de von Pelikanesen.«

Sie sah ihn mit einem leichten Lächeln an. »Und du

kannst die Leute dazu bringen, daß sie sich wie Peli-
kanesen verhalten?«

Glystra schüttelte den Kopf. »Ganz so ist es nicht.

Jedenfalls nicht immer.«

Sie gingen weiter hangabwärts. Die Bäume standen

zunehmend  dichter;  sie  hatten  die  Wälder  von  Tsa-
lombar  erreicht.  Vor,  hinter  und  neben  ihm  mar-
schierten acht dunkle Schatten. Schwer atmend sagte
er zu Nancy: »Einer von ihnen – ich weiß nicht, wer –
ist mein Feind. Ich muß irgendwie herausfinden, wer
es ist ...«

Sie  hatte  zu  atmen  aufgehört.  »Bist  du  sicher?«

fragte sie mit gedämpfter Stimme.

»Ja.«
»Was wird er unternehmen?«
»Wenn ich das wüßte, dann würde ich darauf ach-

ten.«

»Der  Zauberbrunnen  am  Myrtensee  könnte  es  dir

sagen. Er weiß alles.«

Glystra kramte in seinen Erinnerungen. »Wo ist der

Myrtensee?«

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Sie gestikulierte. »Weit im Osten. Ich war noch nie

dort; es ist eine gefährliche Reise, wenn man nicht die
Monobahn benutzt, und die kostet viel Metall. Mein
Vater hat mir von dem Orakel beim Brunnen erzählt.
Das  Orakel  spricht  wie  im  Fieber  und  beantwortet
alle  Fragen.  Schließlich  stirbt  es,  und  die  Dongmän-
ner erwählen ein neues Orakel.«

Fayne und Darrot, die vor ihnen gingen, hielten ab-

rupt  inne.  »Still!«  wisperte  Darrot.  »Vor  uns  ist  ein
Lager mit Feuerstellen.«

Die  ächzenden  und  sich  wiegenden  Äste  der  Tsa-

lombar-Wälder  bedeckten  den  Himmel,  und  die
Dunkelheit  war  fast  vollkommen.  Vor  ihnen  flicker-
ten ein paar rote Funken durch die Baumstämme zu
ihnen durch.

»Sollten das die Baummenschen sein?« wandte sich

Glystra an Nancy.

Sie  gab  skeptisch  zurück:  »Nein  ...  Sie  kommen

niemals von den Bäumen herab. Und sie fürchten sich
vor dem Feuer wie vor dem Tod ...«

»Eng aufschließen«, sagte Glystra. Dunkle Schatten

traten heran.

»Ich  werde  vorausgehen,  um  die  Lage  zu  erkun-

den«,  sagte  Glystra  mit  tiefer,  gepreßter  Stimme.
»Bleibt  alle  dicht  beisammen.  Das  ist  sehr  wichtig.
Niemand soll sich von der Gruppe wegbewegen oder
einen  Ton  von  sich  geben,  bevor  ich  wieder  zurück-
kehre. Nancy, du stehst in der Mitte; die anderen ste-
hen  so  um  sie  herum,  daß  sie  sich  mit  den  Ellbogen
berühren. Achtet darauf, wer sich neben euch befin-
det und daß er sich nicht bewegt.«

Er ging um die Gruppe herum. »Ist jeder mit zwei

anderen  in  Berührung?  Gut.  Abzählen.«  Einer  nach

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dem anderen sagte tonlos seinen Namen.

»Ich  komme  so  schnell  wie  möglich  wieder  zu-

rück«, versprach Glystra. »Wenn ich Hilfe brauche –
dann  werde  ich  schreien.  Also  haltet  die  Ohren  of-
fen.«

Das  Farnkraut  raschelte  unter  seinen  Füßen,  wäh-

rend er sich langsam weiter abwärts bewegte.

Es war ein großes Feuer, das von Holzblöcken ge-

nährt  wurde  und  inmitten  einer  Lichtung  hoch  auf-
flammte.  Fünfzig  oder  sechzig  Männer  hatten  sich
darum herum niedergelassen. Ihre blauen Uniformen
bestanden aus weiten Hosen, die unterhalb der Knie
aufgewunden  waren,  und  Kitteln,  die  an  der  Hüfte
von einer schwarzen Schärpe zusammengefaßt wur-
den. Auf der Brust trugen sie ein rotes Insignium, ein
auf  der  Spitze  stehendes  Dreieck.  Sie  trugen  Messer
und  Schleudern  in  ihren  Schärpen;  mit  Pfeilen  ge-
füllte Köcher waren am Rücken befestigt.

Es  war  ein  rauher  Haufen  –  sie  waren  kurz  und

untersetzt,  mit  gleichförmigen,  dunklen  Gesichtern,
kleinen  Spitzbärten,  engen  Augenschlitzen  und  ge-
krümmten Nasen. Sie tranken aus schwarzen, nieren-
förmigen Lederbeuteln. Die Disziplin war im Augen-
blick ziemlich nachlässig.

Ein wenig entfernt, der lärmenden Szenerie seinen

Rücken zugewandt, stand ein Mann in einer schwar-
zen Uniform. Glystra sah, daß es Abbigens war. Ab-
bigens unterhielt sich mit einem Mann, der offenbar
der  befehlshabende  Offizier  war.  Der  Offizier  hörte
ihm zu und nickte; es sah aus, als erhielte er Anwei-
sungen von Abbigens.

Unweit von Glystra verharrte ruhelos ein Zug von

äußerst  merkwürdigen  Tieren.  Sie  schwangen  ihre

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langen  Hälse  hin  und  her,  schnappten  in  die  Luft,
murrten  und  krächzten.  Sie  waren  schmal  in  den
Schultern und hatten einen hohen Rücken; außerdem
verfügten  sie  über  sechs  mächtige  Beine  und  einen
schmalen,  wenig  vertrauenseinflößenden  Kopf  –  ein
Mischung aus Kamel, Pferd, Ziege, Hund und Echse.
Der Gepäckträger hatte sich nicht die Mühe gemacht,
ihnen  das  Gepäck  abzunehmen.  Glystras  Interesse
war erwacht; vorsichtig untersuchte er die Lasten, die
sie trugen.

Eines  der  drei  Tiere  trug  drei  Metallzylinder,  ein

anderes einen flachen Lauf und ein Bündel von Me-
tallstäben. Glystra erkannte, worum es sich handelte:
eine  Ionenkanone  von  einem  Kaliber,  mit  dem  sich
eine  Ortschaft  wie  Jubilith  dem  Erdboden  gleichma-
chen  ließ.  Das  Gerät  war  eindeutig  irdischer  Her-
kunft.  Glystra  sah  sich  unbehaglich  um.  Es  war  ei-
gentlich seltsam, daß keine Wachen postiert worden
waren.

Eine ungewohnte Geschäftigkeit am anderen Ende

der Lichtung erregte seine Aufmerksamkeit. Etwa ein
Dutzend Soldaten starrten, den Kopf in den Nacken
gelegt,  nach  oben,  deuteten  auf  etwas,  sprachen  er-
regt  miteinander.  Glystra  folgte  ihren  Blicken.  Etwa
dreißig Meter über ihnen war ein Dorf – ein Netz aus
einfachen  Brücken,  begehbares  Geflecht,  an  Lianen
festgespannt, und entsprechende Hütten, freischwin-
gend wie Goldamselnester. Kein Licht war zu sehen,
die Baumhütten lagen im Dunkeln, aber seitlich über
die  Brücken  hinweg  starrten  einige  Dutzend  weiße
Gesichter, umrahmt von einem Gewirr brauner Haa-
re.  Sie  machten  keine  Geräusche,  bewegten  sich
kaum,  und  wenn,  dann  so  abrupt  und  schnell  wie

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Eichhörnchen. Die Soldaten von Beaujolais hatten das
Dorf offenbar zuvor noch nicht bemerkt. Glystra sah
erneut hoch. Sie hatten ein Mädchen entdeckt – käse-
gesichtig und triefäugig, aber immerhin ein Mädchen.

Glystra sah interessiert zu den Packtieren hin, ver-

suchte die Chancen abzuschätzen, sie in den Wald zu
entführen, während die allgemeine Aufmerksamkeit
durch das Mädchen im Baumdorf abgelenkt war. Er
befand, daß die Chancen zu gering waren.

Am  anderen  Ende  der  Lichtung  entstand  erneute

Aktivität.  Ein  junger  Großtuer  mit  einem  gezwirbel-
ten  Bart  kletterte  eine  grobe  Leiter  hoch,  die  zu  der
Hütte führte, aus der der Mädchenkopf herausragte.
Der Weg nach oben war leicht; zwischen den Ästen,
an denen man sich hochziehen konnte, waren Stufen
in das Holz geschlagen. Der Soldat, von den Zurufen
seiner  Kameraden  angefeuert,  kletterte  den  Stamm
entlang hoch und hielt auf einer groben Plattform in-
ne.  Er  war  hier  bereits  teilweise  von  Gezweig  und
Blattwerk  verdeckt.  Eine  Bewegung,  ein  Geräusch
wie beim Abrutschen eines Körpers, das Aufschlagen
von  Holz  auf  Holz,  raschelndes  Blattwerk,  knacken-
des  Gezweig.  Ein  um  sich  schlagender,  sich  drehen-
der Körper fiel aus den Schatten heraus und landete
mit einem schweren Aufschlag auf dem Boden.

Glystra  sprang  erschrocken  zurück.  Er  sah  in  die

Höhe;  im  Baumdorf  bewegte  sich  nichts.  Der  Soldat
war  offenbar  in  eine  Falle  geraten.  Ein  schräg  dar-
überhängendes Gewicht war herabgefallen und hatte
ihn  von  der  Plattform  gefegt.  Jetzt  lag  er  jammernd
auf  dem  Boden.  Seine  Kameraden  standen  um  ihn
herum  und  sahen  ihn  an,  ohne  sichtlich  bewegt  zu
sein. Sie sahen ab und zu zu den Baummenschen hin-

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auf, aber ohne erkennbare Feindseligkeit.

Abbigens und der Offizier gingen hinüber und sa-

hen  auf  den  gestürzten  Mann  hinab.  Er  hielt  seine
Seufzer  zurück,  lag  reglos  da  und  sah  mit  bleichem
Gesicht  hinauf.  Der  Offizier  sagte  etwas;  Glystra
konnte seine Stimme hören, aber nicht die Worte un-
terscheiden. Der auf dem Boden liegende Soldat gab
eine Antwort; er versuchte sich zu erheben, doch das
war eine vergebliche Anstrengung. Eines seiner Beine
stand in einem merkwürdigen Winkel von ihm weg;
mit verzerrtem Gesicht, die Zähne aufeinandergebis-
sen, fiel er wieder zurück.

Der  Offizier  sagte  etwas  zu  Abbigens;  Abbigens

antwortete, während er zugleich in Richtung auf das
Baumdorf  gestikulierte.  Der  Offizier  gab  einem  der
Soldaten  etwas  durch  eine  Bewegung  zu  verstehen,
wandte sich dann ab.

Der Soldat sah auf seinen am Boden liegenden Ka-

meraden  hinab,  gab  murmelnd  seinem  Bedauern
Ausdruck. Dann zog er sein Schwert aus der Scheide
und erschlug den Gestürzten.

Glystra, hinter einem Baum in Deckung, schluckte

den Kloß hinunter, der in seinem Hals gesteckt hatte.

Der Offizier ging kreuz und quer durch das Lager

und bellte Befehle. Diesmal waren die Worte deutlich
genug,  daß  Glystra  sie  verstehen  konnte:  »Los,  los,
auf die Füße. Reihen bilden, aber noch mal so schnell,
wir sind schon zu lange hier. Gepäckführer, die Tiere
bereithalten –«

Abbigens kam heran und sprach kurz mit dem Of-

fizier.  Der  Offizier  nickte,  ging  quer  über  die  Lich-
tung.  Glystra  konnte  seine  Befehle  nicht  hören,  aber
der  Soldat,  der  für  die  Gepäcktiere  zuständig  war,

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führte die zwei Tiere mit der Ionenkanone zur Seite.

Claude  Glystra  beobachtete  es  mit  schmalen  Au-

gen. Sollte die Ionenkanone gegen das Baumdorf ein-
gesetzt werden?

Die Ionenkanone wurde zusammengebaut und auf

ihrem Dreifuß befestigt. Das Licht des Feuers wurde
widergespiegelt  durch  den  glatten  metallenen  Lauf.
Der  Richtschütze  zog  den  Lauf  vor  und  zurück,  be-
wegte, ihn auf und ab, um die Balance zu prüfen. Er
entsicherte, justierte die Mündung und betätigte den
Abzug. Ein Strahl violetten Lichtes entfloh der Mün-
dung, Energien zuckten die schmale Bahn ionisierter
Luft entlang und fraßen sich in den Boden hinein.

Test abgeschlossen. Die Waffe war bereit.
Der  Richtschütze  legte  die  Sicherung  wieder  an,

ging  zu  den  Gepäcktieren  zurück  und  wählte  das
stärkste von ihnen aus. Er zog an den Gurten, die das
Gepäck  auf  dem  Rücken  des  Tieres  hielten.  Der  Ge-
päckführer kam wütend heran, und die beiden Män-
ner gerieten in einen Disput.

Glystra setzte sich in Bewegung, zögerte, nahm er-

neut Anlauf, fiel wieder zurück. Wütend sammelte er
seinen  Mut.  Dies  war  die  Zeit  der  Tapferkeit,  in  der
alles  auf  eine  Kappe  gesetzt  werden  mußte.  Er  trat
vor  und  wagte  sich  in  das  Licht  des  Feuers.  Er
schwang die Waffe herum, justierte die Mündung zu
einem schmalen Strahl, entsicherte. Es war geradezu
lächerlich einfach.

Einer  der  Soldaten  stieß  einen  Schrei  aus,  deutete

auf ihn.

»Keine Bewegung!« rief Glystra mit lauter Stimme.

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5

Die Umrisse auf der Lichtung erstarrten, überraschte
Gesichter wandten sich in seine Richtung. Der Kano-
nier  sprang  mit  einem  wütenden  Aufschrei  nach
vorn.  Claude  Glystra  betätigte  den  Abzug,  der
Leitstrahl  violetten  Lichts  flammte  auf,  Energien
zuckten durch die ionisierte Luft. Der Kanonier wur-
de  voll  getroffen,  und  mit  ihm  gingen  fünf  weitere
Männer im Kanonenstrahl dahin.

Glystra

 

rief

 

mit erhobener Stimme: »Pianza! Fayne!«

Keiner  der  Soldaten  bewegte  sich  mehr.  Abbigens

starrte ihn mit ausdruckslosem, bleichem Gesicht an.

Hinter ihm kamen Schritte auf. »Wer ist es?« fragte

Glystra.

»Eli Pianza – und die anderen von uns.«
»Gut. Geht um mich herum zur Seite, wo ihr außer

Reichweite seid.« Er hob seine Stimme. »Jetzt kommt
ihr dran, Schergen von Beaujolais. Ihr geht zur Mitte
hin, auf dieser Seite des Feuers. Schnell!«

Mürrisch folgten die Soldaten von Beaujolais seiner

Anweisung. Abbigens ging drei schnelle Schritte mit
ihnen mit, aber Glystras Stimme brachte ihn zum In-
nehalten.  »Abbigens  –  leg  deine  Hände  auf  deinen
Kopf  und  bewege  dich  rückwärts  auf  mich  zu.  Ein
bißchen schneller ...«

Zu Pianza gewandt, sagte er: »Nimm seine Waffe.«

Er wies auf den Offizier, der sich in der Gruppe sei-
ner Soldaten langsam in den Hintergrund schob. »Sie
– treten Sie vor, die Hände auf dem Kopf.« Und aus
dem  Mundwinkel  heraus:  »Einer  von  euch  soll  ihn
untersuchen – Elton!«

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Elton trat vor: Vallusser schien ihm folgen zu wol-

len.  Glystra  schnappte:  »Ihr  anderen  bleibt,  wo  ihr
seid ... die Sache ist kitzlig.«

Abbigens  trug  einen  Ionenstrahler;  der  Offizier

hatte eine Raketenpistole bei sich.

»Legt  die  Waffen  auf  den  Boden«,  befahl  Glystra,

»und fesselt sie mit den Gepäckgurten.«

Abbigens  und  der  Offizier  lagen  hilflos  da.  Die

Soldaten  standen  mürrisch  und  leise  miteinander
murmelnd im Mittelpunkt der Lichtung.

»Nancy!« rief Glystra.
»Ja.«
»Tu  genau,  was  ich  dir  sage.  Nimm  diese  beiden

Waffen – an ihren Läufen. Bring sie zu mir her. Begib
dich  nicht  in  die  Schußlinie  zwischen  mir  und  den
Soldaten.«

Nancy ging auf die Stelle in der Lichtung zu, an der

die Waffen am Boden aufblitzten.

»Am Lauf!« sagte Glystra schneidend.
Sie zögerte, sah ihn mit großen Augen an, die Haut

unterhalb  der  Wangenknochen  angespannt  und
bleich.  Glystra  sah  ihr  mit  steinerner  Miene  zu.  In
diesem Augenblick konnte er niemandem vertrauen.
Sie beugte sich hinab, nahm die Waffen vorsichtig auf
und brachte sie ihm. Er steckte sie ein, sah kühl beob-
achtend  in  die  Gesichter  seiner  Begleiter.  Hinter  ei-
nem dieser Gesichter wurden wilde und verzweifelte
Pläne gewälzt ... Hinter welchem Gesicht?

Jetzt war der kritische Augenblick gekommen. Wer

immer es war, würde versuchen, hinter ihn zu gelan-
gen.

Er  gestikulierte.  »Ich  möchte,  daß  ihr  euch  alle  da

drüben  seitlich  hinstellt.«  Er  wartete,  bis  seine  Be-

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gleiter  dieser  Aufforderung  nachgekommen  waren.
»Und  jetzt«,  rief  er  den  Soldaten  zu,  »kommt  einer
von euch nach dem anderen über die Lichtung ...«

Eine halbe Stunde später hockten die Soldaten in ei-
nem  engen  Kreis  zusammen,  alle  nach  innen  ge-
wandt, mit ausdruckslosen, leeren Gesichtern. Abbi-
gens  und  der  Offizier  lagen  dort,  wo  sie  gefesselt
worden waren. Abbigens sah Glystra an, ohne etwas
von  seinen  Gedanken  zu  verraten.  Claude  Glystra
wiederum  beobachtete  Abbigens,  um  festzustellen,
wem seine Blicke galten.

Eli  Pianza  sah  skeptisch  zu  der  Ansammlung  von

Gefangenen  hin.  »Die  werden  uns  noch  Schwierig-
keiten bereiten ... was hast du mit ihnen vor?«

Glystra,  der  hinter  der  Kanone  stand,  entspannte

sich  ein  wenig,  streckte  sich.  »Nun  –  freilassen  kön-
nen  wir  sie  nicht.  Wenn  die  Nachricht  von  diesem
Vorfall nicht zum Bajarnum gelangt, dann haben wir
einen  ziemlichen  Vorsprung.«  Sie  sahen  zu  den  Ge-
fangenen hinüber; über den zerknitterten blauen Uni-
formen spiegelten furchtsame Augen den Schein des
Feuers wider. »Wir haben also zu wählen, ob wir sie
umbringen oder sie mitnehmen.«

»Sie mitnehmen?«
»Ein paar Meilen weiter abwärts beginnt die Step-

pe.  Das  Land  der  Nomaden.  Wenn  es  da  etwas  zu
kämpfen  gibt,  dann  können  wir  sie  vielleicht  dazu
überreden, es für uns zu tun.«

»Aber – wir haben die Kanone. Wir brauchen keine

Schwerter und keine Pfeile.«

»Was nützt uns eine Ionenwaffe, wenn wir in einen

Hinterhalt  geraten?  Wenn  wir  von  zwei  oder  drei

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Seiten gleichzeitig angesprungen werden? Die Ionen-
kanone  ist  eine  vorzügliche  Waffe,  wenn  man  sein
Ziel sehen kann.«

»Es dürfte etwas schwierig sein, mit ihnen zurecht-

zukommen.«

»Daran habe ich gedacht. Solange wir uns im Wald

befinden, bleiben sie zusammengebunden. Wenn wir
in die Steppe hinauskommen, können sie vor der Ka-
none herlaufen. Wir werden natürlich sehr aufpassen
müssen.«

Er  sicherte  die  Ionenkanone,  senkte  den  Lauf  in

Richtung auf den Boden, ging dann zu der Stelle hin-
über, an der Abbigens lag. »Mir scheint, die Zeit des
Redens ist gekommen.«

Abbigens zog eine Grimasse. »Natürlich werde ich

reden. Aber was?«

Glystra setzte ein dünnes Lächeln auf. »Wer hat dir

an Bord der Vittorio geholfen?«

Abbigens  Augen  schweiften  über  die  Gesichter

hinweg. »Pianza«, sagte er.

Eli  Pianza  hob  überrascht  seine  weißen  Augen-

brauen  an.  In  irgendeinem  der  anderen  Gesichter
kam etwas zum Ausdruck – wie ein kurzes Aufflak-
kern.

Glystra wandte sich abrupt ab. Im Augenblick gab

es  nur  eine  Person,  deren  er  sicher  sein  konnte  –  er
selbst.

Er deutete auf Darrot und Elton. »Ihr beide geht an

die Kanone. Keiner vertraut dem anderen. Ein Feind
ist  unter  uns.  Wir  wissen  nicht,  wer  es  ist,  und  wir
dürfen  ihm  nicht  die  Gelegenheit  geben,  uns  alle  zu
vernichten.« Er ging einen Schritt zurück, hielt seinen
Ionenstrahler bereit. »Ich werde alle Waffen an mich

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nehmen. Pianza, du hast einen Ionenstrahler?«

»Ja.«
»Dreh mir den Rücken zu und leg ihn auf den Bo-

den.«

Pianza  führte  das  ohne  Widerrede  aus.  Claude

Glystra trat vor, tastete mit einer Hand Pianzas Kör-
per ab und faßte in seine Taschen. Er fand keine wei-
tere Waffe.

In  ähnlicher  Weise  nahm  er  Faynes  Ionenstrahler

und  das  Hitzegewehr  von  Ketch  an  sich.  Vallusser
und  Bishop  trugen  lediglich  Messer  bei  sich.  Nancy
verfügte über keinerlei Waffe.

Er  steckte  die  Waffen  ein,  trat  hinter  die  Kanone

und  nahm  auch  noch  Eltons  Waffe  an  sich.  Das
machte  nun  fünf  Ionenstrahler,  den  von  Abbigens
und den Hitzestrahler des Maates mitgezählt.

»Jetzt  sind  wir  so  waffenlos  wie  möglich,  und  ich

glaube, wir sollten jetzt schlafen. Ketch, du und Val-
lusser,  ihr  nehmt  Schwerter  und  stellt  euch  jeweils
auf eine Seite der Lichtung; ungefähr so, daß ihr mit
der Kanone zusammen ein Dreieck bildet. Ihr solltet
auf keinen Fall zwischen die Kanone und die Solda-
ten  geraten  –  denn  wenn  etwas  geschieht,  ist  es  um
euch  geschehen.«  Er  wandte  sich  an  Darrot  und  El-
ton. »Habt ihr das gehört? Benutzt die Kanone, wenn
ihr auch nur die kleinste Entschuldigung dafür habt.«

»In Ordnung«, sagte Elton. Darrot nickte.
Er sah Nancy, Pianza und Bishop an. »Wir werden

die zweite Wache übernehmen ... dort beim Feuer ist
ein guter Platz, der außerhalb der Reichweite der Ka-
none ist.«

Der  farnbewachsene  Boden,  von  der  Feuerstelle

erwärmt,  erwies  sich  als  weich  und  angenehm.

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Glystra ließ sich nieder, und die lange entbehrte Ent-
spannung hätte ihn fast augenblicklich eindösen las-
sen.

Seine  Gedanken  schweiften  ab,  während  er  ent-

spannt dalag, die Hände unter den Kopf gelegt. Von
den  Hängebrücken  über  ihm  schauten  noch  immer
die weißen Flecken herab; und er hatte den sicheren
Eindruck, daß sie sich noch nicht einmal bewegt hat-
ten, seit er sie zum erstenmal gesehen hatte.

Steve Bishop ließ sich nahe ihm nieder und seufzte.

Glystra sah mit einem leichten Bedauern zu ihm hin-
über. Bishop war Student und etwas heikel, auch oh-
ne das Bedürfnis, sich eine etwas rauhere Außenhaut
zuzulegen  ...  Nancy  kehrte  aus  dem  Wald  zurück.
Glystra  hatte  augenblicklichen  Verdacht  geschöpft,
wie  er  sie  hatte  gehen  sehen,  sich  dann  aber  gesagt,
daß es einfach unmöglich war, jeden Augenblick des
Wachseins  einen  jeden  zu  überwachen.  Und  am
nächsten Morgen würde er sie ohnehin nach Jubilith
zurückschicken.

Es  gab  keine  Geräusche  auf  der  Lichtung,  abgese-

hen von dem tiefen Gemurmel, das von den zusam-
men am Boden kauernden Soldaten her kam. Darrot
und  Elton  standen  steif  hinter  dem  Ionengeschütz.
Ketch  ging  langsam  die  eine  Seite  der  Lichtung  auf
und ab, Vallusser die andere. Hinter ihm lag Nancy,
ruhig  und  warm;  Bishop  schlief  wie  ein  Baby,  wäh-
rend sich Pianza unruhig hin- und herwarf.

Die  Spannung  wuchs,  und  Glystra  versuchte,  die

objektive Ursache dafür zu ergründen. Lag es an El-
tons angespannter Wachsamkeit, an Darrots unbeug-
samer Haltung? Oder daran, daß er Nancy in seinem
Rücken spürte? Eine kleine Unregelmäßigkeit in den

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Atemzügen von Bishop oder Pianza? ... Er versuchte
zu erkennen, wen Abbigens beobachtete, doch verge-
bens.

Die Minuten gingen vorbei, eine Viertelstunde, eine

halbe Stunde. Die Luft war spröde wie Eis.

Moss Ketch ging ein paar Schritte in Richtung auf

das  Geschütz;  er  gestikulierte,  murmelte  ein  paar
Worte und zog sich dann in den Wald zurück. In die
Reihen  der  Soldaten  kam  ein  wenig  Bewegung.  Ein
kurzer  Anruf  von  Darrot  ließ  sie  zur  Bewegungslo-
sigkeit erstarren.

Ketch  kehrte  zurück,  und  Vallusser  ging  in  den

Wald.  Wieder  die  Unruhe  unter  den  Soldaten,  ein
einsilbiger  Laut  von  Darrot,  und  erneute  Bewe-
gungslosigkeit.

Da war ein plötzlicher schattenhafter Umriß hinter

der Kanone, das Singen eines zustoßenden Schwertes,
ein  überraschter  Schrei,  der  unsagbare  Schmerzen
verriet  ...  Dann  ein  Aufschlagen  von  Füßen,  Klirren
von Metall.

Die  Zähne  aufeinandergepreßt,  sprang  Claude

Glystra auf seine Füße. Gleichzeitig riß er den Ionen-
strahler hoch.

Am  Geschütz  stand  jetzt  nur  noch  ein  Mann,  der

sich  damit  mühte,  den  Lauf  auf  Glystra  zu  richten.
Glystra sah, wie die Mündung auf ihn zuschwenkte,
wie  sich  die  Ellbogen  anspannten  ...  Er  drückte  den
Abzug seines Ionenstrahlers durch. Knisternde Ener-
gien  zuckten  an  einem  violetten  Strahl  entlang.  Der
Kopf  des  Mannes  wurde  verkohlt  und  schrumpfte
zusammen; die Kanone wurde zerschmolzen und zur
Seite geschleudert. Glystra sprang herum, stellte sich
den  Soldaten  entgegen.  Sie  hatten  sich  erhoben  und

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standen wie erstarrt, unentschieden, ob sie angreifen
oder fliehen sollten.

»Setzen!« sagte Glystra mit schneidender, tödlicher

Stimme.  Die  Soldaten  gingen  augenblicklich  wieder
zu Boden.

Glystra  langte  in  den  Tragbeutel,  den  er  umge-

hängt hatte, und warf Pianza und Bishop Waffen zu.
»Paßt  von  hier  aus  auf  sie  auf;  wir  haben  kein  Ge-
schütz mehr.«

Er  ging  zu  dem  zerstörten  Feldgeschütz  hinüber

und  erkannte  drei  Körper.  Elton  lebte  noch.  Bruce
Darrot  lag  daneben,  das  leblose  Gesicht  nach  oben
gerichtet, in verkrampfter Abwehr über den Tod hin-
aus. Vallussers Körper lag quer über Darrots Füßen.

Glystra sah auf ihn hinab. »Also war es Vallusser.

Ich frage mich nur, womit sie ihn gekauft haben.«

Moss  Ketch  hatte  den  Erste-Hilfe-Behälter  ausge-

packt, und sie knieten neben Elton. Ein Schwerthieb
hatte seitlich neben seinem Nacken eine stark bluten-
de  Schnittwunde  hinterlassen.  Glystra  wandte  ein
Gerinnungsmittel  an,  dann  ein  Antiseptikum,  und
sprühte einen elastischen Film über die Wunde.

Er  erhob  sich  und  sah  auf  Abbigens  hinab.  »Jetzt

kannst du uns nicht mehr von Nutzen sein. Ich weiß
jetzt, was ich wissen wollte.«

Abbigens  schüttelte  das  dichte  blonde  Haar  aus

seinem Gesicht. »Ihr werdet mich doch nicht etwa –
umbringen?«

»Warte ab, und du wirst es sehen«, erklärte Glystra

und  wandte  sich  ab.  Er  sah  auf  seine  Uhr.  »Zwölf
Uhr.«  Er  warf  Eltons  Ionenstrahler  Ketch  zu  und
wandte sich an Pianza und Bishop. »Ihr beide schlaft
jetzt; wir halten Wache bis um drei.«

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6

Darrot  und  Vallusser  wurden  zusammen  mit  den
Toten  aus  Beaujolais  in  einem  Grab  begraben:  dem
jungen  Angeber,  der  vom  Baum  gefallen  war,  und
den  sechs  Soldaten,  die  getötet  worden  waren,  als
Glystra das Geschütz im Handstreich erobert hatte.

Abbigens seufzte vernehmbar auf, als Erde auf die

Körper  zu  fallen  begann.  Glystra  grinste;  Abbigens
hatte offensichtlich erwartet, mit den anderen Sieben
das Grab teilen zu müssen.

Glystra sah sich in der Lichtung um. Wo war Nan-

cy?  Sie  stand  bei  den  Gepäcktieren  und  sah  so  un-
schuldig drein, wie sie nur konnte. Die Baumstämme
hinter ihr ragten empor wie die Säulen eines großen
Tempels,  und  zwischen  ihnen  schimmerte  der  son-
nenbeschienene Abhang durch.

Nancy spürte Glystras Blick, und sie sah ihn mit of-

fenen Augen an, ein hoffnungsvolles Lächeln auf ih-
ren Lippen. Glystra spürte, wie sein Herz klopfte. Er
sah weg. Elton sah ihn mit einem undeutbaren Aus-
druck an. Er preßte die Lippen aufeinander und ging
nach vorn. »Du solltest dich jetzt besser auf den Weg
machen – zurück nach Jubilith.«

Ihr  Lächeln  löste  sich  langsam  auf;  ihr  Kinn  sank

herab,  ihre  Augen  wurden  feucht.  Offenbar  die
Sinnlosigkeit  irgendwelcher  Einwände  begreifend,
wandte sie sich wortlos ab und überquerte die Lich-
tung.  Am  Rand  der  Lichtung  hielt  sie  inne  und  sah
über ihre Schulter zurück.

Claude Glystra sah schweigend zu.
Sie  wandte  sich  endgültig  ab.  Er  sah  ihr  ein  paar

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Augenblicke lang nach, wie sie zwischen den Bäumen
verschwand.

Eine  halbe  Stunde  später  setzte  sich  die

Marschtruppe in Bewegung. Die Soldaten von Beau-
jolais  gingen  in  einer  Reihe  voraus,  jeder  an  den
Mann  vor  und  hinter  sich  durch  Handgelenkfesseln
gebunden. Ihre Schwerte und Katapulte waren ihnen
belassen  worden,  aber  die  Pfeile  befanden  sich  in
Tragebehältern auf einem der Packtiere.

Der Offizier führte die Reihe an; Abbigens war der

letzte. Dann kamen die Packtiere; Elton wurde auf ei-
ner  Bahre  getragen,  die  zwischen  den  beiden  ersten
Tieren  aufgehängt  war.  Er  war  wach  und  ganz  bei
der  Sache;  ihm  oblag  es,  das  hintere  Ende  der
Marschreihe  mit  dem  großen  Hitzegewehr  zu  über-
wachen.

Das  Dorf  über  ihnen  war  ebenfalls  wach  und  sah

ihnen  zu.  Während  sich  die  Reihe  durch  den  Wald
bewegte,  waren  Schritte  über  ihnen  zu  vernehmen,
und die Hängebrücken ächzten in ihren Aufhängun-
gen. Manchmal waren auch unterdrückte Stimmen zu
hören,  oder  ein  schreiendes  Kind.  Im  Augenblick
schnitt ihnen eine Decke aus ineinander verwobenen,
zerfetzten  Vegetationsstücken,  gestützt  durch  ein
Flickwerk aus Ästen, Lianen und getrockneten gelben
Farnwedeln, das Sonnenlicht ab. Dieser zweite Wald-
boden dehnte sich überraschend weit aus, war an der
Unterseite feucht und verlor ständig kleine Stückchen
und Fetzen verrottender Vegetation.

»Was haltet ihr davon?« fragte Pianza.
»Für  mich  sieht  das  wie  ein  hängender  Garten

aus«,  gab  Glystra  zurück.  »Wir  haben  leider  keinen
Ökologen  mehr  zur  Verfügung.  Bruce  hätte  uns  si-

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cherlich etwas mehr darüber sagen können ...«

Helligkeit  vor  ihnen  zeigte  an,  daß  der  hängende

Garten dort zu Ende war. Glystra ging nach vorn bis
zum  Anfang  der  Reihe,  wo  der  Offizier  ging,  den
Blick stur geradeaus gerichtet. »Wie ist Ihr Name?«

»Morwatz.  Infanterieführer  Zoriander  Morwatz,

Hundertzwölfter an der Champs-Mars-Akademie.«

»Wie lauteten Ihre Befehle?«
Der Offizier zögerte, schien im Zweifel zu sein, ob

es  richtig  war,  die  Fragen  zu  beantworten.  Er  war
untersetzt,  hatte  ein  rundliches  Gesicht  und  vorste-
hende  dunkle  Augen.  Seine  Aussprache  unterschied
sich ein wenig von der seiner Soldaten, und er konnte
auch  nicht  verbergen,  welche  Wichtigkeit  er  sich
selbst zumaß.

»Wie lauteten Ihre Befehle?«
»Wir  wurden  dem  Kommando  des  Erdenmannes

unterstellt.«  Er  wies  mit  dem  Kopf  nach  hinten,  wo
Abbigens ging. »Er hatte einen versiegelten Brief von
Charley Lysidder, ein Instrument großer Autorität.«

Glystra mußte das einen Augenblick lang verdau-

en,  fragte  dann:  »Einen  Befehl,  der  direkt  an  Sie
adressiert war?«

»An den kommandierenden Offizier der Montmar-

chy-Garnison.«

»Hmmm.« Woher hatte Abbigens diesen Befehl er-

halten, der vom Bajarnum von Beaujolais unterzeich-
net  war?  Es  gab  da  ein  Muster,  das  Claude  Glystra
noch nicht als Ganzes wahrzunehmen vermochte. Es
stand  für  ihn  fest,  daß  die  Tatsachen  von  Vallussers
Schuld  nicht  all  die  Ereignisse  der  letzten  paar  Wo-
chen erklärte.

Er stellte weitere Fragen und erfuhr, daß Morwatz

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in  die  Guerdons  hineingeboren  worden  war  –  eine
Kaste  des  niedrigen  Adels  –  und  darauf  auch  noch
stolz war. Er stammte aus der Ortschaft Pellisade, ein
paar  Meilen  südlich  von  Grosgarth  gelegen,  und  er
glaubte  fest  daran,  daß  die  Erde  die  Heimat  einer
hirnlosen Roboterrasse war, die maschinengleich auf
Gongschläge und Klingelsignale reagierte. »Wir hier
in Beaujolais würden lieber sterben, als uns so ernied-
rigen zu lassen«, erklärte Morwatz mit einem leuch-
tenden Feuer in den Augen.

Hier  war  die  genaue  Entsprechung,  überlegte

Glystra,  zu  dem  auf  der  Erde  verbreiteten  Stereotyp
der  halbverrückten,  rücksichtslosen  Geschöpfe,  die
den  Großen  Planeten  unsicher  machten.  Grinsend
fragte er: »Sehen wir vielleicht so aus, als ob wir des
freien Willens entbehrten?«

»Ihr seid die Elite. Hier in Beaujolais gibt es keine

solche Tyrannei, wie ihr sie auf der Erde erfahrt. Wir
wissen alles darüber, und zwar von Leuten, die es am
besten wissen.«

Er  sah  Glystra  von  der  Seite  an.  »Warum  lächeln

Sie darüber?«

Glystra  lachte  laut  auf.  »Naisuka.  Der  Grund,  der

überhaupt kein Grund ist.«

»Sie benutzen ein Wort aus den höchsten Kreisen«,

sagte Morwatz unsicher. »Selbst ich würde nicht wa-
gen, es auszusprechen.«

»Nun denn.« Claude Glystra zog seine Augenbrau-

en  zusammen.  »Es  ist  euch  nicht  erlaubt,  gewisse
Worte zu benutzen – aber ihr lebt auch nicht unter ei-
ner Tyrannei.«

»Genauso  ist  es.  Wie  es  sein  sollte.«  Und  dann

nahm Morwatz allen Mut zusammen, um selbst eine

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Frage zu stellen. »Und was werdet ihr mit uns tun?«

»Wenn ihr unsere Befehle befolgt, dann habt ihr die

gleichen Chancen wie wir. Ich zähle auf Sie und Ihre
Männer,  damit  Sie  uns  während  unseres  Marsches
beschützen.  Wenn  wir  unser  Ziel  erreicht  haben,
könnt ihr gehen, wohin ihr wollt.«

»Wohin soll unser Marsch gehen?«
»Zur Erd-Enklave.«
Morwatz  legte  die  Stirn  in  Falten.  »Ich  kenne  die-

sen  Ort  nicht.  Wieviele  Ligen  ist  das  von  hier  ent-
fernt?«

»Vierzigtausend Meilen. Dreizehntausend Ligen.«
Morwatz'  Schritt  kam  ins  Stocken.  »Sie  sind  ver-

rückt!«

Glystra lachte. »Wir alle haben unseren Ärger dem

gleichen  Mann  zu  verdanken.«  Er  wies  mit  dem
Daumen nach hinten. »Abbigens.«

Morwatz fiel es schwer, seine Gedanken zu ordnen.

»Zuerst kommt das Nomadenland und die Zigeuner.
Wenn sie uns gefangennehmen, dann werden sie uns
wie Zipangoten vor ihre Wagen spannen.« Er machte
eine  Kopfbewegung  in  Richtung  auf  die  Packtiere.
»Es sind Menschen einer anderen Rasse, und sie ver-
achten alles, was aus Beaujolais kommt.«

»Sie  werden  fünfzig  Männer  vielleicht  nicht  so

leicht angreifen, wie es bei nur acht Männern der Fall
wäre.«

Morwatz  schüttelte  heftig  verneinend  den  Kopf.

»Beim letzten Sechs-Mond ist Atman der Gnadenlose
tief nach Beaujolais eingefallen, und er hat sich seinen
Weg mit Schrecken und Pein geebnet.«

Glystra  spähte  durch  die  Baumstämme  hindurch,

die jetzt schon weniger dicht beisammenstanden, auf

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den  offenen,  vor  ihnen  flach  auslaufenden  Hang.
»Vor  uns  also  liegt  das  Land  der  Nomaden.  Was
kommt danach?«

»Nach  dem  Land  der  Nomaden?«  Morwatz  legte

die  Stirn  in  Falten.  »Zunächst  der  Fluß  Oust.  Dann
die Sümpfe, und die Seilmacher der Sumpfinsel. Und
nach den Sümpfen ...«

»Ja?«
»Was  direkt  östlich  liegt,  weiß  ich  nicht.  Wilde

Menschen,  wilde  Tiere.  Südlich  liegt  ein  Land,  das
Felissima  genannt  wird,  und  Kirstendale,  und  die
Monobahn  zum  Brunnen  am  Myrtensee  und  dem
Orakel.  Nach  dem  Myrtensee  kommt  das  Land  der
Steine,  aber  davon  habe  ich  keine  nähere  Kenntnis
mehr, weil es zu weit östlich liegt.«

»Wieviele Ligen?«
»Ein paar hundert. Aber es ist schwierig, das genau

zu  bestimmen.  Von  hier  bis  zum  Fluß  –  sagen  wir
fünf  Tage.  Um  ihn  zu  überqueren,  müßt  ihr  die
Edelweiß-Hochbahn  zur  Sumpfinsel  benutzen,  oder
ihr  müßt  dem  Fluß  Oust  in  südwestlicher  Richtung
zurück nach Beaujolais folgen.«

»Warum  können  wir  den  Fluß  nicht  in  Booten

überqueren?«

»Die Griamobots«, verriet Morwatz mit wissender

Miene.

»Und was ist das?«
»Wilde Flußungeheuer. Schrecklich.«
»Hm.  Und  nach  dem  Fluß?  Was  dann?  Wie  kom-

men wir durch die Sümpfe?«

Morwatz  rechnete.  »Wenn  ihr  eure  Reise  östlich

fortsetzt,  braucht  ihr  vier  Tage  –  vorausgesetzt,  ihr
findet  einen  guten  Sumpfwagen.  Wenn  ihr  euch  in

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Richtung Süden halten wollt, dann könnt ihr die Mo-
nobahn  nehmen,  die  am  Marschland  vorbeiführt  –
dem Hibernianischen Marschland – bis nach Kirsten-
dale.  Das  wäre  in  sechs  Tagen  oder  einer  Woche  zu
schaffen.  Wenn  es  euch  gelingen  sollte,  Kirstendale
wieder zu verlassen –«

»Warum sollten wir das nicht?«
»Einigen gelingt es«, sagte Morwatz und blinzelte

wiederholt mit den Augen. »Einigen nicht ... Von Kir-
stendale  aus  führt  die  Monobahn  weiter  westlich
nach Grosgarth, südlich durch die Handelsdörfer von
Felissima, östlich zum Myrtenseebrunnen.«

»Wie weit ist es von Kirstendale zum Myrtensee?«
Morwatz machte eine ausladende Geste. »Vielleicht

zwei  oder  drei  Tage  mit  der  Monobahn.  Ansonsten
eine  sehr  gefährliche  Reise,  wegen  der  Stämme,  die
von Eyrie herabkommen.«

»Und jenseits des Myrtensees?«
»Wüste.«
»Und jenseits der Wüste?«
Morwatz zuckte die Schultern. »Das wäre eine Fra-

ge  für  den  Zauberbrunnen.  Wenn  Sie  wohlhabend
sind  und  genug  Metall  zahlen,  dann  wird  er  Ihnen
alles  sagen,  was  Sie  wissen  wollen.«  Es  war  offen-
sichtlich,  daß  Morwatz  mit  voller  Überzeugung
sprach.

Das  Blätterwerk  über  ihnen  verdünnte  sich,  und

die Marschreihe trat in das grelle Tageslicht des Gro-
ßen  Planeten  hinaus.  Der  Hang  vor  ihnen  rollte  all-
mählich  aus.  Es  war  keine  menschliche  Behausung,
nicht  einmal  eine  Ruine  in  Sicht,  aber  in  Richtung
Norden  konnten  sie  eine  dichte  Rauchsäule  ausma-
chen, die vom Wind ostwärts gedreht wurde.

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Glystra  hielt  die  Reihe  an  und  gruppierte  die  Sol-

daten  zu  einer  rechteckigen  Formation  um  die  Ge-
päcktiere  herum  –  Zipangoten,  wie  Morwatz  sie
nannte. Das Tier, das die Pfeile trug, wurde von Elton
bewacht, der auf einer Tragbahre direkt dahinter saß.
Er hatte ein Katapult und Pfeile bei der Hand, wäh-
rend  sich  das  Hitzegewehr  –  vor  überraschendem
Zugriff sicher – in seiner Jacke befand. Abbigens ging
am äußersten Ende rechts vorne, Morwatz links hin-
ten. Pianza und Fayne flankierten links und rechts als
Aufpasser mit Ionenstrahlern; dahinter kamen Bishop
und Ketch.

Zwei  Stunden  vor  Mittag  befanden  sie  sich  inmit-

ten  des  Ödlands,  und  während  sie  dahinmarschier-
ten, verlor die gewaltige Erhebung hinter ihnen zuse-
hends von ihrer eindrucksvollen Größe. Die höheren
Bereiche  verschwanden  im  Dunst,  und  der  Wald
wurde  zu  einem  dunklen  Streifen.  Der  Hang  wirkte
aus dieser Entfernung weniger steil.

Von den Soldaten her drang gedämpftes Murmeln

an sein Ohr. Sie stockten im Schritt, und das Weiße in
ihren Augen leuchtete hervor.

Claude  Glystra  folgte  ihrer  Blickrichtung  und  sah

entlang  des  Horizonts  ein  Dutzend  großer  Zipango-
ten, die etwas auf dem Rücken trugen und sich ohne
besondere Eile zu nähern schienen.

»Was ist das? Zigeuner?«
Morwatz  blickte  mit  angespannter  Miene  zu  der

Reihe  hinüber.  »Es  sind  Zigeuner,  aber  keine.  Kosa-
ken. Sie gehören einer höheren Kriegerkaste an, viel-
leicht  sind  es  sogar  Politboros.  Nur  die  Politboros
reiten Zipangoten. Kosaken sind leicht abzuwehren –
sie  haben  wenig  Kampfgeist,  keine  Disziplin,  keine

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Strategie,  kein  Hirn.  Sobald  sie  ein  paar  Gefangene
haben,  die  sie  verkaufen  oder  vor  ihre  Wagen  span-
nen  können,  sind  sie  zufrieden.  Aber  die  Politboros
...« Seine Stimme erstarb, und er schüttelte den Kopf.

»Was ist mit den Politboros?« drängte Glystra.
»Sie sind die großen Krieger, die Anführer. Die Ko-

saken  allein  sind  bloße  Räuber.  Wenn  ein  Politboro
sie anführt – werden sie zu Dämonen!«

Glystra  sah  zu  Bishop  hinüber.  »Was  wissen  wir

über diese Zigeuner, Steve?«

»Es  gibt  da  ein  kurzes  Kapitel  in  Vendomes  Buch

vom Großen Planeten, das von den Zigeunern handelt,
aber  das  Schwergewicht  liegt  mehr  auf  ihrem  rassi-
schen  Hintergrund  denn  auf  ihrer  Kultur.  Sie  sollen
von einem kirgistischen Hirtenvolk von der Erde ab-
stammen. Kurdestan, glaube ich. Als die Wetterkon-
trolle die Regenfälle jenseits des Kaukasus verstärkte,
wanderten  sie  zum  Großen  Planeten  aus,  wo  die
Steppen voraussichtlich Steppen bleiben würden. Sie
schifften  sich  in  der  dritten  Klasse  aus,  und  im  glei-
chen Schiff befand sich ein Stamm traditionsbewußter
Zigeuner  und  eine  Bruderschaft  von  Polynesiern.
Während  der  Reise  brachte  der  Chef  der  Zigeuner,
der  Panvilsap  genannt  wurde,  den  kirgisischen
Hauptmann um und heiratete die polynesische Mat-
riarchin. Als sie auf dem Großen Planeten ankamen,
hatte  er  die  ganze  Gruppe  unter  Kontrolle.  Die  sich
daraus ergebende Kultur war ein Gemisch aus Kirgi-
sisch, Polynesisch und Romanisch, und wurde domi-
niert von der Persönlichkeit Panvilsaps.«

Die  heranreitende  Reihe  war  jetzt  bereits  weniger

als  eine  Meile  entfernt,  näherte  sich  ohne  besondere
Eile.

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»Wieso beschäftigen Sie sich mit den Besonderhei-

ten  ihrer  Kultur?«  fragte  Morwatz  erregt.  »Noch
heute abend werden wir gleich Zipangoten ihre Wa-
gen ziehen.«

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7

Die Sonne stand im Zenit, und die angesengte grau-
grüne Vegetation der Steppe verbreitete ein rauchiges
Aroma. Während sich die berittenen Zipangoten nä-
herten,  wurden  dahinter  allmählich  Gruppen  von
Kosaken sichtbar, die sich hinter den langsam dahin-
stapfenden Tieren hielten.

»Ist  das  ihre  übliche  Angriffsmethode?«  wollte

Glystra von Morwatz wissen.

»Sie halten sich nicht an bestimmte Methoden.«
»Befehlen  Sie  Ihren  Leuten,  jeweils  fünf  Pfeile  an

sich zu nehmen und sich bereitzuhalten.«

Morwatz  straffte  sich,  schien  von  einem  Augen-

blick zum andern an Statur zu gewinnen. Er ging vor
den Soldaten hin und her, bellte Befehle. Sie nahmen
Haltung an, bildeten dichtere Reihen. In Fünfergrup-
pen schritten sie zu dem Packtier, das die Pfeile trug,
und traten dann wieder in ihre Reihen zurück.

»Fürchtest du nicht –« setzte Bishop skeptisch an.
»Wir  müssen  uns  davor  hüten,  so  zu  wirken,  als

fürchteten wir etwas«, sagte Glystra. »Dann wären sie
nämlich weg in Richtung Wald wie wilde Kaninchen.
Es ist eine Frage der Moral. Wir müssen uns so ver-
halten, als wären diese Zigeuner Staub unter unseren
Füßen.«

»Ich glaube, du hast recht – theoretisch.«
Die  berittene  Reihe  kam  etwa  dreißig  bis  vierzig

Meter vor ihnen zum Halten, gerade noch außerhalb
der  Reichweite  ihrer  Katapulte.  Die  Tiere  waren
schwerer als die in ihrem Gepäckzug. Sie wurden von
abgewetzten  Lederzügeln  gehalten,  die  mit  kruden

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Symbolen verziert waren, und ein jedes trug ein rhi-
nozerosähnliches Horn, das an seiner Schnauze befe-
stigt war.

Ein  großer,  stämmiger  Mann  saß  auf  dem  ersten

der  Zipangoten.  Er  trug  blaue  Seidenhosen,  einen
kurzen schwarzen Umhang, eine schirmmützenähnli-
che Kopfbedeckung aus Leder. An seinen Ohren hin-
gen Messingringe von fast zehn Zentimetern Durch-
messer, und auf beiden Brustseiten glänzte eine Me-
daille.  Er  hatte  ein  rundliches,  muskulöses  Gesicht,
aus dem dichte Augenbrauen hervorstachen.

Glystra  vernahm,  wie  Morwatz  entgeistert  mur-

melte: »Atman der Gnadenlose!«

Claude  Glystra  betrachtete  den  Mann  erneut  und

konnte  an  ihm  nicht  das  geringste  Anzeichen  einer
Anspannung  ausmachen.  Es  war  ein  gleichgültiges
Selbstvertrauen,  das  alarmierender  wirkte  als  jede
Form  von  Arroganz.  Hinter  ihm  ritt  ein  Dutzend
Männer,  die  eine  ähnliche  Kluft  trugen  wie  er.  Da-
hinter lauerten etwa hundert Männer und Frauen in
weiten Hosen, geschmückt mit Bändern und Quasten,
schweren Barchentjacken und Ledermützen.

Glystra  wandte  sich  ab,  um  die  Formation  der  ei-

genen  Soldaten  zu  überprüfen  –  in  diesem  Augen-
blick fegte etwas dicht an seiner Kehle vorbei, bösar-
tig  summend  wie  eine  Hornisse.  Er  wich  zurück,
duckte  sich  und  sah  voll  in  das  flache  Gesicht  von
Abbigens, der sein Katapult mit einem seltsam leeren
Ausdruck senkte.

»Morwatz«, sagte Glystra, »lassen Sie Abbigens das

Katapult  abnehmen  und  an  Händen  und  Füßen  fes-
seln.«

Morwatz  zögerte  kaum  merklich,  gab  dann  die

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Anweisung an zwei Soldaten weiter.

Das Schlurfen von Füßen war zu vernehmen, was

Glystra jedoch zunächst ignorierte – denn Atman und
seine Politboros waren abgestiegen und näherten sich
ihnen.

Atman hielt ein paar Schritte vor ihnen an und lä-

chelte dünn. »Was denkt ihr euch, da ihr in das Land
der  Zigeuner  eindringt?«  Er  sprach  weich  und  flie-
ßend.

»Wir  sind  nach  Kirstendale  unterwegs,  am

Marschland  vorbei«,  sagte  Glystra.  »Der  Weg  führt
durch das Nomadenland.«

Atman  zog  seine  Lippen  zurück  und  ließ  seine

Zähne  sichtbar  werden,  in  die  auf  kunstvolle  Weise
kleinste Stückchen farbigen Gesteins eingelassen wa-
ren. »Ihr gebt eure Freiheit auf, indem ihr dieses Land
betretet.«

»Das  Risiko  liegt  bei  denen,  die  uns  versklaven

wollen.«

»Sollen diese Soldaten vielleicht ein Hindernis für

uns bedeuten?« Atman machte eine verächtliche Ge-
ste.

Glystra  vernahm  ein  Wimmern,  einen  Schrei.

»Claude – Claude –«

Ein  heißer  Blutschwall  drang  in  sein  Gehirn.  Er

stand leicht schwankend da, wurde sich dann dessen
bewußt, daß Atman ihn amüsiert beobachtete. »Wer
ruft meinen Namen?«

Atman  sah  nachlässig  über  seine  Schulter  zurück.

»Eine Frau, die wir heute morgen nahe dem Wald ge-
funden  haben.  Sie  wird  uns  einen  guten  Preis  brin-
gen.«

»Laß sie vorbringen«, sagte Glystra. »Ich werde sie

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euch abkaufen.«

»Ihr seid also reich?« bemerkte Atman. »Fürwahr,

dies ist ein glücklicher Tag für die Zigeuner.«

Glystra  versuchte,  seine  Stimme  ruhig  zu  halten.

»Bringt  diese  Frau  her,  oder  ich  werde  einen  Mann
schicken, der sie holt.«

»Einen  Mann?  Einen  Mann?«  Atmans  Augen  ver-

engten sich. »Was für einer Rasse von Menschen ge-
hört ihr an? Ihr seid nicht aus Beaujolais wie die an-
deren, aber ihr seid dunkler als die Maquir ...«

Glystra zog wie beiläufig seinen Ionenstrahler her-

vor. »Ich bin Elektriker.« Er grinste über seinen eige-
nen Witz.

Atman rieb sich sein schweres Kinn. »Elektriker ...

in welchen Gebieten leben sie?«

»Es ist keine Rasse; es ist ein Beruf.«
»Aha! Wir haben keine solchen unter uns; wir ge-

hen unseren eigenen Tätigkeiten nach. Wir sind Krie-
ger und Sklavenjäger.«

Glystra hatte eine ernste Entscheidung getroffen. Er

wandte  den  Kopf.  »Bringt  Abbigens  vor.«  Und  zu
Atman gewandt: »Elektriker tragen den Tod in jeder
ihrer Bewegungen.«

Abbigens  wurde  nach  vorn  gestoßen.  Glystra  er-

klärte  ihm:  »Wenn  es  keinen  praktischen  Zweck  er-
füllen  würde,  dich  zu  töten,  dann  würde  ich  dich
vermutlich zur Buße noch bis zur Erdenklave laufen
lassen.« Er hob den Ionenstrahler. Abbigens' Gesicht
war  wie  aufgegangener  Teig;  er  begann  wie  wahn-
sinnig zu lachen. »Was für ein Witz! Was für ein Witz
auf  deine  Kosten,  Glystra!«  Der  violette  Strahl  kam
auf,  Energie  zuckte  durch  den  konduktiven  Bereich.
Abbigens war tot.

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Atman  machte  einen  etwas  gelangweilten  Ein-

druck.

»Gib mir die Frau«, sagte Glystra, »oder ich werde

diesen gleichen Tod über euch alle bringen.« Er hatte
diesen  herrischen  Ton  angeschlagen,  der  keinen  Wi-
derspruch duldete. »Schnell!«

Atman sah leicht überrascht hoch, zögerte, machte

dann  eine  Bewegung  zu  seinen  Männern  hin.  »Laßt
sie ihn haben.«

Nancy  kam  humpelnd  vorwärts,  fiel  zitternd  und

aufschluchzend  vor  Glystras  Füße.  Er  ignorierte  sie;
statt dessen sagte er zu Atman: »Geht ihr euren Weg,
und wir werden den unseren gehen.«

Atman hatte seine Fassung wiedergewonnen, wenn

er  überhaupt  etwas  davon  verloren  hatte.  »Ich  habe
diese  elektrischen  Keulen  bereits  gesehen.  Aber  sie
töten  auch  nicht  sicherer  als  unsere  Lanzen.  Insbe-
sondere  im  Dunkeln,  wenn  Lanzen  aus  vielen  Rich-
tungen kommen und die Keule nur in eine Richtung
weist.«

Glystra wandte sich an Morwatz. »Wir marschieren

los.«

Morwatz  riß  seinen  Arm  hoch  und  nieder  und

bellte: »Vorwärts!«

Atman  nickte  mit  einem  zweideutigen  Lächeln.

»Vielleicht werden wir uns wieder begegnen.«

Der große Hügel war nur noch ein Schatten hinter

den Dunstwolken im Westen; die Steppe dehnte sich
gleich einem Ozean. Und hinter ihnen waren die Zi-
geuner,  wobei  sich  die  Kosaken  um  die  Politboros
drängten, die, auf ihren Zipangoten reitend, deutlich
herausragten.

Am  späten  Nachmittag  erschien  ein  dunkler

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Schatten in der Ferne. »Sieht nach Bäumen aus«, sagte
Fayne, »vermutlich eine Wasserstelle.«

Claude Glystra suchte den Horizont in allen Rich-

tungen  ab.  »Es  scheint  die  einzige  Zuflucht  zu  sein,
die wir von hier erreichen können. Das wird also un-
ser Nachtlager werden.« Er sah sich nach den schwa-
chen  Umrissen  in  der  Ferne  hinter  ihnen  um.  »Ich
fürchte, uns steht noch weit mehr Ärger bevor.«

Die Schatten gewannen an Dichte, wurden zu einer

Ansammlung von etwa einem Dutzend Bäumen. Um
sie  herum  lagen  Teppiche  blau-weißen  Mooses  und
üppigen Grases.

Inmitten  dieser  blühenden  Vegetation  befand  sich

ein  kleiner  Teich,  umstanden  von  rostfarbenem
Schilfrohr.  Glystra  betrachtete  das  Wasser  mißtrau-
isch. Es wirkte brackig, aber die Leute aus Beaujolais
tranken es mit Begeisterung. Neben dem Teich stand
ein  mittelgroßer  Schuppen,  gefüllt  mit  Zweigen,  an
denen  Früchte  ähnlich  irdischen  Eicheln  hingen;  ne-
ben  dem  Schuppen  standen  Fässer  mit  überreifem
Bier sowie eine primitive Destillieranlage.

Die Soldaten näherten sich neugierig der Destillier-

apparatur.  Morwatz  lief  ihnen  schreiend  hinterher,
um  sie  aufzuhalten;  zögernd  zogen  sie  sich  wieder
zurück.

Glystra  nahm  einen  kleinen  Becher  aus  einem  der

Gepäckstücke und reichte ihn Morwatz. »Jeder eurer
Männer  soll  eine  etwas  gleiche  Menge  davon  erhal-
ten.«

Lautstarke  Zustimmung  wurde  ihm  zuteil,  und

Glystra  sagte  zu  Pianza:  »Wenn  wir  ihnen  jeden
Abend  Grog  verabreichen  könnten,  dann  brauchten
wir überhaupt nicht mehr auf sie aufzupassen.«

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Pianza  schüttelte  den  Kopf.  »Sie  sind  wie  Kinder.

Sehr wenig emotionale Kontrolle. Ich hoffe nur, daß
sie uns nicht auch noch eine Menge Ärger machen.«

»Alkohol  oder  nicht,  wir  können  uns  nicht  ent-

spannen.  Du  und  Fayne,  ihr  nehmt  die  ersten  vier
Stunden, Bishop, Ketch und ich werden die nächsten
vier  nehmen.  Paßt  gut  auf  das  Tier  mit  den  Pfeilen
auf.« Er ging, um den Verband um Eltons Nacken zu
wechseln, aber Nancy war ihm dabei schon zuvorge-
kommen.

Die  Soldaten  hatten  zu  singen  begonnen  und  er-

richteten ein Feuer, auf das sie eine ziemliche Menge
von Zweigen aus dem Schuppen schichteten, um de-
ren aromatischen Rauch einzuatmen. Pianza wandte
sich besorgt an Glystra: »Sie sind sturzbetrunken. Ich
hoffe, sie werden nicht noch schlimmer.«

Glystra  sah  mit  wachsendem  Verständnis  zu.  Die

Soldaten versuchten, schreiend und stoßend näher an
das  Feuer  zu  kommen,  kämpften  sich  in  die  dichte-
sten Rauchwolken vor, blieben darin stehen mit när-
risch  verzogenen  Gesichtern.  Wurden  sie  zur  Seite
gedrängt,  so  kämpften  sie  sich  schreiend  sogleich
wieder nach vorn, in den dichten Rauch hinein.

»Muß  wohl  ein  Narkotikum  sein«,  stellte  Glystra

fest.  »Das  Marihuana  des  Großen  Planeten.«  Er  trat
vor. »Morwatz!«

Morwatz hatte entzündete Augen und ein stark er-

rötetes  Gesicht,  da  er  sich  selbst  im  dichten  Rauch
aufgehalten hatte. Er wandte sich zögernd Glystra zu.
»Ihre Männer sollen essen und sich niederlegen, aber
nicht mehr von diesem Rauch einatmen.«

Morwatz gab gedehnt seine Zustimmung kund. Er

wandte sich seinen Männern zu, und nach längerem

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und  lautstarkem  Fluchen  gelang  es  ihm,  wieder  so
etwas wie Ordnung in das Lager zu bringen. In einer
Terrine  wurde  eine  breiartige  Mahlzeit  zubereitet  –
zerkleinertes  Getreide,  abgeschmeckt  mit  einigen
Handvoll trockener Fleischstücke und Pilze.

Glystra  ließ  sich  neben  Morwatz  nieder,  der  sich

unweit  seiner  Leute  zum  Essen  niedergesetzt  hatte.
»Was  ist  das  für  ein  Zeug?«  Er  deutete  auf  den
Schuppen.

»Es wird Zygage genannt – eine sehr starke Droge,

sehr  nützlich.«  Er  richtete  sich  auf.  »Im  allgemeinen
inhalieren nur die niedrigsten Kasten diesen Rauch –
es ist vulgär, verursacht die krudesten Empfindungen
–«

»In welcher Form nehmen Sie es dann gewöhnlich

ein?«

Morwatz  atmete  schwer.  »Ich  pflege  so  etwas  ei-

gentlich überhaupt nicht zu nehmen. Zygage nimmt
zuviel  Vitalität;  ob  Rauch,  Tinktur  oder  Nasensalbe,
der Benutzer zahlt teuer für sein Vergnügen ... Aber
sehen Sie dort, was für eine Art von Droge nimmt Ihr
Mann denn?«

Steve Bishop schluckte soeben seine unerläßlichen

Vitaminpillen.

Claude  Glystra  grinste.  »Das  ist  eine  ganz  andere

Art von Droge. Es läßt Bishop glauben, daß er gesund
ist. Er würde niemals den Unterschied merken, wenn
ihm jemand Kreidekügelchen unterschöbe.«

Morwatz  war  sichtlich  überrascht.  »Wieder  einer

dieser  seltsamen  und  sinnlosen  irdischen  Gebräu-
che.«

Glystra kehrte zu seinen Begleitern zurück. Nancy

kümmerte sich um Elton, setzte sich dann so unauf-

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fällig  wie  möglich  irgendwo  zwischen  die  Zipango-
ten.

Vom  Feuer  her  kam  ein  plötzlicher  Tumult.  Ein

Soldat hatte unbemerkt eine erneute Ladung von Zy-
gagenzweigen  in  die  Flammen  geworfen,  und  Mor-
watz ging wütend auf ihn los. Der Soldat, taumelnd
und mit rotunterlaufenen Augen, schrie ihn heiser an.

Glystra seufzte. »Das nenne ich Disziplin. Nun, ich

glaube,  wir  müssen  ein  Exempel  statuieren.«  Damit
erhob er sich.

Morwatz  zog  soeben  die  rauchenden  Zweige  aus

dem  lodernden  Feuer;  der  Soldat  schlich  heran  und
trat  ihn  von  hinten.  Morwatz  fiel  mit  dem  Gesicht
nach unten auf die Kohlen.

Roger Fayne lief los, um den schreienden Morwatz

herauszuziehen; drei Soldaten sprangen ihn von hin-
ten an und drückten ihn nieder. Pianza zielte mit dem
Ionenstrahler, feuerte aber nicht, da er fürchtete, Fay-
ne  treffen  zu  können.  Soldaten  kamen  aus  allen
Richtungen auf ihn zu. Er zielte, feuerte: Klick – klick –
klick. 
Drei Soldaten fielen flach hin, eingeschrumpftes
Fleisch. Die anderen fielen über ihn her.

Die Lichtung war plötzlich von schreienden, wild-

gewordenen Männern bevölkert. Einer sprang Ketch
an, warf ihn um. Glystra tötete ihn mit seinem Ionen-
strahler, spürte dann plötzlich, wie kräftige Arme von
hinten an ihm rissen, ihn zu Boden zogen.

Die Erdenmänner lagen wehrlos da, die Arme hin-

ter ihrem Rücken zusammengebunden.

Unweit  von  ihnen  lag  Morwatz,  entrang  seiner

Brust ein tiefes, gequältes Seufzen. Der Mann, der ihn
zuerst  getreten  hatte,  zog  sein  Schwert  und  durch-
bohrte ihn. Er wandte sich um und sah seine Gefan-

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genen  an,  tippte  mit  seinem  Schwert  an  Glystras
Kinn. »Du wirst deinen Tod nicht von meiner Hand
finden.  Ihr  kommt  mit  zurück  nach  Grosgarth,  und
der  Bajarnum  wird  uns  belohnen,  indem  er  uns  zu
Edelleuten  macht  ...  Soll  Charley  Lysidder  seinen
Willen mit euch haben ...«

»Die  Zigeuner!«  sagte  Glystra  mit  rauchiger  Stim-

me. »Sie werden uns alle bekommen!«

»Pah. Sie sind nur schmutzige Tiere!« Er schwang

sein Schwert in einem wilden Bogen um sich herum.
»Wir  werden  sie  umbringen,  wie  sie  kommen!«  Er
stieß einen wilden Schrei aus, der verriet, wie wenig
die  Drogen  von  seiner  Selbstbeherrschung  übrigge-
lassen hatten. Er lief zu dem Schuppen und warf ei-
nen  Arm  voll  Zweige  nach  dem  anderen  in  die
Flammen. Dichter Rauch bildete sich, und die Solda-
ten inhalierten ihn begierig.

Glystra  zog  an  seinen  Fesseln,  aber  sie  waren  gut

gebunden und so fest verknotet, daß ihm die Hände
abzusterben  drohten.  Er  wandte  mühsam  den  Kopf.
Wo war Nancy?

Da war ein entferntes Geräusch, das er auf einmal

vernahm,  ein  entferntes  Singen  von  der  Steppe  her,
das manchmal unterbrochen schien durch den Klang
eines tiefen Horns.

Die  Windrichtung  verlagerte  sich.  Rauch  von  den

glimmenden Zygagenzweigen wehte über die gefes-
selten  Erdenmänner  hinweg.  So  sehr  sie  sich  auch
drehen und wenden mochten, sie konnten den Rauch
nicht vermeiden. Stehend und süß stieg er in ihre Na-
sen.

Die  erste  Empfindung  war  die  einer  vielfachen

Stärke,  einer  vertausendfachten  Wahrnehmungsfä-

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higkeit,  ein  Sehen,  Hören,  Fühlen  und  Riechen,  das
bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  ging  und  zugleich
umfassend war. Jedes Blatt am Baum wurde zu einer
eigenen Wesenheit, jeder Pulsschlag zu einer einma-
ligen  und  einzigartigen  Erfahrung.  Schwärme  von
angenehmen  Erfahrungen  füllten  das  Bewußtsein
aus.  Zugleich  war  ein  anderer  Teil  des  Bewußtseins
außergewöhnlich  aktiv;  Probleme  wurden  zu  Baga-
tellen; Beschwernisse – wie etwa die Fesseln und die
Aussicht, durch Charley Lysidders Hände zu sterben
– waren nur Details am Rande, kaum der Beachtung
wert.  Und  währenddessen  wurde  das  Singen  in  der
Ferne  lauter.  Glystra  hörte  es;  gewiß  mußten  es  die
Soldaten ebenso hören ...

Das Singen war laut, kam aus nächster Nähe. End-

lich  reagierten  die  Männer  aus  Beaujolais.  Sie  tau-
melten  vom  Feuer  weg,  die  schwarzen  Hüte  saßen
fast  durchweg  schräg  auf  ihren  Köpfen,  ihre  Augen
traten  hervor,  waren  blutunterlaufen,  die  Gesichter
waren  verzerrt,  die  Münder  standen  offen  und
schnappten nach Luft.

Der  Anführer  hob  seinen  Kopf  wie  ein  Wolf  und

stieß einen Schrei aus.

Dieser  Schrei  gefiel  den  Männern  aus  Beaujolais.

Sie alle warfen die Köpfe zurück und stimmten in ihn
ein. Lachend und schreiend beluden sie sich jetzt mit
Pfeilen und liefen aus der Oase hinaus, der Zigeuner-
horde entgegen.

Der  Anführer  bellte  etwas;  die  Soldaten  ordneten

sich zu einer lockeren Formation, ohne innezuhalten,
und  verloren  sich  im  entfernten  Widerschein  des
Feuers.

Die Oase war jetzt ruhig. Glystra rollte sich auf sei-

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ne Knie, kämpfte sich hoch, suchte nach irgend etwas,
um seine Fesseln zu lösen. »Bleib so!« rief Pianza mit
unterdrückter  Stimme.  »Ich  werde  sehen,  ob  ich  die
Lederriemen lösen kann.« Er erhob sich ebenfalls auf
seine Knie und kämpfte sich auf die Füße hoch. Mit
dem Rücken zu Glystra, versuchte er an dessen Fes-
seln zu hantieren.

Er  keuchte  verzweifelt.  »Meine  Finger  sind  ganz

lahm ... ich kann meine Hände nicht bewegen ...«

Die Soldaten von Beaujolais befanden sich jetzt in-

mitten der zwielichtigen Steppe; die Zigeuner hatten
zu  singen  aufgehört,  und  nur  der  tiefe  Klang  des
Horns  war  noch  zu  vernehmen.  Die  Einzelheiten
verloren sich in der abendlichen Dämmerung; Glystra
konnte sehen, wie Männer fielen; es folgte ein wilder
Gegenangriff von Seiten der Soldaten aus Beaujolais.

Die Schlacht verlor sich in der Dämmerung.

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8

Glystra versuchte die Knoten an Pianzas Handgelen-
ken zu lösen, doch ohne Erfolg. Seine Finger fühlten
sich wie Würste an, ohne jede Empfindung. Er spürte
plötzlich seine Schwäche; sein Denken war träge. Die
Nachwirkungen der Droge.

Das eine Augenlid zuckte immer noch auf und zu.

Nancy tauchte unerwartet darin auf – bleichgesichtig
und mit weit aufgerissenen Augen.

»Nancy! Komm her, schnell!«
Sie  sah  Glystra  wie  benommen  an,  bewegte  sich

unsicher vorwärts, hielt inne, sah zurück in Richtung
auf das Durcheinander in der Steppe.

Die  Ausrufe  der  Soldaten  aus  Beaujolais  wurden

immer schriller, wilder, triumphierender.

»Nancy!« rief Glystra. »Schneide uns los – bevor sie

zurückkommen und uns umbringen!«

Nancy  sah  ihn  mit  einem  seltsam  nachdenklichen

Ausdruck an.

Hornstöße klangen gleich Glocken durch die Luft.

Das Schreien der Leute aus Beaujolais ließ nach. Eine
Stimme  erhob  sich  über  all  die  anderen:  Atman  der
Gnadenlose.

»Nancy!«  schrie  Glystra.  »Komm  her!  Binde  uns

los! Sie können jede Minute hier sein.«

Sie  sprang  vorwärts,  riß  ein  Messer  heraus.  Ein

paar gezielte Schnitte. Die Erdenmänner standen da,
rieben  sich  ihre  Handgelenke,  zogen  Grimassen  ob
der Schmerzen, die ihnen die wiederhergestellte Blut-
zirkulation verursachte, apathisch durch die nachlas-
sende Wirkung des Zygagenrauchs.

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»Zumindest  sind  wir  die  Sorge  los,  wie  wir  die

Soldaten  unter  Kontrolle  behalten«,  murmelte
Glystra.

»Die  Zigeuner  werden  heute  nacht  feiern«,  sagte

Bishop.  Er  wirkte  als  einziger  in  der  Gruppe  voll
wachsam.  Tatsächlich  war  er  mehr  als  wachsam;  er
hatte  offenbar  die  geistige  Schärfe  und  die  körperli-
che  Entspanntheit  behalten,  die  die  anderen  unter
dem Einfluß der Zygage verspürt hatten. Glystra sah
ihm  zu,  wie  er  mit  kraftvollen  Schritten  auf  und  ab
ging.  Ihm  selbst  war  zumute,  als  müsse  sein  Körper
wie ein nasser Wäschesack nachgeben.

Moss Ketch beugte sich mit der Anstrengung eines

alten Mannes nieder und nahm ein glänzendes Stück
Metall auf. »Ein Ionenstrahler, der einem von uns ab-
handen gekommen ist.«

Glystra  suchte  die  Umgebung  ab  und  fand  seine

eigene Waffe dort wieder, wo sie achtlos hingeworfen
worden  war.  »Hier  ist  meine  ...  Sie  waren  zu  aufge-
heizt, um sich noch um irgend etwas zu kümmern.«
Der Wind blies ihm ein wenig Rauch in das Gesicht;
neue Finger des Entzückens schossen in sein Gehirn.
»Verdammt! Dieses Zeug ist stark ...«

Steve  Bishop  hatte  sich  ins  Gras  geworfen  und

machte Liegestützen. Da er die Blicke der anderen auf
sich spürte, sprang er wieder auf die Füße. »Ich fühle
mich einfach phantastisch«, sagte er grinsend. »Dieser
Rauch hat mir offenbar gut getan.«

Auf der Steppe draußen war jetzt Stille eingekehrt.

Am Himmel über ihnen blinkten die Sterne.

Der Kriegsgesang der Zigeuner hob erneut an, laut,

diesmal  sehr  nahe.  Etwas  zischte  von  oben  heran,
brach durch die Blätter hindurch.

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»Nieder!«  fauchte  Glystra.  »Pfeile  ...  Bewegt  euch

vom Feuer weg.«

Der laute Gesang drang bis unter die Haut; er be-

stand aus monotonen Silben, die keinen Sinn ergaben.

Ähnlich  laut  drang  die  Stimme  Atmans  zu  ihnen

herüber.  »Kommt  heraus,  ihr  seltsamen  Geschöpfe,
ihr  armseligen  Eindringlinge,  kommt  heraus  ...  Ich
bin  Atman  der  Gnadenlose,  Atman,  der  Herr  der
Sklaven. Euer Leben ist nur eine Bürde für euch, eure
Gedanken  sind  schwer.  Kommt,  ich  werde  euch  vor
meine  Wagen  spannen,  und  ihr  werdet  Gras  essen,
und  da  werden  keine  lästigen  Gedanken  mehr  sein.
Kommt zu Atman ...«

Sie  konnten  seinen  Umriß  erkennen,  und  hinter

ihm  einige  Zipangoten.  Glystra  sah  über  seinen  Io-
nenstrahler hinweg, zögerte dann. Es war, als wollte
man einen uralten Baum fällen. »Ihr solltet uns besser
in Ruhe lassen, Atman«, rief er.

Atman stieß einen verachtungsvollen Laut aus. »Ihr

werdet  es  nicht  wagen,  mir  höher  denn  auf  Knien
entgegenzutreten. Ich werde jetzt kommen, um euch
zu  holen;  ihr  werdet  diese  elektrischen  Spielereien
weglegen und euch vor mir verneigen.«

Glystra  setzte  benommen  dazu  an,  den  Strahler

beiseitezulegen,  blinzelte  dann,  warf  den  unver-
ständlichen  Einfluß  Atmans  von  sich  ab.  Er  drückte
den  Anschlag  durch.  Purpurfarbene  Funken  spran-
gen  zu  Atman  über  und  fraßen  sich  in  seine  Brust
hinein,  wurden  darin  aufgenommen,  absorbiert.  Er
leitet  zur  Erde  hin  ab!  
dachte Glystra mit plötzlichem
Entsetzen.

Atman erstrahlte in einer Art von Nachglühen, eine

heldenhafte  Gestalt,  mehr  als  lebensgroß  ...  Bishop

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rannte los, erreichte ihn. Atman stieß eine lautstarke
Verwünschung aus. Er beugte sich vor; Bishop drehte
sich,  kam  von  unten  wieder  hoch.  Atman  vollführte
eine  majestätische  Umdrehung,  prallte  mit  einem
hörbaren Aufschlag auf die Erde. Bishop ließ sich wie
beiläufig  auf  ihm  nieder,  spielte  an  seinen  Händen
herum,  stand  wieder  auf.  Glystra  kam  heran,  noch
immer ganz benommen. »Was hast du nur gemacht?«

»Ein  paar  Judotricks  ausprobiert«,  erklärte  Bishop

bescheiden.  »Ich  habe  mir  gedacht,  daß  dieser  Kerl
seine  Schlachten  mit  seiner  Stimme  gewinnt,  mit
hypnotischer  Suggestion.  Ich  habe  ihn  totgemacht
wie  eine  Sardine,  mit  einem  kleinen  Schlag  auf  die
richtige Stelle.«

»Ich habe gar nicht gewußt, daß du ein Judoexperte

bist.«

»Das  bin  ich  nicht  ...  Ich  habe  vor  ein  paar  Jahren

ein Buch über dieses Thema gelesen, und es ist plötz-
lich  alles  über  mich  gekommen  –  mein  Wort,  bei  all
diesen Zipangoten!«

»Hm  –  die  müssen  den  anderen  Politboros  gehört

haben, die von den Soldaten umgebracht wurden. Die
nehmen wir uns jetzt.«

»Wo sind die anderen Zigeuner?«
Glystra lauschte. Von der Steppe her war kein Laut

mehr zu hören.

»Sie sind weg. Haben sich verdünnisiert.«
Sie führten die Zipangoten mit sich in die Oase zu-

rück. »Wir sollten uns besser auf den Weg machen«,
erklärte Glystra.

Fayne sah ihn an. »Jetzt?«
»Jetzt!«  schnappte  Glystra.  »Mir  gefällt  das  auch

nicht besser als dir, aber wir können jetzt wenigstens

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reiten.« Er wies auf die Zipangoten.

Morgen,  Mittag,  Nachmittag  –  die  Erdenmänner

hingen  gekrümmt  auf  den  gewundenen  Rücken  der
Zipangoten, vor Erschöpfung halb dösend. Die Tiere
gingen ziemlich schwankend, was nicht gerade zum
Einschlafen  verführte.  Der  Abend  kam  mit  einer
langsamen Verdunkelung des Himmels.

Sie erreichten ein Feuer in einer Mulde, kochten ei-

nen  Topf  voll  Getreidebrei  und  aßen  ihn.  Sie  teilten
Wachen im zweistündlichen Wechsel ein und ließen
sich nieder.

Am  nächsten  Morgen  öffnete  Glystra  seine  Augen
und mußte überrascht mit ansehen, wie Bishop nahe
ihrer  Lagerstätte  mühelos  hin-  und  hersprintete.
Glystra  rieb  sich  die  Augen,  gähnte,  mühte  sich  auf
die  Füße.  Er  selbst  fühlte  sich  matt  und  erschlagen,
und  irritiert  fragte  er  Bishop:  »Was  in  aller  Welt  ist
nur  über  dich  gekommen?  Du  hast  doch  noch  nie
frühmorgendliche Übungen gemacht!«

Bishops  langes  Schafgesicht  überzog  eine  leichte

Röte.  »Ich  verstehe  das  selbst  nicht.  Ich  fühle  mich
einfach so gut. Ich habe mich noch nie in meinem Le-
ben  so  wohlgefühlt.  Vielleicht  entfalten  meine  Vit-
amine jetzt ihre Wirkung.«

»Sie  haben  nie  etwas  bewirkt,  bevor  wir  alle  mit

dem Rauch dieser Zygagenzweige berauscht wurden.
Dann  aber  wirkten  sie  plötzlich  wie  Wunderpillen,
und  du  bist  losgerast  und  hast  es  mit  Atman  aufge-
nommen.«

»Glaubst  du,  daß  diese  Droge  eine  fortdauernde

Wirkung auf mich hat?«

Glystra  rieb  sich  das  Kinn.  »Wenn  ja,  dann  wäre

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das  eine  gute  Sache  –  aber  warum  wirkt  es  sich  bei
uns anderen ganz gegenteilig aus? Wir haben dassel-
be gegessen, dasselbe getrunken ... Außer – ja, außer,
daß  du  dich  mit  Vitaminen  vollgestopft  hast,  und
zwar  kurz  bevor  wir  mit  dem  Rauch  zu  tun  beka-
men.«

»Nun ja, das stimmt. Das habe ich getan. Ich frage

mich, ob es da wirklich eine Verbindung geben kann
... ein interessanter Gedanke ...«

»Wenn mir jemals wieder ein Zygagenzweig in die

Hände kommt«, murmelte Glystra, »dann werde ich
es herausfinden.«

Vier Tage lang waren sie von der Dämmerung bis

zum  Sonnenuntergang  ununterbrochen  unterwegs.
Sie bekamen kein menschliches Wesen zu Gesicht, bis
sie  am  Nachmittag  des  vierten  Tages  auf  ein  paar
junge Zigeunermädchen stießen. Sie waren vielleicht
sechzehn oder siebzehn Jahre alt und führten ein paar
träge Tiere, etwa schafsgroß und mit gelblichem Fell,
mit  sich  –  Pelikanesen.  Sie  trugen  zerknitterte  graue
Blusen, und ihre Füße waren mit Riemen umschnürt.

Sie ließen ihre Tiere im Stich und liefen auf sie zu.

»Seid ihr ausländische Sklavenhalter?« fragte die er-
ste glücklich. »Wir wollen Sklaven sein.«

»Tut mir leid«, sagte Glystra trocken. »Wir sind nur

Reisende.  Und  außerdem  sind  doch  eure  eigenen
Leute  Sklavenhalter.  Warum  wollt  ihr  dann  unbe-
dingt zu Ausländern?«

Die Mädchen kicherten und sahen Claude Glystra

dabei an, als ob ihnen seine Frage völlig unverständ-
lich sei. »Sklaven erhalten öfters Mahlzeiten und es-
sen von Tellern. Sklaven können unter ein Dach tre-
ten, wenn der Regen kommt. Zigeuner verkaufen ihre

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eigenen  Leute  nicht,  und  wir  haben  es  schwerer  als
Sklaven.«

Glystra  sah  sie  entschieden  an.  Wenn  er  darange-

hen  wollte,  alles  in  Ordnung  zu  bringen,  was  er  in
Unordnung  vorfand,  dann  würden  sie  niemals  die
Erdenklave erreichen. Er sah über seine Schulter zu-
rück.

Elton  fing  seinen  Blick  auf.  »Ich  könnte  eine  gute

Dienerin  gebrauchen«,  sagte  er  leichthin.  »Du  –  wie
ist dein Name?«

»Ich bin Motta. Sie ist Wailie.«
»Noch jemand?« erkundigte sich Glystra schwach.
Pianza schüttelte den Kopf. Roger Fayne schnaubte

und wandte sich ab.

Steve Bishop sammelte Mut und sagte: »Ich nehme

sie.«

Drei weitere Tage ritten sie durch die Steppe, und ein
Tag war wie der andere. Am vierten Tag veränderte
sich  das  Land.  Die  Gräser  wurden  dunkler,  und  es
wurde schwieriger, was das Reiten anging. Gelegent-
lich  tauchten  Büsche  auf,  die  bis  zu  einem  Meter
achtzig groß wurden und deren Blätter wie Pfauenfe-
dern  aussahen.  Vor  ihnen  erschien  ein  niedriges
schwarzes  Band,  das  die  Zigeunermädchen  als  das
Ufer des Flusses Oust identifizierten.

Gegen  Nachmittag  erreichten  sie  Edelweiß,  eine

fortartig befestigte Siedlung, an jeder Ecke von einem
drei Stockwerke hohen Blockhaus begrenzt.

»Manchmal überfallen die Kosaken aus dem Süden

die Magicker«, erklärte Motta. »Es ist ihnen nicht er-
laubt,  am  hier  stattfindenden  Ramschmarkt  teilzu-
nehmen, da der Anblick bloßer Knie sie wahnsinnig

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werden  und  in  mörderischem  Amok  herumlaufen
läßt. Aber sie begehren das graue Pulversalz, das von
Gammerei den Fluß heraufkommt, und die Magicker
haben davon an Lager, und das ist der Grund, warum
Edelweiß einem befestigten Fort gleichkommt.«

Die  Siedlung  lag  direkt  in  der  Nachmittagssonne,

und aus der Ferne wirkte sie wie eine Ansammlung
von  Spielzeughäusern,  wie  Miniaturen  aus  dunkel-
braun  und  hellbraun,  mit  schwarzen  Fenstern,  hell-
grünen und schwarzen Dächern. Im Mittelpunkt der
Siedlung erhob sich ein gewaltiger Holzmast, an des-
sen  Spitze  eine  kleine  Holzkanzel  ähnlich  einem
Schiffsausguck befestigt war.

Motta  erklärte  den  Zweck  des  Mastes.  »Das

Tragseil, an dem die Seilbahnkabinen zur Sumpfinsel
hinübergleiten, ist an der Mastenspitze befestigt. Und
außerdem pflegen die Magicker stets in die Ferne zu
sehen;  sie  erkennen  darin,  wie  die  Wolken  treiben,
besondere Zeichen, und die Weisen unter ihnen kön-
nen daraus die Zukunft ersehen.«

»Indem sie Wolken beobachten?«
»So habe ich es gehört. Aber wir wissen wenig von

solchen Dingen, da wir Frauen sind.«

Sie setzten ihren Weg zum Fluß dort, und dann sa-

hen sie über den breiten Oust hinweg, die Nachmit-
tagssonne im Rücken. Der Fluß führte vom Norden,
wo er aus dem Dunst der Entfernung hervortrat, her
an ihnen vorbei und verlief weiter in südlicher Rich-
tung,  sich  dabei  ein  wenig  nach  Westen  zurückwin-
dend. Das Wasser war sehr unruhig, und manchmal
brachen  Fontänen  hoch,  als  zuckte  und  wütete  ein
Ungeheuer  unter  der  Oberfläche  des  Wassers.  Das
gegenüberliegende  Ufer,  zwei  oder  drei  Meilen  ent-

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fernt,  verlief  flach  und  war  mit  einem  dichten  Wald
von  Masten  bestanden,  die  gute  sechzig  Meter  hoch
sein mochten. Eine längliche, exotisch bewachsene In-
sel ragte ziemlich genau inmitten des dahinströmen-
den Flusses aus dem Wasser.

»Seht!« rief Fayne mit rauher Stimme – unnötiger-

weise, denn alle Augen waren bereits gleichermaßen
auf das gerichtet, was jetzt in der Flußmitte geschah.
Von  der  Insel  löste  sich  ein  schwarzes  Ungeheuer:
Sein Körper war abgerundet und schlank, sein Kopf
froschähnlich und von einem breiten Maul durchzo-
gen. Der Kopf schnellte vorwärts, während sie zusa-
hen,  kaute  und  mampfte  auf  etwas  herum,  was  sich
im Wasser befand. Schließlich ging es mit dem Kopf
tiefer  und  ließ  sich  faul  dahintreiben.  Das  Geschöpf
drehte ab und verschwand wieder hinter der Insel.

Fayne stieß den Atem aus. »Junge! Das ist vielleicht

ein unangenehmer Nachbar!«

Pianza  suchte  die  Wasseroberfläche  ab.  »Ich  frage

mich, ob es überhaupt jemand wagt, über ...«

»Sie werden die Seilbahn benutzen«, erklärte Elton.
Es  war  ein  dünnes  weißgraues  Seil,  das  von  dem

Masten in der Siedlung zu einem der Pfosten am ge-
genüberliegenden flachen Ufer führte. Der niedrigste
Punkt  des  hängenden  Seils  befand  sich  nur  etwas
fünfzehn Meter über der Wasseroberfläche.

Glystra schnaufte verächtlich. »Es gibt offenbar nur

diese eine Art, den Fluß zu überqueren ... ich glaube,
wir müssen uns an der Kasse anstellen ...«

»Auf diese Weise gelangen die Magicker zu ihrem

Reichtum«, sagte Motta.

»Sie  werden  uns  gewiß  das  letzte  Hemd  abneh-

men«, murmelte Fayne.

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»Uns  bleibt  nichts  anderes  übrig«,  entschied

Glystra.

Sie gingen am Felsufer entlang auf das Dorf zu.

Über  ihnen  ragten  die  Palisaden  von  Edelweiß  em-
por, aus Baumstämmen von einem guten halben Me-
ter Durchmesser zusammengezimmert, die wie Pfei-
ler in den Boden gerammt und gut miteinander ver-
bunden waren. Das Holz wirkte ziemlich nachgiebig.
Glystra überlegte, daß eigentlich jeder, der dazu ent-
schlossen war, sich mit einem Beil seinen Weg ins In-
nere kämpfen konnte.

Sie hielten vor dem Tor an, das noch etwas besser

befestigt  war.  Es  stand  offen  und  ließ  einen  kurzen
Durchgang frei, der an einer weiteren Palisadenwand
endete.

»Seltsam«, sagte Glystra. »Keine Wachen, kein Tor-

hüter ... überhaupt niemand.«

»Sie haben Angst«, sagte Wailie. Sie hob die Stim-

me.  »Magicker!  Kommt  heraus  und  führt  uns  zur
Seilbahn!«

Sie bekam keine direkte Antwort. Nur ein verstoh-

lenes Scharren von jenseits der Holzwand.

»Kommt  heraus!«  rief  Motta.  »Oder  wir  werden

euren Gartenzaun niederbrennen!«

»Guter Gott!« murmelte Pianza. Bishop sah entsetzt

drein.

Wailie suchte ihre Begleiterin noch zu übertreffen.

»Kommt heraus und heißt uns willkommen – oder ihr
alle werdet das Schwert zu spüren bekommen!«

Steve  Bishop  legte  seine  Hand  über  ihren  Mund.

»Bist du wahnsinnig?«

»Wir  werden  die  Magicker  umbringen«,  schrillte

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Motta, »und das ganze Dorf in den Fluß werfen!«

Im Durchgang entstand Bewegung. Drei alte Män-

ner,

 

glatzköpfig

 

und

 

schwach,

 

traten

 

hervor.

 

Ihre

 

blo-

ßen

 

Füße

 

waren

 

knochig

 

und

 

von

 

blauen

 

Venen

 

über-

zogen. Sie trugen lediglich zerfetzte Leinenkleider.

»Wer  seid  ihr?«  verlangte  der  erste  zu  wissen.

»Geht  eures  Wegs  und  stört  uns  nicht;  wir  haben
nichts, was von Wert wäre.«

»Wir wollen den Fluß überqueren«, sagte Glystra.

»Helft uns dabei, und wir werden euch nicht länger
belästigen.«

Die  alten  Männer  steckten  die  Köpfe  zusammen

und flüsterten, wobei sie immer wieder mißtrauische
Blicke auf Glystra warfen. Schließlich sagte einer von
ihnen: »Es ist schon spät im Jahr. Ihr müßt warten.«

»Warten?« echote Glystra. »Hier draußen?«
»Wir  sind  die  friedlichen  Magicker,  unschuldige

Zauberer und Handeltreibende. Ihr seid Männer aus
den  Wilden  Ländern,  und  zweifellos  wollt  ihr  uns
unserer Waren berauben.«

»Wir acht? Unsinn. Wir wollen den Fluß überque-

ren.«

»Es ist unmöglich«, sagte der alte Mann mit einem

bebenden Tonfall.

»Warum?«
»Es  ist  verboten.«  Der  alte  Mann  zog  sich  zurück.

Das Tor fiel zu.

Glystra  kaute  auf  seinen  Lippen  herum.  »Warum

zum Teufel –«

Asa Elton wies zum Turm hoch. »Dort oben ist ein

Heliograph.  Er  hat  Signale  in  Richtung  Westen  ge-
sandt.  Ich  vermute,  daß  sie  Anweisungen  aus  Beau-
jolais erhalten haben.«

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Glystra knurrte unwillig. »In diesem Fall ist es noch

dringender, den Fluß zu überqueren. Hier sind wir in
der Falle.«

Fayne  ging  in  Richtung  auf  die  Uferbank.  »Keine

Boote zu sehen.«

»Nicht  einmal  etwas,  woraus  sich  ein  Floß  bauen

ließe«, ergänzte Pianza.

»Ein Floß würde uns kaum helfen«, erklärte Fayne.

»Wie sollten wir es bewegen – ohne Segel, ohne Ru-
der?«

Glystra sah die Palisaden von Edelweiß hoch. Elton

grinste. »Denkst du das gleiche, was ich denke?«

»Ich denke an diesen Teil der Palisadenwand – ge-

nau  dieses  Stück  da,  das  parallel  zum  Fluß  verläuft,
würde ein feines Floß ergeben.«

»Aber wie sollen wir damit den Fluß überqueren?«

verlangte Fayne zu wissen. »Die Strömung ist offen-
bar ziemlich stark; wir würden alle bis zum Golf von
Marwan abgetrieben werden.«

»Es gibt eine Möglichkeit, die auch du kaum über-

sehen  kannst.«  Glystra  formte  ein  Lasso  aus  einem
Stück Seil, das zur Gepäckbefestigung gedient hatte.
»Ich  werde  diese  Palisadenwand  hinaufklettern;
deckt mich von unten.«

Er warf die Schlinge um einen der breiten Stämme,

zog  sich  hoch,  spähte  vorsichtig  darüber,  kletterte
schließlich ganz darüber hinweg.

Er  wandte  sich  um  und  sah  hinab.  »Hier  oben  ist

niemand.  Es  ist  eine  Art  von  Dach.  Einer  von  euch
soll noch hochkommen – Elton.«

Elton folgte ihm. Vor ihnen waren glatte, noch hö-

her  aufragende  Wände  mit  gesicherten  Fenstern.
Nichts rührte sich.

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9

Ein Geräusch hinter ihnen; Moss Ketch zog sich über
die äußeren Palisaden. »Wollte mal nachsehen, wie es
hier  aussieht.«  Er  sah  über  die  flachen  Dächer  hin-
weg. »Niedlich hier.«

»Seht  euch  die  Wand  an«,  sagte  Glystra.  »Die

Stämme  sind  oben  mit  Seilen  verbunden  und  in
mittlerer  Höhe  mit  Holzdübeln  gesichert.  Wenn  wir
das Seil durchtrennen und die Dübel brechen – zum
Beispiel hier, hier und hier – und wenn jeder sich an
einer Seite kräftig dagegenwirft, dann sollte es mög-
lich sein, diesen Teil der Wand regelrecht in den Fluß
zu kippen.«

»Wie steht es mit diesen Seeschlangen – den Gria-

mobots?« fragte Ketch.

»Das ist ein unbekannter Faktor. Wir müssen unser

Glück versuchen.«

»Sie könnten das Floß umwerfen, wenn sie darun-

ter auftauchen.«

Glystra nickte. »Möglich. Willst du lieber hierblei-

ben?«

»Nein.«
Elton  streckte  seine  langen  Arme  vor  sich  aus.

»Fangen wir an.«

Glystra  sah  zum  Himmel  auf.  »Noch  eine  Stunde

Tageslicht.  Bis  dahin  sollten  wir  drüben  sein,  wenn
alles  gut  geht.  Ketch,  du  gehst  wieder  hinunter  und
führst die ganze Gruppe mit den Zipangoten und al-
lem  zum  Strand  hinab,  unterhalb  des  Felsufers.  Ihr
solltet euch möglichst etwas abseits halten, wenn die
Dinge  ins  Rollen  kommen.  Wir  werden  die  ganze

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Wand  hinabwerfen;  wenn  sie  im  Fluß  landet,  dann
befestigt  sie  irgendwie  am  Ufer,  damit  sie  nicht  ab-
treibt.«

Ketch schwang sich hinab.
Claude  Glystra  wandte  sich  wieder  der  Wand  zu.

»Wir müssen es hinter uns bringen, bevor sie merken,
was wir vorhaben.« Er sah seitlich hinab. Etwa sechs
Meter  unterhalb  war  der  Rand  des  Felsufers;  dann
waren  es  noch  einmal  etwa  fünfzehn  Meter  bis  zum
eigentlichen Strand hinab.

Den  Strand  entlang  zogen  die  Zipangoten  mit

Ketch, Pianza, Bishop, Fayne und den drei Mädchen.

Glystra  nickte  Elton  zu,  zog  sein  Messer  und

schnitt  an  den  Seilen  herum,  die  die  Palisaden  oben
zusammenhielten.  Plötzlich  brach  ein  wütendes  Ge-
heul  hinter  ihnen  los.  Vier  alte  Frauen,  zeternd  und
gestikulierend,  waren  offenbar  aus  dem  Nichts  er-
schienen. Hinter ihnen traten einige Magicker hervor,
hager,  bleich,  und  um  die  Schultern  herum  mit  grü-
ner Farbe beschmiert.

Das  Seil  gab  nach.  »Jetzt!«  sagte  Glystra.  Er  zielte

mit seinem Ionenstrahler und drückte durch. Einmal,
zweimal,  dreimal.  Sie  setzten  mit  den  Schultern  an
den Spitzen der Palisaden an und drückten dagegen.
Die  Wand  gab  ein  wenig  nach,  knirschte,  bewegte
sich nicht weiter.

»Unten«, keuchte Glystra. »Weiter unten sind noch

weitere  Befestigungen.«  Er  versuchte  ins  dämmrige
Dunkel unterhalb des Daches zu spähen. »Wir müs-
sen  blind  schießen  ...  Brich  du  die  Wand  auf  deiner
Seite los, ich auf meiner.«

Zwei Kegel purpurfarbenen Lichts gaben zuckende

Energien frei. Eine kleine Feuerzunge leckte an einem

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der Stämme, erstarb wieder.

Die  Wand  gab  knirschend  nach.  »Jetzt  –  bevor  sie

ihre ganze Armee hier heraufrufen können ...«

Die Wand bot ihrem Druck jetzt keinen Widerstand

mehr, sie kippte um und fiel; sie drehte sich im Flug
und landete auf dem Strand, stand eine Sekunde lang
da, fiel endlich klatschend ins Wasser.

Glystra  sah  noch,  wie  Ketch  mit  einem  Seil  ins

Wasser hechtete, wandte sich dann um und stand ei-
ner  ganzen  Anzahl  von  Magickern  gegenüber  –  alle
vom  gleichen  hageren,  finster  dreinblickenden  Typ.
Sie  schimpften  lauthals,  tänzelten  aber  wie  nervöse
Preiskämpfer zurück, wenn sie ihm ins Auge sahen.

Die  Frauen  kreischten,  zeterten  und  heulten,  aber

die  Männer  machten  nur  einige  zögernde  Schritte
vorwärts.  Glystra  warf  einen  Blick  zum  Fluß  hinab.
Die Palisadenwand – jetzt ein Floß – trieb frei dahin,
zerrte an dem Seil, mit dem Ketch es befestigt hatte.
Fayne  und  Pianza  standen  am  Strand  und  sahen
hoch. Glystra rief ihnen zu: »Bringt die Tiere auf das
Floß und bindet sie in der Mitte fest!«

Bishop  rief  etwas,  was  Glystra  nicht  verstand;  er

wandte  sich  ab.  Die  Magicker  kamen  langsam,  aber
doch  unaufhaltsam  näher.  »Geht  zurück!«  sagte  er
tonlos. »Zurück! Oder ich werde euch die Beine unter
dem Leib abtrennen.«

Doch seine Worte taten keine Wirkung. Die Magik-

ker  kamen  mit  verzerrten  Gesichtern  Schritt  um
Schritt  näher;  ihre  angezogenen  Lippen  ließen  ihre
langen  Zähne  sichtbar  werden.  Plötzlich  schwangen
sie alle über einen Meter lange Stoßpiken mit kleinen
schwarzen Widerhaken.

»Sieht  so  aus,  als  ob  wir  einige  von  ihnen  töten

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müßten«, sagte Glystra, »wenn sie es nicht doch noch
mit der Angst bekommen ...« Er zielte mit dem Ionen-
strahler  auf  das  Dach,  um  dicht  vor  den  Füßen  des
nächsten Magickers ein Loch in das Dach zu brennen.

Doch  der  Magicker  sah  es  nicht  einmal;  seine  Au-

gen waren starr auf einen Punkt gerichtet.

»Sie  sind  verrückt  ...  Hysteriker«,  murmelte

Glystra.  »Arme  Teufel,  ich  mag  das  nicht  ...«  Er
drückte  durch.  Hagere  Umrisse  verzerrten  sich  und
gingen  zu  Boden,  andere  tanzten  zurück  über  das
Dach  zur  Treppe  hin,  unheimliche  schwarze  Schat-
tenrisse, hinter denen Kleiderfetzen herflogen.

»Haltet  ein  Seil  bereit!«  rief  Glystra  hinab.  »Und

bindet  es  mit  dem  zusammen,  was  als  nächstes
kommt ...«

Asa Elton sah zu dem Masten hinauf. »Wir sollten

besser  das  ganze  Gestell  zum  Umstürzen  bringen,
den Masten und alles. Andernfalls würde das Seil so
rasch  an  ihnen  vorbeischnellen,  daß  sie  es  nicht  ein-
mal sehen könnten. Sieh es dir an – drei dieser Halte-
kabel laufen zur Spitze hoch, drei zu einem Punkt in
mittlerer Höhe. Wenn wir die drei an der Spitze ab-
schneiden, dann sollte der Masten leicht und sauber
herunterkommen.«

Glystra  untersuchte  das  Magazin  seines  Ionen-

strahlers. Er vermochte es in dem nachlassenden Ta-
geslicht nur schwer zu erkennen. »Ich muß jetzt vor-
sichtig  mit  der  Energie  umgehen.  Habe  nicht  mehr
viel  davon  übrig.«  Er  zielte  und  drückte  den  Abzug
durch.

Die  drei  grauen  Halteseile  gaben  nach,  fielen  in

schlangengleichen  Zuckungen  über  die  Dächer  von
Edelweiß.  Der  Masten  gab  mit  knackenden  Geräu-

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schen  nach,  das  an  eine  auseinandergebrochene  Ka-
rotte erinnerte, und ging fast vor ihren Füßen nieder.

»Aufgepaßt!«  rief  Elton  nach  unten.  »Hier  kommt

es ...«

Die  Spannung  des  Seils,  das  zum  anderen  Ufer

hinüberführte,  zog  den  Masten  über  das  Dach  und
schließlich über den Rand des Felsufers.

»Kümmert  euch  um  das  Seil«,  rief  Glystra.  »Befe-

stigt das Floß irgendwie daran!« Er begann die Wand
hinunterzuklettern,  gefolgt  von  Elton.  Sie  liefen  am
Rand des Felsufers entlang, bis sie eine Stelle fanden,
von der aus sie zum Strand hinabgelangen konnten.

»Beeilt euch!« rief ihnen Pianza zu. »Unser Strand-

seil hält nicht mehr lange, es kann jede Minute reißen
–«

Glystra und Elton wateten in den Fluß hinaus und

erkletterten das hölzerne Floß. »Los dann!«

Das  Floß  trieb  hinaus.  Die  Strömung  trug  es  fluß-

abwärts,  aber  durch  das  Tragseil  der  einstigen  Seil-
bahn von Edelweiß war es mit dem gegenüberliegen-
den Ufer verbunden.

»Ah«,  seufzte  Fayne  und  ließ  sich  schwer  auf  die

Stämme  fallen,  die  das  Floß  ausmachten.  »Endlich
Frieden – Ruhe, ist es nicht wundervoll?«

»Warte mit diesen Jubeltönen lieber, bis wir auf der

anderen  Seite  sind«,  sagte  Ketch.  »Da  sind  immer
noch die Griambots.«

Fayne  machte,  daß  er  wieder  auf  die  Füße  kam.

»Die  hatte  ich  glatt  vergessen.  Mein  Gott!  Wo  sind
sie?  Wenn  die  eine  Sache  vorbei  ist,  dann  kommt
gleich der nächste Ärger.«

»Seht!«  sagte  Bishop  tonlos.  Alle  Köpfe  wandten

sich gleichzeitig dem Ding zu, das sich langsam über

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den Floßrand schob – es war flach, glänzend, fest und
muskulös. Es bebte, zuckte um weitere zwanzig Zen-
timeter auf das Floß hinauf.

Weitere  zwanzig  Zentimeter  ...  Eli  Pianza  lachte.

Bishop ging darauf zu. »Ich dachte, es wäre das Ende
eines Tentakels.«

»Das  ist  ein  größerer  Wurm,  aber  kein  Seeunge-

heuer.«

»Ekelhaftes Ding.« Bishop kickte es in den Fluß zu-

rück.

Das  Floß  ging  plötzlich  hoch,  schwenkte  hin  und

her.  Hohe  Wasserfontänen  gingen  um  sie  herum
hoch.

»Aber jetzt ist etwas unter uns«, hauchte Glystra.
Motta und Wailie begannen zu schluchzen.
»Ruhig!«  schnappte  Glystra.  Die  Bewegungen  lie-

ßen wieder nach; das Wasser beruhigte sich.

Steve Bishop berührte Glystra am Arm. »Sieh mal

zum  Felsufer  hoch  –  dort,  wo  sich  Edelweiß  befin-
det.«

Eine  Fackel  war  entzündet  worden.  Sie  flammte

auf, ging aus, flammte erneut auf, ging aus – wieder
und wieder, in wechselnden Abständen.

»Ein  Code.  Sie  geben  eine  Botschaft  durch.  Ver-

mutlich  über  den  Fluß  hinweg  zur  Sumpfinsel.  Wir
können nur hoffen, daß niemand das Seil am anderen
Ende abtrennt.«

»Fayne  könnte  mit  einer  Botschaft  ans  Ufer

schwimmen«, schlug Elton vor. Fayne schnaufte ver-
ächtlich, und Elton kicherte.

Von jenseits der Insel näherte sich der Griamobot,

den Kopf suchend erhoben. Die Dunkelheit verhüllte
sein Äußeres; es traten nur die großen Facettenaugen

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hervor. Wasser zischte und brodelte an seiner dunk-
len Körpermasse vorbei, aus deren Innerem ein tiefes,
unmenschliches Brüllen hervorkam.

Der  Kopf  schwenkte  hin  und  her,  schnellte  plötz-

lich nach vorn.

»Es  hat  uns  gesehen«,  murmelte  Glystra.  Er  zog

seinen Ionenstrahler. »Vielleicht kann ich es verletzen
und davonjagen ... Im Magazin ist nicht mehr genug
Energie, um wirklich etwas auszurichten, wenn sich
das Ungeheuer nicht abhalten läßt ...«

»Halte voll auf den Kopf«, sagte Eli Pianza bebend.

»Damit es uns nicht mehr sehen kann.«

Glystra  nickte.  Der  violette  Strahl  berührte  den

Kopf.  Er  tat  seine  volle  Wirkung,  doch  der  Nacken
schwenkte weiterhin vor und zurück, vor und zurück
– und das Geschöpf verlangsamte weder noch verän-
derte es seine Richtung.

Glystra  zielte  auf  den  Körper,  feuerte.  Ein  reißen-

des  Geräusch,  und  in  der  dunklen  Außenhaut  er-
schien  eine  gezackte  Öffnung.  Weiße  Gegenstände
schienen sich dahinter zu bewegen.

Glystra  sah  es  verblüfft  und  feuerte  erneut  in  die

Höhe der Wasserlinie. Das Ungeheuer schrie auf – in
einem Durcheinander menschlicher Stimmen.

Die Hülle geriet ins Wanken, schien kurz vor dem

Zusammenbruch zu stehen. Weiße Umrisse kletterten
aus der Öffnung heraus.

»Deckung!«  rief  Glystra.  »Sie  werfen  mit  etwas

nach uns!«

Eine Pike schlug in das Holz neben ihm ein. Noch

eine – noch eine – und dann ein Geräusch, das anders
war als zuvor: ein weicher Aufschlag und ein langes,
kehliges Nach-Luft-Schnappen.

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Glystra erhob sich. »Ketch!«
Moss Ketch zog schwach an der Pike, die in seiner

Brust steckte, fiel nach vorn auf die Knie, neigte den
Kopf, während er mit beiden Händen den Schaft der
Pike umfaßte; und in dieser Position erstarrte er.

»Sie versuchen uns zu entern!« schrie Fayne.
»Beiseite!« rief Pianza. Fayne bekam seine Ellbogen

zu  spüren.  Organgefarbenes  Feuer  trat  aus  seinem
Hitzegewehr  und  ergriff  die  schmalen  Umrisse,  die
ihre Arme hochwarfen und in den Fluß zurückfielen.

Die  Hülle  des  Griamobots  befand  sich  schon  fast

vollständig  unter  Wasser,  trieb  flußabwärts  am  Floß
vorbei und davon.

Claude Glystra legte Ketch vorsichtig auf die Seite.

Seine Hände hatten sich um den Schaft verkrampft.

Glystra  stand  auf,  sah  durch  die  Dämmernis  zu

Edelweiß hinüber; einen Augenblick lang stand er so
da, wandte sich dann wieder zu Ketch zurück. »Fay-
ne – hilf mir.«

Er  griff  nach  den  Füßen  des  Toten.  Roger  Fayne

beugte  sich  hinab  und  nahm  die  Schultern,  zögerte.
»Was hast du mit ihm vor?«

»Ihn in den Fluß werfen. Tut mir leid. Wir können

uns keine Gefühle leisten.«

Fayne öffnete den Mund, stammelte etwas. Glystra

wartete.

»Glaubst  du  nicht«,  meinte  Fayne  schließlich  mit

gesenkter Stimme, »daß wir – nun, sind wir ihm nicht
ein ordentliches Begräbnis schuldig?«

»Wo? In den Sümpfen?«
Fayne beugte sich zu dem Körper hinab.
Glystra sah zurück nach Edelweiß. »Der Griamobot

war ein Schwindel. Ein kommerzielles Unternehmen,

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um die Leute vom Fluß fernzuhalten und zur Benut-
zung der Edelweiß-Seilbahn zu zwingen.«

Die  Nacht  lag  schwer  über  dem  Großen  Planeten,
und  auch  die  Ufer  lagen  im  völligen  Dunkel.  Auf
dem Floß war völlige Stille eingekehrt. Kleine dunkle
Wellen  schlugen  gegen  die  Stämme.  Die  Strömung
trieb  sie  flußabwärts;  festgehalten  durch  das  am  ge-
genüberliegenden Ufer befestigte Seil schob sich das
Floß allmählich in Richtung auf die Sumpfinsel.

Die Masten der Sumpfinsel ragten bereits über ih-

nen hoch. Das Zirpen und Surren von Myriaden win-
ziger  Insekten  drang  an  ihre  Ohren.  Es  waren  keine
Lichter sichtbar.

Das Floß lief weich auf einem sumpfigen Uferstrei-

fen auf, kam zum Stillstand.

»Wir  müssen  warten,  bis  es  hell  wird«,  sagte

Glystra. »Versuchen wir etwas zu schlafen ...«

Aber sie saßen alle da und starrten über die dunk-

len Wasser, spürten den Verlust von Ketch, wie eine
Zunge die Lücke spürt, die ein gezogener Zahn hin-
terlassen hat.

Die  Dämmerung  kam  über  das  Wasser  zu  ihnen,

schien  aus  dem  Nirgendwo  zu  kommen.  Im  Osten
flammte  der  Himmel  gelb  und  orange  auf,  jenseits
der etwa sechzig Meter hohen Bäume, die den Wald
der Sumpfinsel ausmachten.

Motta schrie auf. Glystra schwang herum; das Blut

jagte  durch  seinen  Körper.  Eine  gewaltige  schwarze
Körpermasse hob sich aus dem Fluß; darüber drehte
sich  ein  Kopf  von  der  Größe  eines  Fasses.  Der  Kopf
schwang  herab,  die  Augen  starrten  auf  einen  Punkt
im Wasser, der Hals bog sich; der Kopf stieß ins Was-

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ser  und  kehrte  zurück,  beladen  mit  einem  schwam-
migen  gelben  Zeug,  das  offenbar  pflanzlicher  Art
war.  Das  Geschöpf  verschlang  das  gelbe  Zeug  und
versank wieder im Fluß.

Leben  kehrte  auf  das  Floß  zurück.  Hysterische

Frauen ...

Glystra seufzte tief auf. »Die Griamobots existieren

offensichtlich.«

»Was  ich  jederzeit  beschwören  werde«,  erklärte

Roger Fayne.

»Aber – sie sind Vegetarier. Außer Gemüse rühren

sie nichts an. Die Magicker haben dafür gesorgt, daß
man  sie  für  fleischfressend  hält;  und  damit  konnten
sie  sicher  sein,  daß  jeder,  der  über  den  Fluß  wollte,
ihre Seilbahn benutzte und dafür bezahlte ... Nun, wir
müssen weiter.«

Das Floß trieb ohne Mann und Fracht dicht am Ufer.
Die Zipangoten standen reisefertig und voll bepackt
auf dem schwammigen schwarzen Humusboden.

Glystra  ging  ein  Stück  weit  in  den  Sumpf  hinein,

um die Festigkeit des Bodens zu untersuchen. Soweit
Glystra  sehen  konnte,  war  es  überall  die  gleiche
schwarze  Torfmasse,  durchzogen  von  flachen  Was-
sertümpeln.

Er kehrte zum Fluß zurück. Die Zipangoten waren

in einer Reihe aufgestellt worden. »Gehen wir«, sagte
er.

Der Fluß fiel zurück und entzog sich verhältnismä-

ßig schnell ihrer Sicht. Die Karawane wand sich wie
eine Schlange im hohen Gras – jetzt zur Linken, jetzt
nach  rechts,  eine  Wendung  zurück,  ein  Stück  seit-
wärts.  Das  war  notwendig,  um  die  Wassertümpel

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und die morastigsten Stellen zu umgehen.

Die  Sonne  stieg,  und  sie  ritten  durch  Kegel  und

Streifen  des  grellen  Tageslichts  hindurch,  soweit  es
nicht  von  den  dichtstehenden  Mammutbäumen  der
Sumpfinsel aufgefangen wurde.

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10

Gegen Mittag tat sich eine helle Stelle vor ihnen auf –
ein See. Kleine Wellen warfen glitzernde Reflexe zu-
rück; Wolken bildeten sich zwischen tiefem Blau auf
der  Wasserfläche  ab.  In  der  Ferne  kreuzten  ein  paar
flache  Boote  mit  sackartig  aufgeblasenen,  orangefar-
benen  Segeln;  und  jenseits  des  Sees  befand  sich  die
Sumpfstadt.  Sie  befand  sich  mitten  in  der  Luft,  war
auf  den  dichtstehenden  Bäumen  eines  Waldes  befe-
stigt; sie erinnerte Glystra an ein Fischerdorf der Al-
ten Welt.

Ein  paar  Augenblicke  lang  starrten  sie  stumm  auf

die Stadt, die auf Stelzen ging ... Ein heiseres Kräch-
zen  riß  sie  aus  ihrer  Versunkenheit;  ein  blau-gelbes
fliegendes Ding rauschte mit langsamen Flügelschlä-
gen an ihnen vorbei.

»Ich  habe  doch  tatsächlich  einen  Augenblick  lang

gedacht,  die  Magicker  hätten  uns  eingeholt«,  sagte
Fayne.

Zurück  in  den  Wald  –  wieder  der  beschwerliche

Weg,  der  sie  nur  in  schlangenförmigen  Windungen
weiterbrachte;  gelegentlich  mußten  sie  sogar  Stücke
des Wegs wieder zurückgehen.

Die  Sonne  bewegte  sich  über  den  Himmel;  am

späten  Nachmittag  endlich  sah  Glystra  die  Mauern
und Häuser der Stadt über sich. Fünf Minuten später
bewegte sich die Karawane in den Schatten unterhalb
der Hochstadt.

»Einen Augenblick, bitte«, sagte eine gelangweilte

Stimme. Eine Gruppe von Kriegern war neben ihnen
aufgetaucht,  untersetzte  Männer  mit  maulbeerenfar-

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benen Umhängen.

Der Offizier ging auf Glystra zu. »Welcher Art sind

eure Geschäfte?«

»Keine Geschäfte. Wir sind Reisende.«
»Reisende?«  Der  Offizier  starrte  auf  die  Zipango-

ten. »Von woher?«

»Von Jubilith, nördlich von Beaujolais.«
»Wie seid ihr mit diesen Tieren über den Fluß ge-

kommen? Gewiß nicht mit der Seilbahn; unser Agent
hätte euch angekündigt.«

»Wir  haben  sie  mit  einem  Floß  über  den  Fluß  ge-

bracht. Letzte Nacht.«

Der Offizier strich sich über seinen Oberlippenbart.

»Aber haben die Griamobots –«

Claude  Glystra  lächelte.  »Die  Magicker  haben  ei-

nen  großen  Schwindel  aufgezogen.  Die  Griamobots
sind harmlose Pflanzenfresser. Der einzig gefährliche
Griamobot  war  einer,  den  die  Magicker  gebaut  und
mit Soldaten bemannt haben.«

Der  Offizier  zog  hörbar  seinen  Atem  ein.  »Lord

Wittelhatch  wird  sich  dafür  interessieren.  Die  will-
kürlichen Bedingungen und die Tarife der Magicker
haben  ihn  schon  lange  irritiert,  zumal  er  ihnen  das
Seil  geliefert  hat,  das  sie  für  ihre  Hochbahn  brauch-
ten.«

»Das Seil interessiert mich«, bemerkte Glystra. »Ist

es aus Draht?«

»Aber nein.« Der Offizier lachte erheitert auf – ein

umgänglicher junger Mann mit einem ausdrucksvol-
len  Gesicht  und  einem  wildwuchernden,  strohigen
Schnauzbart.  »Kommt,  ich  werde  euch  an  einen  Ort
führen,  wo  ihr  und  die  Tiere  euch  ausruhen  könnt,
und entlang des Wegs werdet ihr unsere Manufaktu-

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ren  sehen.  Wir  sind  die  Seilmacher  der  Welt;  nir-
gendwo  gibt  es  Seile,  die  den  unseren  gleichkom-
men.«

Glystra zögerte. »Wir wollten unseren Weg so weit

wie möglich fortsetzen, bevor die Nacht hereinbricht.
Wenn wir die Richtung erfahren könnten –«

»Ein begüterter Mann, der es eilig hat«, erklärte der

Offizier,  »sollte  die  Monobahn  benutzen.  Es  dürfte
ihn eine Menge Metall kosten, sehr viel Metall ... Am
besten, ihr unterhaltet euch mit Wittelhatch.«

»Schön.«  Glystra  ging  zur  Karawane  zurück;  sie

folgten dem Offizier und kamen alsbald an einer An-
lage vorbei, die offenbar der Seilherstellung diente.

Ein  etwa  rechteckiger  Platz  mit  einer  Seitenlänge

von  etwa  hundertfünfzig  Metern  war  soweit  von
Bäumen  befreit  worden,  wie  es  nur  eben  möglich
war, ohne die Abstützung der Stadt oberhalb zu be-
einträchtigen. Auf dieser Fläche waren Bahnen ange-
legt, die aus einer Aufeinanderfolge von Rahmenge-
stellen  bestanden.  Im  Verlauf  seiner  Entstehung  lief
das Seil jeweils durch eine Öffnung in einem Rahmen
und unmittelbar danach durch ein Rad hindurch, das
sich um das Seil als Achse herumdrehte. Das Rad war
in regelmäßigen Abständen mit Düsen versehen, von
denen  aus  weiße  Fäden  auf  das  Seil  zuliefen.  Wäh-
rend  sich  das  Seil  durch  den  Rahmen  bewegte,  ro-
tierte  das  Rad  und  führte  dem  Seil  fünf  neue  Fäden
zu.

Glystra  sah  über  die  Produktionsbahnen  hinweg.

Zu  jedem  Rahmen  gehörte  ein  Rad,  und  jedes  Rad
trug  dem  Seil  fünf  weitere  Fäden  zu.  »Raffiniert«,
sagte Glystra. »Wirklich erstaunlich.«

»Unser Seil ist unübertroffen«, erklärte der Offizier

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mit  unverhohlenem  Stolz.  »Dehnbar,  wetterfest,
stark.  Wir  liefern  die  Seile  für  die  Monobahnen  von
Felissima, Bogover, Thelme, für die lange Bahn nach
Grosgarth in Beaujolais und für die Bahn zum Brun-
nen am Myrtensee.«

»Hm ... und was ist eigentlich eine Monobahn?«
Der  Offizier  lachte.  »Das  sollte  wohl  ein  Scherz

sein. Kommt, ich werde euch zu Wittelhatch bringen,
und er wird euch sicher an seinem abendlichen Gela-
ge teilnehmen lassen. Wenn ich es richtig gehört ha-
be,  dann  brät  ein  exzellenter  Meeraal  in  seinem
Herd.«

»Aber was wird aus unserem Gepäck? Und die Zi-

pangoten,  sie  haben  noch  nichts  zu  Fressen  bekom-
men; im Sumpf gibt es keine Nahrung für sie!«

Der  Offizier  gestikulierte;  vier  Männer  traten  vor.

»Füttert  die  Tiere  gut,  behandelt  ihre  Wunden,
wascht sie und verbindet ihre Füße.« Er wandte sich
an Glystra. »Euer Gepäck ist in sicheren Händen; die
Sumpfinsel kennt keine Diebe. Wir sind Händler und
Seilhersteller, aber keine Räuber.«

Wittelhatch  war  ein  dicklicher  Mann  mit  einem

runden,  geröteten  Gesicht.  Er  trug  erlesene  Kleider
aus  den  teuersten  Stoffen.  An  jedem  seiner  Ohren
hing ein goldener Ring, und seine Finger waren aus-
nahmslos  mit  Ringen  aus  den  verschiedensten  Me-
tallen bestückt. Er saß in einem thronartigen Sessel, in
dem  er  sich  offenbar  eben  erst  niedergelassen  hatte,
denn er mühte sich noch immer darum, daß die Fal-
ten seiner Kleidung richtig zu liegen kamen.

Der Offizier verneigte sich ehrerbietig und wies auf

Claude  Glystra.  »Ein  Reisender  aus  dem  Westen,
mein Lord.«

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»Aus dem Westen?« Die Augen des Lords vereng-

ten  sich,  und  er  strich  sich  gedankenvoll  über  sein
Doppelkinn.  »Wie  mir  gesagt  wurde,  ist  das  Kabel
der  Seilbahn  abgeschnitten  worden,  die  über  den
Fluß führte. Man wird es wieder befestigen müssen.
Wie habt ihr dann eigentlich den Fluß überquert?«

Glystra  erklärte  den  Schwindel  mit  den  Griamo-

bots.  Wittelhatch  gab  seiner  Wut  über  die  Magicker
mit schrillen Tönen Ausdruck. »Diese alten Halunken
– wenn ich an all die Geschäfte denke, die ich ihnen
aus  Mitgefühl  vermittelt  habe!  Fast  könnte  es  eine
ehrliche  Gemeinschaft  entmutigen,  wenn  sie  sich  in
der  Nähe  einer  solchen  Bande  von  Betrügern  befin-
det!«

»Unser Wunsch ist es, so bald wie möglich unseren

Weg  fortzusetzen«,  erklärte  Glystra,  ohne  seine  Un-
geduld  deutlich  werden  zu  lassen.  »Ihr  Offizier  hat
uns  vorgeschlagen,  daß  wir  die  Monobahn  benut-
zen.«

Wittelhatch wurde augenblicklich geschäftsmäßig.

»Wie groß ist eure Gruppe?«

»Wir sind acht Personen, und dazu kommt das Ge-

päck.«

Wittelhatch  wandte  sich  an  den  Offizier.  »Was

schlagen Sie vor, Osrik? Fünf einfache Gondeln und
eine für das Gepäck?«

Der Offizier überlegte. »Sie haben eine Menge Ge-

päck.  Besser  wären  vielleicht  zwei  Gepäckgondeln
und zwei einfache. Und einen Führer, da sie die Mo-
nobahn nicht kennen.«

»Welches  ist  euer  Ziel?«  erkundigte  sich  Wittel-

hatch.

»Soweit östlich wie möglich.«

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»Das ist der Myrtensee ... Nun ja, es macht mir we-

nig  aus,  meine  Gondeln  auf  eine  so  weite  Reise  zu
schicken;  ihr  müßt  ordentlich  dafür  bezahlen.  Wenn
ihr die Gondeln kaufen wollt – neunzig Unzen gutes
Eisen.  Wollt  ihr  sie  aber  leihweise  haben  –  sechzig
Unzen, dazu kommt das Honorar für den Führer und
eine  angemessene  Gebühr  für  das  Zurückholen  der
Gondeln – sagen wir, weitere zehn Unzen.«

Glystra feilschte, bis die Leihgebühr nur noch fünf-

zig  Unzen  zuzüglich  der  Zipangoten  betrug,  und
Wittelhatch  sich  außerdem  zur  Bezahlung  des  Füh-
rers  bereiterklärte.  »Osrik,  würden  Sie  es  vielleicht
übernehmen wollen, diese Gruppe zu führen?«

Osrik zwirbelte an seinem blonden Schnauzer her-

um. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Gut«, sagte Glystra. »Wir brechen sofort auf.«

Der Wind blies in die Segel, und die Räder der Gon-
deln  bewegten  sich  flüsternd  am  Kabel  der  Mo-
nobahn  entlang  –  einem  auf  der  Sumpfinsel  herge-
stellten Seil, das einen Durchmesser von etwa andert-
halb  Zentimetern  hatte.  Von  der  Sumpfstadt  aus
führte die Bahn von Stützpfeiler zu Stützpfeiler über
drei  Meilen  Sumpfgelände  auf  ein  zerklüftetes  Vor-
gebirge  zu;  das  Kabel  hing  nur  knapp  zwei  Meter
über  dem  Basaltgestein  und  schwang  dann  in  einer
weiten Kurve in südöstlicher Richtung. In Abständen
von  etwa  fünfzehn  Metern  wurde  das  Kabel  von  L-
förmigen Winkelstützen getragen, die auf die Pfeiler
montiert waren. Sie waren so konstruiert, daß in den
Gondeln  das  Passieren  der  Stützen  kaum  zu  spüren
war.

Osrik reiste in der ersten Gondel, Glystra folgte als

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nächster,  und  dann  kamen  die  beiden  dreirädrigen
Frachtgondeln,  die  schwer  beladen  waren  mit  Nah-
rungsmitteln,  Kleidung,  dem  Metall,  das  ihren  gan-
zen Reichtum darstellte, Bishopfs Vitaminpräparaten,
Faynes  Campingausrüstung  und  allen  möglichen
Dingen aus dem Gepäck der Soldaten von Beaujolais.
In der ersten Frachtgondel befanden sich Elton, Motta
und  Wailie,  in  der  zweiten  Nancy,  Pianza  und  Bis-
hop.  Fayne  bildete  mit  einer  Ein-Mann-Gondel  den
Schluß der Reisegesellschaft.

Während er sein eigenes Gefährt näher untersuch-

te, begann Claude Glystra zu verstehen, warum Wit-
telhatch es so offensichtlich schwerfiel, sich auch nur
vorübergehend  von  den  Gondeln  zu  trennen.  Das
Holz war so präzise bearbeitet und zusammengefügt
worden, daß das Gefährt mit jeder aus Metall herge-
stellten Maschine zu vergleichen war, die man in ei-
nem Laden auf der Erde kaufen konnte.

Das große Rad war aus zehn verschiedenen Holz-

streifen zusammengefügt, geleimt, genutet und abge-
schliffen. Speichen aus gehärteten Weidenruten stüt-
zen die Nabe im Mittelpunkt, deren Lager aus einem
öligen, dunklen Hartholz gearbeitet waren. Angetrie-
ben  wurden  die  Gondeln  durch  Segel,  die  vom  Sitz
der Gondel aus gehandhabt werden konnten. Außer-
dem  befand  sich  noch  eine  doppelte  Handkurbel  in
Reichweite,  deren  Handgriffe  wie  die  Pedale  eines
Fahrrads entgegengesetzt angebracht waren; mit Hil-
fe dieser Kurbel konnte bei leichten Steigungen nach-
geholfen  werden,  wenn  der  Schwung  und  der  An-
druck der Segel nicht mehr ausreichten.

Gegen Mittag veränderte sich die Landschaft unter

ihnen.  Hügel  und  Berge  machten  immer  wieder  ein

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»Umsteigen« notwendig, wobei sie die Gondeln und
das  ganze  Gepäck  zu  einem  höhergelegenen  neuen
Streckenbeginn transportieren mußten.

Die  Nacht  verbrachten  sie  in  einer  leerstehenden

Hütte nahe einer der Umsteigestellen, und am näch-
sten  Morgen  setzten  sie  ihren  Weg  quer  durch  die
Berge  fort  –  nach  Osrik  war  es  die  Bergkette  von
Wicksill. Das Kabel schwang sich über Täler hinweg,
von  Gipfel  zu  Gipfel,  und  manchmal  befanden  sie
sich mehr als fünfhundert Meter über dem Erdboden.
Das  Kabel  hing  über  einem  solchen  Tal  natürlich
durch, und so rasten die Gondeln zunächst abwärts,
fast  wie  im  freien  Fall;  zur  Mitte  hin  nahm  die  Ge-
schwindigkeit ab, und der Schwung trug die Gondeln
noch weiter, bis sie verlangsamten und fast zu einem
Stillstand  kamen.  Zu  diesem  Zeitpunkt  mußten  die
Segel voll genutzt werden und die Handkurbeln be-
tätigt werden, und so gelang es allmählich, die Gon-
deln  bis  zum  höchsten  Punkt  zu  bewegen,  von  dem
aus das Spiel von neuem beginnen konnte.

Am Abend des dritten Tages erklärte Osrik: »Mor-

gen  zu  dieser  Zeit  werden  wir  in  Kirstendale  sein,
und ihr solltet euch durch nichts überraschen lassen,
was ihr seht.«

Glystra wollte mehr darüber in Erfahrung bringen,

aber  Osrik  gab  außer  einigen  ironischen  Andeutun-
gen  nicht  viel  von  sich.  »Ihr  werdet  es  schon  selbst
sehen. Vielleicht werdet ihr sogar eure phantastische
Reise

 

aufgeben

 

und euch in Kirstendale niederlassen.«

»Sind die Leute etwa unfreundlich?«
»Nicht im geringsten.«
»Wer  herrscht  über  sie?  Was  für  eine  Art  von  Re-

gierung haben sie?«

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Osrik  hob  gedankenvoll  die  Augenbrauen.  »Ich

habe niemals etwas von einem Herrscher in Kristen-
dale  gehört.  Ich  glaube,  man  könnte  sagen,  daß  sie
sich selbst regieren.«

»Wieviele Tage sind es von Kirstendale zum Brun-

nen am Myrtensee?«

»Ich  habe  diese  Strecke  noch  nie  bereist.  Es  soll

nicht sehr angenehm sein. Zu gewissen Zeiten kom-
men die Rebbirs aus den Eyriebergen herab, um die
Reisenden  der  Monobahn  zu  berauben,  obwohl  die
Dongmänner  vom  Myrtensee  von  den  Rebbirs  ab-
stammen und diesen Verbindungsweg aufrechtzuer-
halten versuchen.«

»Was liegt jenseits des Brunnens am Myrtensee?«
Osrik  machte  eine  verachtungsvolle  Geste.  »Die

Wüste. Das Land der feuerfressenden Derwische und
der Vampire, wie ich gehört habe.«

»Und danach?«
»Dann  kommen  die  Berge  von  Palo  Malo  Se  und

der Blarengorran-See. Vom See aus verläuft der Fluß
Monchevior in Richtung Osten, und ihr könntet eine
beträchtliche Entfernung mit einem der Flußboote zu-
rücklegen  –  ich  kann  aber  nicht  sagen,  wie  weit,  da
mir  der  weitere  Verlauf  des  Flusses  nicht  bekannt
ist.«

Glystra  stieß  einen  tiefen  Seufzer  aus.  Wenn  der

Fluß Monchevior sie aus dem Gesichtskreis von Osrik
tragen  würde,  dann  blieben  immer  noch  neunund-
dreißigtausend Meilen bis zur Erdenklave.

Während der Nacht brach ein Regensturm los, und es
gab  kein  Entkommen  vor  dem  peitschenden  Wind.
Die Reisenden kämpfen sich in den Windschatten ei-

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nes  Felsblockes  und  hüllten  sich  in  ihre  Decken  ein,
während die Unwetterfront in Richtung Norden trieb.

Durchnäßt  und  frierend  sahen  sie  eine  graue

Dämmerung heraufkommen; eine Zeitlang hörte der
Regen  auf,  obwohl  die  Wolken  dicht  über  sie  hin-
wegtrieben.  Sie  bestiegen  ihre  Gondeln  und  setzten
nur handtuchgroße Segel; dennoch rasten sie mit sur-
renden Rädern das Kabel entlang.

Zwei  Stunden  lang  führte  die  Bahn  an  einem  Ge-

birgskamm  entlang.  Der  Wind  ließ  nicht  nach,  und
das  unter  ihnen  befindliche  Buschwerk  wurde  hin-
und  hergepeitscht.  Zur  Linken  lag  ein  dunkles  Tal,
von  grauen  Nebeln  erfüllt;  nach  rechts  verhinderten
die  Wolken  den  Ausblick,  aber  als  sie  sich  hoben,
wurde eine abwechslungsreiche Landschaft sichtbar –
Berge, Wälder, kleine Seen, und ein paarmal erspäh-
ten sie größere, aus Stein erbaute Burgen.

Osrik sah zu Glystra zurück, wies mit seiner Hand

auf  die  Landschaft  zur  Rechten.  »Das  Tal  von  Gala-
tudanian,  und  unterhalb  davon  das  Hibernianische
Marschland.  Ein  Land  der  Grafen,  Herzöge,  Ritter
und Barone, die sich gegenseitig berauben ... ein ge-
fährliches Land, wenn man zu Fuß unterwegs ist.«

Der  Wind  nahm  wieder  zu.  Weit  zur  Seite  hän-

gend,  rasten  die  Gondeln  mit  gut  hundert  Stunden-
kilometern  in  südöstlicher  Richtung,  und  sie  wären
noch  schneller  geworden,  wenn  Osrik  nicht  ständig
Luft aus seinen Segeln abgelassen hätte.

Eine Stunde lang rollten sie an dem Kabel entlang,

hin- und herschwingend, immer wieder von kleinen
Windböen erfaßt; dann erhob sich Osrik von seinem
Sitz  und  bedeutete  den  anderen,  die  Segel  einzuho-
len.

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Die Gondeln rollten auf eine Plattform, von der aus

ein  Kabel  im  rechten  Winkel  zu  ihrem  bisherigen
Kurs in das Tal hinabführte. Der Zielpunkt war nicht
zu sehen; sichtbar war der steil abwärts geschwunge-
ne Verlauf des Kabels.

Nancy  spähte  hinab  und  wandte  sich  erschrocken

zurück.

Osrik  lachte.  »Abwärts  ist  es  am  einfachsten.  Auf

dem Rückweg muß man zwei beschwerliche Tage in
Kauf  nehmen,  um  mit  dem  gesamten  Gepäck  und
den  Gondeln  bis  nach  hier  oben  zu  gelangen  –  zu
Fuß.«

»Sollen  wir  etwa  an  diesem  Kabel  hinabgleiten?«

fragte Nancy tonlos.

Osrik nickte.
»Wir werden in den Tod rasen; es ist so – steil!«
»Der  Wind  drückt  dagegen,  bremst  den  Fall  der

Gondeln. Es ist nichts dabei. Folgt mir ...«

Er  stieß  seine  Gondel  ab,  und  einen  Augenblick

später war da nur noch ein ferner, dahinschwinden-
der Umriß, hin- und hergerissen im Wind.

Claude  Glystra  richtete  sich  auf.  »Ich  glaube,  ich

bin als nächster dran ...«

Es  war  wie  ein  Schritt  ins  Nichts,  als  würde  man

mit  dem  Kopf  voraus  von  einem  Felsenvorsprung
springen ... Die erste Meile legte er in fast völlig frei-
em  Fall  zurück.  Der  Wind  rüttelte  an  der  Gondel,
Wolkenfetzen fegten vorbei, und die Landschaft un-
terhalb  war  nur  ein  verschwommenes  Durcheinan-
der.

Das  Rad  über  ihm  sang  in  den  höchsten  Tönen,

obwohl  es  fast  kein  Gewicht  trug.  Das  weiße  Seil
führte steil abwärts ins Ungewisse.

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Glystra wurde sich dessen bewußt, daß das Singen

des  Rades  allmählich  an  Tonhöhe  verlor;  das  Seil
kurvte allmählich aus, und der Boden unter ihm kam
näher.

Er rollte über einen grün-gelben Wald hinweg, und

unterhalb erspähte er eine Siedlung aus Blockhütten,
zwischen  denen  Kinder  in  weißen  Hemden  herum-
sprangen  und  zu  ihm  hochsahen  ...  Dann  waren  sie
weg, und vor sich sah er eine Plattform, die im Gipfel
eines  gigantischen  Baumes  hing.  Osrik  hatte  diese
Plattform bereits erreicht und wartete auf ihn.

Glystra zog sich mit steifen Gliedern auf die Platt-

form.  Osrik  sah  ihm  lächelnd  zu.  »Wie  war  der
Flug?«

»Ich würde am liebsten drei volle Wochen lang mit

einer  solchen  Geschwindigkeit  reisen.  Dann  wären
wir in der Erdenklave.«

Das  Seil  begann  zu  vibrieren  und  zu  singen.

Glystra sah zurück und sah die Frachtgondel mit Sa
Elton, Motta und Wailie auf sich zukommen.

»Wir  sollten  uns  wieder  auf  den  Weg  machen«,

sagte  Osrik.  »Die  Plattform  wird  sonst  noch  über-
füllt.«

Die  Bahn  führte  von  Baumspitze  zu  Baumspitze

weiter, und manchmal streifte schwarz-grünes Blatt-
werk Glystras Füße ... Osrik hatte sein Segel eingezo-
gen, winkte ihm heftig zu.

»Was ist los?«
Osrik bedeutete ihm, sich ruhig zu halten. Er wies

nach vorn. Glystra ließ seine Gondel langsam weiter-
gleiten,  bis  er  Osrik  erreicht  hatte.  »Stimmt  etwas
nicht?«

Osrik  spähte  durch  einen  Spalt  im  Blattwerk  hin-

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durch  auf  einen  bestimmten  Punkt  auf  dem  Boden
unterhalb.  »Dies  ist  ein  gefährlicher  Teil  der  Ban...
Banden  von  Soldaten,  hungernde  Waldbewohner,
Räuber ... Manchmal lauern sie darauf, daß sich eine
Gondel  ziemlich  hoch  über  dem  Boden  befindet,
schneiden das Seil durch und töten dadurch den Rei-
senden ...«

Glystra sah durch die Blätter hindurch Bewegung,

ein Sichverschieben von Weiß und Grau. Osrik klet-
terte von seiner Gondel aus in das Geäst des Baums
und ließ sich vorsichtig etwa einen Meter weit hinab.
Glystra beobachtete ihn schweigend. Das vibrierende
Seil verriet ihm, daß sich die nächste Gondel näherte.
Er gab das Signal zum Anhalten.

Osrik  machte  eine  Geste.  Glystra  verließ  seine

Gondel  und  kletterte  zu  der  Astgabelung  hinab,  auf
der  Osrik  stand.  Durch  eine  Lücke  im  Blattwerk
konnte er bis auf den Waldboden hinabsehen. Er sah
drei Jugendliche, die in geduckter Haltung hinter ei-
nem  orangefarbenen  Gebüsch  lauerten.  Sie  hielten
Pfeile und Bogen bereit, und sie starrten zum Seil der
Monobahn hinauf, wie eine Katze ein Mauseloch be-
äugte.

»Hier bekommen sie ihr erstes Training«, wisperte

Osrik. »Wenn sie älter sind, werden sie die Dörfer des
Marschlandes und des galatudanianischen Tals über-
fallen  und  plündern.«  Mit  ruhiger  Hand  legte  er  ei-
nen Pfeil in seine Armbrust ein.

»Was hast du vor?«
»Ich  werde  den  Größten  von  ihnen  umbringen  ...

und damit vielen unschuldigen Menschen das Leben
retten.«

Glystra riß seinen  Arm hoch; der  Pfeil  traf  nur  ei-

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nen Zweig über den potentiellen Attentätern. Glystra
sah  ihre  weißen  Gesichter;  dann  waren  sie  weg,  ra-
sten wie Kaninchen im Zickzack davon.

»Warum  hast  du  das  getan?«  fragte  Osrik  aufge-

bracht.  »Die  gleichen  Kerle  werden  mich  auf  dem
Rückweg zur Sumpfstadt vielleicht umbringen.«

Glystra fand zunächst keine Worte. Dann murmelte

er:  »Tut  mir  leid  ...  ich  glaube,  du  hast  recht.  Aber
wenn dies die Erde wäre, dann wären diese Burschen
noch auf der Schule.«

Die  Monobahn  führte  aus  dem  Wald  heraus  und

abwärts,  dehnte  sich  über  ein  Flußtal,  über  einen
schnellfließenden  Fluß  hinweg,  den  Osrik  Thelma
nannte. Am entgegengesetzten Ufer wartete eine 15-
Meter-Umsteigetour auf sie, und dann setzten sie ih-
ren Weg fort durch ein Land friedlicher Farmen und
aus  Stein  erbauter  Häusern,  an  denen  nichts  weiter
auffiel, als die Tatsache, daß sich auf dem Giebel ei-
nes  jeden  Hauses  ein  verwirrendes  Durcheinander
von dornenbewehrten Zweigen und Blättern befand.

Glystra rief Osrik zu: »Was soll denn dieses dorni-

ge Zeug überall?«

»Es sind Geisterfänger!« rief Osrik zurück. »In die-

sem Teil des Landes wimmelt es nur so von Geistern;
auf  jedes  Haus  kommt  ein  Geist,  manchmal  sogar
mehr;  und  da  sie  sich  in  schnellen  Sprüngen  fortbe-
wegen  und  immer  auf  einem  Dach  landen,  auf  dem
sie sich vor und zurück bewegen können, sind diese
Fallen  aufgestellt  worden,  die  sie  fernhalten  sollten
...«

Die Monobahn verlief parallel zu einem bescheide-

nen  Feldweg;  und  dreimal  passierten  sie  große  rote
Farmkarren mit hölzernen Rädern von fast zwei Me-

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tern  Durchmesser,  die  lautstark  quietschten  und
ächzten.  Sie  waren  mit  einer  reichen  Ernte  an  ver-
schiedenen  Früchten  beladen.  Die  Kerle,  die  barfuß
daneben hergingen und die Zipangoten führten, tru-
gen  große,  spitz  zulaufende  Hüte  mit  Schleiern  aus
weißem Leinen vor dem Gesicht.

»Um  die  Geister  zu  täuschen?«  erkundigte  sich

Glystra bei Osrik.

»Um die Geister zu täuschen.«
Der  Nachmittag  verging;  das  Land  färbte  sich  all-

mählich  grün,  und  der  Boden  brachte  vielerlei  an-
sehnliche Gewächse hervor. Das Farmland schien in
eine große Parkfläche überzugehen.

Osrik wies in die Ferne. »Wir nähern uns Kirsten-

dale, der schönsten Stadt des galatudanianischen Tals
...«

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11

Zunächst  war  nur  wenig  von  Kirstendale  zu  sehen:
weiße  Schemen  zwischen  den  Bäumen,  steinerne
Mauern. Die Gondeln glitten über einem Weideland
mit rot-grünen Gräsern dahin; und endlich gaben die
Bäume den Blick frei auf die Stadt, die sich vor dem
Hintergrund blauer Berge aus einer grünen Ebene er-
hob.

Es war die größte und beeindruckendste Siedlung,

die die Männer von der Erde auf dem Großen Plane-
ten zu sehen bekamen, aber sie war mit nichts auf der
Erde zu vergleichen. Sie erinnerte Glystra an die wol-
kengeborenen  Schlösser  in  Märchenbuchillustratio-
nen.

Die  Monobahn  nahm  eine  plötzliche  Wendung,

und sie schwebten in eine Szene fröhlicher Aktivitä-
ten und karnevalesker Farben hinein.

Ein  Spiel  war  im  Gange.  Fünfzig  Männer  und

Frauen in elegantester Kleidung hatten sich auf dem
Feld aufgestellt. Das Feld war in Quadrate unterteilt
durch  Linien  verschiedenfarbigen  Grases,  das  mit
großer  Sorgfalt  geschnitten  und  gepflegt  war.  Jeder
Spieler hatte eines dieser Quadrate besetzt. Von Bal-
lons, die mit Schnüren am Boden festgemacht waren,
hingen Seidenbanner herab, und jedes dieser Banner
leuchtete in einer anderen Farbe: seegrün, blau, pfir-
sichfarben, orange. Eine Unzahl von kleinen farbigen
Bällen flogen hin und her. Die Bälle schienen so leicht
zu sein, daß sie mühelos durch die Luft schwebten.

Das  Auffangen  der  Bälle  schien  nach  bestimmten

Regeln zu erfolgen, die von der Farbe des Balles, des

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Feldes  und  des  Kopfbandes  des  jeweiligen  Spielers
abhingen.  Es  wimmelte  nur  so  von  Bällen  über  dem
Spielfeld. Gelegentlich fing ein Spieler mehrere Bälle
gleichzeitig auf und gab sie geschickt weiter. Traf ein
Ball  eines  der  Banner,  so  brachen  die  Zuschauer  in
lautstarken Jubel aus.

Es  waren  einige  hundert  Personen,  die  dem  Spiel

zusahen;  und  ein  jeder  von  ihnen  trug  eine  extrava-
gante  Garderobe,  auf  deren  Zusammenstellung  of-
fenbar größte Fantasie verwandt worden war.

Die  Monobahn  umlief  das  Feld.  Spieler  und  Zu-

schauer sahen nur kurz auf und wandten sich wieder
ihrem Spiel zu. Glystra erspähte einen Diener, der ei-
nen  kleinen  Wagen  mit  Süßigkeiten  vor  sich  her-
schob. Der Diener trug einen klassischen Frack.

Glystras  Gondel  glitt  langsam  am  Kabel  entlang.

Die Frachtgondel mit Pianza und Bishop folgte dicht
dahinter.

»Steve!«  rief  Glystra  nach  hinten.  »Was  steht  in

deinem Almanach über Kirstendale?«

»Ich bringe es nicht mehr ganz zusammen. Es gibt

da also einen Begriff, das Paradoxon von Kirstendale.
Richtig, jetzt fällt es mir wieder ein. Die Stadt wurde
von  einem  Syndikat  von  Millionären  begründet,  die
zum Großen Planeten auswanderten, um den Steuer-
sätzen der Erde zu entgehen. Ursprünglich waren es
zwanzig oder dreißig Familien, die sich mitsamt ihrer
Dienerschaft hier ansiedelten. Nun – das hier scheint
das Ergebnis davon zu sein.«

Die  Gondeln  folgten  einer  weiteren  Biegung  und

glitten  unter  einem  Torbogen  hindurch  in  die  Stadt
hinein. Am Endpunkt der Bahn wurden sie von drei
schweigsamen, livrierten Dienern empfangen, die ihr

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Gepäck  übernahmen  und  auf  mehrere  hochrädrige
Karren luden. »Was soll das?« wandte sich Glystra an
Osrik.

»Sie gehen davon aus, daß wir reich sind.«
»Dann wollen sie womöglich auch noch Trinkgeld

haben?«

»Sie hätten sicher nichts dagegen.«
Der Chefdiener trat auf sie zu. Er trug einen sorg-

fältig  gepflegten  Backenbart  und  die  seiner  Stellung
entsprechende gewichtige Miene.

Glystra gab ihm drei kleine Eisenmuttern. »Für Sie

und Ihre Leute.«

»Ich danke Ihnen sehr. Wohin darf ich Ihr Gepäck

senden lassen?«

»Was können Sie uns empfehlen?«
»Da  gibt  es  zunächst  das  Grand  Savoyard,  das

Hotel  Metropol  und  das  Ritz-Carlton  –  alle  in  der
gleichen Preislage, alle sehr zu empfehlen.«

»In welcher Preislage?«
»Eine Unze pro Woche. Das Traveller's Inn und das

Fairmont sind gleich teuer, aber ruhiger.«

»Können  Sie  mir  eine  gute  Unterkunft  in  mäßiger

Preislage nennen?«

»Ich  empfehle  den  Hunt  Club.  Wenn  Sie  bitte  die

Kutsche benutzen wollen, Sir ...«

Er  führte  sie  zu  einer  Kutsche,  die  reichlich  mit

Gold  verziert  war.  Es  waren  jedoch  keine  Tiere  da-
vorgespannt, und es waren auch weit und breit keine
Zipangoten  zu  sehen.  Zögernd  nahmen  sie  in  der
Kutsche Platz.

Der  Chefdiener  schloß  die  Tür  und  gab  ein  Zei-

chen. Vier Männer in engen schwarzen Uniformen er-
schienen. Jeder von ihnen nahm ein Zugseil über die

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Schulter, und der Wagen setzte sich in Bewegung.

Kirstendale  war  eine  helle,  saubere  und  geradezu

glänzende Stadt. Überall erhoben sich Türme, an de-
nen  sich  spiralenförmige  Treppen  hochrankten,  die
zum  zwiebelförmigen  Wohnteil  auf  der  Turmspitze
führten.  Sie  näherten  sich  einem  merkwürdigen
Rundbau in der Mitte der Stadt, einem schwerfälligen
Gebäude, dem Reihen von großen Fenstern den Ein-
druck von Licht und Eleganz verliehen.

Sie  fuhren  unter  einer  Überdachung  aus  bunten

Glasfenstern  hindurch,  in  denen  sich  die  Nachmit-
tagssonne  kaleidoskopartig  spiegelte.  Große  Lettern
an der Überdachung besagten: »Hotel Metropol«.

Der  Wagen  setzte  seinen  Weg  um  das  Gebäude

herum  fort  und  fuhr  unter  einer  weiteren  Überda-
chung  hindurch,  die  diesmal  mit  dunkelrotem  Satin
und  goldenen  Quasten  drapiert  war.  Ein  Schild  ver-
riet, daß es sich um das Grand Savoyard handelte.

Als  nächstes  kamen  sie  an  einer  fast  klassisch  an-

mutenden Pforte vorüber, die durch große, eingemei-
ßelte  Buchstaben  als  Pforte  des  »Ritz-Carlton«  aus-
gewiesen wurde.

Sie  passierten  die  orientalisch  wirkende  Fassade

des  Traveller's  Inn  und  erreichten  endlich  den  Hunt
Club.

Ein Portier kam ihnen entgegen, öffnete den Schlag

der  Kutsche  und  eilte  ihnen  voraus,  um  die  Ein-
gangstür  für  sie  aufzuhalten.  Ein  kurzer  Korridor
führte zum Empfangsraum.

Glystra  sah  sich  um  und  bemerkte,  daß  Flure  aus

verschiedenen  Richtungen  in  diesem  zentral  gelege-
nen Empfangsraum wie die Speichen eines Rades zu-
sammenliefen. Er tauschte einen Blick mit Pianza und

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grinste.  »Hotel  Metropol,  Grand  Savoyard,  Ritz-
Charlton, Traveller's Inn, Hunt Club – das ist alles ein
und dasselbe, es sind nur verschiedene Eingänge ins
gleiche Haus.«

Osrik  bedeutete  Glystra,  diese  Erkenntnis  nun  für

sich  zu  behalten.  »Leise.  Für  die  Leute  von  Kirsten-
dale  ist  das  hier  Wirklichkeit,  sie  nehmen  es  sehr
ernst. Sie würden sich sehr verletzt fühlen, wenn sie
so etwas zu hören bekommen.«

»Aber ...«
Osrik  sprach  leise  und  schnell.  »Ich  hätte  es  euch

doch sagen sollen. Der Eingang, den man benutzt, be-
stimmt  den  Rang,  den  man  in  der  Gesellschaft  von
Kirstendale  einnimmt.  Geboten  wird  zwar  das  glei-
che,  aber  es  ist  im  allgemeinen  vorteilhafter,  durch
das Metropol zu kommen.«

Glystra  nickte.  »Jetzt  verstehe  ich.  Wir  werden  in

Zukunft aufpassen, daß wir es besser machen.«

Der Portier führte sie durch die Halle hindurch zu

einem halbrunden Empfang. Ein genau abgegrenzter
Teil  des  Empfangstisches  war  mit  den  Farben  des
Hunt Club geschmückt.

»Sie sind Mr. Claude Glystra vom Planeten Erde?«

erkundigte sich der Empfangsangestellte.

Glystra wandte sich erstaunt um.
»Warum fragen Sie?«
»Ich  darf  Ihnen  ausrichten,  daß  Sir  Walden  Mar-

chion Sie aufs herzlichste grüßen läßt und an Sie und
Ihre Gesellschaft die Bitte richtet, während Ihres Auf-
enthaltes  mit  seiner  Villa  vorlieb  zu  nehmen.  Er  hat
bereits eine Kutsche bereitstellen lassen für den Fall,
daß Sie seine Einladung annehmen.«

Glystra wandte sich ungerührt an Osrik. »Wie kann

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dieser Sir Walden Marchion von unserer Ankunft er-
fahren haben?«

»Der Chefdiener an der Monobahnstation hat sich

nach  unserer  Herkunft  erkundigt.  Ich  habe  keinen
Grund gesehen, sie zu verschweigen.«

»Neuigkeiten  scheinen  sich  hier  ja  schnell  herum-

zusprechen. Was ist von dieser Einladung zu halten?«

Osrik  wandte  sich  an  den  Empfangsangestellten.

»Können  Sie  uns  bitte  sagen,  wer  Sir  Walden  Mar-
chion ist?«

»Es  ist  einer  der  wohlhabendsten  und  bedeutend-

sten Männer von Kirstendale. Ein großzügiger Herr,
an dessen Tafel sogar häufig Fleisch gereicht wird.«

»Dann  sehe  ich  keinen  Grund,  die  Einladung  ab-

zulehnen«, wandte sich Osrik an Glystra.

»Wir nehmen die Einladung an.«
Der  Empfangsangestellte  nickte.  »Ich  bin  über-

zeugt,  daß  Sie  einen  angenehmen  Aufenthalt  haben
werden. Die Kutsche wartet auf Sie.«

Sie verließen den Empfangsraum, wobei sie darauf

achteten,  daß  sie  auch  wirklich  den  Ausgang  des
Hunt  Club  und  keinen  anderen  benutzten,  und  stie-
gen draußen in die wartende Kutsche.

»Ihr  Gepäck  wird  Ihnen  umgehend  nachgesandt

werden«,  verabschiedete  sich  der  Empfangsange-
stellte.

»Diese  Leute  hier  sind  wirklich  sehr  reizend  und

zuvorkommend«, erklärte Pianza.

Fayne ließ sich mit einem tiefen Seufzer in die Pol-

ster fallen. »Ein feudalistisches System hat durchaus
seine  Annehmlichkeiten,  jedenfalls  solange  man  zu
den Bedienten gehört.«

»Ich frage mich«, setzt Glystra an, während er aus

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den Fenster blickte, »was es mit dieser Äußerung des
Empfangsangestellten  auf  sich  hat,  daß  bei  Sir  Wal-
den häufig Fleisch gereicht wird.«

»Das ist leicht zu erklären«, sagte Osrik. »Es gibt im

ganzen  galatudanianischen  Tal  kein  Fleisch  außer
dem der Zipangoten, welches jedoch ungenießbar ist.
Daran ist ein Insekt schuld, das alle Tiere außer den
Zipangoten zum Aussterben gebracht hat. Die Leute
hier  ernähren  sich  daher  nur  von  Gemüse  und
Früchten;  nur  selten  und  zu  besonderen  Anlässen
wird aus Coelanvilli Fleisch eingeführt.«

Die  Kutsche,  von  fünf  Bediensteten  Sir  Waldens

gezogen, bewegte sich durch eine Art von Ladenstra-
ße,  deren  bunte  Auslagen  von  scheinbar  großem
Wohlstand zeugten.

»Ich  frage  mich  nur«,  begann  Fayne,  »was  ist  das

für eine Wirtschaft, die das alles hier möglich macht?
Irgendwo  müssen  doch  all  diese  Güter  hergestellt
werden. Aber wo? Und von wem? Von Sklaven?«

»Das  kann  ich  mir  auch  nicht  recht  vorstellen«,

meinte Glystra. »Sie müssen eine beträchtliche eigene
Produktion  haben.  Sicher  werden  sie  nicht  von  der
Erde aus versorgt.«

»Die Leute von Kirstendale haben ein Geheimnis«,

stellte Pianza fest.

»Was  immer  es  auch  sein  mag«,  bemerkte  Fayne

mit  einer  abschließenden  Bewegung,  »es  scheint  ei-
nem jeden zuzusagen. Alle sind glücklich hier.«

»Alle, die wir zu sehen bekommen«, schränkte El-

ton ein.

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12

Die  Kutsche  hielt  an,  und  ein  grünlivrierter  Diener
öffnete den Schlag. »Das Kastell von Sir Walden Mar-
chion!«

Sie  verließen  die  Kutsche  und  gingen  die  Stufen

hinauf,  die  spiralförmig  zu  Sir  Waldens  Wohnung
führten. Als sie oben angelangt waren, stieß der Die-
ner  die  breite  Eingangstür  auf  und  trat  beiseite.  Die
Gäste Sir Waldens betraten das Luftschloß.

Sie  befanden  sich  in  einem  weiten  Raum,  dessen

Boden  nicht  eben  war,  sondern  sich  zur  Mitte  hin
senkte, wo ein kleiner Teich mit blauschimmerndem
Wasser angelegt worden war.

»Sie  mögen  es  sich  bequem  machen«,  erklärte  der

Diener. »Sir Walden ist nach hier unterwegs, um Sie
zu begrüßen. Es stehen Erfrischungen zu Ihrer Verfü-
gung.«

Fünf  Minuten  später  erschien  Sir  Walden  –  hoch-

gewachsen,  mit  ernstem  Blick,  aber  durchaus  sym-
pathisch. Er bat um Entschuldigung, da Geschäfte ihn
abgehalten hätten, sie eher zu begrüßen.

Sowie Glystra eine Gelegenheit dazu fand, wandte

er  sich  verstohlen  an  Pianza  und  fragte  flüsternd:
»Haben wir den nicht schon einmal gesehen?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern«, gab Pianza

mit einem Kopfschütteln zurück.

Zwei Jungen im Alter von vierzehn und sechzehn

Jahren traten ein. »Meine Söhne Thane und Halmon«,
stellte Sir Walden vor.

Glystra ergriff das Wort. »Wir freuen uns aufrichtig

über Ihre Gastfreundschaft, Sir Walden, aber darf ich

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mir die Frage gestatten, wie wir zu dieser Ehre kom-
men, da wir Ihnen doch völlig unbekannt sind?«

Sir  Walden  wich  mit  einer  graziösen  Geste  aus.

»Aber  ich  bitte  Sie.  Wir  werden  gewiß  noch  genug
Zeit haben, um uns eingehend zu unterhalten. Sie ha-
ben  eine  beschwerliche  Reise  hinter  sich,  und  Sie
werden  sich  erfrischen  wollen.«  Er  klatschte  in  die
Hände.

Ein gutes Dutzend Bedienstete erschienen, Männer

und  Frauen.  »Bäder  für  die  Herrschaften,  angerei-
chert mit ... hm, mit Nigali neunundzwanzig ... ja, das
wird das beste sein. Und dann bitte neue Kleider für
unsere Gäste.«

»Wir danken Ihnen«, erklärte Glystra. Sir Waldens

Gastfreundschaft war ihm noch immer ein Rätsel.

Er  wurde  in  einen  höhergelegenen  Raum  geführt.

Ein  junger  Mann  in  schwarzer  Livree  nahm  seine
Kleider  entgegen.  »Durch  diese  Tür  bitte,  Lord
Glystra.«

Er trat in einen kleinen Raum mit perlmuttbesetz-

ten Wänden. Wasser stieg langsam höher, bis zu sei-
nen Knien, zur Hüfte und zur Brust. Schaum und Sei-
fenblasen  bildeten  sich  auf  der  Wasseroberfläche.
Glystra  dehnte  und  reckte  sich,  und  ein  Gefühl  von
Entspannung überkam ihn.

Der

 

Wasserspiegel

 

sank

 

schnell

 

wieder

 

ab,

 

und

 

war-

me Luft hüllte seinen Körper ein. Er öffnete die Tür.

Anstelle  des  livrierten  Dieners  erwartete  ihn  jetzt

ein Mädchen, das ihm mit ausgestreckten Armen ein
Handtuch entgegenhielt.

»Ich  bin  Ihre  Kammerdienerin.  Wenn  Sie  es  aller-

dings  wünschen  sollten,  werde  ich  das  Zimmer  ver-
lassen.«

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Sie machte kehrt und kam mit einer Kollektion der

landesüblichen Kleidung zurück. Glystra mußte sich
von ihr helfen lassen, um sich in die vollkommen un-
gewohnten Kleidungsstücke hineinzuzwängen.

Schließlich trat sie ein paar Schritte zurück und er-

klärte: »Jetzt ist mein Lord ein Lord unter seinesglei-
chen.«

Glystra kam sich eher lächerlich vor. Er trug Klei-

dung aus grünem und blauem Satin und ein schwar-
zes Barett als Kopfbedeckung.

Er  begab  sich  in  die  Empfangshalle  hinab,  in  der

ein  Tisch  hergerichtet  worden  war  –  mit  Gedecken
für  vierzehn  Personen.  Das  Geschirr  war  aus  dün-
nem, geschliffenem Marmor; das Besteck war aus ei-
nem harten Holz geschnitzt.

Einer nach dem anderen erschien. Die Männer von

der Erde kamen sich offenbar alle etwas komisch vor,
während  sich  die  Mädchen  in  ihrem  neuen  Glanz
durchaus  wohlzufühlen  schienen.  Nancy  betrat  den
Raum, ohne Glystra auch nur eines Blickes zu würdi-
gen.

Sir  Walden  erschien  in  Begleitung  einer  hochge-

wachsenen Dame, die er als seine Frau vorstellte. Mit
ihnen traten seine beiden Söhne und eine Tochter ein.

Das Essen war ein wirklicher Genuß, und ein Gang

folgte  dem  anderen.  Es  waren  Leckerbissen  einer
fremdartigen  Geschmacksrichtung,  aber  sie  munde-
ten  durchwegs  gut  und  waren  appetitlich  serviert.
Obwohl  es  vegetarisch  war,  war  es  erstaunlich  viel-
seitig auch im Geschmack. Feine Liköre rundeten die
Mahlzeit  ab,  und  allmählich  kam  das  Gespräch  in
Gang.

»Sir, Sie haben uns immer noch nicht gesagt, war-

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um Ihr Interesse an uns so groß ist, da wir doch nur
zufällig durchreisen.«

»Aber  das  liegt  doch  auf  der  Hand«,  meinte  Sir

Walden  lächelnd.  »Sie  kommen  von  der  Erde.  Seit
fünfzig  Jahren  ist  kein  Erdenbewohner  mehr  durch
Kirstendale gekommen. Ihre Anwesenheit in meinem
Haus ist mir nicht nur eine angenehme Abwechslung,
sondern  trägt  auch  zu  meinem  Einfluß  in  der  Stadt
bei.  Wie  Sie  sehen,  bin  ich  ganz  offen  zu  Ihnen,  ob-
wohl das vielleicht zu meinem Nachteil sein könnte.«

»Ich verstehe«, sagte Glystra.
»Ich war mit meiner Einladung besonders schnell«,

fuhr Sir Walden fort. »Zweifellos hätten Sie innerhalb
von  einer  Stunde  noch  eine  ganze  Anzahl  weiterer
Einladungen bekommen. Aber ich habe eben die be-
sten  Verbindungen  zur  Dienerschaft  an  der  Mo-
nobahnstation.  Vielleicht  erklärt  sich  dadurch  man-
ches.«

Der  Abend  ging  langsam  dahin.  Glystra  zog  sich

frühzeitig  auf  sein  Zimmer  zurück  –  mit  einem
schweren  Kopf,  was  offenbar  von  den  unbekannten
Weinen herrührte.

Am nächsten Morgen half Glystra ein hagerer jun-

ger Mann beim Ankleiden, der seiner Tätigkeit ziem-
lich schweigsam nachging.

In der Halle traf er wieder die anderen, nur Nancy

und  Fayne  fehlten  noch.  Kurz  darauf  kam  Nancy,
und  sie  erschien  Glystra  schöner  als  je  zuvor.  Zu-
gleich  wirkte  sie  in  einem  gewissen  Maße  kühl  und
unnahbar.

»Wo ist Roger?« fragte Pianza. »Ob der heute über-

haupt nicht aufstehen will?« Er wandte sich an einen
Diener. »Würden Sie bitte Mr. Fayne wecken?«

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Der Diener kam zurück. »Mr. Fayne hält sich nicht

in seinem Zimmer auf.«

Sie  bekamen  Fayne  den  ganzen  Tag  über  nicht

mehr zu Gesicht.

»Vielleicht hat er sich zu Fuß aufgemacht, die Stadt

näher  in  Augenschein  zu  nehmen«,  mutmaßte  Sir
Walden,  und  Glystra  stimmte  ihm  wider  Willen  zu,
da  er  keine  andere  Antwort  zu  geben  wußte.  Hatte
Fayne sich aus eigenem Antrieb für ein paar Stunden
abgesetzt, dann würden sie ihn bald wieder zu sehen
bekommen.  War  er  aber  gezwungen  worden,  dann
ließ sich im Augenblick nichts unternehmen. Am be-
sten  war  es  vielleicht,  Kirstendale  so  schnell  wie
möglich wieder zu verlassen.

Wailie und Motta waren da anderer Ansicht. »Wir

würden so gerne hierbleiben«, erklärte Wailie. »Hier
sind  alle  froh  und  zufrieden;  niemand  schlägt  seine
Frau, und es gibt genug zu essen für alle.«

»Es  gibt  zwar  kein  Fleisch  hier«,  ergänzte  Motta,

»aber ist das so wichtig? Dafür gibt es andere Dinge,
zum Beispiel all die schönen Kleider, das parfümierte
Wasser  und  –«  Sie  brach  ab,  sah  Wailie  an  und  ki-
cherte.  Dann  sahen  die  Mädchen  Elton  und  Bishop
an, und sie kicherten beide.

Steve  Bishopf  errötete  und  beschäftigte  sich  mit

dem grünen Fruchtsaft, der vor ihm stand. Elton zog
die Augenbrauen hoch.

»Ich darf Ihnen eine angenehme Überraschung an-

kündigen«,  vermeldete  Sir  Walden.  »Heute  abend
wird Fleisch serviert werden – eine Mahlzeit, die Ih-
nen zu Ehren zubereitet wird.«

Lächelnd sah er sie nacheinander an, suchte in ih-

ren  Gesichtern  nach  der  erwarteten  Begeisterung.

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»Aber  vielleicht  bedeutet  Ihnen  das  nicht  soviel  wie
uns  hier  in  Kirstendale.  Im  übrigen  darf  ich  Ihnen
noch eine Einladung von Lord Sir Clarence Attlewee
übermitteln,  der  sich  überglücklich  schätzen  würde,
wenn er Sie bei einer Abendgesellschaft zu Ihren Eh-
ren begrüßen dürfte. Er hofft auf Ihre Zusage.«

»Ich  danke  Ihnen«,  erklärte  Glystra.  »Ich  freue

mich über diese Einladung.« Er sah seine Begleiter an.
»Und ich glaube, das schließt uns alle hier ein, auch
Fayne, wenn er bis dahin wieder zurück sein sollte.«

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13

Sie  unternahmen  einen  ausgedehnten  Nachmittags-
spaziergang. Als sie wieder in Sir Waldens Kastell zu-
rückkehrten,  war  Fayne  noch  immer  nicht  wieder
aufgetaucht.

Sir Walden selbst war noch aufmerksamer und zu-

vorkommender  als  zuvor.  Er  servierte  das  Fleisch
selbst. Es waren Scheiben eines sehr hellen Bratens in
brauner  Soße.  Glystra,  der  bereits  von  den  anderen
Gängen reichlich zu sich genommen hatte, aß davon
nur, um dem Gastgeber gegenüber nicht unhöflich zu
sein. »Von was für einem Tier stammt dieses Fleisch
eigentlich?«

Sir Walden wischte sich den Mund mit einer Servi-

ette ab. »Ein großes Tier, das auch in der ganzen Um-
gegend  selten  vorkommt.  Es  scheint  vereinzelt  vom
Norden  her  einzuwandern;  wir  konnten  das  Fleisch
nur durch einen großen Glückszufall bekommen.«

»Es schmeckt wirklich ausgezeichnet.« Glystra sah

sich  in  der  Runde  um  und  stellte  fest,  daß  sich  die
anderen  mit  großem  Appetit  über  das  Essen  herge-
macht hatten.

Der  Nachtisch  wurde  serviert.  »Ich  glaube,  wir

werden Kirstendale morgen wieder verlassen«, sagte
Glystra.

»So früh schon?«
»Wir  haben  noch  einen  weiten  Weg  vor  uns,  und

die Monobahn kann uns nur noch ein verhältnismä-
ßig kleines Stück weiterbringen.«

»Aber Ihr Freund Fayne? Was wird aus ihm?«
»Er  wird  uns  leichthin  einholen  können,  wenn  er

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wieder auftaucht.«

»Wir werden hier in Hinsicht auf die schwere Rei-

se,  die  uns  bevorsteht,  zu  sehr  verwöhnt«,  erklärte
Pianza.  »Noch  eine  Woche,  und  ich  könnte  mich
vielleicht  schon  nicht  mehr  zur  Weiterreise  aufraf-
fen.«

Sir  Walden  erklärte  sein  Bedauern.  »Ich  habe  Sie

gewissermaßen  aus  Neugier  eingeladen.  Inzwischen
betrachte ich Sie aber als Freunde.«

Eine  Kutsche  fuhr  vor,  um  sie  zur  Abendgesell-

schaft  bei  Sir  Attlewee  abzuholen.  Sir  Walden  blieb
zurück.

»Wollen Sie uns nicht begleiten?«
»Bedaure  sehr,  meine  Herrschaften,  aber  ich  bin

heute abend anderweitig verpflichtet.«

Glystra  ließ  sich  in  die  Polster  sinken.  Er  fühlte

nach  seiner  Seite,  aber  dann  fiel  ihm  ein,  daß  er  die
Waffe in seinem Zimmer gelassen hatte. »Wir sollten
heute  abend  nicht  zuviel  trinken«,  flüsterte  er  Elton
zu. »Ich weiß nicht, warum, aber ich habe so ein ko-
misches Gefühl. Es ist vielleicht besser, wenn wir kla-
re Köpfe behalten.«

»In Ordnung.«
Die Kutsche hielt, und sie wurden eine Spiraltreppe

hinaufgeführt.  Auf  der  obersten  Treppenstufe  er-
wartete sie Sir Clarence. Glystra starrte ihn an. Er war
sich  dessen  sicher,  daß  er  Sir  Clarence  schon  einmal
gesehen hatte. »Entschuldigen Sie, aber sind wir nicht
schon  einmal  zusammengetroffen,  Sir  Clarence?
Vielleicht  heute  nachmittag,  während  unseres  Spa-
ziergangs?«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Sir Clarence be-

stimmt. »Ich war anderweitig beschäftigt.« Er führte

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sie  ins  Haus  hinein.  »Gestatten  Sie,  daß  ich  Ihnen
meine  Frau  vorstelle.  Und  das  ist  Valery,  meine
Tochter.«

Glystra  brachte  vor  Erstaunen  den  Mund  nicht

mehr  zu.  Es  war  das  Mädchen,  das  seine  Kammer-
dienerin gespielt hatte. »Es freut mich, Ihre Bekannt-
schaft zu machen«, brachte er schließlich hervor.

Bishop  wandte  sich  ihm  unauffällig  zu.  »Das  ist

merkwürdig ...«

»Was?«
»Ich  bin  sicher,  daß  ich  diesen  Sir  Clarence  schon

einmal gesehen habe.«

»Ich ebenfalls.«
Steve  Bishop  schnippte  mit  den  Fingern.  »Ja,  ich

hab's.«

»Wer ist es?«
»Sir Clarence ist oder war der Eingangsportier des

Hunt Club.«

Clystra  starrte  erst  Bishop  und  dann  Sir  Clarence

an, der sich gerade mit Nancy unterhielt. Bishop hatte
recht.

Hinter sich vernahm er ein lautes Auflachen. »Seht

euch das mal an!«

Es  war  Elton,  und  er  gehörte  zu  den  Leuten,  die

selten  genug  lachten.  Glystra  wandte  sich  um  und
sah sich Roger Fayne gegenüber.

Fayne trug eine schwarze Livree mit kleinen Gold-

pauletten  an  den  Schultern.  Er  schob  einen  kleinen
Wagen vor sich her.

Glystra, Pianza und Bishopf brachen zusammen in

lautes Gelächter aus. Faynes Gesicht überzog sich mit
einer feinen Röte. Er warf Sir Clarence einen flehen-
den Blick zu, während dieser ungehalten herübersah.

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»Nun, Fayne«, sagte Glystra, »ich glaube doch, daß

du  uns  eine  Erklärung  schuldig  bist.  Du  hast  dir  of-
fenbar während unseres Aufenthaltes hier eine kleine
Nebenbeschäftigung gesucht?«

»Wünschen  Sie  Erfrischungen,  meine  Herren?«

fragte Fayne mit tonloser Stimme.

»Keine Erfrischungen! Eine Erklärung wollen wir.«
»Danke  sehr,  der  Herr.«  Er  schob  seinen  Wagen

weiter.

Glystra  ging  hinter  Fayne  her,  der  offenbar  den

Wagen aus dem Zimmer hinausrollen wollte. »Roger,
du sagst mir jetzt endlich, was hier gespielt wird!«

»Nicht so laut!« flüsterte Fayne. »Es ist ungehörig,

einen solchen Auftritt zu inszenieren.«

»Ich bin eben kein geborener Aristokrat.«
»Aber  ich  bin  es,  und  Sie  verletzen  meine  Grund-

sätze.«

Glystra  mußte  sich  beherrschen,  um  nicht  wieder

in  lautes  Lachen  auszubrechen.  »Aristokrat?  Grund-
sätze? Du bist doch bloß ein Schuhputzer, der einen
Karren durch die Gegend schiebt!«

»Hier ist jeder nicht mehr und nicht weniger«, gab

Fayne  zurück.  »Jeder  ist  jedermanns  Diener.  Wie
sonst sollten sie sonst den Schein aufrechterhalten?«

»Aber ...« Glystra setzte sich.
»Ich  habe  mich  entschieden.  Mir  gefällt  es  hier.

Und  ich  habe  genug  von  deiner  Vierzigtausend-
Kilometer-Reise, bei der doch keiner lebend ans Ziel
kommt.  Ich  habe  Sir  Walden  gefragt,  ob  ich  bleiben
könnte. Er hat zugesagt, mich aber darauf hingewie-
sen,  daß  ich  wie  jeder  andere  hier  auch  zu  arbeiten
hätte.  Es  gibt  vermutlich  nirgendwo  arbeitsarmere
Menschen als die Leute von Kirstendale. Sie wissen,

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was sie wollen, und dafür arbeiten sie. Für jede Stun-
de  sorglosen  Lebens  als  Aristokrat  arbeiten  sie  zwei
Stunden  anderweitig  –  in  Verkaufsläden,  Fabriken
oder zu Hause. Meist in allen drei Bereichen. Statt nur
ein Leben zu leben, leben sie drei. Es geht ihnen gut
dabei,  und  sie  lieben  es.  Ich  liebe  es  ebenfalls.  Und
wenn  du  mich  einen  Snob  nennst.«  Und  mit  wüten-
der Stimme setzte er hinzu: »Aber während ihr drau-
ßen im Dreck kampiert, lebe ich hier wie ein König!«

»Das ist schon in Ordnung«, erklärte Glystra ruhig.

»Oder sollte ich vielleicht Sir Roger sagen? Nur, war-
um  hast  du  uns  nichts  von  deinen  Absichten  er-
zählt?«

»Ich habe befürchtet, es gäbe eine Auseinanderset-

zung mit dir.«

»Aber ich bitte dich. Du bist ein freier Mensch.« Er

wandte sich ab. »Ich wünsche dir alles Gute.« Damit
kehrte er in die Halle zurück.

Am nächsten Morgen holte sie eine Kutsche von Sir

Waldens Kastell ab. Unter den Männern, die das Ge-
fährt zogen, befand sich einer der Söhne von Sir Cla-
rence.  Wailie  und  Motta  waren  nicht  zu  sehen.
Glystra  wandte  sich  an  Elton  und  Bishop.  »Wo  sind
denn eure liebreizenden Dienerinnen?«

Bishop zuckte mit den Schultern.
»Sie wissen doch, daß wir jetzt abfahren wollen?«
»Natürlich.«
»Es ist besser, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen«,

erklärte Elton grinsend. »Wir können mit Kirstendale
nicht konkurrieren.«

»Gehen wir«, sagte Bishop.
»Hier  sind  sie  auf  jeden  Fall  besser  aufgehoben«,

fügte Elton hinzu.

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An  der  Monobahnstation  öffnete  der  Portier  den

Wagenschlag  und  kümmerte  sich  um  ihr  Gepäck.
Claude Glystra gab seinen Begleitern ein Zeichen. Der
Portier war niemand anders als Sir Walden.

Mit  unbewegter  Miene  überreichte  Glystra  ihrem

vormaligen Gastgeber drei Eisenschrauben als Trink-
geld.  Sir  Walden  Marchion  verbeugte  sich  tief.  »Ich
danke Ihnen sehr, mein Herr.«

Kirstendale verschwand im Westen. Osrik hatte wie-
der  die  Spitze  inne,  Glystra  folgte  in  der  zweiten
Gondel. Dann kam eine Frachtgondel mit Nancy und
Elton, den Schluß bildeten Bishop und Pianza.

Glystra dachte an die vergangenen Wochen zurück.

Ketch,  Darrot  und  Vallusser  waren  tot.  Fayne  hatte
sie verlassen. Wer würde der nächste sein?

Ihre Fahrt ging zunächst an einem ruhig dahinflie-

ßenden Fluß entlang. Als der Fluß sich nach Norden
wandte,  während  die  Monobahn  in  östlicher  Rich-
tung weiterführte, breitete sich unvermittelt die trok-
kene Savanne unter ihnen aus.

Am  Abend  des  dritten  Tages  erreichten  sie  den

Pellitante-See.  Am  späten  Abend  fuhren  sie  noch
immer  am  Ufer  entlang.  Zu  ihrer  Rechten  erstreckte
sich der weite See. Am Horizont waren die Segel von
einigen  Booten  zu  erkennen.  Ihre  Insassen,  erklärte
Osrik, setzten während ihres ganzen Lebens nie einen
Fuß  an  Land  und  ernährten  sich  ausschließlich  vom
Fischfang.

Es  dämmerte  bereits,  als  ihnen  Gondeln  aus  der

entgegengesetzten Richtung entgegenkamen, die mit
einer  größeren  Gruppe  von  Händlern  besetzt  war.
Osrik brachte seine Gondel zum Stehen und tauschte

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mit dem Sprecher der sich nähernden Gruppe Begrü-
ßungen aus.

Die Händler stammten aus Miramar in Coelanvilli,

südlich  von  Kirstendale  gelegen,  und  kehrten  vom
Myrtensee  zurück.  Sie  waren  in  helle  Leinenanzüge
gekleidet,  und  rote  Tücher  um  den  Kopf  verliehen
ihnen ein piratenähnliches Aussehen. Osrik schien je-
doch  völlig  unbesorgt  zu  sein,  so  daß  auch  Glystra
seine Befürchtungen beiseiteschob.

Die Kolonne bestand aus zehn Frachtgondeln, mit

Kristallzucker beladen. Nach einem ungeschriebenen
Gesetz  mußten  die  Männer  von  der  Erde,  da  sie  in
der  Minderzahl  waren,  ihre  Gondeln  vom  Kabel  ab-
hängen und der anderen Gruppe das Vorrecht lassen.

Da es bereits dunkel wurde, entschied sich Glystra

zum  Lagern.  Die  Händler  wollten  ebenfalls  nicht
mehr weiterfahren.

»Wir leben in schlechten Zeiten«, erklärte der An-

führer der Händler. »Alles ist gegen die Händler. Es
ist  gut,  wenn  sich  viele  ehrliche  Hände  zum  gegen-
seitigen Schutze verbinden.«

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14

Es

 

war

 

noch

 

zu

 

früh

 

zum

 

Schlafen.

 

Die

 

Händler

 

grup-

pierten sich um ein Feuer herum und widmeten sich
einem  Spiel.  Osrik  schmierte,  leise  durch  die  Zähne
pfeifend,  die  Lager  der  Wagen  ab,  und  die  anderen
waren  mit  sich  selbst  beschäftigt.  Glystra  ging  zum
See hinab und sah dem Sonnenuntergang zu. Nancy
folgte ihm.

»Warum bist du hierhergegangen?« fragte sie.
»Ach, ich bin gegangen und war dabei ganz in Ge-

danken  versunken.  Tut  es  dir  leid,  daß  wir  Kirsten-
dale verlassen haben?«

Ihre Antwort erstaunte ihn. »Natürlich nicht.« Und

nach  einer  Weile  setzte  sie  hinzu:  »Du  hast  es  ver-
mieden, mir auch nur ein Wort zu schenken.«

»Wie kommst du darauf?« Glystra hatte das unan-

genehme Gefühl, daß er in die Verteidigung getrieben
wurde.

»Vielleicht  fandest  du  die  Frauen  von  Kirstendale

begehrenswerter  als  mich.«  Eine  Spur  von  Bitterkeit
schwang in ihren Worten mit.

»Aber ich habe doch mit kaum einer gesprochen«,

lachte  Glystra.  »Wie  haben  dir  denn  die  Männer  in
Kirstendale gefallen?«

Sie  näherte  sich  ihm.  »Ich  hätte  niemals  an  einen

anderen als dich denken können. Wenn du nur wüß-
test, wie mich die Eifersucht gequält hat.«

Sie  ließen  sich  auf  einem  Baumstamm  nieder.

Glystra  mußte  sich  eingestehen,  daß  er  doch  unge-
mein erleichtert war.

»Nach  dem  Myrtensee  werden  wir  nicht  mehr  so

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leicht vorankommen.«

»Ich weiß.«
»Ich  habe  schon  überlegt,  ob  wir  nicht  nach  Kir-

stendale  zurückgehen  sollten,  um  ein  Segelflugzeug
zu bauen. Eines, das groß genug wäre, um uns alle zu
befördern.  Aber  dann  ist  mir  eingefallen,  daß  wir  ja
nicht unbegrenzt in der Luft bleiben können. Schließ-
lich habe ich an Raketen gedacht.«

Ihre Hände strichen über sein Gesicht. »Du machst

dir zuviel Gedanken.«

»Es

 

gibt

 

nur

 

eines,

 

was

 

Erfolg

 

haben

 

könnte

 

 

ein

 

Bal-

lon. Unser Pech ist nur, daß die Hauptwindrichtung
Südost ist, und das heißt, daß wir früher oder später
nach der See hin abgetrieben würden.« Er seufzte.

Nancy zog ihn hoch. »Komm, laß uns ein wenig am

Strand entlanggehen.«

Als sie schließlich wieder ins Lager zurückkehrten,

waren  die  Händler  gerade  mit  einer  großen  Flasche
grünen Weines beschäftigt. Glystra und Nancy tran-
ken jeweils einen kleinen Schluck.

Am  nächsten  Morgen  erwachte  Glystra  mit  einem
üblen  Geschmack  im  Mund.  Das  Lager  war  bereits
von hellem Sonnenlicht überflutet. Warum hatte ihn
die letzte Wache nicht geweckt?

Er sah sich um.
Die Händler waren weg ...
Unter der Monobahn lag Pianza, das Gesicht nach

unten.

Die Gondeln waren ebenfalls weg. Vier Fahrzeuge,

beladen mit Metall, Kleidung, Werkzeugen ...

Und Eli Pianza war tot ...
Sie  begruben  ihn  schweigend.  »Es  hat  keinen

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Zweck,  uns  etwas  vorzumachen«,  sagte  Glystra
schließlich. »Dies ist ein schwerer Schlag.«

»Der Wein«, bemerkte Osrik verlegen. »Wir hätten

nicht davon trinken sollen. Sie haben ihn offenbar mit
einem Schlafmittel versehen. Man darf diesen Händ-
lern nie trauen.«

Glystra schüttelte benommen den Kopf und sah zu

Pianzas  Grab  hinüber.  Er  war  immer  ein  guter
Freund gewesen.

»Osrik, du brauchst uns nicht weiter zu begleiten.

Die  Wagen  sind  fort  und  mit  ihnen  auch  unser  Me-
tall. Wenn du es bis nach Kirstendale schaffst, kannst
du Faynes Wagen nehmen und damit zur Sumpfstadt
zurückkehren.«

Damit  blieben  nur  noch  Asa  Elton,  Steve  Bishop,

Nancy und er selbst übrig. »Noch kann sich jeder von
euch Osrik anschließen. Entbehrungen und vielleicht
sogar der Tod liegen vor uns. Meine besten Wünsche
begleiten  jeden,  der  nach  Kirstendale  zurückkehren
will.«

Keiner von ihnen wollte. Osrik verabschiedete sich

von ihnen. »Ich wünsche euch allen viel Glück. Hof-
fentlich erreicht ihr euer Ziel.«

Glystra sah ihm nach, wie er sich durch die Bäume

entfernte.

»Also, machen wir eine Bestandsaufnahme. Was ist

uns noch übriggeblieben?«

»Die  Gepäckbündel  mit  den  Nahrungskonzentra-

ten,  meine  Vitaminpillen,  Decken,  der  Wasserzube-
reiter und vier Pistolen«, stellte Bishop fest.

»Da  haben  wir  wenigstens  nicht  viel  zu  tragen«,

bemerkte Elton.

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Das Ufer zog sich noch vierzig Kilometer dahin. Am
dritten Tag mußten sie einen Fluß überqueren, der in
den See mündete. Sie schlugen zunächst ihr Lager am
Fluß auf und bastelten am nächsten Morgen mit viel
Mühe  ein  Floß  zusammen.  Als  sie  die  Böschung  am
gegenüberliegenden  Ufer  erklommen  hatten,  sahen
sie sich erst einmal um. Im Norden erstreckte sich der
Eyrie,  ein  Gebirgswall,  der  von  Norden  nach  Süden
verlief. »Noch drei Tage bis dorthin«, schätzte Bishop.

»Zu  Fuß  sind  wir  jetzt  vielleicht  ebensogut  dran

wie mit der Monobahn«, bemerkte Elton. »Stellt euch
die Mühe vor, dort hinaufzukommen.«

Claude  Glystra  wandte  sich  um  und  blickte  am

Flußufer entlang in Richtung auf den See. Er sah noch
einmal hin, blinzelte, wandte sich dann an die ande-
ren. »Seht ihr auch, was ich sehe?«

»Ich  sehe  ein  rundes  Dutzend  Männer  auf  Zipan-

goten«, bestätigte Elton.

»Die  Händler  haben  eine  Gruppe  von  Rebbirs  er-

wähnt. Das könnten sie sein.«

»Wie  schön  es  wäre,  auf  den  Tieren  zu  reiten«,

seufzte Nancy, »statt durch den Sand zu laufen.«

»Daran  habe  ich  auch  schon  gedacht«,  sagte

Glystra.

»Vor  drei  Monaten  war  ich  noch  ein  zivilisiertes,

menschliches  Wesen«,  sagte  Bishopf  gedankenvoll.
»Ich hätte nie geglaubt, daß ich einmal als Pferdedieb
enden würde.«

Glystra  grinste.  »Du  würdest  dich  weniger  über

dich  wundern,  wenn  du  dir  vor  Augen  hieltest,  daß
die Rebbirs noch vor fünf- oder sechshundert Jahren
zivilisierte Erdbewohner waren.«

»Wie  machen  wir  es  also?«  fragte  Elton.  »Gehen

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wir hin und bringen sie einfach um?«

»Wir  sollten  es  mit  möglichst  geringem  Kraftauf-

wand erledigen«, gab Glystra zurück. »Wir haben nur
noch geringe Reserven in unseren Pistolen.«

»Bei mir reicht es höchstens noch für ein oder zwei

schwache Strahlschüsse«, bestätigte Elton.

»Sie haben uns gesehen«, rief Nancy. »Sie kommen

näher!«

Die  Rebbirs  jagten  in  wilder  Jagd  über  die  Dünen

hinweg  auf  sie  zu.  Es  waren  größere  und  schnellere
Tiere  als  die,  die  sie  in  der  Sumpfstadt  eingetauscht
hatten.

»Sie sehen wie Dämonen aus!« stieß Nancy hervor.
»Den  Abhang  hinauf!«  wies  Glystra  die  anderen

an.  »Wir  müssen  sie  möglichst  alle  zugleich  in
Schußweite bekommen.«

Die  Rebbirs  näherten  sich  mit  wilden,  gellenden

Schreien.  »Ich  zähle  insgesamt  dreizehn«,  sagte
Glystra. »Bishop nimmt die vier zur Linken, Elton die
vier zur Rechten, und ich werde mich um die in der
Mitte kümmern.«

Die Reiter näherten sich in vollem Galopp der An-

höhe, auf der die Männer von der Erde standen. Drei
violette  Strahlenbündel  –  und  dreizehn  Rebbirs
hauchten ihr Leben aus.

Sie suchten sich die vier kräftigsten Tiere aus und

ließen  die  anderen  frei.  Die  Schwerter  der  Rebbirs,
Messer  und  anderes  Metall  verstauten  sie  unter  den
Sätteln.  Sie  legten  schwarze  Überwürfe  und  weiße
Turbane an, und dann machte sich die kleine beritte-
ne Gruppe nach den fernen Bergen auf den Weg.

Nancy war von ihrer Verkleidung nicht gerade be-

geistert.  »Die  Rebbirs  stinken  wie  die  Ziegenböcke.

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Mein Turban ist ölig und fettig.«

»Das  läßt  sich  nicht  ändern«,  sagte  Glystra.

»Hauptsache, wir kommen auf diese Weise unbehel-
ligt zum Myrtensee ...«

Das Land vor ihnen stieg allmählich an, wurde zu-

sehends steinig und öde.

Nachdem  sie  vier  Tage  geritten  waren,  ragten  die

Grate in scheinbar greifbarer Nähe vor ihnen auf. Das
Kabel der Monobahn schwang sich in einem schwin-
delerregenden  Bogen  in  die  Höhe.  »So  kommt  man
offenbar vom Myrtensee herunter«, bemerkte Glystra.
»Erinnert  ihr  euch  an  die  Fahrt  ins  Galatudanian-
Tal?«

Nancy  folgte  mit  ihren  Blicken  dem  Kabel,  das  in

schwindelerregender Höhe verschwand. »Das sieht ja
noch schlimmer aus!«

Von  einer  Plattform  der  Monobahn  aus  führte  ein

schmaler  Pfad  im  Zickzack  in  die  Höhe.  Da  sich  die
Zipangoten  eng  an  der  Felswand  entlangschieben
mußten,  mußten  sich  die  Reiter  im  Damensitz  auf
dem  Rücken  der  Tiere  halten.  Die  Oberfläche  des
Großen Planeten fiel unter ihnen zurück und dehnte
sich zu einem immer weiteren Panorama.

Es  ging  immer  weiter  aufwärts.  Der  Wind  trieb

Wolkenfetzen gegen die Felswände; der schmale Pfad
war  unvermittelt  in  milchigweiße  Nebel  gehüllt.
Dann wieder blies der Wind von unten herauf heftig
gegen  die  Gratspitzen.  Kurz  bevor  sie  den  höchsten
Punkt erreicht hatten, hielten sie an. Der Wind wehte
sie  fast  über  die  letzte  Anhöhe  hinweg.  Als  sie  den
Grat  überschritten  hatten,  erstreckte  sich  vor  ihnen
ein  Hochplateau  mit  einer  Ausdehnung  von  guten
zwanzig Meilen. Es war ein steiniges Felsplateau, das

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dem  Auge  keinerlei  Abwechslung  bot,  wenn  man
einmal von der in der Ferne verschwindenden Reihe
von Stützpfeilern absah, die das Kabel der Monobahn
trugen.

»Nichts zu sehen«, sagte Glystra. »Also laßt uns –«
»Dort!« Elton wies in Richtung Norden.
Claude Glystra ließ sich in seinen Sattel zurücksin-

ken. »Rebbirs!«

Sie  bewegten  sich  wie  eine  Ameisenkolonne  am

Rande  des  Plateaus.  Glystra  schätzte  sie  auf  an  die
zweihundert Mann.

»Wir  machen  uns  wohl  besser  aus  dem  Staub«,

murmelte  er  mit  belegter  Stimme.  »Vielleicht  lassen
sie  uns  in  Ruhe  dahinreiten,  wenn  wir  uns  entlang
der Kabelbahn halten.«

Sie machten sich auf den Weg. Glystra ließ die her-

ankommenden  Reiter  nicht  aus  dem  Auge.  »Sieht
nicht so aus, als ob sie uns folgen würden.«

»Doch, jetzt kommen sie«, sagte Elton.
Ein gutes Dutzend Reiter löste sich aus der Kolon-

ne  und  schlug  eine  andere  Richtung  ein.  Eine  Rich-
tung, die ihren Weg schnitt. Glystra biß die Zähne zu-
sammen. »Die Jagd ist eröffnet!«

Er stieß seine Knie tief in die Seiten seines Reittie-

res. Das Tier gab unwillige Laute von sich, bequemte
sich  dann  aber  zu  einem  schnelleren  Trab.  Vierund-
zwanzig  Hufe  trommelten  auf  dem  felsigen  Boden.
Die Rebbirs hatten die Verfolgung aufgenommen.

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15

Glystra sah sich nach der Meute der Verfolger um. Sie
hatten  sich  ihnen  noch  nicht  stärker  genähert.  Fast
zärtlich  streichelte  er  den  Kopf  seines  Zipangoten.
»Schneller, alter Junge!«

Die  Jagd  ging  Kilometer  um  Kilometer  über  das

trostlose Plateau hinweg, nur vom Donnern der Hufe
begleitet.  Die  Rebbirs  begannen  sich  zu  nähern.
Glystra sah sich erneut um, und der Anblick, der sich
ihm  bot,  hätte  einem  phantastischen  Gemälde  ent-
nommen sein können.

Die Rebbirs hatten sich in ihren Steigbügeln erho-

ben  und  hielten  sich  dennoch  im  Gleichgewicht  auf
den  galoppierenden  Tieren.  Die  wehenden  Kaftane
zurückgeworfen,  spannten  sie  Pfeile  in  ihre  großen,
schwarzen Bogen.

»Ducken!« rief Glystra. »Sie schießen mit Pfeilen!«

Gleichzeitig versuchte er sich an der Seite des Tieres
hinabzulassen.

Ein Pfeil pfiff dicht an seinem Kopf vorbei. Vor ih-

nen  erhoben  sich  unvermittelt  helle  Sanddünen,  die
ihren  Reittieren  das  Vorwärtskommen  erschwerten.
Lange  würden  auch  diese  kräftigen  Tiere  der  Bela-
stung  nicht  mehr  standhalten.  Endlich  waren  sie
durch den Sand hindurch, und vor ihnen erhob sich
eine  Felswand,  von  etlichen  schluchtähnlichen  Spal-
ten durchzogen. Sie mußten zunächst durch ein lava-
verkrustetes  Flußbett  hindurch,  das  vielleicht  ein-
oder  zweimal  im  Jahr  Wasser  führen  mochte;  dann
ritt  Glystra  auf  eine  Schlucht  zur  Linken  zu.  »Dort
hinein!«  Er  atmete  stoßweise.  »Schnell!  Wir  müssen

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sie uns für kurze Zeit vom Leibe halten, dann haben
wir noch eine Chance!«

Die  Schlucht  war  schmal,  eigentlich  nur  ein  Bach-

bett,  das  aber  keinen  Tropfen  Wasser  führte.  Hinter
sich vernahmen sie donnernden Hufschlag. Erst laut
und  gellend,  dann  allmählich  leiser  klang  der
Schlachtruf  der  Rebbirs  an  ihre  Ohren.  Unvermittelt
schien der Lärm wieder abzubrechen, Rufe flatterten
hin und her. Die Rebbirs waren offenbar in eine brei-
tere  Schlucht  dicht  neben  der  ihren  geraten  und  be-
merkten jetzt ihren Irrtum.

Die enge Schlucht wandte sich vor ihnen in steilen

Windungen  zu  einem  Grat  empor.  Glystra  verstän-
digte sich mit den anderen durch Zeichen. »Dort hin-
auf.« Sie hatten erhebliche Mühe damit, ihre Tiere zu
der  Klettertour  zu  bewegen.  »Schnell,  sie  können  je-
den Augenblick da sein.«

Das Schreien kam wieder näher.
Glystra trieb sein Tier als letztes das Bachbett hin-

auf.  Die  Rebbirs  setzten  ihm  nach,  Schwerter  in  der
Hand. Die enge Schlucht hinter ihm war schon bald
von einer brodelnden Masse schwarzer Kaftane und
Tierleibern  erfüllt.  Nancy  überwand  gerade  den
höchsten  Punkt,  Bishop  und  Elton  folgten  ihr  dicht-
auf.

Elton  wußte,  was  zu  tun  war.  Sein  breites  Lachen

ließ  seine  Zähne  aufblitzen,  der  Ionenstrahler  lag
schußbereit  in  seiner  Hand.  Er  zielte  auf  das  erste
Reittier der Rebbirs und betätigte den Abzug. Der Zi-
pangote  warf  die  Vorderläufe  in  die  Höhe  und  fiel
gegen die nachfolgenden Reiter. Glystra riß sein eige-
nes Tier bis zur letzten Anhöhe hinauf. Hastig liefen
sie  den  Grat  entlang,  bis  sie  endlich  in  einem  engen

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Tal auf der rückwärtigen Seite der Felswand Zuflucht
fanden.  Sie  waren  mit  ihren  Kräften  am  Ende.  »Sie
werden  uns  hier  nicht  so  schnell  finden.  Wenn  sie
sich überhaupt die Mühe machen, noch nach uns zu
suchen. Auf jeden Fall dürften wir sicher sein, bis die
Dunkelheit  hereinbricht.«  Er  sah  zu  dem  sich  lang-
sam  beruhigenden  Zipangoten  hinüber,  der  ihn  bis
nach  hier  gebracht  hatte.  »Du  bist  ein  braves  Tier,
wenn auch nicht gerade eine Schönheit.«

Nach Einbruch der Dunkelheit kehrten sie so laut-

los  wie  möglich  wieder  auf  den  Grat  zurück  und
folgten  ihm  in  östlicher  Richtung.  Weit  hinter  sich
vernahmen  sie  heiseres  Geschrei.  Glystra  hielt  sein
Reittier  an  und  lauschte.  Inzwischen  war  tiefe  Stille
eingekehrt.

Der  Zipangote  scharrte  unruhig  mit  den  Hufen,

schnaubte  leise.  Wieder  tönte  das  heisere  Schreien
aus der Dunkelheit zu ihnen herüber. Glystra führte
das  Tier  weiter.  »Wir  müssen  versuchen,  während
der Nacht einen möglichst großen Abstand zu diesen
Dämonen  zu  gewinnen,  oder  wenigstens  irgendein
Versteck zu suchen.«

Langsam zog die kleine Karawane dahin. Aus der

Ferne klang ihnen nochmals das heisere Geschrei der
enttäuschten Rebbirs hinterher. Glystra warf noch ei-
nen  Blick  zurück.  Leuchtende  Meteoritenbahnen  zo-
gen sich über den nächtlichen Himmel.

Als  der  Morgen  heraufdämmerte,  konnten  sich

selbst  die  Zipangoten  kaum  noch  auf  den  Beinen
halten.  Die  Köpfe  an  den  überlangen  Hälsen  hingen
manchmal  fast  bis  auf  den  Boden  herab.  Im  Schein
der  aufgehenden  Sonne  konnten  sie  in  östlicher
Richtung  die  Umrisse  von  Gebüsch  und  Bäumen

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ausmachen.  Vor  ihnen  erstreckte  sich  eine  Insel  der
Vegetation, die nahezu zehn Meilen lang sein mochte,
und um die sich ein heller, glitzernder See herumzog.
In  ihrer  Mitte  erhob  sich  eine  metallen  glänzende
Kuppel, wie eine auf den Boden aufgesetzte Halbku-
gel.

»Das scheint der Myrtensee zu sein«, sagte Glystra.

»Der Brunnen am Myrtensee.«

Als sie den Schatten der Bäume erreichten, war es

wie der Einzug in das Paradies. Glystra glitt von sei-
nem Tier, band es an einer Wurzel fest, und half Nan-
cy  beim  Absteigen.  Ihr  Gesicht  war  blaß  und
schmerzverzogen,  aber  auch  Bishop  und  Elton  war
die Erschöpfung anzumerken.

Die Zipangoten schnüffelten im grünen Moos, leg-

ten  sich  nieder  und  wälzten  sich  auf  dem  Boden.
Glystra  beeilte  sich,  ihnen  das  Gepäck  abzunehmen,
bevor es Schaden nehmen konnte.

Nancy lag ausgestreckt im Schatten. Bishop hatte es

sich neben ihr bequem gemacht.

»Hunger?« fragte Glystra.
Nancy  verneinte  mit  einem  Kopfschütteln.  »Nur

schrecklich müde. Es ist so friedlich hier. Ich glaube,
da singt sogar ein Vogel.«

Glystra lauschte. »Hört sich tatsächlich so an.«
Asa Elton öffnete sein Gepäck, vermengte sein Vit-

aminkonzentrat mit pulverisierten Nahrungsmitteln,
feuchtete  das  Ganze  an  und  verrührte  es  zu  einem
zähflüssigen  Brei.  Diesen  gab  er  in  Faynes  Kocher,
verschloß den Deckel, um ein paar Augenblicke spä-
ter ein heißes Gebäck zu entnehmen.

Glystra ließ sich ebenfalls in das weiche Moos fal-

len. »Wir müssen Kriegsrat halten.«

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»Du willst Probleme wälzen?« fragte Elton.
Glystra sah in das grüne Laub hinauf. »Ohne Nan-

cy waren wir acht, als wir von Jubilith aus loszogen.
Du, Bishop und ich. Außerdem Pianza, Ketch, Darrot,
Fayne und Vallusser. Wir haben tausend Meilen hin-
ter uns gebracht, und mittlerweile sind nur noch vier
von uns übrig.«

»Willst du uns bange machen?«
Glystra zog es vor, diesen Einwand zu überhören.

»Als  wir  von  Jubilith  aufbrachen,  hielt  ich  die  Aus-
sichten  noch  für  gut.  Ich  hoffte,  wir  würden  die  Er-
denklave erreichen, erschöpft und mit zerschundenen
Füßen  zwar,  aber  lebendig.  Ich  war  zu  optimistisch.
Jetzt  müssen  wir  uns  alles  noch  einmal  überlegen.
Wer  von  euch  mit  der  Monobahn  nach  Kirstendale
zurückkehren  will,  den  werden  meine  besten  Wün-
sche  begleiten.  Die  Schwerter  der  Rebbirs  enthalten
genug Metall, um uns alle zu reichen Leuten zu ma-
chen. Wer also lieber ein lebender Kirstendaler denn
ein  toter  Erdenbürger  sein  will,  der  sollte  sich  jetzt
endgültig entschließen. Niemand wird ihm Vorwürfe
bereiten.«

Keiner gab eine Antwort.
Glystra  sah  noch  immer  zu  den  Blättern  hinauf.

»Wir  werden  uns  hier  am  Myrtensee  ein  oder  zwei
Tage ausruhen.«

Er bewegte sich leise über das Moos und sah auf sei-
ne Begleiter hinab. Elton schlief wie ein unschuldiges
Kind.  Bishop  schnarchte  lautstark.  Nancys  Hände
bewegten sich unruhig im Schlaf. Ihm fiel ein, daß die
Händler Pianza getötet hatten, während dieser Wache
stand.  Warum  hatten  sie  sich  damit  zufrieden  gege-

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ben? Von ihrem Standpunkt aus wäre es doch konse-
quent  gewesen,  sie  alle  zu  töten.  Daß  sie  Skrupel
nicht  kannten,  hatten  sie  ohnehin  schon  bewiesen.
Zudem waren die Männer von der Erde mit wertvol-
len  Kleidungsstücken  angetan  gewesen  und  hatten
zahlreiche Metallgegenstände mit sich geführt. Allein
die  Ionenstrahler  stellten  für  ihre  Begriffe  einen  un-
schätzbaren  Wert  dar.  Warum  also  waren  sie  nicht
alle im Schlaf ermordet worden? Waren die Händler
vielleicht  von  jemandem  daran  gehindert  worden,
dessen Autorität – vielleicht durch einen Ionenstrah-
ler begründet – sie davon überzeugt hatte, daß seinen
Anweisungen zu gehorchen war?

Er wandte sich ab. Schmerz und eine nagende Un-

gewißheit  erfüllten  ihn.  Ein  seitliches  Geräusch  er-
schreckte  ihn.  Es  war  Nancy.  Er  atmete  erleichtert
auf. »Du hast mich tatsächlich erschreckt.«

»Claude«, flüsterte sie. »Laß uns zurückgehen.« Sie

war  sichtlich  außer  Atem.  »Ich  weiß,  mir  steht  es
nicht zu, so etwas zu sagen, da ich nur ein ungelade-
ner  Gast  bin.  Aber  du  wirst  mit  Sicherheit  den  Tod
finden,  wenn  du  weitergehst.  Ich  will  nicht,  daß  du
stirbst.  Warum  sollen  wir  nicht  leben,  du  und  ich?
Wenn  wir  nach  Kirstendale  zurückkehren,  können
wir uns ein gemeinsames Leben einrichten.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Es hat kei-

nen Zweck, wenn du mich zu überzeugen versuchst.
Aber ich glaube, du solltest umkehren.«

Sie trat zurück und sah ihn mit großen Augen an.

»Du magst mich nicht mehr?«

Er antwortete mit einem müden Lächeln. »Aber ja

doch.  Ich  brauche  dich.  Aber  ich  weiß  auch,  daß  es
einem  Wunder  gleichkommt,  daß  wir  überhaupt  so

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weit  gekommen  sind.  Unser  Glück  kann  nicht  ewig
andauern.«

»Und  darum  will  ich,  daß  du  zurückgehst!«  Sie

legte ihm die Hände auf die Schultern. »Claude, war-
um  willst  du  nicht  aufgeben?  Ist  es  nicht  wirklich
hoffnungslos?«

»Nein.«
Tränen  liefen  über  ihre  Wangen.  Er  suchte  nach

Worten des Trostes, aber sie blieben ihm in der Kehle
stecken. »Du solltest dich ausruhen, Nancy«, brachte
er schließlich heraus.

Sie  wandte  sich  um  und  ging  bis  zum  äußersten

Rand  der  grünen  Oase.  Reglos  stand  sie  da  und
blickte über die Wüste hinweg.

Glystra  setzte  seine  Wanderung  über  das  weiche,

grüne Moos fort.

Als  er  eine  Stunde  später  wieder  zurückkam,  lag

Nancy  schlafend  im  Moos,  den  Kopf  auf  die  Arme
gelegt.  Irgend  etwas  an  ihrer  steifen  Haltung,  viel-
leicht  in  der  Art,  wie  sie  den  anderen  den  Rücken
zuwandte, ließ ihn erkennen, daß seine Beziehung zu
ihr nie wieder so sein würde wie zuvor.

Er ging zu dem Ort, an dem Asa Elton schlief und

tippte  leicht  gegen  seine  Schulter.  Elton  öffnete  die
Augen.

»Deine Wache. Wecke Steve in einer Stunde.«
Elton gähnte und raffte sich auf. »Ist in Ordnung.«
Ein  Geräusch  –  vage,  hämmernd.  Es  versuchte  in

die Welt hinter seinen Augenlidern einzudringen und
stritt  mit  aller  Macht  gegen  Glystras  Müdigkeit.  Es
war ein ferner Laut. Gefahr!

Glystra sprang hellwach auf, riß den Ionenstrahler

aus der Tasche.

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Elton lag noch immer schlafend neben ihm.
Von Steve Bishop und von Nancy war nichts zu se-

hen.

Harte  Stimmen  klangen  auf.  Ein  Schlag.  Noch  ein

Schlag. Dann war wieder Stille.

Glystra  lief  durch  das  Gebüsch  und  stürzte  fast

über  eine  am  Boden  liegende  Gestalt.  Entsetzen
lähmte seine Glieder.

Steve Bishop.
Jemand ergriff seinen Arm. »Claude!« Es war Elton,

der inzwischen ebenfalls zu sich gekommen war.

»Steve ist tot. Sie haben ihn umgebracht.«
»Aber wo ist Nancy?«
»Ja. Wo ist sie?«
Er  blickte  sich  um  und  sah  dann  wieder  auf  den

toten  Körper  zu  seinen  Füßen.  »Die  Mörder  Steves
haben  sie  entführt«,  sagte  Elton.  »Sieh  dir  die  Fuß-
spuren hier im Moos an.«

Glystra sah den Spuren nach. Seine Wut und seine

Verzweiflung erreichten einen Höhepunkt. Er lief in
Richtung  auf  die  domartige  Kuppel  los.  Durch  Zy-
pressensträucher  hindurch,  mit  goldenen  Früchten
beladen,  geriet  er  auf  einen  gepflasterten  Weg,  der
unmittelbar  auf  das  große  Gebäude  zuführte.  Von
Nancy  und  ihren  Entführern  war  nichts  zu  sehen.
Unschlüssig verhielt er einen Augenblick lang, dann
lief  er  weiter,  durch  einen  gepflegten  Garten  mit
Springbrunnen  und  Spazierwegen  hindurch.  Er  ent-
deckte einen alten Mann in grauer Mönchskleidung,
der mit den Blumen beschäftigt war.

»Wohin  sind  sie  verschwunden?  Die  Männer,  die

das Mädchen mit sich führten?«

Der

 

Alte

 

sah

 

ihn

 

mit verständnislosem Ausdruck an.

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»Antworte mir, sonst –«
Elton holte ihn ein. »Laß ihn, Claude. Er ist taub.«
Claude Glystra starrte den Mönch an, wandte sich

ab.  Ihm  fiel  jetzt  auf,  daß  am  Ende  des  Weges  eine
Tür durch eine Mauer führte. Sicher hatten sie diesen
Weg genommen. Er rannte los und versuchte vergeb-
lich, die Tür zu öffnen. Sie widerstand seinen Bemü-
hungen, als wäre sie ein Teil der Mauer selbst.

Schreiend trommelte er auf der Tür herum. »Öffnet

die Tür! Aufmachen! Macht die Tür auf, sage ich!«

»Das  bringt  dir  höchstens  einen  Messerstich  ein«,

meinte Elton.

Glystra setzte ein paar Schritte zurück und starrte

das  Steingebäude  an.  »Noch  habe  ich  den  Ionen-
strahler. Es wird viel Blut fließen, bis Bishop gerächt
ist.«

»Ich glaube, du solltest mit etwas mehr Überlegung

an die Sache herangehen. Erst einmal sollten wir nach
den Tieren sehen, bevor die auch noch weg sind.« Er-
hebliche Ungeduld klang in Eltons Stimme mit.

Glystra  sah  noch  einmal  zu  der  Mauer  hoch.  »Du

hast recht. Armer Bishop.«

»Wir werden ihn vielleicht nicht länger denn einen

Tag überleben«, erklärte Elton ruhig.

Die Zipangoten grasten noch an der gleichen Stelle,

an  der  sie  sie  zurückgelassen  hatten.  Schweigend
machten sie sich daran, sie mit ihrem Gepäck zu be-
laden.  Elton  unterbrach  seine  Tätigkeit  plötzlich.
»Willst du wissen, was ich machen würde, wenn ich
das Sagen hätte?«

»Was?«
»Ich würde sagen, wir reiten von hier aus in Rich-

tung Osten, so weit wir es schaffen!«

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Glystra  schüttelte  den  Kopf.  »Das  kann  ich  nicht,

Asa.«

»Hier stimmt etwas nicht. Ich spüre es.«
»Das ist mir auch klar. Aber ich muß in Erfahrung

bringen,  was  es  ist.  Ich  kämpfe  einen  Kampf,  der
schon verloren ist. Du kannst immer noch nach Kir-
stendale zurück.«

Elton gab einen unwilligen Laut von sich.
Sie  bestiegen  die  Tiere  und  ritten  auf  die  Kuppel

zu.

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16

Sommerliche  Geräusche  erfüllten  die  Luft:  Vögel
zwitscherten, zahllose kleine Insekten summten, und
Blätter rauschten im sanften Wind. Sie kamen an ei-
ner Wiese vorbei, auf der ein kleines Kind spielte. Bei
ihrem  Anblick  vergaß  es  seine  Spielsachen  und
starrte sie mit weitgeöffnetem Mund an.

Sie  erreichten  eine  breite  Allee,  an  deren  rechter

Seite  sich  künstlich  angelegte  Bäche  dahinzogen,
während  sich  auf  der  linken  Seite  ein  kleiner  Laden
an den anderen reihte. Es war ein Basar, wie Glystra
bereits viele auf seinen Reisen gesehen hatte. Es wur-
den Teppiche angeboten, Schals, Früchte, allerlei Ge-
brauchsgegenstände, wie man es eben bei einem sol-
chen  Markt  gewohnt  war.  Der  Unterschied  war  nur
der,  daß  über  all  diesen  Dingen  eine  dicke  Staub-
schicht  lag.  Niemand  stellte  sich  ihnen  in  den  Weg,
als sie auf ihren Zipangoten vorüberritten.

Ein  Laden,  der  etwas  größer  war  als  die  anderen,

führte  als  Handelszeichen  ein  hölzernes  Schwert.
Glystra brachte sein Tier zum Stehen. »Mir ist so eine
Idee  gekommen.  Ich  werde  es  mal  versuchen.«  Er
nahm zwei von den Schwertern, die sie den Rebbirs
abgenommen  hatten,  und  trat  in  die  Dunkelheit  des
Ladens hinein.

Ein  kleiner,  dicklicher  Mann,  der  sich  über  einen

der  Ladentische  gebeugt  hatte,  sah  zu  ihm  auf.
Glystra warf die Schwerter auf den Tisch. »Was wä-
ren sie dir wert?«

Der  Ladeninhaber  sah  sie  an,  und  sein  Gesichts-

ausdruck  veränderte  sich  augenblicklich.  Er  machte

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gar nicht erst den Versuch, sein Interesse zu verber-
gen. »Woher haben Sie diese Schwerter?«

Seine Finger glitten über das Metall. »Sie sind aus

dem  feinsten  Stahl  gefertigt.  Nur  die  Anführer  der
südlichen Rebbirs besitzen solche Schwerter.«

»Ich könnte sie dir billig geben.«
Die  Augen  des  Händlers  leuchteten  auf.  »Was

wollen Sie dafür haben? Einen Sack voll Peraldinen?
Einen  Helm  aus  Perlmutt,  mit  einem  Opal  von  der
Magischen Quelle gekrönt?«

»Viel weniger als das«, erklärte Glystra. »Vor einer

Stunde etwa wurde eine Frau in diesen Dom entführt.
Ich möchte sie zurückhaben.«

»Sie erlauben sich wohl einen Scherz mit mir? Zwei

Stahlschwerter  für  eine  Frau?  Für  diese  beiden
Schwerter  werde  ich  Ihnen  vierzehn  Jungfrauen  be-
sorgen, alle so schön wie die Morgensonne.«

»Nein«, sagte Glystra. »Ich will nur diese eine Frau

haben.«

Der Händler legte wie abwesend die Hand an sei-

nen Hals. »Um ehrlich zu sein, ich will die Schwerter
haben. Aber ich habe nur einen Kopf.« Er wog eines
der beiden Schwerter in der Hand. »Die Dongmänner
sind  unberechenbar;  manchmal  könnte  man  sie  für
verrückte  alte  Greise  halten,  dann  wieder  hört  man
von  Taten  und  Grausamkeiten,  die  man  sich  kaum
vorstellen  kann.  Es  ist  schwer  zu  entscheiden,  was
man glauben soll.«

»Nun?«
»Was also wollen Sie?«
»Wie  ich  bereits  sagte,  ich  will  diese  Frau  zurück

haben. Sie ist jung und hübsch. Vermutlich wurde sie
in irgendeinen Harem gebracht.«

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Der  Händler  schüttelte  den  Kopf,  schien  über

Glystras  Vermutung  eher  erstaunt  zu  sein.  »Das
glaube ich nicht. Wahrscheinlich ist sie zu den Skla-
vinnen gebracht worden.«

»Ich  weiß  nicht,  was  in  diesem  Dom  –  oder  ist  es

ein  Tempel?  –  los  ist.  Deshalb  brauche  ich  die  Hilfe
von jemandem, der damit vertraut ist.«

»Ich  verstehe.  Sie  sind  also  bereit,  Ihren  eigenen

Kopf aufs Spiel zu setzen?«

Glystra  sah  den  Händler  wütend  an.  »Ja.  Aber

glaube nur nicht, daß du das nicht ebenfalls mußt.«

»Nein«, entgegnete der Händler kühl. »Aber es gibt

jemand  anderen,  der  es  für  mich  tun  wird.«  Er
stampfte  kräftig  mit  dem  Fuß  auf  den  Boden.  Einen
Augenblick  später  trat  ein  junger  Mann  ein.  Er  gab
einen  Laut  der  Überraschung  von  sich,  als  er  die
Schwerter erblickte.

»Das ist mein Sohn Nymaster«, stellte der Händler

vor. Er wandte sich an den jungen Mann. »Eines die-
ser  Schwerter  ist  für  dich.  Zuerst  führst  du  diesen
Herrn durch Zellos Eingang in den Tempel. Ihr ver-
kleidet  euch  und  nehmt  weitere  Kleider  mit.  Dieser
Herr  wird  dir  die  Frau  zeigen,  die  er  zurückhaben
will. Sie befindet sich sehr wahrscheinlich unter den
Sklavinnen.  Du  wirst  Koromutin  bestechen  müssen;
versprich ihm einen Porphyr-Dolch. Und dann bringe
die Frau zurück.«

»Das ist alles? Dann gehört mir das Schwert?«
»So ist es.«
Nymaster wandte sich Glystra zu. »Kommen Sie.«
»Augenblick.« Er ging zur Tür und rief Elton her-

bei.  Elton  betrat  den  Laden  und  sah  sich  darin  um,
ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

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Glystra  deutete  auf  die  beiden  Schwerter  auf  der

Tischplatte.  »Er  bekommt  diese  beiden  Schwerter,
wenn ich mit Nancy zusammen zurückkehre. Sollten
wir nicht wiederkommen, dann töte ihn.«

Der  Händler  wollte  protestieren.  Glystra  sah  ihn

an.  »Glaubst  du  vielleicht,  daß  ich  Vertrauen  zu  dir
habe?«

»Vertrauen?«  Der  Händler  starrte  ihn  verwundert

an. »Was ist das – Vertrauen?«

Glystra  grinste  Elton  an.  »Sollten  wir  uns  nicht

wiedersehen – viel Glück. Nütze unsere Reichtümer,
vielleicht kannst du es hier irgendwo zum Herrscher
bringen.«

Nymaster verbeugte sich vor Glystra, und sie ver-

ließen den Laden. Sie gingen um das Gebäude herum
und  betraten  einen  schmalen  Gang,  der  zwischen
zwei Zäunen hindurchführte. Sie erreichten eine klei-
ne  Hütte,  deren  Tür  unverschlossen  war.  Nymaster
ging hinein und kehrte wenig später mit einem Bün-
del Kleider zurück, das er Glystra reichte. »Ziehen Sie
das an.«

Es  war  ein  wallendes  Gewand  mit  einer  spitzen

Haube, alles ganz in Weiß. Er zog es über den Kopf.
»Und  jetzt  noch  das  hier«,  sagte  Nymaster  und
reichte  ihm  einen  ärmellosen  Überwurf,  der  ein  we-
nig kürzer war als das weiße Gewand. »Und das.« Er
gab  ihm  dazu  noch  eine  lose,  schwarze  Jacke,  die
noch kürzer war, dazu eine zweite Kopfbedeckung.

Nymaster  kleidete  sich  in  der  gleichen  Weise  ein.

»Es ist die Kleidung der Dongmänner. Kein Mensch
wird nach unserem Woher und Wohin fragen, wenn
wir erst einmal innerhalb der Tempelhallen sind.« Er
trug noch ein weiteres Paket mit Kleidern unter dem

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Arm,  und  er  sah  ungeduldig  auf  den  Gang  hinaus.
»Schnell jetzt, hier entlang.«

Sie gingen etwa hundert Meter bis zu einer Pforte

im  Zaun  und  kamen  in  einen  mit  Farnen  überwu-
cherten  kleinen  Garten.  Nymaster  hob  hin  und  wie-
der seine Hand, um Glystra zu äußerster Vorsicht zu
mahnen.  Durch  das  Blättergerank  erspähte  Glystra
einen äußerst hageren alten Mann, der im Schein der
Sonne  umherspazierte.  Ein  wenig  weiter  spielten
sechs Kinder.

»Wenn wir die Mauer erreichen wollen«, wisperte

Nymaster,  »dann  müssen  wir  unbemerkt  an  Zello
vorbeikommen.  Wenn  er  uns  nämlich  sieht,  wird  er
mit seinem Geschrei die anderen warnen.«

Er  nahm  einen  kleinen  Erdklumpen  auf  und  warf

ihn  nach  einem  der  Kinder,  einem  kleinen  Jungen.
Der schrie auf, um sich aber rasch wieder zu beruhi-
gen  und  erneut  dem  Spiel  mit  seinen  Gefährten  zu-
zuwenden.  Zellos  Aufmerksamkeit  aber  wurde  da-
durch  einen  Augenblick  lang  abgelenkt,  und  diesen
Augenblick  benutzten  Nymaster  und  Glystra,  um
hinter  einer  halbverfallenen  Mauer  Deckung  zu  su-
chen, nachdem sie über die offene Rasenfläche gelau-
fen waren.

Aus ihrer Deckung heraus sahen sie zum Turm des

Tempelgebäudes  hinauf.  »Dort  oben  ist  manchmal
eine Wache postiert, die nach ankommenden Gästen
Ausschau  hält.  Werden  wichtige  Gäste  erwartet,  ge-
winnen sie auf diese Weise Zeit, um das Orakel vor-
zubereiten.«

»Ja,  da  ist  einer  –  er  sucht  die  Wüste  ab.«  Die

dunkle Gestalt stand bewegungslos hinter den Turm-
zinnen.

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»Er wird uns nicht entdecken«, erklärte Nymaster.

»Er sieht in eine ganz andere Richtung.« Er kletterte
die  Mauer  hinauf,  wobei  ihm  Spalten  und  Risse  als
Halt für Hände und Füße dienten. Glystra folgte ihm.
In  halber  Höhe  verschwand  Nymaster  vor  Glystras
Augen in einer Spalte im Mauerwerk, die von unten
her  nicht  zu  sehen  gewesen  war.  »Die  Mauer  ist
hohl«, kam Nymasters Stimme aus dem Inneren her-
aus.  »Sie  wurde  nur  zum  Schein  so  massiv  gebaut.
Hier  drinnen  ist  ein  Gang,  in  dem  man  sich  frei  be-
wegen kann.«

Mit  Hilfe  eines  Feuersteins  entzündete  Nymaster

eine  Lunte,  die  nach  kräftigem  Blasen  aufflammte
und  ihre  neue  Umgebung  erhellte.  Mit  sicheren
Schritten  ging  der  junge  Mann  voran.  Nach  fast
zweihundert  Metern  erreichten  sie  eine  Öffnung  im
Boden, die gerade groß genug war, um eine einzelne
Person hindurchzulassen. »Achtung! Die Stufen sind
nur in Ton geschlagen.«

Sie  stiegen  knappe  drei  Meter  hinab,  mußten  sich

ducken,  um  unter  einem  Ausläufer  des  Fundaments
hindurchzukommen, und bewegten sich durch einen
leicht  aufwärtsführenden  Gang  weiter.  Sie  befanden
sich nach Nymasters Angaben jetzt unter dem großen
Empfangsraum. »Dort drüben ist der Sitz der Wahr-
heit, auf dem das Orakel sitzt.«

Hastige,  ein  wenig  schlurfende  Fußtritte  kamen

von  oben.  »Das  ist  der  alte  Caper,  der  Hausmeister.
Er hat ein verkrüppeltes Bein.«

Wieder wurden sie von einem Teil des Fundaments

behindert.

»Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein. Wenden Sie

Ihr  Gesicht  vom  Lichtschein  ab  und  sagen  Sie  kein

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Wort. Wenn man uns anhält und wir erkannt werden
–«

»Was geschieht dann?«
»Kommt auf den Rang dessen an, der uns entdeckt.

Am  schlimmsten  sind  die  Novizen,  die  mit  schwar-
zen Roben angetan sind. Sie sind noch neu in ihrem
Amt  und  nehmen  es  übermäßig  genau.  Ebenso  die
Hierarchen, die an ihren goldenen Quasten zu erken-
nen  sind.  Die  Ordinarien  nehmen  es  meist  weniger
genau.«

»Wie geht es nun weiter?«
»Dieser  Gang  führt  zu  den  Räumen,  in  denen  die

Sklaven und Gefangenen vor ihrer Verwendung un-
tergebracht werden.«

»Verwendung? Sollen sie etwa als Orakel dienen?«
Nymaster schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben ei-

ne andere Bestimmung. Das Orakel braucht das Wis-
sen  von  vier  Personen,  die  seine  Gedanken  lenken
müssen. Wenn das Orakel befragt wird, wirken also
noch drei weitere Personen mit.«

Glystra  ergriff  ungeduldig  Nymasters  Arm.  »Vor-

wärts!«

»Wir  müssen  jetzt  äußerst  leise  sein«,  warnte  Ny-

master. Er ging um einen Felsblock herum, stieg eine
einfache Holzleiter hinauf und kroch oben auf einem
schmalen Vorsprung weiter. Glystra folgte.

Nymaster lauschte und erhob sich dann. »Mir nach.

Schnell jetzt!«

Er  verschwand.  Glystra  ließ  sich  hinter  ihm  in  ei-

nen  dunklen  Schacht  hinab.  Er  stand  hinter  Nyma-
ster,  berührte  fast  seinen  Rücken.  Vor  ihren  Füßen
floß übelriechendes Wasser dahin. Vor ihnen war dif-
fuses  Licht  zu  erkennen.  Eine  Anzahl  von  Stufen

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führte  aufwärts.  Sie  gingen  die  Stufen  hinauf  und
standen unvermittelt in einem erhellten Raum.

Es war heiß, und die Luft war mit einem tranigen

Ölgeruch  geschwängert.  Geräusche  verrieten  ihnen,
daß  irgendwo  vor  ihnen  ein  geschäftiges  Treiben
herrschen mußte.

Es fiel Glystra nicht leicht, Übelkeit und Brechreiz

zu unterdrücken. Nymaster ging vor ihm mit raschen
Schritten den Gang entlang.

Mehrere Männer in Roben kamen an ihnen vorbei,

ohne sie weiter zu beachten. Nymaster verhielt seine
Schritte.

»Hinter dieser Wand befinden sich die Räume der

Gefangenen.  Sehen  Sie  durch  eine  der  Ritzen  hin-
durch  und  sagen  sie  mir,  welche  der  Frauen  sie  su-
chen.«

Glystra  trat  dicht  an  die  Steinwand  heran  und

spähte  durch  einen  schmalen  Spalt  in  Augenhöhe.
Ein gutes Dutzend Männer und Frauen saßen entlang
der  Wände  oder  standen  inmitten  des  Raumes.  Ihre
Haare  waren  abrasiert  und  ihre  Köpfe  mit  gelber,
blauer oder grüner Farbe bemalt worden.

»Welche ist es? Die am äußersten Ende?«
»Ich kann sie nicht sehen. Sie ist nicht dabei.«
»Dann  wird  es  schwierig«,  murmelte  Nymaster.

»Ich  fürchte,  das  geht  über  unsere  Abmachungen
hinaus.«

»Unsinn.  Unsere  Abmachung  lief  darauf  hinaus,

die Frau zu finden und zu befreien, wo immer sie sich
befinden  mochte.  Bring  mich  zu  ihr,  oder  ich  werde
dich augenblicklich umbringen!«

»Ich  weiß  nicht,  wo  ich  sie  suchen  soll«,  erklärte

Nymaster ruhig.

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»Finde es heraus. Das ist deine Sache.«
Nymaster legte die Stirn in Falten. »Ich werde Ko-

romutin fragen. Warten Sie hier.«

»Nein, ich komme mit.«
Nymaster  schimpfte  unwillig  vor  sich  hin,  als  sie

den Gang hinabgingen. Er steckte seinen Kopf in eine
kleine  Kammer  hinein.  Darin  befand  sich  ein  dickli-
cher  Mann  in  den  mittleren  Jahren.  Er  war  kaum
überrascht, Nymaster zu sehen.

Glystra beugte sich vor, um die leise geführte Un-

terhaltung verfolgen zu können. Koromutin musterte
ihn eingehend.

»Er sagt, daß sie nicht bei den anderen Gefangenen

ist,  und  er  will  nicht  wieder  gehen,  bevor  er  sie  ge-
funden hat.«

Koromutin dachte nach. »Dann muß sie sich in den

oberen  Gemächern  befinden.  Wenn  es  so  ist  –  nun,
was bietet der Herr Vater dafür an? Mir fällt gerade
ein,  er  hatte  einen  Dolch  aus  bestem  Philemon-
Porphyr ...«

»Er soll dir gehören.«
Koromutin erhob sich händereibend und musterte

Glystra noch einmal eingehend. »Die Dame ist gewiß
eine  hochwohlgeborene  Prinzessin,  mein  Herr.«  Er
verbeugte sich vor Glystra. »Gestatten Sie mir, Ihnen
behilflich  zu  sein.«  Damit  wandte  er  sich  um  und
ging den anderen voraus.

Sie folgten einer sich windenden Treppe nach oben.

Schritte kamen ihnen entgegen. Koromutin verbeugte
sich tief. »Tief verbeugen!« wisperte Nymaster. »Der
Superior kommt.«

Glystra  machte  einen  Bückling,  wie  es  tiefer  nicht

ging.  Er  sah  gerade  noch  den  Saum  einer  reich  ver-

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zierten  Robe.  Er  hörte,  wie  eine  hohe  Fistelstimme
fragte: »Wo steckst du nur, Koromutin? In aller Kürze
findet eine Orakel-Sitzung statt. Du scheinst dich ver-
spätet zu haben. Wir brauchen die Weisheit.«

Koromutin brachte eine Flut von Entschuldigungen

hervor.  Der  Superior  ging  wieder  nach  oben,  wäh-
rend  Koromutin  in  seine  Kammer  zurückging  und
ein buntes Ornat überwarf.

»Warum das alles?« fragte Glystra.
Nymaster  zuckte  mit  den  Schultern.  »Es  ist  die

Aufgabe  des  alten  Koromutin,  die  Zeremonie  mit
dem Orakel durchzuführen. Wir müssen warten, bis
es vorbei ist.«

»Wir haben aber keine Zeit.«
»Koromutin  muß  an  der  Sitzung  teilnehmen.  Uns

bleibt  keine  andere  Wahl.  Abgesehen  davon  möchte
ich  die  Zeremonie  gern  einmal  miterleben.  Ich  war
noch nie dabei, obwohl mir schon oft davon berichtet
worden ist.«

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17

Koromutin beschäftigte sich weiter mit seinen Vorbe-
reitungen.  Aus  einem  verschlossenen  Schrank  holte
er einen Glasbehälter mit einer gelblich-trüben Flüs-
sigkeit hervor, die er in eine Spritze füllte.

»Was ist das?«
»Die  Weisheit«,  erklärte  Koromutin  selbstgefällig.

»Es  ist  ein  sehr  hochwertiges  Konzentrat.  Der  Ver-
stand von vier Männern geht in eine jede dieser Fül-
lungen.«

Hormone, überlegte Glystra.
Koromutin befestigte die Spritze an seiner Kopfbe-

deckung.

»Gehen wir.«
Er führte sie einen langen Gang hinunter und über

eine  Anzahl  von  Treppen  in  den  großen  Empfangs-
raum  unter  der  hohen  Domkuppel.  Zwölf  Novizen
hatten sich bereits in einem Halbkreis aufgestellt. »Zu
wenig«,  murmelte  Koromutin.  »Lord  Voivode  wird
wenig  begeistert  sein.  Ihm  ist  eine  großartige  Zere-
monie  weit  wichtiger  als  die  Weisheit  des  Orakels
selbst. Ich muß nun meinen Platz einnehmen. Ihr geht
am besten dort hinüber, auf die andere Seite. So fallt
ihr am wenigsten auf.«

Nymaster  und  Glystra  taten,  wie  ihnen  geheißen

wurde. Wenig später wurde eine Sänfte in die Halle
getragen,  von  vier  in  Schwarz  gekleideten  Dienern
begleitet. Dahinter folgten noch zwei junge Mädchen,
die einen gepolsterten Stuhl zwischen sich trugen.

Als die Träger die Sänfte herabließen, kam ein klei-

ner,  rotgesichtiger  Mann  daraus  hervor,  der  sich  so-

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gleich in dem bereitgestellten Stuhl niederließ.

»Schnell,

 

schnell!«

 

rief

 

er.

 

Zugleich

 

winkte

 

e r

 

aufge-

regt.  »Mein  Leben  geht  zu  Ende,  und  das  Licht  ver-
läßt meine Augen, während ich hier sitze und warte.«

Der  Superior  trat  auf  ihn  zu  und  verbeugte  sich.

»Vielleicht möchte sich der Lord während der einfüh-
renden Riten ein wenig erfrischen?«

»Zum Teufel mit den Riten!« schnaubte Lord Voi-

vode.

Der  Superior  trat  zurück  und  verkündete:  »Das

Orakel kommt.«

Zwei Novizen führten eine schwarzhaarige Gestalt

in einem weißen Überwurf heran. Es war ein ziemlich
ausgemergelter  Mann,  der  sich  wie  ein  gefangenes
Tier umsah.

Der  Voivode  gab  lautstark  seine  Enttäuschung

kund.  »Eine  solche  Kreatur  soll  mich  beraten?  Sie
scheint zu nichts anderem fähig zu sein, als vor Angst
zu zittern.«

»Vergessen Sie bitte Ihre Vorurteile, Lord«, bat der

Superior.  »Durch  ihn  werden  Sie  des  Wissens  von
vier Männern teilhaftig werden.«

Die  bedauernswerte  Gestalt  wurde  auf  einen  Sitz

gehoben  –  den  Sitz  der  Wahrheit.  Bald  darauf  er-
schien  Koromutin  in  seiner  steifen  Robe.  Er  stieg  zu
dem  Sitz  hinauf,  nahm  die  Spritze  von  seiner  Kopf-
bedeckung  ab  und  stieß  die  Nadel  ins  Genick  des
Orakels.  Der  Mann  krümmte  sich,  warf  die  Arme
hoch.  Einen  Augenblick  lang  saß  er  reglos  da,  um
dann in sich zusammenzusinken. Er nahm den Kopf
in die Hände und rieb sich über die Stirn. Seine Glie-
der  zuckten,  und  verworrene  Laute  kamen  aus  sei-
nem Mund.

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Glystra sah atemlos zu.
Die  Muskeln  des  Orakels  waren  angespannt,  und

in  seinen  Augen  stand  ein  seltsames  Leuchten.  Er-
schöpft  fiel  es  schließlich  in  seine  schlaffe  Haltung
zurück.

Lord  Voivode  nickte  beifällig  und  unterhielt  sich

leise mit dem Superior, der alsbald mit lauter Stimme
verkündete: »Es ist so weit. Fünf Minuten lang stehen
Ihnen die Weisheiten des Orakels zur Verfügung.«

Lord  Voivode  beugte  sich  nach  vorn.  »Orakel,  ich

frage dich: Wie lange habe ich noch zu leben?«

Das  Gesicht  des  Orakels  überzog  ein  müdes  Lä-

cheln.  »Sie  fragen  zwar  nach  Nebensächlichkeiten,
aber  ich  werde  Ihnen  antworten.  Warum  sollte  ich
nicht?  Aus  Ihrer  Körperhaltung,  Ihrer  Gangart  und
verschiedenen weiteren Tatsachen ist zu entnehmen,
daß  Sie  innerlich  vom  Krebs  verzehrt  werden.  Ihr
Atem  ist  bereits  der  der  Verwesung.  Ich  gebe  Ihnen
im höchsten Falle noch ein Jahr Lebenszeit.«

Voivode  wandte  sich  mit  verzerrtem  Gesicht  an

den Superior. »Das Orakel lügt! Hinweg mit ihm! Ich
bezahle  mit  guten  Sklaven,  und  dann  bekomme  ich
Lügen vorgesetzt!«

Der  Superior  begütigte  ihn  mit  einer  Handbewe-

gung. »Kommen Sie niemals zum Brunnen am Myr-
tensee,  wenn  Sie  nur  Ihre  eigenen  Wünsche  und
Hoffnungen bestätigt finden wollen; hier bekommen
Sie nur die Wahrheit zu hören, Lord Voivode.«

Voivode  wandte  sich  erneut  an  das  Orakel.  »Wie

kann ich mein Leben verlängern?«

»Darüber  habe  ich  kein  genaues  Wissen.  Eine  ge-

eignete  Kur,  gewisse  Diäten,  Enthaltsamkeit  von
Narkotika  und  karitative  Taten  könnten  zu  einer

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Verlängerung beitragen.«

Lord Voivode beschwerte sich ärgerlich beim Supe-

rior. »Warum haltet ihr mich zum Narren; dieses Ge-
schöpf gibt nur blanken Unsinn von sich. Warum ver-
rät es mir nicht die Formel?«

»Was für eine Formel?« erkundigte sich der Supe-

rior.

»Die  Formel  zur  Herstellung  eines  Trankes,  der

ewiges Leben schenkt. Diese Formel will ich wissen,
und nichts anderes!«

»Fragen Sie selbst«, riet der Superior.
Voivode brachte seine Frage vor.
»Bei all meiner Erfahrung kann ich Ihnen nicht mit

Informationen dienen, die Ihnen zum Besitz einer sol-
chen Formel verhelfen würden«, erklärte das Orakel.

»Sie sollten nur fragen, was im Bereich der gegebe-

nen  Möglichkeit  liegt«,  gab  der  Superior  in  sanftem
Ton zu verstehen.

Das Gesicht des Lords überzog sich mit einer star-

ken  Röte.  »Wie  soll  ich  es  am  besten  anstellen,  um
meinem Sohn das Erbe zu erhalten?«

»In einem Staatswesen, das nicht äußeren Einflüs-

sen  unterliegt,  kann  ein  Herrscher  durch  Tradition,
Macht  oder  den  Willen  seiner  Untertanen  regieren.
Die letztgenannte Art des Regierens ist gewiß die be-
ständigste und fruchtbarste.«

»Weiter«,  drängte  der  Voivode.  »Du  hast  ohnehin

nicht mehr lange zu leben!«

»Seltsam«,  erklärte  das  Orakel  mit  einem  müden

Lächeln.  »Da  ich  soeben  erst  begonnen  habe,  zu  le-
ben.«

»Sprich,  Orakel!«  sagte  der  Superior  mit  scharfer

Stimme.

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»Ihre  Dynastie  begann  damit,  daß  Sie  Ihren  Vor-

gänger  vergifteten.  Es  ist  also  keine  Tradition  vor-
handen.  Es  könnte  Ihrem  Sohn  also  gelingen,  sich
weiterhin durch Gewalt an der Macht zu halten. Das
wäre  im  Prinzip  sehr  einfach.  Er  braucht  nur  einen
jeden  zu  beseitigen,  der  seine  Herrschaft  in  Frage
stellt. Das wird ihm freilich neue Feinde schaffen, die
er nun wiederum beseitigen muß. Wenn er daher sei-
ne  Widersacher  schneller  zu  beseitigen  vermag,  als
diese ihre Kräfte zu vereinigen vermögen, dann wird
er an der Macht bleiben.«

»Undenkbar! Zu so etwas ist mein Sohn niemals in

der Lage. Ich selbst bin von Verrätern umgeben und
von  speichelleckenden  Höflingen,  die  nur  auf  mein
Ableben warten, um die Zeichen zu Raub und Plün-
derung zu geben.«

»In  diesem  Fall  müßte  Ihr  Sohn  die  Qualifikation

eines Herrschers beweisen, so daß niemand ein Inter-
esse daran hat, ihn zu beseitigen.«

Lord Voivode schien in die Ferne zu blicken; viel-

leicht sah er das Gesicht seines Sohnes vor sich.

»Um  die  Situation  in  diesem  Sinne  zu  ändern,

müßten  Sie  allerdings  Ihre  eigene  Regierungsweise
erheblich ändern. Sie müßten eine jede Handlung ei-
nes  Ihrer  Beamten  mit  den  Augen  des  geringsten
Bürgers Ihres Staates sehen und dementsprechend Ih-
re Anordnungen geben. Wenn Sie dann aus dem Le-
ben scheiden, wird Ihr Sohn von einer Welle des gu-
ten Willens und der Anerkennung getragen werden.«

Der Lord lehnte sich in seinem gepolsterten Sessel

zurück und sah den Superior fragend an. »Und dafür
habe ich mit zwanzig guten Sklaven und vier Gramm
reinem Kupfer gezahlt!«

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Der  Superior  ließ  sich  noch  immer  nicht  aus  der

Ruhe  bringen.  »Das  Orakel  hat  Ihre  Fragen  beant-
wortet. Es hat Ihnen in groben Zügen angedeutet, wie
Sie  in  Ihrer  Situation  am  besten  zu  handeln  vermö-
gen.«

»Aber es hat mir nichts Angenehmes gesagt!« pro-

testierte Voivode.

»Es hat Ihnen die Wahrheit gesagt, nicht mehr und

nicht weniger.«

»Also noch eine Frage: Die Delta-Leute sind in das

Tal zu Cridgin eingefallen und haben meine Rinder-
herden  entführt.  Durch  den  Morast  können  meine
Soldaten  ihnen  nicht  folgen.  Was  kann  ich  dagegen
tun?«

»Pflanzen  Sie  auf  den  Hügeln  des  Impsidion

Buschwein an.«

Der Lord schluckte und lief erneut rot an. Der Su-

perior wandte sich an das Orakel. »Erkläre das bitte
ausführlicher.«

»Die  Delta-Leute  leben  von  Venusmuscheln.  Seit

Jahrhunderten kultivieren sie Stämme von Venusmu-
scheln. Lord Voivode hat seine Tiere ständig auf den
Hügeln weiden lassen, so daß die Vegetation abstarb
und  der  Boden  vom  Regen  in  den  Fluß  gewaschen
wurde.  Der  Schlamm  setzte  sich  auf  den  Venusmu-
scheln  ab  und  brachte  sie  zum  Absterben.  Wenn
weitere  Zwischenfälle  vermieden  werden  sollen,
dann muß die Ursache beseitigt werden.«

»Die  Delta-Leute  sind  unberechenbar  und  gefähr-

lich«, wandte Voivode ein. »Ich will Rache an ihnen
nehmen.«

»Diesen  Wunsch  werden  Sie  sich  nicht  erfüllen

können.«

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Der Lord sprang auf, entwand einem seiner Diener

eine Tonschale und schleuderte sie nach dem Orakel,
traf es gegen die Brust. Der Superior stieß einen em-
pörten Schrei aus. Der Lord Voivode kümmerte sich
nicht  weiter  um  die  Anwesenden.  Er  stieg  in  seine
Sänfte und ließ sich aus der Halle hinaustragen.

Das  Orakel  hielt  jetzt  die  Augen  geschlossen;  es

atmete in heftigen, aber unregelmäßigen Zügen. Seine
Hände  ballten  sich  zusammen.  Glystra  wollte  näher
auf  das  Orakel  zugehen,  wurde  aber  von  Nymaster
zurückgehalten.

»Bleiben  Sie  stehen,  wenn  Ihnen  Ihr  Leben  noch

etwas wert ist!«

Koromutin ging an ihnen vorüber und wisperte ih-

nen zu: »Wartet draußen im Korridor auf mich!«

Sie  verließen  hinter  ihm  den  Raum.  Nach  endlos

erscheinenden  zehn  Minuten  kehrte  Koromutin  in
seiner gewohnten Kleidung zurück. Wortlos führte er
sie eine Treppe hinauf. Durch große Bogenfenster sa-
hen sie auf die unter ihnen liegende Oase hinab.

Es ging noch einen Treppenabsatz höher, dann ver-

schwand Koromutin in einem kleinen Büro, das von
einem  Mönch  eingenommen  wurde,  der  sein  Zwil-
lingsbruder hätte sein können. Die beiden unterhiel-
ten sich lebhaft miteinander.

Koromutin wandte sich an Nymaster. »Das ist Jen-

tile, der Haus-Ordinarius. Er kann uns helfen – wenn
auch  er  einen  solchen  Dolch  erhält,  wie  er  mir  ver-
sprochen worden ist.«

Nymaster  zögerte  kurz,  gab  dann  aber  seine  Zu-

stimmung.

Der kleine Mann hinter dem Tisch erhob sich und

trat in den Gang hinaus.

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»Er hat die Frau, die Sie suchen, bereits gesehen«,

erklärte Koromutin mit vertraulichem Unterton, »und
wird  Sie  zu  ihrem  Aufenthaltsort  bringen.  Ich  über-
lasse Sie seiner Obhut.«

Damit  zog  er  sich  zurück.  Jentile  führte  sie  über

endlose Gänge und Treppen, bis Glystra plötzlich ein
lautstarkes  Summen  vernahm.  Er  blieb  stehen  und
lauschte.

»Was ist das?« fragte er.
»Sehen  Sie  durch  dieses  Gitter  hindurch,  und  Sie

werden  es  selbst  sehen.  Es  ist  ein  Kasten  aus  Metall
und  Glas,  aus  dem  ferne  Stimmen  sprechen.  Ein
wundersames Instrument, aber dafür haben wir jetzt
keine Zeit.«

Glystra  kam  der  Aufforderung  nach  und  sah  eine

moderne  elektronische  Apparatur  vor  sich,  deren
Aufbau die Improvisation eines Fachmannes vermu-
ten ließ. Auf einem Tisch waren Lautsprecher, Mikro-
fon und verschiedene Kontrollgeräte angeordnet.

»Kommen  Sie  schon«,  drängte  Jentile.  »Ich  will

meinen eigenen Kopf noch länger auf den Schultern
behalten,  auch  wenn  Sie  keinen  großen  Wert  darauf
zu legen scheinen.«

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18

Jentile hielt vor einer schweren Holztür an. Er spähte
durch  eine  Ritze  hindurch,  wandte  sich  dann  an
Glystra  und  sagte  zu  ihm:  »Kommen  Sie  her  und
überzeugen  Sie  sich  selbst  von  ihrer  Anwesenheit.
Dann  müssen  wir  von  hier  weg.  Der  General-
Ordinarius kann jeden Augenblick auftauchen.«

Claude Glystra lachte grimmig auf und sah durch

die  Ritze  hindurch.  Nancy  saß  in  einem  Lehnstuhl,
den  Kopf  mit  geschlossenen  Augen  zurückgelehnt.
Sie trug lose Pyjamas; ihr Haar war hell und gepflegt.
Es  sah  so  aus,  als  wäre  sie  soeben  mit  ihrer  Toilette
fertiggeworden. Glystra vermochte den Ausdruck ih-
res Gesichts nicht zu deuten.

Er schob Jentile beiseite. »Nymaster, du kümmerst

dich um ihn!«

Er stieß die Tür auf.
Nancy starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Claude ...«

Langsam  erhob  sie  sich.  Sie  stürzte  ihm  jedoch

nicht mit Freude und Erwartung entgegen, wie er es
erwartet hatte.

»Was ist geschehen?« fragte er ruhig.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie tonlos.
»Wir müssen schnell von hier weg.« Er legte seinen

Arm um ihre Schultern. Sie schien kraft- und willen-
los zu sein.

Jentile wurde von Nymaster festgehalten. Sein Ge-

sicht war empört und vor Angst verzerrt. Er brachte
jedoch keinen Laut hervor.

»Zurück in den Funkraum«, sagte Glystra. »Zu die-

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sem Kasten aus Metall und Glas.«

Sie  gingen  den  Weg  zurück.  Glystra  hielt  den  Io-

nenstrahler in der einen Hand, mit der anderen um-
faßte er Nancy.

Das Summen kam näher.
Glystra  stürmte  in  den  Raum  hinein.  Ein  hagerer

Mann mit einem blauen Kittel sah auf. »Immer schön
ruhig bleiben, dann geschieht dir nichts.«

Der Mann erhob sich, ohne den Blick von Glystras

Waffe zu lassen. »Du bist von der Erde, nicht wahr?«

»Na und?«
»Du hast dieses Gerät hier gebaut?«
»Was dagegen?«
»Im Gegenteil, ich finde es sehr praktisch. Verbinde

mich mit der Erdenklave.«

»Das  werde  ich  nicht  tun«,  erklärte  der  Blaukittel

bestimmt. »Mein Leben ist mir mehr wert. Bedienen
Sie  sich  selbst,  wenn  Sie  die  Erdenklave  haben  wol-
len. Da Sie bewaffnet sind, kann ich Sie nicht davon
abhalten.«

Glystra  trat  einen  Schritt  vor.  Der  Mann  zuckte

nicht mit der Wimper. »Stell dich neben dem Ordina-
rius an der Wand auf ... Nancy!«

»Ja, Claude?«
»Du stellst dich dort drüben hin, etwas abseits von

den anderen. Und bewege dich nicht.«

Langsam  leistete  sie  seiner  Anweisung  Folge.  Sie

schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann
aber offenbar anders.

Glystra setzte sich vor den Tisch und unterzog das

Gerät  einer  näheren  Betrachtung.  Es  war  eine  recht
einfache  Kurzwellenstation,  wie  sie  Millionen  von
Rundfunkamateuren auf der Erde ihr eigen nannten.

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»Wie ist die Frequenz der Erdenklave?«
»Weiß ich nicht.«
Glystra  fand  ein  Register  und  suchte  darin  den

Buchstaben E. »Erdenklave, offizielle Code-Nummer
181933«, las er vor. Er schaltete das Gerät ein und be-
gann an den Knöpfen zu hantieren.

Vom  Gang  her  ertönten  schwere  Schritte.  Die  Tür

wurde  aufgerissen.  Ein  Gesicht  mit  kantigen  Zügen
und  dichten  grauen  Augenbrauen  sah  herein.  Au-
genblicklich  warf  sich  der  Haus-Ordinarius  auf  die
Knie. »Ehrwürdiger General-Ordinarius, es war nicht
mein Wille ...«

General-Ordinarius  Mercodian  sah  über  seine

Schulter  zurück,  in  den  Gang  hinaus.  »Nehmt  diese
Männer gefangen!«

Glystra  wandte  sich  erneut  dem  Sender  zu.  Noch

eine  Ziffer  ...  Stämmige  Gestalten  stürmten  in  den
Raum.  Nancy  taumelte  mit  blutleerem  Gesicht  vor-
wärts. Sie verhielt genau in der Schußlinie. »Nancy!«
rief  Glystra.  Er  hatte  seinen  Ionenstrahler  gezogen,
aber sie stand genau zwischen ihm und dem General-
Ordinarius. »Verzeih mir«, wisperte er kaum hörbar.
»Es geht um mehr als dein Leben ...«

Er  drückte  den  Abzug  durch.  Violettes  Licht  er-

leuchtete  gespenstisch  die  Gesichter.  Das  Licht  flak-
kerte  nur  kurz  auf,  erlosch  wieder.  Das  Energieag-
gregat war verbraucht.

Drei Männer in schwarzen Roben stürzten sich auf

ihn. Er schlug wild um sich. Der Tisch mit den Gerät-
schaften  stürzte  um,  obwohl  der  Techniker  es  ver-
zweifelt zu verhindern suchte. Nymaster nützte die-
sen Augenblick, um auf den Gang hinaus zu fliehen.
Seine Schritte hallten über den Korridor.

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Glystra  war  bereits  in  eine  der  Ecken  abgedrängt

worden.  Die  Schwarzgekleideten  warfen  ihn  zu  Bo-
den,  trampelten  auf  ihm  herum,  banden  ihm  die
Hände auf den Rücken.

»Fesselt  ihn  besonders  gut«,  wies  Mercodian  an,

»und bringt ihn hinab!«

Er wurde die Korridore entlanggeschleppt, an den

hohen  Arkaden  vorbei,  von  denen  aus  die  Oase  zu
übersehen war.

Ein  schwarzer  Schatten  glitt  in  geringer  Höhe

durch  die  Luft.  Glystra  stieß  einen  heiseren  Schrei
aus. »Ein Luftschweber – von der Erde!«

»Ein Luftschweber«, berichtigte Mercodian. »Aber

nicht von der Erde, sondern von Grosgarth.«

»Von Grosgarth?«
»Ich sagte es schon.«
Glystra  zweifelte  an  seinem  Verstand.  »Es  gibt  in

Grosgarth nur einen, der über einen Luftwagen ver-
fügen könnte –«

»Richtig.«
»Weiß der Bajarnum vielleicht –«
»Er  weiß,  daß  Sie  hier  sind.  Glauben  Sie  wirklich,

daß er einen Luftschweber hat, aber kein Radio?«

Er wandte sich an die Schwarzgekleideten.
»Paßt  auf  diesen  hier  besonders  gut  auf!  Ich  muß

gehen, um Charley Lysidder zu begrüßen ...«

Glystra stand inmitten des Raumes auf dem steiner-
nen  Fußboden.  Seine  Kopfhaare  waren  abrasiert
worden, und er hatte ein übelriechendes Bad in einer
essigähnlichen  Flüssigkeit  über  sich  ergehen  lassen
müssen. Die Luft in der Gefangenenkammer war zum
Ersticken.  Er  atmete  durch  den  Mund,  um  dem  Ge-

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ruch  zu  entgehen.  Seltsam  ...  etwas  in  dem  Aroma
war  schwer  und  beißend,  ein  süßlicher  Duft,  betäu-
bend und anregend zugleich.

Zygagen!
Ja, das war es. Es war das gleiche Aroma, das er be-

reits  vom  Rauch  brennender  Zygagenzweige  her
kannte.

Seine  Gedanken  kreisten  immer  schneller.  Hatte

der  Wirkstoff  der  Zygagen  vielleicht  etwas  mit  dem
Serum  zu  tun,  mit  dem  das  Orakel  für  seine  letzten
Dienste vorbereitet wurde?

Wie wirkte diese Droge überhaupt? Glystra konnte

sich  von  dieser  Frage  nicht  lösen,  die  eigentlich  von
einem  Wissenschaftler  hätte  beantwortet  werden
müssen.  Offenbar  brachte  die  Droge  die  in  einem
Menschenleben gesammelten Erfahrungen, Eindrük-
ke und Denkansätze hervor, die jahrelang im Unter-
bewußtsein  eines  Individuums  zwar  vorhanden  ge-
wesen waren, aber nie bis zur Oberfläche gelangt wa-
ren.

Die Orakel-Droge ließ einen Menschen an die Stufe

des Todes herantreten und sich zum erstenmal seines
wirklichen  Wissens  um  die  Natur  bewußt  werden.
Ein  Wesen,  das  einen  solchen  Höhepunkt  der  Weis-
heit  erreichte,  mußte  wenig  später  mit  seinem  Tod
dafür bezahlen.

In  gewisser  Weise  glich  das  den  Folgen,  die  das

Einatmen  des  Zygagenrauches  bei  ihnen  bewirkt
hatte. Sein Denkvermögen hatte plötzlich ausgesetzt,
als wäre ein Uhrwerk abgestellt worden. Steve Bishop
hingegen hatte nicht unter diesen Nachwirkungen zu
leiden gehabt. Vielmehr war bei ihm ein gesteigertes
Wohlbefinden die Folge gewesen, ebenso wie gestei-

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gerte Fähigkeiten. Offenbar hatten ihm seine Vitami-
ne dabei geholfen.

Vitamine?  War  das  Orakel  vielleicht  an  Vitamin-

mangel gestorben?

Glystra beschäftigte sich mit dieser Idee. Langsam

ging er auf dem Steinboden auf und ab.

»Ssst!«

Glystra  sah  auf.  Ein  feindseliges  Auge  spähte  durch
einen Spalt in der Tür. Es war Nymaster.

»Und  jetzt  bist  du  gefangen«,  sagte  der  Sohn  des

Händlers mit leiser Stimme. »Du wirst sterben müs-
sen. Koromutin sagt, daß du ausgewählt wurdest, das
Orakel  zu  spielen.  Für  Charley  Lysidder.  Er  hat  es
vom  Superior  erfahren,  während  er  von  diesem  ge-
schlagen wurde.«

»Kannst  du  mich  nicht  durch  Bestechung  freibe-

kommen? Ich habe noch einige von den Schwertern,
wie du sie gesehen hast.«

»Das wäre jetzt selbst mit einer ganzen Tonne Eisen

nicht mehr möglich.«

Glystra schwieg.
»Und was soll jetzt mit meinem Vater geschehen?«

fragte  Nymaster.  »Wenn  Elton  deiner  Anordnung
folgt, wird er ihn töten.«

»Bring  mir  ein  Stück  Papier.  Ich  werde  Elton

schreiben.«

Nymaster  schob  ihm  ein  fettiges  Papierstück  und

einen scharfen Granitstein hindurch. Glystra kritzelte
eine Botschaft an Elton darauf und reichte das Papier
zurück.

»Ich  habe  ihm  mitgeteilt,  daß  du  noch  einmal  zu

mir  zurückkommen  wirst.  Er  wird  dir  ein  kleines

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Päckchen geben, das du mir bringen sollst. Dafür er-
hältst du ein weiteres Schwert.«

Nymaster schien zu zögern. »Es ist ein ungeheures

Wagnis. Aber ich werde es versuchen.«

Eine  gute  Stunde  später  kehrte  er  wieder  zurück.

Er  brachte,  was  Glystra  verlangt  hatte:  ein  kleines
Päckchen, das Vitamintabletten enthielt.

Nymaster  verabschiedete  sich  von  ihm,  als  zählte

er fast schon nicht mehr zu den Lebenden.

Glystra selbst hegte die Hoffnung, am nächsten Tag

durchaus noch unter den Lebenden zu weilen. Wenn
seine Kombinationen nicht falsch waren ...

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19

Die Sonne verschwand hinter den Gärten am Myrten-
see.  Vom  Osten  her  brach  die  Dämmerung  herein,
bewegte  sich  auf  den  marmornen  Pavillon  zu,  der
sich auf der Ostseite der riesigen Kuppel befand, um-
kränzt von schlanken Säulen.

Vier  schlanke  junge  Männer  traten  aus  der  Tem-

pelkuppel heraus. Sie trugen Fackeln mit sich, die sie
in  hölzerne  Ständer  steckten,  und  kehrten  schwei-
gend wieder um.

Die  Dämmerung  wich  der  hereinbrechenden

Nacht.

Stimmen ertönten vom Tempel her. Mercodian, der

General-Ordinarius vom Myrtensee, und Charley Ly-
sidder,  der  Bajarnum  von  Beaujolais,  traten  in  den
Lichtkreis, der von den Fackeln ausging.

Die  Festlichkeiten  begannen,  in  deren  Verlauf  das

Orakel,  das  auf  den  Namen  Claude  Glystra  gehört
hatte, seine Weisheit preisgeben – und den Preis da-
für auch noch selbst bezahlen würde.

Glystra wurde mit verbundenen Augen auf seinen

Platz  gebracht.  Mehrere  Arme  hielten  ihn  fest,  und
dann spürte er, wie die Nadel der Spritze tief in sei-
nen Nacken eindrang.

Eine große schwarze Hand schien nach seinem Ge-

hirn zu greifen. Dunkelheit umfaßte ihn, ließ ihn ver-
gessen.

Die Stimme des General-Ordinarius drang an sein

Ohr. »Bajarnum, jetzt liegt sein Gehirn klar und offen
vor Ihnen. Beeilen Sie sich, denn in wenigen Minuten
schon wird ihn sein Leben verlassen.«

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Er  öffnete  die  Augen.  Die  Kopfbinde  war  ihm  in-

zwischen  abgenommen  worden.  Er  fühlte  sich  wie
von ungeahnten Kräften durchflutet.

Er  erkannte  den  Mann  neben  Mercodian  augen-

blicklich.  Es  mußte  der  Bajarnum  sein  –  aber  er
kannte  ihn  unter  einem  anderen  Namen,  nämlich
Arthur  Hidders.  Der  Pelzhändler,  der  im  gleichen
Schiff  wie  sie  auf  den  Großen  Planeten  gekommen
war. Eine gute Tarnung für einen Despoten des Gro-
ßen Planeten, um Waffen- und Sklavengeschäfte auf
der Erde zu tätigen ...

Neben  Hidders-Lysidder-Bajarnum  stand  Nancy,

kreidebleich, das Gesicht dem Boden zugewandt. Ihm
entging nicht, daß ihre Augen mit Tränen gefüllt wa-
ren.  Glystra  verstand  jetzt  die  Rolle,  die  sie  gespielt
hatte.

»Beeilen Sie sich, Bajarnum, wenn Sie sein Wissen

haben wollen«, drängte Mercodian.

Charley  Lysidder  erhob  seine  Stimme.  »Wie  kann

ich von der Waffenkontrolle des Systems Waffen kau-
fen? Wen muß ich dazu bestechen?«

Glystra  sah  auf  den  Bajarnum  hinab,  dann  auf

Mercodian,  zuletzt  auf  Nancy.  Er  konnte  seine  Ge-
sichtszüge  kaum  beherrschen,  so  lächerlich  erschien
ihm diese Situation.

Der Bajarnum wiederholte seine Frage.
»Versuchen  Sie  es  mit  Alan  Marklow«,  sagte

Glystra, als gäbe er ein großes Geheimnis preis.

Der Bajarnum beugte sich erregt nach vorn. »Mar-

klow?  Der  Vorsitzende  des  Obersten  Kontrollrats?«
Das  Lächeln  auf  seinem  Gesicht  wirkte  teilweise  är-
gerlich,  teilweise  ungläubig.  »Alan  Marklow  also  ist
käuflich?«

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»Ebensogut  wie  jedes  andere  Mitglied  des  Rates«,

erklärte  Glystra.  »Darin  liegt  mein  Rat  begründet.
Wenn  Sie  unbedingt  jemanden  bestechen  wollen,  ist
es doch zweifellos am besten, Sie beginnen gleich bei
der Spitze.«

Der  Bajarnum  starrte  ihn  stumm  an.  Der  General-

Ordinarius verengte seine Augen zu schmalen Schlit-
zen und schnellte von seinem Sitz hoch.

»Wenn  ich  Sie  richtig  verstanden  habe«,  fuhr

Glystra  fort,  »dann  brauchen  Sie  Waffen,  um  Ihr
Reich noch weiter ausdehnen zu können. Ist das rich-
tig?«

»Ja, so könnte man es ungefähr sagen.«
»Was bewegt Sie zu diesen Absichten?«
Mercodian machte eine Bewegung, wollte offenbar

eine Anweisung geben. Statt dessen preßte er jedoch
lediglich  seine  Lippen  zu  einer  schmalen  Linie  zu-
sammen.

»Ich will, daß mein Name für alle Zeiten mit Ruhm

verbunden  sein  wird.  Grosgarth  soll  die  Hauptstadt
der Welt werden, und ich will all meine Feinde ver-
nichten.«

»Das ist ebenso lächerlich wie sinnlos!«
Lysidder  war  sichtlich  unangenehm  berührt  und

wandte  sich  an  Mercodian.  »Sind  das  vielleicht  die
üblichen Antworten?«

»Keineswegs,  Bajarnum.«  Er  konnte  seine  Wut

nicht mehr länger im Zaum halten. »Was für ein Ora-
kel bist du«, fuhr er Glystra an, »daß du Fragen aus-
weichst  und  dich  mit  dem  Fragensteller  herumzu-
streifen  beginnst?  Du  mußt  dir  dessen  bewußt  sein,
daß  dein  eigenes  Ich  durch  die  Droge  der  Weisheit
ausgeschaltet ist. Ich befehle dir, präzise auf die Fra-

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gen des Bajarnum zu antworten. Er will noch viel von
dir wissen, bevor du stirbst, und das wird in wenigen
Minuten sein!«

»Vielleicht  war  meine  Frage  nicht  so  ganz  exakt«,

lenkte  Bajarnum  ein  und  wandte  sich  erneut  an
Glystra.  »Wie  kann  ich  mir  billig  metallene  Waffen
besorgen?«

»Indem Sie der Raumpatrouille beitreten. Dann er-

halten Sie einen Ionenstrahler und ein Taschenmesser
völlig kostenlos.«

Mercodian  japste  nach  Luft,  während  sich  tiefe

Falten  in  die  Stirn  des  Bajarnum  gruben.  Die  Befra-
gung verlief bei weitem nicht so, wie sie es erwartet
hatten. Lysidder versuchte es ein drittes Mal. »Ist es
denkbar,  daß  sich  die  Erd-Zentrale  ernsthaft  in  die
Angelegenheiten  des  Großen  Planeten  einmischen
wird?«

»Das  ist  in  der  Tat  höchst  wahrscheinlich«,  ant-

wortete Glystra, wohl wissend, daß dies der Wahrheit
entsprach. Er überlegte zugleich, daß es für ihn nun
wohl  an  der  Zeit  war,  zu  sterben,  und  sank  auf  sei-
nem Sitz in sich zusammen.

»Das war wenig zufriedenstellend«, gab Mercodian

zu.

Charley  Lysidder  kaute  auf  seinen  Lippen  herum

und  musterte  Glystra  aufmerksam.  Nancy  starrte
ausdruckslos vor sich hin; es gelang Glystra bei aller
Konzentration  nicht,  hinter  ihre  Gedanken  zu  kom-
men.

»Eine  letzte  Frage«,  kündigte  der  Bajarnum  an.

»Wie kann ich mein Leben verlängern?«

Mit  großer  Mühe  nur  gelang  es  Claude  Glystra,

seine  Bewegungen  zu  kontrollieren.  Mit  tonloser

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Stimme  antwortete  er:  »Indem  du  dir  ebenfalls  die
Droge der Weisheit verabreichen läßt.«

Der General-Ordinarius spuckte wütend aus. »Die-

sem Geschöpf ist nicht beizukommen! Wäre er nicht
schon so gut wie tot, würde ich ihn eigenhändig mit
dem Schwert durchbohren.«

Glystra  war  inzwischen  auf  seinem  Sitz  völlig  in

sich  zusammengesunken.  Mercodian  ließ  ihn  fort-
bringen.

»Es  war  ein  bedauernswerter  Fehler,  Bajarnum.

Wenn  Sie  wünschen,  werde  ich  sogleich  ein  zweites
Orakel vorbereiten lassen.«

Der Bajarnum reagierte nicht auf seinen Vorschlag.

»Wenn ich nur wüßte, was er gemeint hat ...«

Glystra  wurde  in  einen  Raum  geschafft,  in  dem  be-
reits  mehrere  Tote  aufgebahrt  lagen.  Er  wartete  ab,
bis die Nachtwache ihre Runde machte, und machte
sich  auf  und  davon.  Er  gelangte  unbemerkt  wieder
aus der Kuppel heraus und kehrte durch Zellos Gar-
ten hindurch zur Basarstraße zurück. Nymaster, sein
Vater und Elton, glaubten kaum ihren Augen, als sie
ihn wiedersahen. Glystra ließ sich ein Bad anrichten
und  erzählte  dann,  wie  er  seine  Rolle  als  Orakel
überlebt hatte – dank einer größeren Menge von Vit-
amintabletten.

»Und  wie  geht  es  jetzt  weiter?«  wollte  Elton

schließlich wissen.

»Und  jetzt  geht  es  Charley  Lysidder  an  den  Kra-

gen«, erklärte Claude Glystra.

Eine  halbe  Stunde  später  schlichen  zwei  schatten-

hafte Gestalten zu dem mit Marmor ausgelegten Platz
hinüber,  auf  dem  Charley  Lysidders  Luftschweber

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gelandet war. An der Kabinentür lehnte eine Gestalt,
die eine rote Jacke anhatte und einen Ionenstrahler an
einem Schulterband trug.

»Wie machen wir's«, wisperte Glystra.
»Erst  müssen  wir  mit  ihm  fertigwerden«,  meinte

Elton. »Fliegen kann ich das Ding.«

»Gut. Ich gehe auf die andere Seite. Du lenkst ihn

irgendwie ab.« Er verschwand in der Dunkelheit.

Elton wartete gute zwei Minuten. Dann trat er vor

und  richtete  seinen  Strahler  auf  die  Wache.  »Keine
Bewegung!«

Der Mann sah ihn herausfordernd an. »Was soll –«

Glystra erschien hinter ihm. Ein dumpfes Geräusch –
die  Wache  sackte  in  sich  zusammen.  Glystra  nahm
den  Ionenstrahler  aus  der  Tasche  am  Schulterband
und winkte Elton. »Auf!«

Die  Oase  vom  Myrtensee  fiel  unter  ihnen  zurück.

Glystra  lachte  befreit  auf.  »Wir  haben  es  geschafft,
Asa! Wir sind frei ...«

Elton  blickte  über  das  weite  Panorama  hinweg.

»Das  glaube  ich  erst,  wenn  wir  in  der  Erdenklave
sind.«

»Erdenklave?« Glystra sah ihn überrascht an.
»Willst du vielleicht lieber nach Grosgarth?«
»Natürlich  nicht.  Aber  denk  mal  nach.  Wir  sind

doch  in  der  besten  Position.  Charley  Lysidder  sitzt
am  Myrtensee  fest.  Sein  Luftschweber  ist  weg,  die
Funkanlage  nicht  mehr  zu  gebrauchen.  Selbst  wenn
er noch einen Luftschweber haben sollte, kann er ihn
nicht herbeirufen.«

»Bleibt ihm die Monobahn«, warf Elton ein. »Die ist

auch nicht langsam. In vier Tagen kann er wieder in
Grosgarth sein.«

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»Genau. Er muß die Monobahn benutzen, und das

ist unsere Chance.«

»Wie  das?  Er  wird  sich  gewiß  nicht  auf  den  Weg

machen, ohne sich bis an die Zähne zu bewaffnen.«

»Daran  kann  es  keine  Zweifel  geben.  Vielleicht

schickt  er  auch  nur  einen  Boten  zurück  nach  Gros-
garth,  um  einen  anderen  Luftschweber  kommen  zu
lassen, sofern er noch einen hat. Wir müssen uns also
erst einmal vergewissern. Ich entsinne mich an einen
Ort,  wo  die  Monobahn  dicht  an  einem  Felsplateau
vorbeiführt. Dort werden wir auf ihn warten.«

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20

Sie  mußten  sich  bis  am  nächsten  Morgen  gedulden.
Ungefähr  zwei  Stunden  nach  Sonnenaufgang  kam
aus der Richtung des Myrtensees ein kleiner, dunkler
Punkt auf sie zu.

»Der Bajarnum kommt«, erklärte Glystra befriedigt.
Der Wagen kam über die Wüste hinweg näher, im

Spiel des Windes hin- und herschwingend. Sie konn-
ten  schließlich  erkennen,  daß  es  eine  langgestreckte
Frachtgondel war.

Mit  summenden  Rädern  rauschte  der  Wagen  an

ihnen vorbei und setzte seine Fahrt in Richtung We-
sten fort. Sie konnten deutlich vier Männer und eine
Frau unterscheiden, während sie selbst sich hinter ei-
nem  Felsvorsprung  so  in  Deckung  hielten,  daß  sie
nicht gesehen werden konnten.

»Das  waren  Lysidder,  drei  seiner  Vasallen  und

Nancy. Und sie wirkten nicht besonders fröhlich.«

»Aber sie hatten ihre Strahler griffbereit. Sie schei-

nen uns zu erwarten.«

»Ich habe mitnichten vor, mich ihnen zu nähern.«
Sie erhoben sich und gingen zum Luftschweber zu-

rück.

»Ich möchte zu gerne mal wissen, was du vorhast«,

murrte Elton. »Wenn du mich fragst, dann treibst du
dieses Superhelden-Spielchen ein wenig zu weit.«

Sie  überflogen  die  weite  Hochfläche,  auf  der  sich

noch vor wenigen Tagen ihre Flucht vor den Rebbirs
abgespielt  hatte.  Sie  schwebten  in  das  Tal  hinunter,
wo  das  Kabel,  von  den  hohen  Felsgraten  herabfal-
lend, auf eine Plattform zulief. Sie landeten unter ei-

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nem der Stützpfeiler der Monobahn.

»Wir werden jetzt mutwillig das oberste Gebot Os-

riks  verletzen,  nämlich  das  Kabel  durchschneiden.
Und  das  sogar  mehrmals.  Zunächst  nehmen  wir  die
Länge zwischen zwei Stützpfeilern heraus.«

Glystra kletterte an einem Stützpfeiler hinauf und

trennte das Kabel der Monobahn durch. Elton machte
es ihm beim nächsten Pfeiler in gleicher Weise nach.

»Gut. Jetzt legen wir dieses Seilstück doppelt und

befestigen es so am Unterbau des Schwebers, daß wir
zwei  freie  Seilenden  bekommen.«  Nachdem  sie  das
erledigt hatten, starteten sie den Schweber erneut und
landeten im Schatten der Plattform, von der aus sich
das  Kabel  zum  Felsgrat  hochschwang.  Glystra  stieg
zur  Plattform  hoch.  »So,  und  jetzt  wird  ein  Seilende
mit ein paar kräftigen Knoten an diesem Kabelstück
befestigt.«

»Mir geht ein Licht auf«, grinste Elton. »Ich fürchte

nur, der Bajarnum wird wenig Freude daran haben.«

»Den  brauchen  wir  ja  nicht  unbedingt  zu  fragen.

Setz dich vorsichtshalber in den Schweber – für den
Fall, daß das Kabelgewicht zu stark durchzieht. Fer-
tig?«

»Fertig.«
Glystra  hatte  mittlerweile  ein  Seilende  des  am

Schweber  befestigten  Seils  mehrfach  mit  dem  ver-
knotet,  das  sich  zwischen  der  Plattform  und  dem
Felsgrat spannte. Das Gewicht dieses Seils hätten sie
aus eigener Kraft niemals halten können.

Glystra  schnitt  das  Kabel  ein  gutes  Stück  vor  sei-

nem  Knoten  durch,  so  daß  das  Kabel  vom  Felsgrat
herab  jetzt  nicht  mehr  zur  Plattform,  sondern  direkt
zum  Luftschweber  führte,  der  jetzt  gewissermaßen

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einen Grundanker der Monobahn hergab.

Glystra  ging  zu  Elton  zurück.  »Sie  dürfen  in  etwa

einer Stunde hier auftauchen. Wenn es der Wind gut
mit ihnen meint, sogar etwas eher.«

»Sie kommen!« Die Zeit war schnell vorübergegan-

gen. Elton sah, wie die Gondel sich über den Felsgrat
hinausschob.

»Jetzt dürfte die schönste Fahrt ihres Lebens begin-

nen«, freute sich Glystra.

Der  kleine  Punkt  kam  rasend  schnell  näher  und

blieb doch noch ein kaum auszumachender Punkt vor
der steil aufragenden Felswand. »Wenn wir jetzt das
Gesicht des Bajarnum sehen könnten ...«

Er drückte den Hebel durch, und der Luftschweber

hob ab, stieg steil empor, bis er die Höhe des Grates
erreicht hatte. Die Frachtgondel unter ihnen rollte in
den  untersten  Teil  der  Schleife  hinab  und  blieb  aus-
weglos  hängen.  Die  Passagiere  darin  waren  kaum
besser als kleine schwarze Punkte auszumachen, aber
es sah aus, als gestikulierten sie heftig.

Glystra dirigierte den Schweber zum Grat hinüber

und setzte ihn an der dortigen Plattform auf.

Er verknotete das zweite freie Seilende des Schwe-

bers  mit  dem  an  der  Plattform  auslaufenden  Kabel,
durchschnitt  dieses  dann  und  hatte  nun  die  Fracht-
gondel  an  einer  langen  Kabelschleife  unter  ihrem
Schweber hängen.

Glystra  blickte  hinab.  »Dort  unten  hängt  er,  der

Bajarnum von Beaujolais. Gefangen wie eine Maus in
der  Falle,  ohne  daß  wir  Hand  an  ihn  zu  legen
brauchten.«

»Sie haben noch immer ihre Waffen«, wandte Elton

ein. »Wo immer wir sie niedersetzen – und sollte es in

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der Erdenklave sein – werden sie auf uns schießen.«

»Das  werden  sie  nicht.  Eine  kleine  erfrischende

Dusche im See wird sowohl Charley Lysidders Tem-
perament abkühlen, als auch die Ionenstrahler durch
Kurzschluß gebrauchsunfähig machen.«

Charley  Lysidder  war  bleich  vor  Wut  und  Enttäu-
schung, als er am Ufer des Sees stand. Die drei edlen
Vasallen  in  seiner  Begleitung  hingegen  vermochten
noch etwas von ihrer Haltung zu bewahren, obwohl
ihnen  das  Wasser  aus  den  Stiefeln  rann.  Nancy
hockte  frierend  am  Strand,  und  ihre  Zähne  klapper-
ten hörbar.

Glystra  warf  ihr  einen  Überwurf  zu.  Den  Ionen-

strahler in der Hand, wandte er sich den anderen zu.
»Ihr  geht  einer  nach  dem  anderen  in  den  Schweber
hinein. Elton wird euch nach Waffen und ähnlich un-
nützem  Zeug  durchsuchen.«  Er  wies  auf  den  Bajar-
num. »Du gehst zuerst.«

Elton brachte bei seinen Untersuchungen drei Dol-

che und die unbrauchbaren Strahler zum Vorschein.
Im  Schweber  bedeuteten  sie  ihren  Gefangenen,  daß
sie sich so weit hinten wie möglich zu halten hatten.

Lysidder faßte wieder Mut. »Dafür werde ich mich

revanchieren.  Und  wenn  ich  noch  hundert  Jahre  le-
ben muß!«

Glystra lachte. »Die Wut macht dich blind. Wenn es

eine  Revanche  gibt,  dann  für  die  hunderttausend
Männer, Frauen und Kinder, die du auf andere Wel-
ten verkauft hast.«

»Das ist eine erfundene Zahl.«
»Ob hundert oder hunderttausend, es ist das glei-

che Verbrechen.«

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Glystra  ließ  sich  neben  Elton  auf  dem  Pilotensitz

nieder.  »Glaubst  du,  daß  du  die  Erdenklave  finden
kannst?«

»Ich hoffe es.« Seine Finger glitten über das Arma-

turenbrett.

Der Schweber hob ab und flog in westlicher Rich-

tung davon.

Lysidder  war  damit  beschäftigt,  die  Feuchtigkeit

aus seiner Tunika zu wringen. Er gewann zusehends
wieder an Haltung. »Ich glaube, du tust mir Unrecht,
Claude Glystra. Ich habe Menschen verkauft, die oh-
nehin  dem  Verderben  preisgegeben  waren,  zumeist
dem  sicheren  Hungertod.  Das  ist  nicht  rechtens,  zu-
gegeben. Aber mußten nicht auch auf der Erde Tau-
sende um der Befreiung willen sterben?«

»Soll heißen, es war Ihre Absicht, den Großen Pla-

neten zu befreien?«

»Richtig.«
»Aber warum?«
Der Bajarnum sah ihn an. »Aber das ist doch keine

Frage.  Würde  dann  nicht  Ruhe  und  Frieden  herr-
schen?«

»Nein, und das müßtest du selbst wissen. Der Gro-

ße  Planet  kann  nicht  durch  Eroberungen  vereinigt
werden. Schon gar nicht von einer Armee auf Zipan-
goten und zu deinen Lebzeiten. Daß du dich für Ge-
setz  und  Ordnung  einsetzen  würdest,  ist  abgesehen
davon  ohnehin  nicht  anzunehmen.  Deine  Armee  ist
in  Wale  und  Glaythree  eingefallen  und  hält  diese
Länder besetzt. Zur gleichen Zeit aber rauben die Zi-
geuner  und  Rebbirs,  wie  sie  nur  können,  und  nie-
mand hindert sie daran.«

Nancy sah den Bajarnum zweifelnd an.

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»Deine  Eroberungen«,  fuhr  Glystra  fort,  »dienten

lediglich  deinem  Egoismus  und  deiner  persönlichen
Eitelkeit.  Du  bist  keinen  Deut  besser  als  Atman  der
Gnadenlose, nur mit dem Unterschied, daß du etwas
vornehmere Kleider trägst.«

»Das ist alles nichts als leeres Gerede«, zischte Ly-

sidder.  »Die  Kommissionen  von  der  Erde  kommen
und gehen. Der Große Planet verschlingt sie alle. So
ist es seit vielen Generationen. Und noch immer wird
geredet.«

»Diese  Kommission  ist  anders«,  gab  Glystra  grin-

send zu verstehen. »Oder sagen wir besser, was noch
von ihr übrig ist. Ich habe mir umfassende Machtbe-
fugnisse  bestätigen  lassen,  bevor  ich  diese  Position
angenommen habe. Ich empfehle nicht – ich befehle.«

»Angenommen, das trifft zu. Was würdest du un-

ternehmen?«

Glystra zuckte mit den Schultern. »Ich habe Ideen,

aber noch kein Programm. Eines aber ist gewiß: Mord
und Sklaverei werden ein Ende haben.«

Der  Bajarnum  stieß  ein  höhnisches  Lachen  aus.

»Du wirst also waffenstarrende Kampfschiffe von der
Erde  kommen  lassen,  um  die  Zigeuner,  die  Rebbirs,
die Nomaden und all die anderen Steppenbewohner
auszurotten  –  also  all  die  wandernden  Stämme  des
Großen Planeten. Und das alles, um ein von der Erde
kontrolliertes Reich aufzubauen anstelle des Reiches
von Beaujolais, das ich errichten wollte.«

»Du  hast  das  wesentliche  offenbar  nicht  verstan-

den«,

 

entgegnete

 

Glystra.

 

»Der

 

Große

 

Planet

 

kann

 

nie-

mals zwangsweise geeint werden – ebensogut könnte
man  Enten,  Katzen,  Affen,  Fische  und  Elefanten  zu
einem  Staat  zusammenfassen.  Vermutlich  werden

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tausend  oder  mehr  Jahre  vergehen,  bevor  eine  ein-
heitliche  Regierung  des  Großen  Planeten  denkbar
wird.  Ein  von  der  Erde  beherrschter  Großer  Planet
wäre  bei  weitem  zu  kostspielig  und  würde  vermut-
lich der Macht der Willkür anheimfallen – nicht we-
niger schlimm wie derzeit das Reich von Beaujolais.«

»Was also willst du unternehmen?«
Glystra  zuckte  erneut  mit  den  Schultern.  »Regio-

nale  Organisationen,  unterstützt  durch  örtliche  Gar-
deeinheiten.«

»Also  das  ganze  überlebte  System  der  Erde!«  Der

Bajarnum rümpfte beleidigt die Nase. »In spätestens
fünf  Jahren,  sind  deine  regionalen  Befehlshaber  zu
Tyrannen  geworden,  schlimmer  als  alle  vorherge-
henden Herrscher. Die regionalen Richter werden be-
stechlich sein und die für die Politik verantwortlichen
Leute werden nach eigenem Gutdünken Gebiete un-
terwerfen.«

»Das  alles  liegt  durchaus  im  Bereich  des  Mögli-

chen, aber es wird einer Kontrolle unterliegen.«

Eine Zeit verstrich. »Was hast du eigentlich mit uns

vor?« erkundigte sich Lysidder.

Glystra  sah  durch  die  Sichtscheibe  hinaus.  »Das

wirst du in zwei Stunden erfahren.«

Sie flogen über einen See hinweg, über graue Wü-

stenstriche und Bergketten. Die Landschaft unter ih-
nen  wechselte  in  rascher  Folge.  Als  sie  über  einem
gewellten Gebiet schwebten, in dem zahlreiche Wein-
felder angelegt waren, wandte sich Glystra an Elton.
»Ich schätze, das ist weit genug. Hier machen wir ei-
ne kurze Zwischenlandung.«

In  Lysidders  Gesicht  begann  es  zu  arbeiten.  »Was

hast du vor?«

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»Ach,  nichts  weiter.  Ich  habe  mich  entschlossen,

euch laufen zu lassen. Du kannst ja versuchen, nach
Grosgarth zurückzukehren, aber ich glaube nicht, daß
du es schaffst. Du wirst also hierbleiben und für dei-
nen Lebensunterhalt arbeiten müssen, wie ich es sehe
–  und  das  ist  wohl  die  schrecklichste  Strafe  für  den
Bajarnum  von  Beaujolais,  die  man  sich  überhaupt
ausdenken könnte.«

Sie setzten Lysidder und seine drei Vasallen ab und

flogen  sogleich  weiter.  Die  Gestalten  unter  ihnen
wurden  rasch  kleiner:  Harlekine  in  prunkvollen  Ge-
wändern, die steif und bewegungslos dem abheben-
den Luftschweber nachstarrten. Endlich verlor Char-
ley Lysidder seine Selbstbeherrschung und schüttelte
eine drohend geballte Faust hinter ihnen her.

Glystra  grinste.  »Der  Bajarnum  von  Beaujolais  ge-

hört der Vergangenheit an.«

Die  Landschaft  des  Großen  Planeten  schwand

langsam  im  Dämmerlicht  des  späten  Nachmittags
dahin. Glystra vermochte die schweigende Gestalt im
rückwärtigen  Teil  des  Schwebers  nicht  mehr  weiter
zu  ignorieren.  Er  ging  nach  hinten  und  ließ  sich  ne-
ben ihr nieder.

»Ich möchte gern annehmen«, begann er, »daß du

nichts  als  ein  willenloses  Werkzeug  des  Bajarnum
gewesen bist, und ich werde dafür sorgen –«

Sie unterbrach ihn leise, aber leidenschaftlich. »Ich

werde  dich  nie  davon  überzeugen  können,  daß  wir
im Grunde für das gleiche Ziel gearbeitet haben.«

Glystra  dachte  an  den  langen  Marsch  zurück  und

an  seine  toten  Begleiter.  Sie  hatte  sich  mitschuldig
gemacht durch die Rolle, die sie spielte.

»Ich weiß, wo deine Gedanken jetzt sind«, sagte sie.

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»Aber hör mich erst einmal an. Und dann setze mich
mitten im Ozean aus, wenn du willst.«

Er nickte stumm.
»Die Zigeuner haben mein Zuhause verbrannt und

alles,  was  sich  darin  befand«,  setzte  sie  mit  tonloser
Stimme an. »Es war, wie ich es dir bereits erzählt ha-
be. Ich bin nach Grosgarth gegangen; Charley Lysid-
der  hat  mich  während  des  Mittsommernachtfestes
entdeckt.  Er  verkündete  den  Krieg  gegen  die  ganze
Welt, und ich dachte, daß das die einzige Chance des
Friedens  für  den  Großen  Planeten  wäre.  Er  nahm
mich in seine Dienste, und warum hätte ich mich da-
gegen  sträuben  sollen?  Er  nahm  mich  auch  mit  zur
Erde, und auf dem Rückweg erfuhren wir von euren
Plänen. Offensichtlich ging es euch einzig allein dar-
um,  Charley  Lysidder  zu  verfolgen  und  von  seinen
Plänen abzuhalten. Ich trug große Bitternis gegen die
Erde  und  all  ihre  Bewohner  in  mir.  Sie  lebten  in  Si-
cherheit  und  Wohlstand,  während  auf  dem  Großen
Planeten die Urenkel einstiger Erdbewohner gequält
und getötet wurden. Warum kamen sie uns nicht zu
Hilfe?«

»Ich verstehe«, sagte Glystra. »Aber warum hast du

während  des  Marsches  nichts  gegen  mich  unter-
nommen? Du hättest tausendfache Möglichkeiten da-
zu gehabt.«

»Ich  begann  dich  zu  lieben  und  mußte  dich  doch

bekämpfen.  Es  gelang  mir  beides  nicht.  Es  ist  mir
schwer genug geworden, mit dem Wissen um all die-
se Dinge täglich mit dir zusammen zu sein. Lysidder
nahm später natürlich an, ich hätte euch bewußt zum
Myrtensee geführt, um euch dort gefangennehmen zu
lassen.«

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»Wie war das, als sie Bishop umbrachten?«
»Damit hatte ich nichts zu tun. Ich bin in Richtung

auf  die  Tempelkuppel  gegangen,  und  er  folgte  mir,
wurde von den Männern Mercodians ergriffen.«

»Und Pianza?«
Sie schüttelte müde den Kopf. »Die Händler hatten

Pianza  bereits  umgebracht.  Ich  konnte  sie  nur  noch
davon  abhalten,  euch  alle  zu  töten.  Ich  habe  ihnen
aber  gestattet,  die  Gondeln  mitzunehmen,  weil  ich
damit erreichen wollte, daß du nach Kirstendale zu-
rückkehrst, wo wir glücklich und unbehelligt hätten
leben  können.«  Sie  sah  ihn  an  und  senkte  dann  den
Blick.  »Ich  kann  es  dir  nicht  verdenken.  Du  glaubst
mir kein Wort.«

»Im  Gegenteil,  ich  glaube  dir  alles.  Ich  wünschte

nur, ich hätte deinen Mut.«

»Ihr beide macht mir immer mehr Spaß!« rief Elton

von vorne. »Gebt euch doch endlich einen Kuß, und
die Sache ist erledigt.«

Glystra  und  Nancy  saßen  noch  eine  Zeitlang

schweigend zusammen. »Wir haben viele unverrich-
tete Dinge hinter uns zurückgelassen«, sagte Glystra
schließlich.  »Auf  dem  Rückweg  werden  wir  eine
kleine Zwischenlandung in Kirstendale einlegen und
die  Dienste  von  Sir  Roger  Fayne  in  Anspruch  neh-
men,  der  uns  in  einer  schönen  und  großen  Kutsche
durch die Stadt ziehen wird.«

»Da bin ich mit dabei!« lachte Elton. »Und ich wer-

de eine lange Peitsche mitnehmen.«


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