background image

 

background image

 

SIR GAWAIN UND 

DER GRÜNE RITTER 

 
 

 

Aus dem 

Mittelenglischen 

übersetzt von 

Hans J. Schütz 

 
 

Mit dem Essay 

»Sir Gawain und der 

Grüne Ritter« von 

J. R. R. TOLKIEN 

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Klett-Cotta 

background image

 

 

Die Übersetzung von 

»Sir Gawain und der Grüne Ritter« 

von Hans J. Schütz folgt der 1967 von 

N. Davis veranstalteten mittelenglischen Ausgabe. 

Der Essay »Sir Gawain und der Grüne Ritter« 

von J. R. R. Tolkien in der Übersetzung von 

Wolfgang Krege ist dem Band J. R. R. Tolkien, 

»Die Ungeheuer und ihre Kritiker. Gesammelte Aufsätze« 

entnommen. 

 
 

 

 
 

Für die deutsche Ausgabe © J. G. Cotta’sche Buchhandlung 

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart 2004 

Fotomechanische Wiedergabe nur mit 

Genehmigung des Verlags 

Printed in Germany 

Schutzumschlag: Dietrich Ebert, Reutlingen 

ISBN 3-608-93263-1 

background image

 

 
 
 

 
Als „eines der Meisterwerke der englischen 
Dichtung im 14. Jahrhundert und der englischen 
Literatur insgesamt“ rühmt Tolkien in seinem 
kenntnisreichen Essay das um 1370 entstandene 
Werk eines unbekannten Autors, eines 
Zeitgenossen Chaucers, das hier in einer 
ausgesprochen „leserfreundlichen“ 
Prosanachdichtung vorliegt. Sie erzählt ein 
gefährliches Abenteuer, das Gawain, ein Ritter aus 
König Artus’ Tafelrunde, gegen einen 
unheimlichen Herausforderer zu bestehen hat und 
das ihm zugleich eine moralische Prüfung 
auferlegt. Ausführliche Schilderungen prächtiger 
Hofgesellschaften und dramatischer Jagdszenen 
machen einen Hauptreiz des in poetischer Sprache 
farbig und anschaulich erzählten Epos aus, das 
keineswegs nur literaturgeschichtlichen Rang 
besitzt, sondern auch dem fantasygeschulten Leser 
als lebendiges Zeugnis mittelalterlicher Dichtung 
empfohlen wird. 

background image

 

 
 
 

SIR GAWAIN UND DER GRÜNE RITTER 

background image

 

I. 

 
 
 

Nachdem die Belagerung vorüber und Troja 
eingenommen, die Festung von Flammen verzehrt und zu 

Asche geworden war, wurde der Übeltäter, der dort Verrat 
begangen hatte, für seine Niedertracht, die größte, die je verübt 
wurde, bestraft. Es war der edle Aeneas, und seine berühmten 
Nachkommen unterwarfen später Länder und besaßen fast alle 
Reichtümer der westlichen Länder. 

Nachdem der edle Romulus nach Rom gekommen war, 

besiedelte er den Ort sogleich mit großem Prunk und Stolz und 
gab der Stadt seinen Namen, den sie noch heute trägt; Tirius 
zog in die Toskana und gründete Städte, in der Lombardei ließ 
Langbart Paläste bauen, und fern, jenseits des Frankenmeers, 
schuf Felix Brutus auf weiten Wiesen und Hügeln das Reich 
Britannien, wo in der Folgezeit wunderbare Dinge geschahen, 
Krieg und Leid, Freude und Schmerz sich oft rasch 
abwechselten. 
 
 

Als das schöne Britannien von diesem berühmten  Mann 
gegründet war, wuchsen dort kühne Recken heran, die 

den Kampf liebten und früher oft großes Unheil anrichteten. 

In diesem Reich gab es mehr Wunder zu bestaunen als in 

irgendeinem andren Land, das ich kenne. Doch von allen 
Königen, die in Britannien herrschten, wurde Artus, wie ich 
hörte, am meisten verehrt. 

Darum will ich von einem sonderbaren Ereignis erzählen, 

einem der tollsten Abenteuer unter den Wundern Artus’. Allen, 

1. 

2. 

background image

die dieser Geschichte geduldig zuhören wollen, will ich sie 
erzählen, so wie ich sie vernommen habe, denn sie ist, wie man 
es früher in diesem Land liebte, in kunstvollen Worten 
aufgehoben und festgehalten und berichtet von Mut und 
Tapferkeit. 
 
 

Dieser König hielt hof in Camelot zur Weihnachtszeit 
mit vielen edlen Recken, den edelsten Rittern der 

Tafelrunde, kampferprobt sie alle, voller Frohsinn und 
unbeschwerter Heiterkeit. Diese tapferen Herren tjostierten 
viele Male, und dann kamen sie an den Hof, um zu singen und 
zu tanzen. Das Fest dort dauerte nämlich volle vierzehn Tage 
mit allen Gaumenkitzeln und Lustbarkeiten, die man sich 
denken kann, und der Freudenlärm war prächtig anzuhören, am 
Tag von muntren Reden und bei Nacht von der Tanzmusik. 
Alles war eitel Freude in den Sälen und Gemächern bei den 
Damen und Herren, ganz wie es ihnen am meisten gefiel. Im 
Glück dieser Welt weilten sie zusammen, die berühmtesten 
Kämpen, die sich Christus geweiht hatten, und die schönsten 
Frauen, welche die Erde je erblickte, zusammen mit dem 
strahlendsten König, dem dieser Hof zu eigen war. Alle waren 
sie, die dort weilten, in ihrer Jugendblüte, die prächtigste Schar 
unter der Sonne und ihr König so reich an Ruhm, daß es 
schwer wäre, auf Erden eine ebenbürtige Runde zu nennen. 
 
 

Als das neue Jahr just angebrochen und noch jung war, 
wurde der Gesellschaft doppelt soviel wie sonst 

aufgetragen. Nachdem der König und seine Getreuen die Halle 
betreten hatten und die Chorgesänge in der Kapelle beendet 
waren, erschallten wieder und wieder die lauten 
Weihnachtsgrüße der Kleriker und Herren. Und alle holten 

3. 

4. 

background image

eilig die Geschenke herbei, riefen sie aus, überreichten sie und 
ließen sie erraten. Die Damen lachten laut, auch wenn sie 
verloren hatten, und wenn sie einen Kuß gewonnen hatten, 
waren sie mitnichten traurig darüber, das mögt ihr glauben. So 
waren alle fröhlich, bis das Mahl aufgetragen wurde. Als sie 
sich, wie es Brauch war, die Hände gewaschen, nahmen sie 
ihre Plätze ein je nach dem Rang, der ihnen zukam. Die schöne 
Königin Ginevra thronte in der Mitte auf einem prächtigen, 
ringsum geschmückten Podest mit feinen Vorhängen aus 
Seide, einem Baldachin aus Toulouser Tuch, reichlichem 
Besatz aus Tharsis und mit den kostbarsten Edelsteinen 
verziert, die man überhaupt erhandeln konnte. Alle Blicke 
richteten sich auf sie, denn ihre Schönheit überstrahlte alles, 
und niemand könnte ernstlich behaupten, je eine schönere Frau 
gesehen zu haben. 
 
 

Doch Artus wollte nicht speisen, bis allen aufgetragen 
war. Er freute sich seiner Jugend, ausgelassen wie ein 

Knabe genoß er das Leben und liebte es nicht, lange zu liegen 
oder auf einem Fleck zu sitzen, angestachelt von seinem 
jungen Blut und seinem leichten Sinn. Und noch etwas anderes 
bewog ihn, etwas, dem er mit Stolz zugetan war: Er wollte an 
einem festlichen Tag, wie dieser einer war, erst dann speisen, 
wenn ihm eine sonderbare Geschichte, ein aufregendes 
Abenteuer berichtet wurde oder ein wunderliches Ereignis, an 
das er glauben konnte, von Fürsten, ritterlichen Taten oder 
anderen Abenteuern; und noch lieber war ihm, wenn ihm 
jemand einen aufrechten Ritter nennen konnte, der mit ihm 
tjostieren und bereit sein würde, sein Leben gegen das 
königliche aufs Spiel zu setzen, in einem Zweikampf, dessen 
Ausgang Fortuna bestimmte. Das war des Königs Gewohnheit, 
wenn er bei einem prächtigen Fest mit seiner edlen Schar in 

5. 

background image

der Halle weilte. So steht er da, kraftvoll und groß, ein Bild der 
Jugend im neuen Jahr, voller Leben und Überschwang. 
 
 

So steht er da, der stattliche König und plaudert mit der 
Tafelrunde am erhöhten Tisch gewandt über dies und 

das. Der tapfere Gawain saß zur einen, Agrawain mit der 
harten Hand zur anderen Seite Ginevras, beide Schwestersöhne 
des Königs und bewährte Ritter. Bischof Balduin saß am Kopf 
der Tafel und bei ihm Uwain, der Sohn Uriens. Sie alle saßen 
auf erhöhten Plätzen und wurden geziemend bedient, und viele 
weitere Recken saßen an den Nebentischen. Dann wurde der 
erste Gang aufgetragen unter dem Schmettern der Trompeten, 
die mit vielen bunten Fähnchen geschmückt waren; dann 
dröhnten die Kesselpauken, die Flöten, und die Musik war so 
kraftvoll und mitreißend, daß die Herzen schneller schlugen. 
Dann wurde ein Festmahl serviert, Gebratenes in so vielen 
Schüsseln, daß vor den Gästen für die Silbergefäße auf dem 
weißen Tafeltuch kaum noch Platz blieb. Jeder griff nach 
Herzenslust zu, und niemand neidete dem Nebenmanne etwas, 
denn je zwei hatten zwölf Schüsseln und dazu gutes Bier und 
Weißwein. 
 
 

Von den Speisen will ich weiter nichts sagen, denn es 
versteht sich, daß es an nichts fehlte. Plötzlich ertönte 

eine Fanfare, für den König ein Zeichen, mit dem Mahl zu 
beginnen. Doch war die Musik kaum verstummt und der erste 
Gang, wie es Brauch war, aufgetragen, als ein erschreckender 
Ritter zur Tür hereinstürzte, über die Maßen groß, vom Hals 
bis zur Taille so breit und massig, die Lenden und Glieder so 
lang und kräftig, daß ich ihn einen Halbriesen nennen möchte; 
jedenfalls läßt sich sagen, daß er der größte Mann war, den ich 

6. 

7. 

background image

je auf einem Pferderücken sah, doch auch der anmutigste. Sein 
Rücken und die Brust waren zwar breit, sein Leib und seine 
Lenden jedoch fein und schmal und der ganze Körper 
wohlbemessen. Doch den Zuschauern raubte seine Färbung 
den Atem: Gesicht und Leib waren grün, als wäre er ein Teufel 
oder Elb. 
 
 

Auch die Kleider des Ritters waren vollständig grün: eine 
enge Jacke, die den Leib umspannte, darüber ein 

kostbarer Mantel, mit feinem Pelzwerk gefüttert und mit 
grauem Hermelin besetzt, und ebenfalls die Kapuze, die 
zurückgestreift war von den Haaren, die auf seine Schultern 
fielen; dazu eng anliegende Strümpfe, ebenfalls grün, und die 
glitzernden Sporen aus Gold mit den feinsten gestreiften 
Seidenborten, die Füße ohne Schuhe in den Steigbügeln; 
wahrhaftig, all seine Kleider waren leuchtend grün, die 
Spangen an seinem Gürtel, sein Gewand, Sattel und die 
seidenbestickte Schabracke war verschwenderisch mit 
Edelsteinen verziert  – es wäre zu mühevoll, wollte ich auch 
nur die Hälfte der Muster beschreiben, mit denen alles bestickt 
war –, Vögel und Schmetterlinge, leuchtend grün und mit Gold 
durchwirkt. Die Flanken des Brustpanzers, der prachtvolle 
Schwanzriemen, das Zaumzeug, jedes Stück Metall war 
emaillegrün, die Steigbügel, die Sattelbögen, die Zierfransen 
blitzten und funkelten von grünen Edelsteinen. 

Das Pferd, das er ritt, paßte haargenau zu ihm. Es war ein 

grüner Hengst, sage ich euch, groß und massig, der ungebärdig 
am bestickten Zügel zerrte, seinem Herrn jedoch aufs Wort 
gehorchte. 

 
 

8. 

background image

Dieser Mann war in leuchtendes Grün gekleidet, und 
auch seine Haare waren grün wie das Fell seines Pferdes: 

in schönen Locken wallte es über seine Schultern, ein großer, 
buschiger Bart hing über die Brust, wie das Kopfhaar ringsum 
bis zur Höhe der Ellenbogen gestutzt, daß die Arme davon 
halb verdeckt waren, als trüge der Ritter die  Tunika eines 
Königs, die seinen Hals umschloß. Die Mähne des prächtigen 
Pferdes war ähnlich gelockt und gekämmt, mit vielen Knoten, 
in die Goldfäden geflochten waren, abwechselnd eine 
Haarsträhne und ein Faden. Der Schwanz und die Stirnlocke 
waren auf dieselbe Weise mit einem leuchtend grünen Band 
durchwirkt, von oben bis unten mit kostbaren Edelsteinen 
verziert und oben in einem kunstvollen Knoten mit einer 
Schnur zusammengebunden, an der viele kleine goldene 
Glöckchen baumelten. Fürwahr, ein solches Pferd und einen 
solchen Reiter hatte man in dieser Halle noch nie zuvor zu 
Gesicht bekommen. Seine Augen hätten Blitze geschossen, 
sagte jeder, der ihn sah, und kein Sterblicher schien ihm 
gewachsen zu sein. 
 
 

Und doch trug er weder Helm noch Harnisch, weder 
einen Schutz an der Brust noch an den Armen, weder 

einen Speer noch einen Schild, weder Lanze noch Schwert, 
sondern hielt in der Hand den Zweig einer Stechpalme, die in 
den entlaubten Wäldern am grünsten ist – in der anderen eine 
riesige, unförmige Axt, so schrecklich, daß sie kaum zu 
beschreiben ist: Der Kopf der Axt war eine Elle lang, das Blatt 
aus Stahl, mit Gold verziert, die Schneide mit glänzend breiter 
Kante und fein geschliffen wie ein Rasiermesser; der Schaft 
war aus zähem Holz und zur Gänze mit grünen eisernen 
Intarsien  geschmückt. Um die Axt zog sich ein Riemen, am 
Axtkopf befestigt und mehrmals um den Stiel gewunden, 

9. 

10. 

background image

versehen mit vielen feinen Quasten, die an strahlend grünen 
Spangen hingen. 

Das war der Mann, der jetzt zu ihnen kam, in die Halle  trat 

und auf das Podest  zuschritt: Er fürchtete keine Gefahr; er 
grüßte niemanden, gönnte keinem einen Blick und sprach: 
»Wer ist der Führer dieser Versammlung? Ich würde ihn gern 
sehen und persönlich mit ihm sprechen.« 

Er ließ den Blick über die Recken schweifen, hin und her, um 

auszumachen, wer von ihnen der an Ruhm reichste sein 
mochte. 
 
 

Lange starrten sie diesen Recken an, denn alle hätten 
gern gewußt, was es zu bedeuten hatte, daß ein Ritter 

und sein Pferd eine Farbe hatten, so grün wie sprießendes 
Gras, ja grüner noch,  wie ihnen schien, und leuchtender noch 
als grünes Email auf Gold. Alle musterten neugierig ihren Gast 
und fragten sich, was wohl seine Absicht sei. Hatten sie doch 
schon vorher wundersame Dinge gesehen, nie aber so etwas; 
also glaubten sie einen Zauberspuk oder eine Gestalt der 
Magie vor sich zu sehen. Darum fürchtete mancher berühmte 
Ritter eine Antwort, und alle waren verblüfft über seine 
Stimme und verharrten wie gebannt und versteinert in der 
prunkvollen Halle; ihre Gespräche verstummten, als hätte 
tiefer Schlaf sie überwältigt. 

Das geschah wohl weniger aus Furcht, sondern auch aus 

Höflichkeit, den Recken zu Wort kommen zu lassen. 
 
 

Da nimmt sich Artus dieses wundersamen Mannes an 
und begrüßt ihn freundlich ohne Furcht, die ihm 

fremd war, und er sagte: »Herr, seid willkommen an diesem 
Hof! 

11. 

12. 

background image

Ich bin das Oberhaupt in dieser Burg, und mein Name ist 

Artus. Tut mir die Liebe und sitzt ab und laßt Euch nieder, ich 
bitte Euch, und wenn Ihr irgendeinen Wunsch habt, so wollen 
wir ihn anhören.« 

»Nein«, erwiderte der Ritter, »so wahr mir Gott im Himmel 

beistehen möge, meine Absicht war nicht, an diesem Hof lange 
zu verweilen; vielmehr haben mich Euer Ruf, Fürst, 
hergeführt, Eure Burg und Eure Kämpen, die man für die 
besten hält, für die stärksten zu Pferde und im Harnisch, für die 
tapfersten und mutigsten im Erdenrund; und bereit zum 
männlichen Wettstreit. Hier herrsche, habe ich sagen hören, 
Ritterlichkeit, und dieser Ruf hat mich heute hergeführt. Dieser 
Zweig, den ich trage, soll zeigen, daß ich in friedlicher Absicht 
komme und keinen Streit suche. Dann nämlich hätte ich mich 
gerüstet mit Panzer und Helm, einem Schild, einem scharfen, 
blitzenden Speer und anderen Waffen, die ich daheim habe und 
wohl zu gebrauchen weiß. Da es mich aber nicht nach Kampf 
gelüstet, sind meine Kleider aus weicherem Stoff. Falls Ihr 
jedoch so kühn seid, wie alle Welt erzählt, werdet Ihr mir 
gütigst das Spiel erlauben, das ich zu Recht erbitte.« 

Artus erwiderte: »Edler Herr und Ritter, wenn Ihr unbedingt 

auf Streit aus seid, wird es Euch hier an nichts zum Kämpfen 
fehlen.« 
 
 

»Nein, ich will keinen Kampf, bei meinem Wort! Hier 
an dieser Tafel umgeben mich doch bloß bartlose 

Kinder. Säße ich gerüstet zu Pferde, käme keiner mir gleich, 
Schwächlinge, die sie sind. Darum wünsche ich mir an diesem 
Hof ein Weihnachtsspiel, weil Jul- und Neujahrszeit ist und 
viele junge Männer anwesend sind. Wenn sich in diesem Haus 
jemand für so mutig hält, wenn er so tollkühnen Mutes oder so 
verrückt ist, mir mit voller Kraft einen Schlag zu versetzen, 

13. 

background image

vorausgesetzt, er ist bereit, einen Gegenschlag zu empfangen, 
werde ich ihm dazu diese prächtige Streitaxt überlassen, diese 
schwere Waffe, die er nach Gutdünken benutzen mag; und ich 
werde den ersten Schlag, so wie ich sitze, empfangen. Wenn 
ein Ritter so verwegen ist, auszuprobieren, was ich vorschlage, 
so möge er rasch zu mir kommen und diese Waffe ergreifen – 
ich übergebe sie ihm für alle Zeit, und er möge sie als sein 
Eigentum behalten  –, und ich will in dieser Halle ohne zu 
zucken einen Hieb von ihm entgegennehmen, vorausgesetzt, 
man gewährt mir das Recht, ihm meinerseits einen Schlag zu 
versetzen! Jedoch räume ich ihm eine Frist von zwölf Monaten 
und einem Tag ein. Wohlan, säumt nicht und laßt mich sehen, 
ob jemand zu antworten wagt.« 
 
 

Zwar hatte er sie von Anfang an in Erstaunen versetzt, 
doch jetzt wurden alle in der Halle, ob von hohem 

oder niederem Rang, noch stiller. Der Mann auf dem Pferd 
drehte sich im Sattel herum, rollte wild mit den roten Augen, 
zog seine buschigen, leuchtend grünen Brauen und strich sich 
den Bart, als warte er auf eine Antwort. 

Als niemand das Wort an ihn richtete, räusperte er sich laut, 

reckte sich stolz in die Höhe und rief unverblümt: »Wie? Dies 
soll König Artus’ Hof sein, von dessen Ruhm man in 
ungezählten Ländern spricht? Wo sind der hohe  Mut, die 
gewaltigen Heldentaten, die Kampfeslust und Grimmigkeit 
und die Prahlerein? Nun sind Prunk und Ruhm der Tafelrunde 
durch das Wort eines einzigen Mannes überwältigt, denn alle 
erblassen vor Angst, bevor noch der Schlag geführt ist!« 

Und damit lachte er so laut, daß es den König erzürnte und 

das Blut ihm vor Scham ins helle Gesicht und in die Wangen 
schoß. Zorn kam wie ein Sturm über ihn, wie über alle, die in 

14. 

background image

der Halle waren. Dann trat er auf den verwegenen Ritter zu, 
ganz ein König von der furchtlosen Art. 
 
 

Artus sagte: »Fürwahr, guter Mann, töricht ist Euer 
Verlangen, und weil Ihr Unsinniges verlangt habt, 

sollt Ihr es auch finden. Ich kenne an diesem Hof keinen Ritter, 
den Eure großen Worte in Furcht versetzen. In Gottes Namen 
gebt mir Eure Streitaxt, und ich werde Euch die Gunst 
erweisen, um die Ihr bittet.« 

Rasch trat er auf ihn zu und entwand die Axt seiner Hand. 
Da sprang der kraftvolle Mann hochmütig von seinem Pferd. 
Artus hält die Axt, umgreift sie am Schaft und schwingt sie 

drohend hin und her, als bemesse er seinen Schlag. Der kühne 
Mann stand vor ihm in seiner ganzen Größe, mehr als einen 
Kopf größer als alle anderen in der Halle. Mit ernster Miene 
stand er da, strich sich mit unbewegtem Gesicht den Bart und 
warf seinen Mantel ab, durch die Aussicht auf die kraftvollen 
Schläge weder eingeschüchtert noch entsetzt, wie jemand, dem 
man an der Tafel einen Pokal mit Wein gebracht hat. Gawain, 
der neben der Königin saß, verbeugte sich vor dem König: 
»Ich bitte Euch ohne Umschweife, mir diesen Kampf zu 
überlassen!« 

 
 

»Wenn Ihr mir, würdiger König, erlauben würdet, 
meinen Platz zu räumen und zu Euch zu kommen, 

damit ich, ohne unhöflich zu sein, die Tafel verlassen kann, 
und ohne daß meine Lehnsherrin es mir verübelt, denn ich 
möchte Euch vor dieser edlen Versammlung einen Rat geben. 
Ich finde es fürwahr unziemlich, daß Ihr, mag es Euch auch 
reizen, da in Eurer Halle eine Forderung auf so hochmütige 
Weise gestellt wird, diese selber annehmen wollt, wo doch so 

15. 

16. 

background image

viele kühne Streiter um Euch versammelt sind, wie man sie, 
wie ich meine, im Kampf auf dem Schlachtfeld nicht ein 
zweites Mal findet. Ich bin, das weiß ich, hier der Schwächste 
und kaum reich an Geist, und mein Leben, wenn ich das frank 
und frei sagen darf, wäre wahrlich der geringste Verlust. Zur 
Ehre gereicht mir nur, daß Ihr mein Onkel seid; daß Euer Blut 
in meinen Adern fließt, ist meine einzige Tugend, von der ich 
weiß. Und weil diese Sache so unsinnig ist, daß sie Euch nicht 
ansteht und ich Euch als erster darum gebeten habe, so 
überlaßt sie mir. Und sollte ich unehrenhaft sprechen, soll 
niemand diesen würdigen Hof bekritteln.« 

Da traten die Ritter zusammen, um zu beraten, und hießen 

alle den Plan gut, ihrem gekrönten König von diesem Kampf 
abzuraten und ihn Gawain zu überlassen. 
 
 

Da befahl der König dem Ritter aufzustehen; und 
dieser erhob sich sogleich, trat vor ihn und kniete 

nach höfischem Brauch demütig vor dem König nieder und 
nahm die Waffe entgegen. 

Artus hob die Hand, gab ihm Gottes Segen und schärfte ihm 

ein, ein kühnes Herz und eine feste Hand zu bewahren. »Denkt 
daran, Neffe«, sagte er, »daß Euch nur ein einziger Schlag 
bleibt, und wenn Ihr ihn damit in die Schranken gewiesen habt, 
bin ich sicher, daß Ihr den Hieb, den er Euch später versetzen 
wird, überstehen werdet.« 

Die Streitaxt in der Hand geht Gawain auf den Ritter zu und 

erwartet ihn furchtlos und ohne zu erbleichen. 

Da sagt der Grüne Ritter zu Gawain: »Wir wollen den Pakt, 

den wir geschlossen haben, noch einmal wiederholen, ehe wir 
fortfahren. Zuerst möchte ich Euren Namen wissen, Herr 
Ritter; nennt ihn mir aufrichtig und so, daß ich auf Euer Wort 
bauen kann.« 

17. 

background image

»Auf Treue und Glauben«, erwidert der treffliche Ritter. »Ich 

heiße Gawain und werde Euch diesen Schlag, was immer 
darauf folgen mag, heute versetzen und in einem Jahr einen 
anderen von Eurer Hand empfangen, welche Waffe Ihr auch 
benutzen mögt und ohne Hilfe eines Dritten.« 

Der andere Mann antwortete: »Ich bin überaus froh darüber, 

bei meinem Leben, daß Ihr diesen Schlag ausführen wollt.« 
 
 

»Bei Gott«, sagte der Grüne Ritter, »ich bin erfreut, 
Herr Gawain, von Eurer Hand die Gunst zu 

empfangen, um die ich bat, und Ihr habt unverzüglich, mit 
klaren  Worten und ohne Einschränkung den Handel 
wiederholt, den ich vom König ersuchte. 

Nur müßt Ihr mir als Ritter bei Eurer Ehre versichern, daß Ihr 

mich aufsuchen werdet, wo ich nach Eurer Meinung zu finden 
sein werde, ob nahe oder fern, um dieselbe Gabe zu 
empfangen, die Ihr mir heute vor dieser ehrbaren 
Versammlung zuteilt.« 

»Wo soll ich Euch denn suchen«, fragte Gawain, »wo seid 

Ihr zu Hause? Wo soll ich nach Eurer Wohnung suchen? Der 
Herr, der mich schuf, sei mein Zeuge, daß ich nicht im 
geringsten weiß, wo Ihr lebt, und ich kenne weder Euren 
Namen noch Euren Hof. Doch erläutert mir genau den Weg 
dorthin und sagt mir Euren Namen, und ich werde alle meine 
Kräfte aufbieten, den Ort zu finden. Das schwöre ich gewiß 
und sage es Euch zu meiner Ehre.« 

»Das ist genug für das neue Jahr, mehr braucht es nicht«, 

sprach der Grüne Ritter zum edlen Gawain. »Ich sage es Euch 
ehrlich: Wenn ich den Hieb erhalten habe, werde ich Euch 
ohne Verzug über meine Wohnung, meine Heimat und meinen 
Namen unterrichten; und dann mögt Ihr Euch nach dem Weg 
erkundigen und den Vertrag einhalten. Und falls ich nichts 

18. 

background image

sage, dürft Ihr Euch glücklich schätzen, denn dann könnt Ihr in 
Eurem Land verweilen und braucht nicht zu suchen – damit sei 
es genug! Nehmt jetzt die grimmige Axt, und laßt uns sehen, 
wie Ihr damit zuschlagen könnt!« 

»Gern, Herr«, gibt Gawain zur Antwort und prüft die 

Schneide. 
 
 

Der Grüne Ritter machte sich sogleich bereit, beugte 
den Kopf ein wenig, so daß seine Locken nach vorn 

fielen, und legte den edlen Nacken bereitwillig bloß. Gawain 
setzte den linken Fuß ein wenig vor, hielt die Axt fest in der 
Hand, hob sie in die Höhe und ließ sie mit Wucht auf den 
entblößten Nacken niedersausen, so daß seine scharfe Klinge 
die Knochen des Ritters zersplitterte und das Fleisch glatt 
durchtrennte, ehe die Schneide des schimmernden Stahls in 
den Boden drang. 

Das edle Haupt  des Grünen Ritters fiel von den Schultern, 

und einige stießen es mit dem Fuß, als es wegrollte; das Blut 
spritzte aus dem Rumpf und hob sich leuchtend vom Grün ab. 

Doch weder schwankte noch fiel der grausame Mann, 

sondern ging auf immer noch kraftvollen Beinen dem Kopf 
nach und hob ihn rasch auf. Dann eilte er zu seinem Pferd, 
ergriff es am Zügel, trat in den Steigbügel, schwang sich in den 
Sattel, wobei er seinen Kopf mit der Hand an den Haaren 
festhielt; und er setzte sich im Sattel zurecht, als ob ihm kein 
Unheil widerfahren wäre – und trug doch keinen Kopf auf dem 
Hals. 

Er drehte den Leib herum, diesen häßlichen, blutenden 

Körper, und viele Ritter packte die Furcht, als er schließlich 
sprach. 
 
 

19. 

background image

Denn den Kopf in seiner Hand hielt er in die Höhe, 
drehte sein Gesicht dem edelsten Tisch zu, und es 

schlug die Augen auf und blickte sie scharf an und sprach die 
Worte, die ihr jetzt hören sollt: 

»Haltet Euch bereit, Gawain, auf die Reise zu gehen, wie Ihr 

gelobt habt, und sucht mich getreulich, guter Herr, bis Ihr mich 
findet, wie Ihr es hier an diesem Ort in Anwesenheit dieser 
Ritter versprochen habt. Begebt Euch zur Grünen Kapelle, und 
ich werde Euch dort einen solche Schlag versetzen, wie Ihr ihn 
ausgeführt habt – Ihr habt es wahrlich verdient, daß Euer Hieb 
Euch am Neujahrsmorgen mit einem ebensolchen Hieb 
vergolten wird! 

Als der Ritter von der Grünen Kapelle bin ich vielen bekannt, 

und wenn Ihr Euch nach mir erkundigt, könnt Ihr mich nicht 
verfehlen. Also kommt oder man wird Euch zu Recht einen 
Feigling nennen.« 

Mit einem rauhen Lachen zog er die Zügel an, wendete sein 

Pferd und sprengte, den Kopf in der Hand, aus der Hallentür, 
so daß unter den Hufen des Pferdes die Funken stoben. 

Wohin er ritt, an welchen Hof, erfuhren sie nicht, 

ebensowenig den Namen des Landes, aus dem er gekommen 
war. 

Was nun? 
Der König und Herr Gawain lachten und scherzten über den 

Grünen Mann. Aber allen war ganz klar, daß es sich um ein 
unglaubliches Wunder handelte. 
 
 

Obwohl der Hochkönig Artus in seinem Inneren 
erstaunt war, ließ er es sich nicht anmerken, sondern 

sagte laut und mit liebenswürdigen Worten zur Königin: »Edle 
Frau, seid jetzt nicht erschrocken; solche Dinge sind der 
Weihnachtszeit angemessen, so wie bei den Interludien die 

20. 

21. 

background image

Ritter und Damen sich zwischendurch in zierlichen Tänzen 
drehen, lachen und singen. Doch jetzt will ich mich meinem 
Mahl widmen, denn ich habe, was ich nicht leugnen will, ein 
Abenteuer erlebt.« 

Er schaute Herrn Gawain an und sagte liebenswürdig: 

»Kommt, Ritter, hängt jetzt Eure Axt auf; sie hat  genug 
gehauen!« 

Und man hängte sie über dem Podest an einen Wandteppich, 

wo alle Männer sie als ein Zeichen des Wunders sehen und sie 
als Beweis anführen konnten, wenn sie von dem wunderbaren 
Abenteuer erzählten. 

Dann nahmen alle ihre Plätze ein, der König und sein 

trefflicher Verwandter, und höfliche Knappen servierten ihnen 
alle Leckerbissen in doppelten Portionen, so köstliche 
Gerichte, wie man sich nicht vorstellen kann, begleitet vom 
Gesang der Spielleute. 

So verbrachten sie fröhlich den Tag, bis die Nacht 

hereinbrach. 

Nun gebt wohl acht, Herr Gawain, daß die Furcht Euch nicht 

davor zurückhält, das gefährliche Abenteuer zu wagen, das Ihr 
Euch aufgehalst habt! 

background image

 

II. 

 
 
 

Diese Aussicht auf ein Abenteuer erhielt Artus, der 
darauf brannte, von kühnen Taten zu hören, als 

Neujahrsgabe. Zwar fehlte es den Herren noch an Worten, als 
sie zu Tisch gingen, jetzt aber war in ihrem Gespräch nur noch 
davon die Rede. 

Gawain war froh, der Urheber dieses Spiels zu sein, aber 

wundert euch nicht, wenn es ein böses Ende  nimmt! Denn 
wenn Männer auch ausgelassen sind, wenn sie kräftig 
getrunken haben, so geht ein Jahr doch wie im Fluge vorbei, 
und niemals kehrt das gleiche wieder: nur höchst selten ist der 
Anfang wie der Ausgang. 

Und so vergingen die Weihnachtszeit und das folgende Jahr, 

und die Jahreszeiten folgten einander: nach Weihnachten 
kommt die öde Fastenzeit, die unseren Leib mit Fisch und 
Magerkost traktiert. Dann aber zieht das Wetter gegen den 
Winter in den Krieg, die Kälte verkriecht sich in der Erde, 
Wolken steigen hoch, glitzernder Regen fällt in warmen 
Schauern auf den saftigen Rasen, Blumen erblühen auf den 
Auen, und die Wälder legen grüne Kleider an. Vögel bauen 
emsig ihre Nester und singen muntere Lieder über den 
lieblichen Sommer, der bald seinen Einzug halten wird. Und 
an frischen, üppigen Hecken brechen Blüten auf und leuchten; 
und aus den Wäldern sind tausend wohlklingende Stimme zu 
hören. 
 
 

Dann kommt die Sommerzeit mit ihren sanften 
Winden, wenn der Zephir durch die Gräser und 

22. 

23. 

background image

Kräuter streift. Herrlich ist das Gras, das auf freier Flur wächst, 
wenn die Tautropfen von den Blättern gleiten, bereit, einen 
glitzernden Sonnenstrahl aufzufangen. Doch der Herbst kommt 
rasch und treibt die Früchte an, sich schnell zur Reife zu 
entfalten. Seine Trockenheit treibt den Staub vor sich her, bis 
er sich vom Land erhebt und in die Höhe steigt; wilde Stürme 
im Himmelsgewölbe ziehen gegen die Sonne zu Felde, die 
Blätter lösen sich von der Linde und sinken zu Boden, und das 
Gras, das vorher grün war, wird grau: alles  reift und vergilbt, 
was vorher heranwuchs, und so geht das Jahr dahin, ein 
dauerndes Gestern, und es wird wieder Winter, wie es der Lauf 
der Welt ist. Und so geht es bis zum Michaelsmond, dem 
Vorboten des Winters. 

Da denkt Gawain ganz plötzlich an seine gefahrvolle Reise. 

 
 

Bis Allerheiligen blieb Gawain bei Artus, der ihm zu 
Ehren an diesem Tag ein Fest gab, das die Tafelrunde 

mit großer Fröhlichkeit beging. Die ruhmreichen Ritter und 
edlen Damen liebten Gawain und waren in Sorge, aber 
dennoch sprachen sie nur von erfreulichen Dingen: Viele, die 
im Herzen um sein Schicksal fürchteten, scherzten dennoch. 

Doch nach dem Mahl erinnerte Gawain seinen Onkel traurig 

daran, seine Abreise stehe bevor, und er sagte ohne 
Umschweife: »Lehnsherr meines Lebens, ich bitte darum, 
Euch jetzt verlassen zu dürfen. Ihr wißt um die Eigenart dieser 
Fahrt, und ich will Euch mit ihrer Schilderung nicht noch 
einmal lästig fallen, bis auf eines: Ich muß morgen wegen des 
Schlages ohne Verzug aufbrechen und den Grünen Ritter 
suchen. Möge Gott mich leiten!« 

Da traten die besten Kämpen der Burg zusammen, Iwain und 

Erec und viele andere, darunter Herr Dodinal der Wilde, der 
Herzog von Clarence, Lanzelot, Lionel, Lucan der Gute, Herr 

24. 

background image

Bors und Herr Bedivere, allesamt mächtige Streiter, und noch 
mancher andere Ritter, wie Mador de la Port. Diese ganze 
Schar begab sich zum König, um dem Ritter Rat zu erteilen, 
Sorgen in den Herzen. Manche traurige Klage war in der Halle 
zu hören, daß ein so prachtvoller Ritter wie Gawain eines 
Schlages wegen zu seiner Queste aufbrechen mußte und nie 
mehr einen Schwertstreich würde ausführen können. 

Der Ritter selbst war guten Mutes und sprach: »Warum sollte 

ich mich ängstigen? Was kann ein Mann anderes tun als zu 
erproben, was das Schicksal ihm zugedacht hat, ob Gutes oder 
Schlimmes?« 
 
 

Diesen Tag verbrachte er noch dort, und am nächsten 
Morgen machte er sich bereit, rief nach seiner 

Rüstung, die ihm sogleich gebracht wurde. Zuerst wurde ein 
Teppich aus roter Seide auf dem Boden ausgebreitet und die 
zahlreichen Teile der goldglänzenden Rüstung daraufgelegt. 
Der kraftvolle Ritter trat herzu und ergriff die stählernen 
Stücke. Gekleidet in ein Wams von tharsischem Damast, 
darüber eine kunstvolle, am Hals geschlossene Tunika, innen 
mit weißem Pelz gefüttert. Zuerst zog man dem Ritter  die 
Stahlschuhe an, kleidete die Unterschenkel in prächtige 
stählerne Beinröhren mit hellglänzenden Kniebuckeln, die am 
Knie mit goldenen Spangen befestigt waren; dann folgten 
Schenkelstücke, die seine kräftigen, muskelprallen 
Oberschenkel umschlossen, mit Schnallen befestigt; dann 
streifte er sich das aus schimmernden Stahlringen gefertigte 
Kettenhemd über die Kleidung, legte die blitzenden 
Armschienen, glänzenden Armkacheln und Panzerhandschuhe 
an: die ganze wertvolle Ausrüstung,  die ihm womöglich von 
Nutzen sein konnte. 

25. 

background image

Er hatte den prachtvollen Waffenrock übergeworfen, die 

goldenen Sporen sinnreich befestigt und ein zuverlässiges 
Schwert angelegt, das er seitlich an seinem seidenen Gürtel 
trug. 
 
 

Als er seine Rüstung vollendet hatte, sah sein 
Harnisch prachtvoll aus: die kleinste Lasche oder 

Schnalle war vergoldet. Gewappnet, wie er war, ging er zur 
Messe, die am Hochaltar gelesen und begangen wurde, und 
dann kam er zum König und zu seinen höfischen Gefährten 
und nahm liebevoll von den Damen und Herren Abschied, und 
sie küßten ihn und begleiteten ihn hinaus und empfahlen ihn 
Christus. 

Sein Pferd Gringolet stand gestriegelt bereit, dem ein Sattel 

aufgelegt war, der von vielen goldenen Fransen funkelte und 
zu diesem Anlaß üppig mit Goldnägeln beschlagen war; der 
Zügel war mit Gold umwunden und gestreift; der 
ausgeschmückte Brustpanzer und das Wams, der 
Schwanzriemen und die Schabracke paßten zu den 
Sattelbögen. 

Und überall zierten golden Nieten den prächtigen roten 

Untergrund, daß alles wie Sonnenstrahlen glänzte und 
glitzerte. 

Dann ergriff er den Helm und küßte ihn rasch: dieser war 

besonders schlagfest und innen gefüttert. Hoch saß er auf 
seinem Haupt und war im Nacken festgeschnallt und gehalten 
von einem leichten Halsband über  dem Nackenschutz, das 
bestickt war und auf einem breiten Seidenband lag, mit 
prächtigen Edelsteinen besetzt und an den Säumen mit 
Stickereien verziert, die Papageien, von Elfen gerahmt, und 
Turteltauben darstellten und dazu Liebesknoten in so reichem 
Maße, als hätten viele Näherinnen volle sieben Winter daran 

26. 

background image

gearbeitet. Der Reif, der seinen Kopf umspannte, war noch 
kostbarer, und das Muster seines Diamantenschmucks trat 
strahlend hervor. 
 
 

Dann brachte man ihm seinen Schild von 
leuchtendem Rot, bemalt  mit dem Pentagramm in 

reinstem Gold. Er faßte ihn beim Riemen und hängte ihn um 
seinen Hals  – er war diesem Ritter wohl angemessen und 
seiner würdig. Doch warum das Pentagramm diesem edlen 
Ritter eigen ist, will ich euch gleichwohl erzählen, auch wenn 
meine Geschichte dadurch ins Stocken kommt: Es ist das 
Zeichen, das Salomo vor langer Zeit verwendete, um die Treue 
zu bezeichnen, denn es ist eine Figur mit fünf Ecken, und jede 
Linie setzt sich fort, geht in die nächste über und hat 
nirgendwo ein Ende; und allenthalben nennen die Engländer 
diese Figur den Endlosen Knoten, wie ich höre. Darum paßt 
dieses Zeichen zu diesem Ritter und seinen schimmernden 
Waffen, denn Gawain war fünffach tugendhaft, das war 
bekannt, und jede dieser Tugenden wiederum wies fünf 
treffliche Eigenschaften auf, weil er rein war wie geläutertes 
Gold, frei von Unritterlichkeit und mit den Tugenden des 
Ritters ausgestattet. 

Darum trug er das frisch gemalte Pentagramm auf Schild und 

Waffenrock, als ein wahrhaftiger und edel gesinnter Ritter. 
 
 

Zum ersten waren seine fünf Sinne makellos, und 
auch mit seinen fünf Fingern fehlte er niemals; und 

sein Glaube an die fünf Wunden Jesu war unerschütterlich, die 
Christus, wie das Glaubensbekenntnis uns sagt, am Kreuz 
empfing; und wo immer dieser tapfere Mann sich im Kampf 
befand, dachte er mit tiefem Ernst vor allem daran, daß er 

27. 

28. 

background image

seinen Mut aus den fünf Freuden bezog, welche Maria, die 
Himmelskönigin, an ihrem Kind hatte. Aus diesem Grund 
schmückte ihr Bild die Innenseite seines Schildes, damit ihn, 
wenn sie ihn ansah, sein Mut nicht verließ. 

Das fünfte Fünftel der Tugenden, die ich an diesem Ritter 

erkenne, waren vor allem Reinheit und Freundlichkeit und eine 
alles übersteigende Nächstenliebe. Diese miteinander 
verbundenen Tugenden zeichneten ihn vor allen anderen aus, 
und jede Tugend war mit der anderen durch die endlose Linie 
verbunden und durch die fünf elementaren Eigenschaften 
gekennzeichnet, die sich unfehlbar weder vereinen noch 
trennen ließen oder in irgendeiner Spitze zusammenliefen, 
soweit ich sehen kann, wo man auch begann oder aufhörte. 
Darum war sein schimmernder Schild mit  dem endlosen 
Knoten geschmückt, mit Rotgold auf helles Rot gemalt – und 
das war das makellose Pentagramm, wie es in der Sprache 
gelehrter Männer heißt. 

Nunmehr ist Gawain zu fröhlichen Taten bereit, nachdem er 

als letztes seine Lanze ergriffen hat. Er sagte allen Lebewohl – 
für immer, wie er glaubte. 
 
 

Er spornte sein Pferd an und sprengte so wild davon, 
daß die Funken stoben. Alle, die ihm nachblickten, 

seufzten und sprachen in tiefer Sorge und aus Kummer um den 
prächtigen Mann zueinander: »Bei Gott, es ist eine Schande, 
daß Ihr sterben sollt, wo doch Euer Leben so edel ist! Einen 
Mann wie ihn auf Erden zu finden, fiele schwer! Es wäre 
klüger gewesen, ihm ein Herzogtum zu verleihen; dieser teure 
Mann hätte einen prachtvollen Regenten abgegeben; und das 
wäre besser gewesen, als um stolzen Hochmuts willen 
hingemetzelt und um stolzen Hochmuts willen von einem 
zauberischen Mann geköpft zu werden. Wer hätte je 

29. 

background image

vernommen, daß ein König während der arglosen 
Weihnachtsspiele seiner Ritter einem solchen Zweikampf 
zugestimmt hätte!« Es flossen viele heiße Tränen, als der 
allseits geliebte Ritter an jenem Tag die Burg verließ. 

Er machte nirgendwo Rast, sondern verfolgte hurtig  seinen 

Weg und ritt über viele einsame Pfade, wie ich erzählen hörte. 
 
 

Nun reitet Herr Gawain, wie es Gott will, durch das 
Königreich Logres, wenngleich ihm das kein 

Vergnügen machte. Zumeist verbrachte er die Nächte verloren 
und allein, denn er fand niemanden, der ihm Gesellschaft hätte 
leisten können; auf seinem Marsch durch die Wälder und über 
die Hügel blieb ihm nur das Zwiegespräch mit Gott, und sein 
Pferd war sein einziger Gefährte, bis er in die Nähe des 
nördlichen Wales kam. Er gab keine Acht auf die Inseln von 
Anglesey zu seiner Linken, sondern überquerte die Furten an 
den Untiefen nahe dem Meer und dann die von Holy Head, bis 
er in der Wildnis von Wirral wieder festen Grund erreichte: 
Dort wanderten nur wenige umher, die von Gottes Willen oder 
den Menschen guten Herzens geliebt wurden. Und überall, 
wohin er kam, fragte er die Leute, ob sie etwas von einem 
Ritter oder von einer Grünen Kapelle gehört hätten. Aber sie 
verneinten es immer und sagten, einen Menschen solcher 
Farbe hätten sie noch nie zu Gesicht bekommen. Der Ritter ritt 
auf merkwürdigen Wegen, durch manche einsame Flur, und 
solange er die Kapelle nicht erblicken konnte, blieb seine 
Stimmung schwankend. 
 
 

Manch eine Klippe überstieg er in unbekannten 
Landen, weit entfernt von seinen Freunden und ohne 

Kameradschaft. An jedem Wasser, das er unterwegs passierte, 

30. 

31. 

background image

sah er sich einem Feind gegenüber, eigenartigen, bösartigen 
und wilden Gesellen, so daß er zum Kampf gezwungen wurde. 

Dort in den Bergen erlebte er so viele Abenteuer, daß es 

ermüdend wäre, auch nur den zehnten Teil davon zu erzählen. 

Zuweilen kämpfte er mit Drachen und auch mit Wölfen, dann 

wieder mit Wald-Trollen, die in den Felsklüften hausten, und 
manchmal auch mit Stieren, Bären und Ebern, ja sogar mit 
Ogern, die ihn von den Bergeshöhen verfolgten. 

Wären nicht sein Mut, seine Ausdauer und sein Gottvertrauen 

gewesen, hätte ihn zweifellos mehr als einmal der Tod ereilt. 
Obwohl die Kämpfe anstrengend waren, wütete der Winter 
schlimmer, wenn kalte, klare Wassermassen sich aus den 
Wolken ergossen und gefroren, noch bevor sie auf die kahle 
Erde fielen. Beinahe vom Hagel erschlagen schlief er manche 
Nacht in seiner Rüstung zwischen den nackten Felsen, wo 
kalte Sturzbäche von den Bergspitzen niederbrachen oder als 
harte Eiszapfen hoch über seinem Haupt hingen. 

So ritt er in Gefahr und Qual und Mühsal bis zum Tag vor 

Weihnachten einsam durch das Land. An diesem Punkt betete 
der Ritter zu Maria, sie möge seine Schritte lenken und ihn zu 
irgendeiner Behausung führen. 
 
 

Zuversichtlich ritt er an diesem Morgen über einen 
Berg und in einen Wald hinein, der tief und 

schrecklich wild war: zu beiden Seiten hohe Hügel und unten 
graue, außerordentlich hohe Eichen, Hunderte beisammen; 
Haselnußgesträuch und Weißdorngestrüpp waren miteinander 
verflochten und mit dickem, zottigem Moos bewachsen; 
trostlos saßen auf den kahlen Zweigen viele Vögel, die 
erbärmlich piepten, denn sie litten an der Kälte. 

Einsam ritt Gawain auf Gringolet an ihnen vorüber, durch 

Sumpf und Moor, voller Sorgen, den Gottesdienst zu Ehren 

32. 

background image

des Herrn zu versäumen, der in selbiger Nacht von  einer 
Jungfrau geboren wurde, um unserer Not ein Ende zu machen. 
Und darum sagte er seufzend: »Ich flehe Dich, Herr, und Dich, 
Maria, die allergnädigste Mutter, um einen Unterschlupf an, 
wo ich die Christmette und morgen die Frühmesse hören kann. 
Darum bitte ich voller Demut und will auf der Stelle das 
Paternoster, Ave und Credo beten.« Im Gebet ritt er weiter, 
beweinte seine Missetaten, bekreuzigte sich oftmals und rief: 
»Kreuz Christi, sei mit mir!« 
 
 

Nachdem er sich dreimal bekreuzigt hatte, erspähte er 
im Wald ein Gebäude, das, von einem Wallgraben 

umgeben, am oberen Ende einer Lichtung auf einem Hügel 
lag, von den Zweigen kräftiger Bäume längs des Grabens 
eingerahmt: eine prächtige Burg, wie sie nie ein Ritter besaß, 
inmitten eines Lustgartens, ganz von einem Park umgeben, der 
von einer Palisade kräftiger Pfähle eingefaßt wurde, mehr als 
zwei Meilen lang und von vielen Bäumen umstanden. Gawain 
betrachtete die Festung von der einen Seite, wie sie durch die 
Eichen schimmerte und leuchtete, und dann nahm er demütig 
seinen Helm ab und dankte ehrfürchtig Jesus und Sankt Julian, 
die so großmütig gewesen waren, ihm Gnade erwiesen und 
seinen Hilferuf erhört hatten. 

»Nun erbitte ich von euch«, sagte der Ritter, »nur noch ein 

gutes Quartier.« 

Darauf gab er Gringolet die goldenen Sporen, und der Zufall 

wollte es, daß der Hengst den Hauptweg einschlug und seinen 
Herrn schließlich bis ans Ende der Brücke trug. Diese war 
hochgezogen, das Tor fest verrammelt; die Burg war 
mauerbewehrt und fürchtete keinerlei Sturm. 
 
 

33. 

background image

Der Reiter zügelte sein Pferd am steilen Rand des 
tiefen Doppelgrabens, der die Burg umgab. Die 

Mauern reichten wundersam tief ins Wasser und stiegen zu 
ungeheurer Höhe auf; bis zum Sims bestanden sie aus hartem, 
behauenem Stein, der unterhalb der Brustwehr nach bester 
Manier bearbeitet war. In Abständen waren die Mauern mit 
feinen Türmchen besetzt, die aus vielen Schießscharten einen 
guten Ausblick boten  – nie hatte der Ritter ein besseres 
Außenwerk gesehen. Und im Inneren gewahrte er die 
aufragende Halle, eine Folge hoher Türme mit einem Übermaß 
an schmückenden Zinnen, fein und lang und säuberlich 
zusammengefügt, deren Spitzen geschickt und kunstreich 
gemeißelt waren. Sein Blick fiel auf  viele kalkweiße 
Schornsteine auf den Dächern, die hell leuchteten; auf den 
Wehrgängen standen dicht nebeneinander so viele 
weißgetünchte Türmchen wie aus Papier ausgeschnitten. 

Der edle Kämpe auf dem Pferd dachte darüber nach, auf 

welchem Wege er in die Burg gelangen könne, um in dieser 
Herberge freudig den Feiertag zu verbringen. Er rief, und es 
erschien geschwind ein freundlicher Türhüter auf der Mauer, 
horchte auf Gawains Begehr und hieß den wandernden Ritter 
willkommen. 
 
 

»Guter Herr«, sagte Gawain, »würdest du dem hohen 
Hausherrn meine Bitte um Obdach überbringen?« 

»Ja, beim heiligen Petrus«, erwiderte der Türhüter, »und ich 
bin sicher, daß Ihr willkommen sein werdet, hier zu bleiben, so 
lange Ihr mögt.« 

Darauf ging der Mann rasch fort und kehrte umgehend  mit 

einer Schar anderer Diener zurück, den Ritter höflich zu 
empfangen. 

34. 

35. 

background image

Sie ließen die große Zugbrücke herab, gingen ihm nach 

höfischem Brauch entgegen und knieten auf der kalten Erde 
nieder, um den Wanderer würdig zu begrüßen. 

Sie stießen das große Tor weit auf, und er forderte sie höflich 

auf, sich zu erheben, und ritt über die Brücke. Zahlreiche 
Diener nahmen seinen Sattel, als er absaß, und kräftige 
Burschen führten sein Pferd in den Stall, während sogleich 
Ritter und Knappen herbeikamen, um den Gast fröhlich in die 
Halle zu geleiten. 

Als er seinen Helm absetzte, beeilten sie sich, ihn 

entgegenzunehmen, um dem vornehmen Gast gefällig zu sein; 
auch sein Schwert und seinen Schild nahmen sie ihm ab. 

Da grüßte Gawain freundlich alle diese Männer, deren viele 

gekommen waren, um ihm Ehre zu erweisen. 

Sie brachten ihn, noch ehe er seine schimmernde Rüstung 

abgelegt hatte, in die Halle, wo in der Feuerstelle ein helles 
Feuer loderte. Da kam der Hausherr aus seinem Gemach, um 
den Gast geziemend in der Halle zu begrüßen. 

Er sagte: »Seid in meinem Hause willkommen. Alles, was 

darin mir gehört, soll auch Euch gehören.« 

»Seid bedankt«, antwortete Gawain. »Christus möge es Euch 

vergelten.« 

Und sie umarmten sich wie Freunde. 

 
 

Gawain betrachtete den guten Mann, der ihn so 
freundlich begrüßt hatte, und gewann den Eindruck, 

daß der Burgherr ein kühner Streiter war, sehr groß und 
stämmig, in der Blüte seiner Jahre: sein biberfarbener Bart war 
voll und glänzend, und er selbst stand in strenger Haltung und 
ehrfurchtgebietend auf kräftigen Beinen da, die Augen wie 
Feuer leuchtend und freimütig in der Rede; und es stand ihm, 

36. 

background image

wie Gawain auf Anhieb erkannte, wohl an, Herr über eine 
Schar treuer Ritter zu sein. 

Der Gastgeber führte ihn in ein Gemach und gab den Auftrag, 

dem Gast sogleich einen Knappen kommen zu lassen, der ihm 
zu Diensten sein sollte; auf seinen Befehl hin waren zahlreiche 
Knappen zur Stelle, die Gawain in eine helle Kammer führten, 
in der eine prächtige Bettstatt stand: die Vorhänge, mit 
vergoldeten Ringen an Kordeln laufend, waren aus kostbarer 
Seide mit Säumen aus leuchtendem Gold, und die Bettdecken 
waren kunstvoll und anmutig gesteppt, oben mit weißem 
Hermelin besetzt. Gobelins aus Damast bedeckten die Wände 
und dazu passende Teppiche den Boden. 

Dort befreite man den Ritter unter launigem Geplauder von 

seiner Rüstung und seinen schönen Kleidern. Umgehend 
brachte man ihm vornehme Gewänder, die er anprobieren und 
unter denen er wählen konnte. Als er sich für eines, das mit 
seinen weiten Falten gut zu ihm  paßte, entschieden und es 
angelegt hatte, meinten viele Ritter, angesichts der wunderbar 
leuchtenden Farben, in die sein schöner Leib gekleidet war, ein 
Bild des Frühlings vor sich zu sehen. Christus konnte nie einen 
edleren Ritter erschaffen haben, dachten sie. Niemand wußte, 
woher er kam, doch ihnen kam er wie ein Fürst vor, der auf 
dem Schlachtfeld nicht seinesgleichen hatte. 
 
 

Vor dem Kamin, in dem ein Holzkohlenfeuer brannte, 
stellte man für Gawain einen Sessel zurecht, der mit 

Stoff überzogen und  mit Kissen und Steppdecken gepolstert 
war. Darauf legte man ihm einen Umhang aus hellem 
Seidenbrokat um die Schultern, der kostbar bestickt und auf 
der Innenseite mit ausgesuchtem Pelzwerk gefüttert, mit 
Hermelin gesäumt und mit einer dazu passenden Kapuze 
versehen war. Und er nahm in dem kostbaren und schicklichen 

37. 

background image

Sessel Platz, wärmte sich lustvoll auf, und seine Leiden 
schwanden. 

Rasch wurde ein schöner Klapptisch aufgestellt und mit 

einem reinen weißen Tafeltuch bedeckt und mit einer 
Serviette, einem Salzfaß und silbernen Löffeln versehen. Da 
wusch sich der Ritter mit Behagen die Hände und wandte sich 
den Speisen zu, und viele freundliche Knappen warteten ihm 
ehrerbietig auf. Sie servierten viele Arten höchst raffiniert 
gewürzter Suppen in doppelten Portionen, wie es üblich war, 
und verschiedene Arten von Fisch: einmal in Brotteig 
gebacken oder auf Kohle geröstet, ein anderes Mal gesotten 
oder schmackhaft gedämpft. Jedesmal wurden kunstvoll 
zubereitete Saucen gereicht, die ihm köstlich schmeckten. 

Diese Mahlzeit sei ein Festessen, sagte er wiederholt dankbar 

und höflich, und die guten Männer versicherten ihm eifrig: 
»Wir bitten Euch, dies ist ein Fastenessen, es wird bald besser 
werden!« 

Gawains Stimmung hob sich, denn der Wein stieg ihm ein 

wenig zu Kopf. 
 
 

Dann stellten sie dem Ritter behutsam Fragen nach 
seinen persönlichen Umständen, bis er voller 

Entgegenkommen enthüllte, von welchem Hof er komme, daß 
sein einziger Herrscher der Hochkönig Artus sei, der dort in 
Ehren regiere, der rechtmäßige König der Tafelrunde, daß er 
selbst Gawain heiße, der nun ihr Gast sei, um das 
Weihnachtsfest bei ihnen zu verbringen, wie es der Zufall 
gefügt habe. 

Als der Herr des Hauses hörte, welchen Gast ihm das Glück 

beschert hatte, lachte er laut vor Freude, und alle Männer in 
der Burg brachen in Jubel aus und bemühten sich, den Mann 
kennenzulernen, der die Verkörperung von Ehre, Tapferkeit 

38. 

background image

und vollendetem Betragen darstellte und allezeit gelobt wurde; 
von allen Männern der Erde genoß er den höchsten Ruhm. 
Man flüsterte einander zu: »Jetzt werden wir die Feinheiten 
höfischer Lebensart kennenlernen, die vollkommene Eleganz 
höfischer Redeweise. Wie wirksam man Sprache anwenden 
kann, werden wir wie von selbst lernen können, denn unter uns 
weilt der wahre Vater höfischer Bildung. Gott in seiner Güte 
hat uns wahrlich eine große Gnade erwiesen, indem er uns zu 
einer Zeit einen Gast beschert hat, da die Menschen sich der 
Geburt unseres Herrn erfreuen und sie in fröhlichen Liedern 
besingen. Was höfische Gesittung bedeutet, wird dieser Ritter 
jetzt offenbaren. Wer ihm zuhört, wird vermutlich einiges über 
die Kunst erfahren, von der Liebe zu sprechen.« 
 
 

Als das Abendessen vorüber war und er sich von der 
Tafel erhoben hatte, war es beinahe Nacht geworden. 

Die Priester begaben sich zur Kapelle und ließen, wie 
vorgeschrieben, für die ernsten Vigilien des hohen Festtages 
kräftig die Glocken läuten. Der Burgherr ging voran, begleitet 
von seiner Gemahlin; sie begab sich anmutig zu einem 
prächtigen Kirchenstuhl. Gawain strebte auf der Stelle dahin. 
Der Herr faßte ihn beim Arm, führte ihn zu seinem Platz, 
redete ihn vertraulich mit seinem Namen an und sagte, er sei 
ihm von allen Gästen der Welt der liebste. 

Und Gawain dankte ihm von Herzen, und sie grüßten 

einander mit einer Umarmung und saßen still nebeneinander, 
so lange der Gottesdienst währte. 

Dann verlangte es die Dame, diesen Ritter kennenzulernen; 

und sie kam mit vielen hübschen Maiden aus ihrem Gelaß. Mit 
der Schönheit ihres Gesichts, ihrem Wuchs, ihrer Hautfarbe 
und Haltung übertraf sie alle anderen weiblichen Geschöpfe, 
und Gawain erschien sie sogar schöner als Ginevra. 

39. 

background image

Er kam durch den Chorraum, um ihr seine Aufwartung zu 

machen; eine zweite Dame führte sie an der linken Hand, älter 
als sie, im Grunde eine alte Frau, jedoch von allen Männern 
ringsum in hohen Ehren gehalten. Aber die beiden Frauen 
waren sich kaum ähnlich, denn so jugendlich frisch die eine 
aussah, so verwelkt war die andere; Lippen und Wangen der 
einen leuchteten rot, bei der anderen hingen die Wangen 
runzlig und schlaff herab; das Gewand der einen hatte einen 
mit vielen schimmernden Perlen besetzten Ausschnitt, der ihre 
Brüste und den strahlend weißen Hals entblößte, die heller 
waren als Schnee, der auf die Hügel fällt; die andere trug ein 
Tuch, das eng den Hals umschloß, ihr dunkles Kinn war von 
kreideweißen Schleiern verhüllt, die Stirn von Seide mit einem 
bestickten Saum und einem verzierten Netz verdeckt, so daß 
von dieser Vettel nur die schwarzen Augenbrauen, die Augen, 
ihre Nase und die blassen Lippen zu sehen  waren, und die 
Augen waren schrecklich anzuschauen und von Tränen 
getrübt; man konnte sie, Gott weiß, wirklich eine ehrwürdige 
Dame nennen! 

Ihr Leib war kurz und dick, ihr Hinterteil ausladend; 

lieblicher für den Geschmack war die Dame, die sie mit sich 
führte. 
 
 

Als Gawain die junge Dame erblickte, die so anmutig 
aussah, ging er den beiden mit Erlaubnis des 

Burgherrn entgegen, begrüßte die ältere mit einer tiefen 
Verbeugung, dann umarmte er die schönere, küßte sie mit 
höfischer Schicklichkeit und sprach sie geziemend an. Sie 
äußerten den Wunsch, ihn näher kennenzulernen, und sogleich 
erklärte er sich als ihr aufrichtiger Diener, falls sie es 
wünschten. Sie nahmen ihn in die Mitte und führten ihn 
plaudernd zum Kaminplatz in einem hübschen Gemach, riefen 

40. 

background image

sogleich nach Süßigkeiten, die ihnen ohne Verzug reichlich 
gebracht wurden, zusammen mit Wein nach ihrem Geschmack. 

Der Burgherr sprang zu ihrer Erheiterung fröhlich umher; er 

machte Späße und forderte auch sie dazu auf, nahm heiter 
seine Kappe vom Kopf, hängte sie an einen Speer und 
versprach sie dem als Preis, der an diesem Weihnachtstag die 
größte Heiterkeit erregte. 

»Und ich werde es, bei meiner Ehre, mit den besten 

aufnehmen, ehe ich diese Kappe einem meiner Freunde 
ausliefere.« 

So sorgte der Hausherr mit Gelächter und Scherzen für gute 

Laune, um Herrn Gawain an diesem Abend fröhlich zu 
stimmen, bis die Zeit gekommen war, da der Hausherr nach 
Licht rief. 

Also verabschiedete sich Gawain und begab sich zu Bett. 

 
 

Am folgenden Morgen wurde, wie man sich erinnert, 
unser lieber Herr Jesus geboren, um für unser Heil zu 

sterben, und in jedem Haus auf Erden gab man sich um 
seinetwillen der Freude hin. So auch auf dieser Burg, und zur 
Festlichkeit des Tages wurden die köstlichsten Gerichte 
serviert. Zu jeder  Mahlzeit gab es exquisite Speisen, die auf 
dem Podest von geschickten Dienern aufgetragen wurden. Die 
alte Dame führte an der Tafel den Vorsitz, während der 
Hausherr bescheiden neben ihr Platz nahm; Gawain und die 
schöne Dame plazierte man zusammen in der Mitte der Tafel, 
wo man, wie es sich schickt, mit dem Servieren begann, ehe 
dann die anderen in der Halle, je nach ihrem Rang und in der 
vorgeschriebenen Reihenfolge, bedient wurden. 

So wurde jeder, ohne Groll zu empfinden, seinem Rang nach 

bedient, und man tafelte, feierte und war guter Dinge; es wäre 
schwierig und mühevoll, wollte ich alles im einzelnen 

41. 

background image

beschreiben. Ich vermute jedoch, daß Gawain und die schöne 
Dame an ihrer beider Gesellschaft, an der höfischen Plauderei 
mit schönen, ziselierten, doch reinen und schicklichen Worten 
wahrlich mehr Vergnügen hatten als ein Fürst bei einer 
höfischen Belustigung. Pauken erschallten und Trompeten, und 
viele Flöten spielten auf, so daß sich jeder nach seiner Weise 
amüsierte, und die zwei taten es auf die ihre. 
 
 

So feierte man den ersten und den folgenden Tag, und 
auch den dritten brachte man fröhlich zu: Am Sankt-

Johannistag war der Lärm des Festes zu vernehmen, denn jeder 
wußte, daß er der letzte der Feiertage war, das teure Fest der 
Unschuldigen Kinder. 

Einige Gäste mußten am nächsten Morgen aufbrechen, und 

sie hielten eine wundersame Nachtwache, tranken Wein und 
tanzten unablässig zu heiteren Melodien. Schließlich nahmen 
sie voneinander Abschied, als es spät war, und alle edlen 
Reisenden machten sich zum Aufbruch bereit. 

Auch Gawain wollte sich verabschieden, aber der Hausherr 

hielt ihn zurück und führte ihn in seinem eigenen Gemach in 
die Kaminecke, und dort redete er auf ihn ein und dankte ihm 
herzlich für die hohe Ehre, die er seinem Haus zu diesem 
hohen Fest erwiesen, und daß er die Burg mit seiner 
Gegenwart beglückt habe. 

»Glaubt mir, Herr«, sagte er, »mein Leben lang werde ich 

mich glücklich schätzen, daß Gawain bei diesem hohen Fest 
mein Gast war.« 

»Ich danke Euch, Herr«, erwiderte Gawain, »aber mit 

Verlaub, Euch allein gebührt die Ehre  – möge es der 
Hochkönig Euch lohnen! Und ich werde allezeit Euer Diener 
sein und Eure Wünsche befolgen, weil das, ob zum Guten oder 
Schlechten, eine ehrenvolle Pflicht für mich ist.« 

42. 

background image

Der Burgherr gab sich alle Mühe, den Ritter länger 

festzuhalten, doch Gawain gab zur Antwort, das sei auf keinen 
Fall möglich. 
 
 

Darauf stellte der Hausherr Gawain höflich die Frage, 
welche bittere Notwendigkeit ihn zu dieser festlichen 

Zeit so zwingend vom Hof des Königs vertrieben habe, daß er 
allein umherziehe, noch ehe in den Häusern die Feiertage zu 
Ende seien. 

»In der Tat, Herr«, gab Gawain zur Antwort, »Ihr sprecht die 

reine Wahrheit: eine wichtige und dringende Aufgabe hat mich 
vom Hof vertrieben, denn ich bin verpflichtet, einen  Ort zu 
finden, obgleich ich beim besten Willen nicht weiß, wohin in 
aller Welt ich mich wenden soll. Ich darf auf keinen Fall 
versäumen, am Neujahrsmorgen dort zu erscheinen, und ich 
würde alle Länder von Logres dafür hingeben, ihn zu finden, 
so wahr mir Gott helfe! Und darum stelle ich Euch, Herr, jetzt 
die Frage: könnt Ihr mir ohne Falsch sagen, ob Ihr je von der 
Grünen Kapelle gehört habt, wo sie liegt, sowie von dem 
prächtigen Ritter, der ganz in Grün gekleidet ist und sie hütet? 
Denn wir haben einen Vertrag miteinander geschlossen, daß 
ich nämlich diesen Ritter an dieser Stelle treffen soll, falls ich 
noch am Leben bin, und der Neujahrstag rückt immer näher. 
Beim Sohn Gottes, lieber möchte ich diesem Mann 
gegenübertreten  – wenn doch Gott mir diese Gunst erweisen 
würde! – als irgendwelche Schätze gewinnen. Darum muß ich 
mich mit Eurer gütigen Erlaubnis auf den Weg machen, denn 
mir bleiben nur noch drei Tage für  meine Aufgabe, und ich 
möchte lieber sterben als meine Pflicht versäumen.« 

Da lachte der Hausherr und sagte: »Nun müßt Ihr bleiben, 

weil ich Euch zur rechten Zeit den Weg zum Ort Eurer 
Verabredung zeigen werde. Es soll Euch nicht länger 

43. 

background image

bekümmern, wo die Grüne Kapelle liegt! Ruht Euch ohne 
Sorgen aus bis zum hellen Tag, brecht am ersten Tag des 
Jahres auf, und Ihr werdet gegen die Mitte des Vormittags an 
dem Treffpunkt anlangen; dort mögt Ihr treiben, was Ihr wollt. 

Bleibt bis zum Neujahrstag, dann reitet los! Wir werden Euch 

den rechten Weg zeigen, der Ort ist kaum zwei Meilen von 
hier entfernt.« 
 
 

Da war Gawain entzückt und lachte vor Freude: »Ich 
danke Euch tausendmal von Herzen! Da meine 

Queste jetzt beendet ist, will ich Eurem Wunsch nachkommen, 
noch ein paar Tage bleiben und Euch in allem zu Diensten 
sein.« 

Darauf nötigte ihn der Hausherr, sich neben ihn zu setzen, 

und ließ die Damen holen, damit sie sich mit ihnen freuen 
konnten, und sie fanden einträchtig ihr Vergnügen. 

Der Hausherr war aus Zuneigung zu Gawain voller 

Überschwang, als hätte er den Verstand verloren und wüßte 
nicht, was er tat. Laut rief er dem Ritter zu: »Ihr habt das zu 
tun versprochen, was ich vorschlage. Wollt Ihr jetzt, in diesem 
Augenblick, dazu stehen?« 

»Ja, gewiß«, sagte der aufrechte Ritter, »solange ich in 

Eurem Hause weile, werde ich Eurem Befehl gehorchen.« 

»Ihr seid nach einer langen, mühsamen Reise von fern 

hergekommen«, sagte der Hausherr, »und dann habe ich Euch 
wach gehalten: Ihr seid noch nicht bei Kräften, nicht erholt; Ihr 
habt gewiß Essen und Schlaf nötig. Geht nach oben in Eure 
Kammer und ruht Euch dort aus bis morgen zur Messe, und 
dann setzt Euch zu Tisch mit meiner Gemahlin, wenn Ihr 
wollt, die Euch Gesellschaft leisten wird, bis ich zur Burg 
heimkehre. Ihr bleibt, und ich werde früh aufstehen und auf die 
Jagd gehen.« 

44. 

background image

Gawain verneigte sich höflich: »Ganz, wie Ihr befehlt.« 

 
 

»Eines noch«, sagte der Hausherr: »Wir wollen eine 
Vereinbarung treffen: Was immer ich im Wald 

erbeute, soll Euch gehören, und Ihr sollt mir dafür das geben, 
was Euch durch Zufall hier beschert wird. Wollen wir dieses 
Tauschgeschäft machen, lieber Freund  – sagt, wie Ihr darüber 
denkt  –, ganz gleich, ob wir etwas Wertvolles oder etwas 
Wertloses dabei gewinnen?« 

»Bei Gott«, erwiderte Gawain, »ich bin mit allem 

einverstanden und über alle Spiele erfreut, die Ihr vorschlagt.« 

»Abgemacht, der Handel gilt! Darauf wollen wir trinken!« 

sagte der Hausherr, und sie lachten, tranken und scherzten 
nach Herzenslust, die Damen und Herren, und dann standen sie 
nach französischer Manier auf gedämpfte höfische Art 
plaudernd beisammen und küßten sich gesittet zum Abschied. 

Von würdigen Dienern mit brennenden Fackeln wurde 

endlich jeder auf geziemende Art zu seinem Bett geleitet. Doch 
bevor sie sich endgültig niederlegten, wies der Hausherr 
mehrere Male auf den Vertrag hin, denn er, der alte Fuchs in 
seinem Bau, wußte, wie man ein Spiel arrangiert. 

45. 

background image

 

III. 

 
 
 

Noch bevor der Tag anbrach, waren die Männer auf 
den Beinen. Die Gäste, die aufbrechen wollten, riefen 

nach ihren Dienern, rasch wurden die Pferde gesattelt, das 
Gepäck zusammengepackt und die Reisetaschen aufgeschnallt. 
Die Männer von Stand machten sich reisefertig, saßen 
ungesäumt auf, ergriffen die Zügel und machten sich auf den 
Weg. Der Lehnsherr war nicht der letzte von allen, der sich mit 
einer Rotte seiner Männer zum Ausritt rüstete; nachdem er der 
Messe beigewohnt hatte, aß er eilig einen Bissen und begab 
sich, während die Jagdhörner geblasen wurden, eilends ins 
Jagdrevier. 

Als der Tag heraufdämmerte, saßen er und seine Jäger zu 

Pferde. Darauf koppelten die Hundeführer die Tiere paarweise 
zusammen, öffneten die Tür des Zwingers, riefen »Hinaus!« 
und ließen dreimal hintereinander laut die Hörner ertönen, und 
die Spürhunde antworteten mit kräftigem Gebell; und sie 
hielten die Hunde, die ausbrechen wollten, mit der Peitsche 
zurück  – wie ich gehört habe, waren es hundert der besten 
Jagdhunde. Die Hundeführer bezogen Stellung und ließen die 
Hunde los, und die Wälder widerhallten von stürmischen 
Hornsignalen. 
 
 

Kaum war das Gebell der Hunde losgebrochen, 
erschrak das Wild; das Rotwild brach, von Furcht 

befallen, durch das Tal und floh die Höhen hinauf, doch es 
wurde  feurig von den Treibern empfangen, welche die Tiere 
unter lautem Geschrei zurücktrieben. Die Hirsche mit ihren 

46. 

47. 

background image

ausladenden Geweihen ließen sie durch und auch die 
Damhirsche mit den  großen Schaufeln; denn der Burgherr 
hatte verboten, während der Schonzeit ein männliches Tier zu 
erlegen. Die Hirschkühe wurden mit »He!« und »Achtung!« 
zurückgehalten, die Rehe mit gewaltigem Geschrei in die 
tiefen Täler gejagt: dort sah man einen Hagel von Pfeilen 
fliegen; hinter jeder Biegung des Pfades unter den Bäumen 
schnellten sie hervor und bohrten sich mit ihren Spitzen und 
Widerhaken in braune Decken. Getroffen! Und sie brüllten auf 
und bluteten und verendeten am Fuß des Hügels; und immer 
waren ihnen die Hunde auf den Fersen, und Jäger jagten ihnen 
bei lautem Hörnerschall nach und vollführten solch einen 
Lärm, daß es schien, als stürzten die Berge ein. Jedes Stück 
Wild, das den Bogenschützen entronnen war, wurde an den 
Sammelstellen niedergezerrt und abgestochen. 

Nachdem sie die Tiere auf dem Hügel in die Enge gedrängt 

und hinunter zum Fluß getrieben hatten, zeigten die Jäger an 
diesen tieferen Standpunkten ihre besondere Geschicklichkeit, 
und ihre Windhunde waren so schnell, daß sie die Tiere auf der 
Stelle packten und so blitzartig niederrissen, daß man seinen 
Augen nicht trauen mochte. 

Von der Jagdlust hingerissen, ob zu Pferd oder zu Fuß, 

verbrachte der Hausherr freudig den Tag bis zum Anbruch der 
Nacht. 
 
 

Während der Hausherr sich unter dem  Dach des 
Waldes vergnügte, lag der tapfere Gawain unter 

prächtigen Decken, von Vorhängen umgeben, müßig im 
weichen Bett, bis das Tageslicht die Wände der Kammer 
erhellte. Und als er im halben Schlaf dämmerte, hörte er von 
seiner Tür ein unterdrücktes, leises Geräusch, als öffne sie sich 

48. 

background image

heimlich. Da zog er eine Ecke des Vorhangs ein wenig hoch, 
hob den Kopf, um unauffällig zu erspähen, was dort vorging. 

Es war die Hausherrin, wunderschön anzusehen, die 

vorsichtig und behutsam die Tür hinter sich schloß und  sich 
seinem Bett näherte. 

Der Ritter war in Verlegenheit und legte sich rasch wieder 

hin, als schliefe er; und sie trat lautlos und verstohlen an sein 
Bett, zog den Vorhang zurück, schlüpfte unter den Baldachin, 
setzte sich behutsam auf die Bettkante und wartete sehr lange, 
daß er aufwachte. 

Er blieb einige Zeit verwirrt und verwundert liegen und 

zerbrach sich den Kopf, was ihr Kommen wohl zu bedeuten 
haben mochte und worauf es hinauslaufen würde  – auf eine 
Überraschung, wollte ihm scheinen. Doch er sagte zu sich: »Es 
wäre schicklicher, wenn ich sie umgehend fragte, was sie 
will.« 

Er tat, als wachte er auf, drehte sich herum, wandte sich ihr 

zu und hob mit scheinbar verwundertem Blick die Lider und 
bekreuzigte sich, als wollte er sich schützen. Sie grüßte ihn 
anmutig und zeigte ihr weißes Kinn, die lieblichen roten und 
weißen Wangen, und lächelte ihn mit ihren zarten Lippen an. 
 
 

»Guten Morgen, Herr Gawain!« sagte die schöne 
Dame. »Ihr seid ein sorgloser Schläfer, denn man 

kann unbemerkt bei Euch eindringen! Jetzt seid Ihr gefangen! 
Wenn wir uns nicht verständigen, werde ich Euch ans Bett 
binden, dessen könnt Ihr sicher sein«, scherzte die Dame 
lachend. 

»Guten Morgen, meine schöne Dame!« erwiderte Gawain 

fröhlich. »Ich unterwerfe mich Eurem Willen und bin es wohl 
zufrieden. Ich erkläre mich auf der Stelle für besiegt und bitte 
um Gnade, denn mir scheint, das ist das Beste, was ich tun 

49. 

background image

kann.« So gab er lächelnd ihren Scherz zurück und fuhr fort: 
»Aber würdet Ihr, schöne Dame, Euren Gefangenen jetzt wohl 
freigeben und ihm erlauben aufzustehen, damit er das Bett 
verlassen und sich angemessener bekleiden kann? Um so 
angenehmer wäre es doch, dann mit Euch zu plaudern.« 

»Nein, daraus wird nichts«, erwiderte die Schöne, »Ihr sollt 

Euer Bett nicht verlassen, denn ich weiß mir etwas Besseres: 
Ich werde Euch hier fesseln, auch auf der anderen Seite, und 
dann mit meinem wahrhaftigen Ritter plaudern, den ich 
eingefangen habe. Denn ich weiß sehr wohl, daß Ihr Herr 
Gawain seid, den alle Welt preist, wohin Ihr auch kommt, Euer 
Ehrgefühl, Eure feinen Sitten werden an den Höfen gelobt, ob 
von Herren oder Damen, kurz, von jedermann. Und jetzt seid 
Ihr tatsächlich hier, und wir sind allein! Mein Gatte und seine 
Jäger sind weit fortgeritten, die anderen Männer sind im Bett, 
und meine Hofdamen schlafen noch, die Tür ist geschlossen 
und mit einem kräftigen Riegel versperrt. Und weil ich in 
diesem Haus einen Mann habe, der das Entzücken aller ist, 
werde ich diese Gelegenheit nutzen, solange es möglich ist. 
Mein junger Leib gehört  Euch, entzückt Euch nach Belieben 
daran, denn ich kann nicht anders, als Euch dienen, und ich 
will es tun.« 
 
 

»Fürwahr«, sagte Gawain, »ich bin glücklich zu 
schätzen, obgleich ich nicht der Mann bin, von dem 

Ihr sprecht – einer solchen Ehre, wie Ihr sie mir zollt, bin ich 
nicht würdig, das weiß ich selbst am besten  – bei Gott, ich 
wäre froh, wenn meine Worte Euch zusagten oder meine 
Dienste Euch Vergnügen bereiteten, hohe Dame. Meine 
Freude wäre grenzenlos.« 

»Bei meiner Ehre, Herr Gawain«, sagte die Schöne, »wollte 

ich Euren Ruhm und Eure Tapferkeit, die allgemein anerkannt 

50. 

background image

sind, verspotten oder herabsetzen, so wäre das kaum höflich. 
Doch es gibt Damen ohne Zahl, die Euch gern in ihrer Gewalt 
hätten  – wie es mir jetzt vergönnt ist  –, um im Gespräch 
elegant  mit Worten zu spielen, Trost zu suchen und ihren 
Kummer zu lindern, und müßten sie auch alle ihre Schätze 
dafür opfern. Ich aber danke Ihm, der im Himmel herrscht, daß 
ich wegen seiner Gnade alles, was ich begehre, ganz und gar in 
der Hand habe.« 

Die Dame  mit dem schönen Gesicht ließ sich nicht 

zurückweisen. Der Ritter antwortete ihr, und er wußte seine 
Worte wohl zu wählen. 
 
 

»Meine Dame«, antwortete er freimütig, »Maria möge 
es Euch lohnen. Denn ich habe fürwahr Eure große 

Freigebigkeit erfahren, und  auch andere hier haben mir 
Achtung gezollt; aber alle Höflichkeiten, die man mir erweist, 
übersteigen mein Verdienst. Es ehrt Euch selbst, wenn Ihr es 
gut mit mir meint.« 

»Nein, bei Maria«, wandte die Dame ein, »da bin ich anderer 

Meinung. Denn wenn ich so viel wert wäre wie alle anderen 
Frauen und würde alle Schätze der Welt mein eigen nennen 
und sollte einen Mann erwählen, so würde ich Euch, lieber 
Ritter, wegen Eures edlen Wesens, über das Ihr verfügt, wegen 
Eurer Schönheit, Mildtätigkeit und Eurer höfischen Gesittung, 
von denen ich bereits gehört hatte und die ich jetzt bestätigt 
finde, jedem anderen Mann auf der Welt vorziehen.« 

»Um die Wahrheit zu sagen, meine Dame«, antwortete er, 

»habt Ihr weit besser gewählt. Aber ich bin stolz darauf, daß 
Ihr mir eine solche Wertschätzung zuteil werden laßt, und Ihr 
seid für mich meine Herrin, deren untertäniger Diener ich sein 
und deren Ritter ich werden will  – Christus möge es Euch 
lohnen.« 

51. 

background image

Auf diese Weise unterhielten sie sich, bis es Mittag wurde, 

und während der ganzen Zeit verhielt sich die Dame so, als 
wenn sie Gawain von Herzen liebte. Er wehrte sie ab, jedoch 
immer auf höfliche Art. Wenn sie auch die schönste Frau war, 
die Gawain sich vorstellen konnte, ging ihm doch weniger die 
Liebe durch den Kopf als der  Schlag, den er in Bälde 
empfangen würde und dem er nicht ausweichen konnte. Dann 
bat die Dame, sich entfernen zu dürfen, und er hielt sie nicht 
zurück. 
 
 

Darauf warf sie ihm ein Lächeln zu, stand da und 
sprach ihn mit so ernsten Worten an, daß es ihn 

erstaunte: »Möge Gott, der uns mit dem Geschenk der Sprache 
segnet, Euch belohnen! Aber daß Ihr wirklich Gawain seid, 
will mir nicht in den Kopf.« 

»Warum?« fragte der Ritter eilig, weil er besorgte, er könne 

sich in der Form vergriffen haben. 

»Ganz einfach«, erwiderte sie vergnügt, »weil Gawain, der 

für einen derart vollkommenen Ritter gehalten wird, der alle 
Artigkeit verkörpert, kaum so ausgiebig hätte plaudern können, 
ohne daß er an einer Stelle der Unterhaltung, die eine solche 
Andeutung erlaubte, die Dame als höfischer Ritter um einen 
Kuß gebeten hätte.« 

Da sagte Gawain: »Nun denn, wie Ihr wünscht, sei’s drum. 

Ich werde Euch auf Euren Befehl hin küssen, wie es sich für 
einen Ritter ziemt, und außerdem, um nicht Euren Unmut zu 
erregen, wenn Ihr weiter darum bitten müßt.« 

Darauf trat sie näher und schloß ihn in die Arme, beugte sich 

zierlich zu ihm hinunter und küßte ihn. Sie tauschten höflich 
ein »Gott empfohlen« aus, dann schritt sie ohne Umschweife 
durch die Tür und verschwand, während er sich eilig erhob, um 
sich anzukleiden. 

52. 

background image

Er rief seinen Kammerdiener, wählte seine Kleidung und 

ging, nachdem er alles angelegt hatte, gutgelaunt zur Messe. 
Dann setzte er sich zu einer Mahlzeit an den Tisch, der 
angemessen gedeckt war, und verbrachte fröhlich den Tag bis 
zum Mondaufgang. 

Nie ist ein Gast besser aufgenommen worden als Gawain von 

den beiden würdigen Damen, der jungen und der alten: Sie 
hatten viel Spaß miteinander. 
 
 

Und noch immer hielt seine Jagdlust den Hausherrn 
von seiner Burg fern, und er setzte durch Wald und 

Heide den Hirschkühen nach, die nicht trächtig waren. Als die 
Sonne zu sinken begann, hatte er eine so große Anzahl von 
Rehen und Rotwild erlegt, daß es kaum zu glauben war. 
Schließlich versammelten sich alle Jäger hurtig an einem Platz 
und trugen die Jagdbeute zusammen. Hier stellte sich auch 
eilig der Jagdherr mit einer Schar seiner Männer ein, wählte 
unter den Tieren die besten aus, und sie brachen sie sauber auf, 
wie es die Regeln verlangten. Einige Männer prüften die Tiere 
und fanden noch  in den magersten eine zwei Finger breite 
Schicht Fett. Darauf schlitzten sie die Drossel auf, zogen den 
zweiten Magen heraus, reinigten ihn mit einem scharfen 
Messer und banden ihn zu; dann trennten sie die vier Läufe ab, 
zogen die Haut ab, schlitzten die  Bauchhöhle auf und 
entfernten vorsichtig die Eingeweide (die sie fortwarfen), um 
den Magenknoten nicht zu lösen; sie nahmen die Gurgel, 
lösten geschickt die Speiseröhre von der Luftröhre und zogen 
die Eingeweide zur Gänze heraus. Danach lösten sie mit 
scharfen Messern die Schulterblätter aus (durchtrennten die 
Sehnen mit einem kleinen Schnitt), um die Seitenstücke 
vollständig zu lassen; sie schnitten den Brustkorb auf und 
trennten ihn in zwei Teile, dann setzten sie wieder bei der 

53. 

background image

Gurgel an, öffneten den Hals bis zum Ansatz der Läufe und 
entfernten, was ungenießbar war, ehe sie die zarten 
Hautschichten von den Rippen lösten. Mit großem Geschick 
legten sie das Rückgrat frei und zogen alle Anhängsel bis zu 
den Keulen herunter, hoben sie in einem Klumpen hoch und 
hieben ihn ab, und sie nennen diese Masse treffend, wie ich 
meine, Abfall. Sie durchtrennen die Haut an den Schenkeln, 
schlagen die Lappen zurück und teilen den Körper am 
Rückgrat entlang rasch in zwei Hälften. 
 
 

Anschließend hieben sie Kopf und Hals ab, trennten 
rasch die Seitenteile vom Rückenstück und warfen 

den Krähen ihren Anteil ins Unterholz. Sie durchbohrten die 
Rippen der dicken Seitenteile und hängten sie an den 
Beinstümpfen auf: jedermann bekam den Anteil, der ihm 
zustand; auf der Decke eines schönen Tieres wurden die 
Hunde mit Leber, Lunge und Gekröse, mit blutgetränktem Brot 
vermischt, gefüttert. Dann verkündete ein Hornsignal das Ende 
der Jagd, die Hunde fielen bellend ein; danach luden sie ihre 
Beute auf und machten sich unter stolzem Hörnerklang auf den 
Heimweg. Gegen Abend hatte die Gesellschaft rechtzeitig die 
Burg erreicht, wo der Ritter Gawain behaglich am hellen Feuer 
saß. Sogleich ging der Hausherr zu ihm, und als die zwei 
Männer sich wiedersahen, war ihr Vergnügen vollkommen. 
 
 

Dann gab der Hausherr die Anweisung, alle seine 
Männer sollten in die Hallen kommen, wie auch die 

beiden Damen mit ihrem Gefolge; ehe sich alle versammelt 
hatten, befahl er stämmigen Männern, das Wildbret vor ihm 
auszubreiten, wandte sich fröhlich und gutmütig an Gawain, 

54. 

55. 

background image

verkündete ihm die Anzahl der erlegten Stücke und zeigte ihm 
das glänzende Fett auf ihren Rippen. 

»Wie gefällt Euch dieses Spiel? Habe ich Lob verdient? 
Schuldet Ihr mir ehrlichen Dank für meine Geschicklichkeit 

auf der Jagd?« 

»Ja, in der Tat«, gab Gawain zur Antwort, »das ist das meiste 

und schönste Wildbret, daß ich in den letzten sieben Jahren im 
Winter gesehen habe.« 

»Ich schenke es Euch, Gawain«, sagte der Hausherr 

großmütig, »denn nach dem Vertrag, den wir geschlossen 
haben, steht es Euch rechtmäßig zu.« 

»Das ist wahr«, entgegnete dieser, »und ich sichere Euch das 

gleiche zu: Was ich reinen Herzens Wertvolles in diesen 
Mauern erworben habe, das, versichere ich, gehört Euch.« 

Er umarmte und küßte ihn freundschaftlich. 
»Nehmt also meine Beute, Herr! Mehr habe ich nicht. Gern 

würde ich sie hergeben, wenn sie größer wäre.« 

»Es ist gut«, erwiderte freundlich der Hausherr. »Ich danke 

Euch von Herzen. Da Euer Schatz vielleicht der größere ist, so 
erzählt mir doch in Kürze, wo Ihr ihn dank Eurer Klugheit 
erworben habt.« 

»Das haben wir nicht abgemacht«, sagte Gawain. »Fragt 

mich nicht weiter, denn Ihr habt bekommen, was Euch 
gebührt, und könnt sicher sein, daß Ihr darüber hinaus nichts 
von mir bekommen könnt.« 

Sie lachten und machten Scherze, und darauf gingen sie zum 

Abendessen, wo viele Köstlichkeiten sie erwarteten. 

 
 

Anschließend nahmen sie im Kaminzimmer Platz, 
reichlich Wein vom besten wurde ihnen gebracht, und 

unter Scherzen schlossen sie denselben Vertrag auch für den 
morgigen Tag: am Abend alles, was sie an Beute erhascht 

56. 

background image

hatten, auszutauschen, was immer auch geschehen mochte. 
Diesen Vertrag schlossen sie vor der versammelten 
Hofgesellschaft und stießen unter vielen Witzeleien darauf an. 
Endlich nahmen sie in fröhlicher Laune Abschied voneinander 
und gingen zu Bett. 

Der Hahn hatte kaum dreimal gekräht, als der Burgherr und 

seine Leute schon auf den Beinen waren; als Frühstück und 
Frühmesse vorbei waren, ritt die Schar bei Tagesanbruch in 
den Wald zur Jagd. Unter den Rufen der Jäger und den 
Klängen der Hörner ritten sie übers Feld; die Hunde rasten, 
von den Leinen befreit, geschwind ins dornige Gestrüpp. 
 
 

Bald nahmen sie in einem Dickicht am Rande eines 
Sumpfes eine Fährte auf. Die Jäger feuerten den 

Hund an, der die Spur als erster gewittert hatte, stießen Schreie 
aus und vollführten Lärm. Als die übrigen Hunde das hörten, 
kamen sie, eine Meute von vierzig, eilends herbei. Dann 
jaulten und heulten sie so laut, daß die Felsen ringsum 
widerhallten. Die Jäger feuerten sie mit Geschrei und 
Hornsignalen an, und dann rasten sie alle zusammen zwischen 
einem Waldsee und einer schroffen Bergwand dahin. In ein 
Dickicht unter einer hohen Klippe am Rand der Schlucht, wo 
der nackte Fels völlig zerklüftet war, folgten sie der Spur, die 
Jäger dicht hinter ihnen, welche die Klippe und das Steingeröll 
einkreisten, davon überzeugt, das Wild gestellt zu haben, eben 
das Tier, das die Hunde gewittert hatten. 

Da schlugen sie auf die Büsche, um das Wild 

aufzuscheuchen, und es kam heraus und ging gefährlich auf sie 
los. 

Es war ein Keiler ohnegleichen, der hervorbrach. Dieses alte, 

störrische Tier hatte seine Rotte seit langem verlassen, denn 

57. 

background image

dieses größte aller Wildschweine war bösartig und grunzte 
wild. 

Da erschrak mancher Jäger, denn der Keiler schleuderte die 

ersten der Hunde zu Boden und jagte mit großer 
Geschwindigkeit davon, ohne sich um die anderen zu 
kümmern. Und die Jäger schrien und brüllten ihm nach und 
riefen mit Hornsignalen die Meute zusammen. Unter 
gewaltigem Geschrei und Hundegebell jagten sie dem Keiler 
nach, um ihn mit Lärm zu verschrecken. Viele Male hielt er 
inne und die Meute geriet in Unordnung. Er verwundete viele 
Hunde, und sie heulten und jaulten erbärmlich. 
 
 

Doch sogleich rückten die Jäger vor, um zum Schuß 
zu kommen, schossen ihre Pfeile ab und trafen ihn 

oft. Aber die Pfeile, die seine Flanken trafen, zeigten keine 
Wirkung, und die Widerhaken drangen nicht in seinen Nacken: 
Obwohl der Schaft zersplitterte, prallten die Spitzen ab, wo sie 
auch trafen. Aber als die Wucht der harten Aufschläge ihn 
erschütterten, packte ihn die Kampfeswut, und er ging auf die 
Männer los, spießte sie erbarmungslos auf, während er 
vorwärts raste, und manch einer, der ihn kommen sah, verzagte 
und wich ihm hurtig aus. Aber der Burgherr setzte ihm auf 
schnellem Pferd nach, wobei er wie ein mutiger Krieger in der 
Schlacht ins Horn stieß und den Ruf zum Sammeln blies, 
während er durch das dichte Unterholz ritt. 

Er verfolgte den Keiler, bis die Sonne sank. 
Auf diese Weise verbrachten sie den Tag, während unser 

braver Ritter daheim unter kostbaren, farbenprächtigen Decken 
im weichen Bett lag. Die Dame vergaß ihn nicht: Sie kam, um 
ihn zu begrüßen, früh schon suchte sie ihn auf, um seinen 
Willen zu schwächen. 
 

58. 

background image

 

Sie schritt zum Vorhang und lugte auf den Ritter. 
Herr Gawain grüßte sie höflich als erster, und sie 

erwiderte leichthin seinen Gruß und nahm sanft an seiner Seite 
Platz. 

Plötzlich lächelte sie und sprach mit liebevollem Blick zu 

ihm: »Herr, wenn Ihr Gawain seid, wundert es mich, daß ein 
Mann von so edler Gesinnung und Liebenswürdigkeit mit den 
höfischen Bräuchen nicht vertraut ist; und wenn man Euch 
damit bekannt macht, prägt Ihr sie Euch nicht ein. Ihr habt 
vergessen, was ich Euch gestern so einfach wie möglich 
beizubringen versuchte!« 

»Was ist das?«  fragte er sogleich. »Ich weiß es wirklich 

nicht. Wenn Ihr aber die Wahrheit sagt, muß ich die ganze 
Schuld auf mich nehmen.« 

»Was das Küssen betrifft«, sagte sie, »gab ich Euch 

folgenden Rat: Wann immer Euch diese Gunst eröffnet wird, 
zögert nicht, Gebrauch davon zu machen; das steht allen wohl 
an, die sich um höfisches Benehmen bemühen.« 

»Nehmt das zurück, meine Schöne«, sagte der aufrechte 

Ritter. »Denn nur aus Furcht, zurückgewiesen zu werden, habe 
ich es nicht gewagt. Hätte ich Ablehnung erfahren, so wäre es 
ein Fehler gewesen, eine solche Kühnheit gewagt zu haben.« 

»Meine Güte«, erwiderte die schöne Dame, »Ihr konntet 

niemals zurückgewiesen werden; Ihr seid Manns genug, Euch 
gewaltsam zu holen, was Ihr begehrt, wenn Ihr wollt, falls eine 
Dame so schlechte Manieren hat, Euch abzuweisen.« 

»Bei Gott, was Ihr sagt, hört sich köstlich an, aber in dem 

Kreise, in dem ich zu Hause bin, hat Gewalt keinen Platz, und 
es werden dort keine Geschenke verlangt, die nicht freudig und 
freiwillig gemacht werden. Ich stehe Euch zum Küssen mit 
Freuden zu Diensten. Ihr könnt die Küsse empfangen, wann 
immer Ihr wollt, und damit aufhören, wenn es Euch gefällt.« 

59. 

background image

Da beugte sich die Dame nieder und küßte zärtlich sein 

Gesicht. 

Und dann sprachen sie noch mancherlei von den Leiden und 

Freuden der Liebe. 
 
 

»Ich würde gern von Euch erfahren, Herr«, sagte die 
Dame, »wenn Ihr nichts dagegen hat, was das 

bedeutet: Warum ein so junger, lebensvoller Mann wie Ihr, der 
wegen seiner Ritterlichkeit und seines Anstandes berühmt ist, 
mir gegenüber nie ein Wort über das Lieben in irgendeiner 
Form geäußert hat. Wenn ich unter den Tugenden des 
Rittertums zu wählen hätte, entschiede ich mich für die 
Freuden wahrer Liebe, denn sie ist die Krone ritterlichen 
Lebens. Die Liebe ist der Hauptgrund ihrer Werke und deren 
Inhalt, daß sie nämlich um ihrer reinen Liebe willen ihr Leben 
aufs Spiel gesetzt, schreckliche Prüfungen durchgemacht, sich 
dann mutig gerächt, ihr Unglück gemeistert  und durch ihre 
Standhaftigkeit das Glück ins Gemach ihrer Liebsten gebracht 
haben. Ihr seid der Ritter, der in unserer Zeit den größten 
Ruhm genießt, Euer Name wird überall rühmend genannt, und 
doch sitze ich zum zweiten Mal neben Euch, ohne eine 
Bemerkung über die Liebe gehört zu haben. Wenn Ihr getreu 
Eurem Gelübde so ritterlich und höfisch seid, sollte es Euch 
ein Anliegen sein, eine junge Schülerin durch Hinweise und 
Beispiele in die Kunde der Liebe einzuführen. Warum? Seid 
Ihr ungeachtet aller Verehrung, der Ihr Euch erfreut, ein Mann, 
der nichts weiß? Oder glaubt Ihr, ich sei zu töricht, Euren 
Gedanken zu folgen? Schämt Euch! Ich komme allein zu Euch, 
um ein Spiel zu erlernen; kommt also, laßt mich an Eurem 
Wissen teilhaben, solange mein Gemahl weit fort ist.« 
 
 

60. 

background image

»Bei meiner Ehre«, gab Gawain zur Antwort, »möge 
es Gott Euch lohnen! Ich bin froh und über die Maßen 

erfreut, daß eine so edle Dame bereit war, herzukommen und 
sich mit einem so armseligen Mann abzuquälen: Daß Ihr ihm 
als Eurem Ritter im Spiel soviel Gunst erweist, erfüllt mich mit 
Freude. Würde ich mich aber daranmachen, vor Euch die 
wahre Liebe zu erörtern und mich über Inhalt und Handlung 
der Rittergeschichten auszulassen, wäre ich wahrhaftig mehr 
als ein Narr, denn ich weiß, daß Ihr in dieser Kunst doppelt so 
geschickt seid wie hundert Männer meiner Art es auf Erden 
sind oder je sein werden! Ich will für Euch tun, was ich kann, 
denn ich weiß diese Ehre zu schätzen und werde, das walte 
Gott, immer Euer Diener sein.« 

So erprobte und prüfte ihn die edle Dame und führte ihn 

immer wieder in Versuchung, ihn zu Zärtlichkeiten zu 
verlocken, was immer sie sich dabei denken mochte. Aber er 
wehrte sich so tapfer, daß man keinen Makel an ihm finden 
konnte und auf beiden Seiten nichts Böses, sondern nur 
Freude. Lange lachten sie und neckten sich; schließlich gab sie 
ihm einen zarten Abschiedskuß und ging ihrer Wege. 
 
 

Darauf erhob sich Gawain aus dem Bett, um in die 
Messe zu gehen, und dann wurde ihnen köstliches 

Frühstück serviert. 

Den ganzen Tag amüsierte sich Gawain mit den Damen, der 

Hausherr jedoch ritt kreuz und quer über Land und verfolgte 
den grimmigen Keiler, der über die Hänge jagte und den 
besten Hunden die Rücken zerfleischte, wo immer er gestellt 
wurde, bis Bogenschützen gegen ihn vorrückten und ihn 
ungeachtet seiner Hauer in die Flucht trieben, denn so dicht 
hagelten die Pfeile, wenn die Jäger gemeinsam angriffen. Und 
dennoch zwang er oft die mutigsten Verfolger, ihm 

61. 

62. 

background image

auszuweichen, bis er schließlich so erschöpft war, daß die 
Kräfte ihn verließen und er sich mit letzter Kraft auf ein 
Felsenriff am Fluß rettete und zu scharren begann; Schaum trat 
häßlich auf seine Lefzen, und er wetzte seine weißen 
Stoßzähne. 

Die kühnen Männer, die ihn umringten, hatten es satt, ihn aus 

der Ferne zu verfolgen, wagten es wegen der Gefahr aber 
nicht, näher zu kommen. Er hatte bereits so viele verwundet, 
daß jetzt niemand den Wunsch verspürte, noch einmal mit den 
Hauern eines so wilden und unberechenbaren Tieres 
Bekanntschaft zu machen. 
 
 

Da kam der Hausherr selbst angeritten auf schnellem 
Pferd und sah, daß der Keiler gestellt und von allen 

seinen Männern umstellt war. 

Rasch sitzt er ab, läßt sein Pferd zurück, zückt ein breites 

Schwert, rückt kühn vor, watet mit mächtigem Schritt durch 
die Furt auf die Bestie zu. Das wilde Tier gewahrte ihn und die 
Waffe in seiner Hand, sträubte die Borsten und grunzte 
mächtig, so daß die Leute fürchteten, es könnte für ihren Herrn 
böse ausgehen. 

Das Wildschwein kam hervor und stürzte sich auf den 

Gegner, und das Tier und der Mann gerieten mitten in der 
reißenden Strömung wild aneinander. 

Aber den Gegner traf es schlimmer, denn der Burgherr 

fixierte ihn kaltblütig, und als sie aufeinandertrafen, stieß er 
ihm geradewegs mit fester Hand die Klinge genau in die 
weiche Stelle des Nackens, trieb sie bis zum Heft hinein, so 
daß das Herz des Keilers  durchbohrt wurde, er stöhnend 
zusammenbrach und sogleich flußabwärts trieb. 

63. 

background image

Viele Hunde packten ihn und verbissen sich wütend in ihre 

Beute. Die Männer schafften den Keiler ans Ufer, wo die 
Hunde ihm den Garaus machten. 
 
 

Da bliesen die Männer freudig das Halali und schrien 
und brüllten aus Leibeskräften vor Stolz. Die Hunde 

verbellten die Beute, ermuntert von den obersten Jägern dieser 
kraftraubenden Jagd. 

Dann begann einer von ihnen, der im Waidwerk bewandert 

war, mit vollendeter Geschicklichkeit den Keiler aufzubrechen. 
Zuerst schlug er ihm den Kopf ab und hob ihn in die Höhe, 
dann spaltete er den Rumpf längs des Rückgrats mit kräftigen 
Schlägen, zerrte die Eingeweide heraus, ließ sie auf glühenden 
Kohlen rösten und gab sie, vermengt mit Brot, den Hunden als 
Lohn zum Fressen. 

Dann schnitt er das Fleisch in breite Streifen und entfernte 

das Innere, das eßbar war, ganz der Regel entsprechend, 
schnürte sodann die beiden Hälften fest zusammen und hängte 
sie mit starken Armen an einer kräftigen Stange auf.  Danach 
machten sie sich mit ihrer Beute geschwind auf den Heimweg, 
und der Kopf des Keilers wurde vor dem mutigen Burgherrn 
hergetragen, der ihn in der Furt durch die Stärke seiner Hand 
zur Strecke gebracht hatte. Er konnte es kaum erwarten, Herrn 
Gawain zu sehen. Er rief nach ihm, und dieser kam sogleich 
herbei, das Geschenk, das ihm zustand, in Empfang zu 
nehmen. 
 
 

Der Hausherr lachte laut und fröhlich und begrüßte 
ihn herzlich, als er Gawain erblickte. Man rief die 

edlen Damen und alle Burgbewohner herbei, und er zeigte 
ihnen die abgeschnittenen Fleischbrocken und gab ihnen einen 

64. 

65. 

background image

Bericht von der Massigkeit und erstaunlichen Größe und von 
der Bösartigkeit, mit der das Wildschwein gekämpft hatte, als 
es in die Wälder geflüchtet war. 

Mit anerkennenden Worten zollte Gawain seiner Heldentat 

Lob und rühmte die große Tapferkeit, die er durch seine Tat 
bewiesen habe. Einen solchen Fleischberg oder solche 
Schweineflanken, erklärte der brave Ritter, habe er noch nie 
gesehen. Darauf stellte man den riesigen Kopf zur Schau, und 
er lobte ihn und drückte laut sein Entsetzen über dieses 
häßliche Stück aus. 

»Nun, Gawain«, sagte der vortreffliche Mann, »diese Beute 

gehört Euch, wie Ihr wohl wißt, durch den festen Vertrag, den 
wir abgeschlossen haben.« 

»Das stimmt«, sagte der Ritter, »und es ist ebenso sicher, daß 

ich alles, was ich erhielt, an Euch weitergeben werde, bei 
meiner Ehre.« 

Er umarmte den Burgherrn und küßte ihn geziemend, und 

sogleich danach noch ein zweites Mal. »Jetzt sind wir quitt«, 
sprach er, »und heute abend erfüllen wir alle Verträge, die wir 
miteinander geschlossen haben, seit ich in dieses Haus kam.« 

Der Hausherr erwiderte: »Beim heiligen Ägidius, Ihr seid ein 

meisterlicher Händler. Wenn Ihr so weitermacht, werdet Ihr in 
Kürze reich sein.« 
 
 

Dann  wurden die Tische aufgeschlagen und Decken 
darauf ausgebreitet, und die Wände erstrahlten in 

hellem Licht, denn dort entzündete man Wachskerzen, und 
Diener eilten durch die Halle, um die Speisen aufzutragen. 
Rings um das Feuer erhob sich freudiger Lärm, und im Lauf 
des Abendessens und später wurden viele frohe Lieder 
gesungen, Weihnachtslieder und Tanzlieder, und es herrschte 
ein Frohsinn, der kaum zu beschreiben ist; und immer saß 

66. 

background image

unser edler Ritter neben der Dame. Sie warf ihm huldvoll so 
liebevolle Blicke zu und machte ihm heimlich, um ihm zu 
gefallen, schöne Augen, daß er verwundert und im Inneren 
verstimmt war. Aber aus ritterlicher Höflichkeit mochte er sie 
nicht kühl in die Schranken weisen, sondern behandelte sie 
zuvorkommend, mochte sie das auch verstimmen. Als sie sich 
ausgiebig vergnügt hatten, riet der Hausherr Gawain zu sich in 
die Kaminecke. 
 
 

Dort tranken sie Wein und unterhielten sich vergnügt 
und kamen überein, den Vertrag für den Tag vor dem 

Neujahrstag noch einmal abzuschließen. 

Doch Gawain sagte: »Ich bitte um die Erlaubnis, morgen 

aufbrechen zu dürfen, denn der Zeitpunkt der Verabredung, zu 
der ich mich verpflichtet habe, ist nahe.« 

Der Hausherr hatte keine Lust, seine Einwilligung zu geben, 

wollte ihn länger bei sich behalten und sagte: »So wahr ich ein 
ehrlicher Mann bin, gebe ich Euch mein Wort, daß Ihr zur 
Grünen Kapelle gelangen und Eure Angelegenheit am 
Neujahrsmorgen noch vor Tau und Tag erledigt haben werdet. 
Geht also schlafen und gönnt Euch in Eurer Kammer die Ruhe. 
Ich werde  hier im Wald jagen und den Vertrag getreulich 
einhalten und den Gewinn bei meiner Rückkehr mit Euch 
austauschen. Denn ich habe Euch zweimal auf die Probe 
gestellt und Euch vertrauenswürdig gefunden. Aber aller guten 
Dinge sind drei, denkt morgen daran! Wir wollen die Zeit 
fröhlich verbringen und der Freude Raum geben, solange wir 
können, denn der Mensch kann zu jeder Zeit in Trauer 
verfallen.« 

Da einigten sie sich, und Gawain sträubte sich nicht länger. 

Dann brachte man ihnen einen letzten Trunk, und dann wurden 
sie bei Kerzenschein zu Bett geleitet. 

67. 

background image

Herr Gawain erfreute sich die ganze Nacht eines tiefen, 

gesunden Schlafes; sein Gastgeber hatte nur die Jagd im Sinn 
und war zeitig wieder auf den Beinen. 
 
 

Nach der Messe nahmen er und seine Männer einen 
kleinen Imbiß zu sich. Der Morgen war herrlich. Er 

rief nach seinem Pferd. Alle Jäger zu Pferde, die ihn begleiten 
sollten, waren bereits zum Aufbruch bereit am Tor 
versammelt. 

Wundersam und wie verzaubert lagen die Felder da, denn der 

Rauhreif überzog sie; in rosa Schleiern stieg die Sonne auf und 
schwamm klar durch die Wolkeninseln des Himmels. Am 
Waldrand machten die Jäger die Hunde los, und der Klang 
ihrer Hörner widerhallte im Wald von den Felsen. 

Einige Hunde nahmen die Fährte des Fuchses auf, 

schnüffelten hier und da mit ihren scharfen Sinnen. Da gibt ein 
Hund Laut, der Jäger ruft ihn beim Namen, die anderen Hunde 
schließen sich an und rennen ihm nach, ein schnüffelnder 
Haufen, endlich auf der richtigen Spur. 

Der Fuchs flitzt vor ihnen davon, aber sie wittern ihn sofort, 

und als sie ihn erblicken, hetzen sie ihn unter wütendem 
Geheul. Er duckt sich, schlägt sich mehrmals seitlich ins wilde 
Dickicht, schlägt Haken und verhält lauernd unter Hecken. 
Schließlich setzt er bei einem kleinen Graben über einen 
Dornbusch und schleicht am Rande eines Sumpfes verstohlen 
fort, wähnt durch seine Schliche im Wald den Hunden 
entronnen zu sein. 

Da stößt er unverhofft auf einen Stand, wo sofort drei graue 

Wildhunde, von Jägern dort postiert, über ihn herfallen. Rasch 
bricht er wieder aus und rast unerschrocken davon; bekümmert 
und unter großen Schmerzen kehrt er zum Wald zurück. 
 

68. 

background image

 

Die Jäger hatten Spaß daran, den Hunden zuzuhören, 
als die ganze Meute auf den Fuchs losging. Ihr Gebell 

war so durchdringend, daß die zerklüfteten Klippen 
einzustürzen schienen. 

Als die Jäger zu ihm kamen, begrüßten sie ihn mit 

Schmähungen und wütenden Flüchen, sie bedrohten ihn und 
nannten ihn mehrmals einen Dieb. 

Immer wieder gingen die Hunde auf ihn los, so daß er nicht 

ausharren konnte. Unentwegt rannten sie hinter ihm her, wenn 
er sein Heil in der Flucht suchte. Mehr als einmal schlug der 
gewitzte Reineke Haken. In der Tat hielt er den Burgherrn und 
seine Leute zwischen Berg und Hügel bis zum Nachmittag 
zum Narren. 

Währenddessen schlief der brave Ritter zu Hause sanft hinter 

schönen Vorhängen, welche die Kälte abhielten, in seinem 
weichen Bett. Doch die liebestolle Dame gönnte sich keinen 
Schlaf und dachte nicht daran, ihre Absicht aufzugeben, die sie 
so fest in ihrem Herzen hegte; vielmehr suchte sie nach dem 
Aufstehen sogleich seine Kammer auf, in ein farbenfrohes 
Gewand gehüllt, bis auf den Boden reichend und mit fein 
verarbeitetem Pelz gefüttert. Auf dem Kopf hatte sie nicht die 
übliche Haube, sondern ein Haarnetz, das Grüppchen von 
jeweils zwanzig fein geschliffenen Edelsteinen zierten. Ihr 
schönes Gesicht und ihr Hals waren unbedeckt, und Busen und 
Rücken hatte sie entblößt. 

Sie kam durch die Kammertür und schloß sie hinter sich, 

öffnete ein Fenster und redete, um ihn heiter zu wecken, mit 
anmutigen, feinen Worten auf ihn ein: »Ach, lieber Mann, wie 
könnt Ihr schlafen, wo doch der Morgen so schon ist!« 

Er lag in tiefem Schlummer, doch dann hörte er sie. 

 
 

69. 

background image

In tiefem Schlaf versunken murmelte er träumend 
Worte, wie ein Mann, dessen Seele viele düstere 

Gedanken heimsuchen: welches Schicksal war ihm heute 
bestimmt, wenn er an der Grünen Kapelle auf den großen 
Mann treffen würde und er verpflichtet war, dessen Hieb ohne 
Widerrede zu erdulden? 

Doch als die entzückende Frau zu ihm kam, wurde er wieder 

Herr seiner Sinne, rieb sich den Schlaf aus den Augen und 
erwiderte rasch ihren Gruß. 

Die liebliche, schön gekleidete Dame kam reizend lächelnd 

näher, beugte sich über ihn und küßte ihn gewandt. Höflich 
erwiderte er ihren Gruß mit freundlicher Miene. 

Als er ihre prächtige und verführerische Kleidung, ihre 

makellose Gestalt und edlen Farben gewahrte, wurde ihm 
warm ums Herz. 

Sie verfielen in ein freundliches Geplauder, und zwischen 

ihnen war nur Freude und Glückseligkeit. Sie wechselten viele 
liebevolle Worte und hatten viel Vergnügen an diesem Spiel, 
doch über ihnen lag eine große Gefahr, wenn nicht Maria 
ihrem Ritter beistand. 
 
 

Denn sie, königlich und unvergleichbar, bedrängte ihn 
so sehr und reizte seine Männlichkeit so stark, daß er 

gezwungen war, ihre Gunst entweder abzulehnen oder sich 
ihrer zu erfreuen. Er sorgte sich um seine Ritterehre, die es 
verbot, ein Schurke zu werden, doch mehr noch um das 
Unheil, er könne eine Sünde begehen und am Hausherrn zum 
Verräter werden. 

»Gott helfe mir!« sagte er. »Das soll nicht geschehen.« Mit 

einem gequälten Lächeln wehrte er alle liebevollen Worte ab, 
die sie fallenließ. 

70. 

71. 

background image

Da sagte sie zum Ritter: »Schämt Euch, die Frau nicht zu 

lieben, die hier allein neben Euch liegt und die tiefer als alle 
anderen am Herzen verwundet ist, es sei denn, Ihr hättet eine 
Geliebte, die Ihr mehr liebt und verehrt und wärt der Schönen 
so fest und treu verbunden, daß Ihr dieses Band nicht auflösen 
wollt – das glaube ich jetzt. Ich bitte Euch, sagt mir aufrichtig, 
ob das stimmt. Beim Himmel beschwöre ich Euch, mir nicht 
mit List die Wahrheit zu verbergen.« 

Da erwiderte der Ritter mit einem weichen Lächeln: »Beim 

heiligen Johannes, nein! Ich habe keine Geliebte und will zur 
Zeit auch keine haben.« 
 
 

»Diese Worte«, antwortete die Dame, »sind die 
schlimmsten, die es geben kann. Aber ich habe eine 

Antwort bekommen und die ist schwer zu ertragen. Gebt mir 
nun rasch einen Kuß, und ich werde ebenso rasch das Weite 
suchen. Jetzt bleibt mir noch die Klage, wie jeder Frau, die so 
von Herzen liebt.« 

Seufzend neigte sie sich vor und küßte ihn zärtlich; dann 

löste sie sich von ihm und sagte im Stehen: »Wohlan, mein 
Lieber, erweist mir zum Abschied noch eine Gunst und gebt 
mir etwas als ein Geschenk von Euch, Euren Handschuh 
vielleicht, damit ich mich an Euch erinnern und dadurch 
meinen Kummer lindern kann.« 

»Wirklich«, erwiderte Gawain, »ich wünschte, ich hätte als 

Geschenk für Eure Liebe das Schönste bei mir, das ich in 
meinem Lande besitze, denn Ihr habt von Rechts wegen mehr 
als einmal eine größere Belohung verdient, als ich sie geben 
könnte. Aber als Liebeszeichen bedeuten Dinge von geringem 
Wert wenig. Es gereicht Euch nicht zur Ehre, von Gawain als 
Zeichen der Liebe einen Handschuh erhalten zu haben, und ich 
bin hier mit einem Auftrag in fremden Ländern und habe (zu 

72. 

background image

meinem Unglück) keine Träger für Taschen, die mit kostbaren 
Dingen gefüllt sind, um Euch, teure Dame, zu ergötzen. Ein 
Mann muß seine Pflicht tun, darum seid nicht verärgert oder 
gekränkt.« 

»Nein«, erwiderte die schöne Dame, »nein, edler und freier 

Ritter, obwohl ich nichts von Euch bekam, sollt doch 
wenigstens Ihr ein Geschenk von mir erhalten.« 
 
 

Sie bot ihm einen aus rotem Gold geschmiedeten 
Ring an, der wie einen Stern einen Stein trug, der so 

hell strahlte wie die  Sonne. Ich garantiere euch, daß er mehr 
als ein Vermögen wert war. 

Doch der Ritter lehnte ihn ab und sagte eilig: »Ich will jetzt 

um Gottes willen keine Geschenke von Euch haben,  schöne 
Frau. Da ich kein Geschenk für Euch habe, werde ich auch 
keines annehmen.« 

Sie wiederholte ihr Angebot und drängte ihn, den Ring zu 

nehmen, und er wies ihre Bitte zurück und schwor bei seiner 
Ehre, er werde ihn nicht annehmen. 

Und sie, wegen seiner Ablehnung bekümmert, fuhr fort: 

»Wenn Ihr meinen Ring ablehnt, weil er Euch zu kostbar 
vorkommt und Ihr nicht zu tief in meiner Schuld stehen wollt, 
werde ich Euch meinen Gürtel geben, der weniger wertvoll 
ist.« 

Sie machte einen Gürtel los, den sie unter dem edlen Gewand 

um die Hüften geschnallt trug. Er war aus grüner Seide 
gefertigt, mit Gold besetzt, und wenn auch ringsum nur 
geflochten, war er dennoch in Handarbeit bestickt: Diesen 
Gürtel bot sie Gawain an und bestürmte ihn herzlich, ihn zu 
nehmen, wenn er auch von keinem Wert sei. 

Und abermals lehnte er ab und betonte, er werde auf keinen 

Fall weder Gold noch Edelsteine annehmen, ehe Gott ihm 

73. 

background image

nicht die Gnade erweise, die Aufgabe zu erfüllen, die ihn 
hergeführt habe. »Und deshalb bitte ich Euch von Herzen, 
nicht böse zu sein; hört auf, mich zu bedrängen, denn niemals 
werde ich einwilligen. Ich stehe wegen der Gunst, die Ihr mir 
erweist, so tief in Eurer Schuld, daß ich, sommers oder winters, 
immer Euer Diener sein werde.« 
 
 

»Weist Ihr etwa dieses Stück Seide zurück«, sagte die 
Schöne, »weil es ein armseliges Stück Stoff ist? Das 

scheint es in der Tat auch zu sein. Ihr seht, wie klein es ist und 
sein Wert noch kleiner. Aber wer den Zauber kennt,  der 
eingewoben ist, würde es vermutlich für erheblich wertvoller 
halten. Wer immer nämlich diesen grünen Gürtel trägt und ihn 
allzeit fest umgebunden hat, kann von keinem Manne unterm 
Himmel erschlagen werden, denn auch die geschickteste Hand 
kann ihn nicht töten.« 

Da merkte der Ritter auf, und ihm dämmerte, daß der Gürtel 

angesichts jener Gefahr, der er ausgesetzt sein würde, eine 
kostbare Waffe sein könnte. Wenn er zur Kapelle käme, um 
sein Schicksal zu empfangen, und überlebte dank eines 
Kunstgriffs, wäre das ein Glückstreffer. Darum ließ er 
Nachsicht walten und widersprach ihr nicht; und sie drängte 
ihn, den Gürtel zu nehmen und bot ihn eindringlich an. Und er 
war einverstanden, und sie gab ihn überaus freudig her und 
beschwor Gawain, ihretwegen niemandem davon zu erzählen 
und bei seiner Ehre das Geheimnis vor allen, besonders vor 
ihrem Gatten, zu bewahren. 

Er versprach, niemand werde je davon erfahren, niemand auf 

der Welt, sie beide ausgenommen, werde davon wissen. 

Er sagte ihr wiederholt aus vollem Herzen seinen Dank, 

während sie unterdessen den standhaften Ritter dreimal küßte. 
 

74. 

background image

 

Dann ließ sie ihn allein und verabschiedete sich, denn 
mehr Entgegenkommen konnte sie von diesem 

Manne nicht erwarten. 

Als sie fort war, stand Herr Gawain rasch auf und kleidete 

sich in prächtige Gewänder. Er legte das Liebeszeichen fort, 
das die Dame ihm gegeben hatte, und versteckte es  sorgfältig 
an einem Platz, wo er es später wiederfinden würde. 

Dann beschloß er, als erstes zur Kapelle zu gehen, suchte 

heimlich einen Priester auf, bat ihn, ihm die Beichte 
abzunehmen und darüber zu belehren, wie seine Seele gerettet 
werden könne, wenn er die Welt würde  verlassen müssen. 
Darauf legte er eine vollständige Beichte ab, bekannte seine 
schwereren und läßlicheren Sünden und bat um Gnade und die 
Lossprechung des Priesters. Dieser erteilte ihm Absolution und 
sprach ihn von seinen Sünden los, so als stünde morgen  das 
Jüngste Gericht bevor. 

Danach schloß er sich desto fröhlicher den schönen Damen 

an und verbrachte bei Tanzliedern und allen Arten von 
Belustigungen selig den Tag bis zum Abend, so vergnügt wie 
niemals zuvor. Jedermann sagte: »Bei Gott, er ist eine Freude 
für alle! Seit er hergekommen ist, war er noch nie so heiter.« 
 
 

Lassen wir ihn dort verweilen und sein Vergnügen 
haben, während der ungestüme Hausherr draußen 

seinem liebsten Zeitvertreib nachgeht! 

Schließlich hat er den Fuchs, den er so lange verfolgte, erlegt. 

Als er nämlich mit seinem Pferd durch ein Dickicht brach, um 
den Bösewicht zu erspähen, hörte er die Hunde bellen und 
Reineke kam hervorgerannt, dem die ganze Meute dicht auf 
den Pelz gerückt war. 

75. 

76. 

background image

Der Mann bemerkt den wilden Räuber und erwartet ihn 

aufmerksam, zieht seine glänzende Klinge und schlägt zu. Der 
Fuchs weicht dem Schwertstreich aus und hätte, wäre  es ihm 
möglich gewesen, das Weite gesucht. Aber ein Hund drängte 
sich vor und packte ihn, bevor er fliehen konnte; und genau vor 
des Pferdes Hufen fielen sie alle über ihn her und bedrängten 
den Arglistigen mit lautem Geheul. Der Herr steigt rasch ab 
und packt ihn, entreißt ihn den Fängen der Hunde, hält ihn in 
die Höhe und stößt einen Triumphschrei aus, während die 
Hunde wie besessen bellen. 

Jäger eilten herbei, die Hörner erklangen, und immer wieder 

ertönten die Signale, bis sie ihren Herrn erblickten. Als die 
vornehme Gesellschaft sich versammelt hatte, bliesen alle, die 
ein Horn hatten, das Halali, und die anderen jubelten laut. Eine 
fröhlichere Musik hat man nie vernommen, und es erhob sich 
gewaltiges Lärmen, weil Reineke sein Leben ausgehaucht hat. 

Sie belohnen dann die Hunde, tätscheln ihre Köpfe und 

streicheln sie. Und dann packen sie Reineke und ziehen ihm 
das Fell ab. 
 
 

Und dann eilten sie heim, denn inzwischen war es fast 
Abend, und sie ließen die mächtigen Hörner 

erschallen. Schließlich erreichte der Herr seine geliebte Burg 
und fand in der Halle ein Feuer vor und daran den guten Herrn 
Gawain, der überaus fröhlich war und sich in der Gesellschaft 
der Damen wohlfühlte. Er trug einen blauen Umhang, der bis 
zum Boden reichte; der Wappenrock, besetzt mit weichem 
Pelz, kleidete ihn prächtig; auf seinen Schultern lag eine 
Kapuze in derselben Farbe, und Rock und Kapuze waren mit 
Hermelin gesäumt. 

Er ging dem Hausherrn bis zur Mitte der Halle entgegen und 

sagte freundlich: »Dieses Mal will ich als erster unseren 

77. 

background image

Vertrag erfüllen, den wir, ohne am Wein zu sparen, zu 
unserem Vergnügen geschlossen haben.« 

Dann umarmte er den Hausherrn und küßte ihn dreimal so 

lange und innig, wie er konnte. 

»Bei Gott«, sagte der Burgherr, »das Glück muß Euch 

günstig gewesen sein, solche Waren zu erhandeln, wenn sie 
das wert sind, was Ihr bezahlt habt.« 

»Der Preis war nicht wichtig«, entgegnete Gawain 

umgehend, »ich habe Euch einfach das gegeben, was ich 
erwarb.« 

»Fürwahr!« rief der Burgherr aus. »Was ich mitbringe, kann 

sich damit nicht messen, denn ich habe den ganzen Tag gejagt 
und nichts anderes erbeutet als diesen stinkenden Fuchsbalg – 
hole ihn der Teufel! –, und das ist eine dürftige Bezahlung für 
solche Kostbarkeiten wie diese drei Küsse, die Ihr mir habt 
zukommen lassen.« 

»Genug«, antwortete Herr Gawain. »Ich danke Euch beim 

Kreuz Christi.« 

Und während sie noch standen, erzählte ihm der Burgherr, 

wie der Fuchs erlegt wurde. 
 
 

Bei Belustigungen, der Musik der Spielleute und 
köstlichen Speisen wurde jeder so vergnügt, wie er 

nur sein konnte. Das Lächeln der Damen und die lockeren 
Scherze brachten Gawain und den Burgherrn in eine 
ausgelassene Stimmung, wenn auch einige Männer übers Ziel 
hinausschossen oder sich betranken. Gleichwohl vergnügten 
sich  Herr und Gefolgsleute nach Herzenslust, bis die Zeit 
gekommen war, sich zu trennen, und alle braven Leute endlich 
zu Bett gehen mußten. 

Da nahm der gute Ritter als erster vom Hausherrn Abschied, 

neigte das Haupt und dankte ihm herzlich. 

78. 

background image

»Für eine so wundervolle Aufnahme in diesen Mauern, die 

Ihr mir beschert, für die Ehre, die Ihr mir beim Weihnachtsfest 
habt zuteil werden lassen, möge der Himmelskönig Euch 
belohnen! Ich stelle mich in Euren Dienst, will Euer Diener 
sein, wenn Ihr wollt, denn ich muß morgen aufbrechen, wie Ihr 
wißt, und bitte Euch, mir wie versprochen einen guten Mann 
mitzugeben, der mich zur Grünen Kapelle führt, wo ich mich 
am Neujahrstag dem mir vom Schicksal bestimmten Gericht 
stellen muß, wie es Gott gefällt.« 

»Mein Ehrenwort«, antwortete sein Gastgeber, »ich werde 

getreulich alles einhalten, was ich versprochen habe.« 

Da bestimmte er einen der Diener, der Gawain den rechten 

Pfad weisen und über die Hügel begleiten solle, damit er ohne 
Umwege und Verzögerung durch Wildnis und Wald auf 
kürzestem Weg zur Kapelle gelangen könne. 

Da sagte Gawain: »Empfangt meinen Dank für diese Gunst, 

die Ihr mir erweist!« 

Dann nahm der Ritter Abschied von den edlen Damen. 

 
 

Er küßte sie betrübt, sagte ihnen Lebewohl und 
überschwemmte sie mit Worten des Dankes, und sie 

erwiderten seine Herzlichkeit und empfahlen ihn unter tiefem 
Seufzen Gottes Obhut. 

Dann verabschiedete er sich gesittet von den Leuten der 

Burg, dankte allen, denen er begegnet war, für die Fürsorge, 
ihre Dienstfertigkeit und die Mühen, die sie seinetwegen auf 
sich genommen hatten, und jedem fiel es so schwer, ihm jetzt 
Lebewohl zu sagen, als hätte er ein Leben lang mit diesem 
Ritter unter einem Dach gewohnt. 

Darauf wurde er von Dienern mit Fackeln behutsam zu Bett 

geleitet, um zu ruhen. 

79. 

background image

Ich wage nicht zu sagen, ob er ruhig schlief, denn es 

erwarteten ihn am kommenden Morgen viele Dinge, über die 
er hätte nachdenken können. 

Lassen wir ihn ungestört ruhen, so kurz vor der Verabredung, 

zu welcher er bestellt war. Und wenn ihr noch ein wenig 
Geduld habt, werde ich erzählen, wie es dabei zuging. 

background image

 

IV. 

 
 
 

Jetzt rückt das neue Jahr heran, die Nacht vergeht, 
und der Tag bricht an und vertreibt das  Dunkel, wie 

Gott es befiehlt. 

Doch ein wildes Unwetter zieht über dem Land herauf. Aus 

den Wolken fällt bittere Kälte auf die Erde, und ein beißender 
Wind aus dem Norden schneidet in die Haut. Ein eiskalter 
Schnee fällt und läßt das Wild erschauern, ein Wirbelwind 
pfeift von den Höhen und häuft Schneewehen in den Tälern an. 

Der Ritter horcht lange in seinem Bett, und obwohl er die 

Lider geschlossen hat, schläft er nur wenig. Jeder 
Hahnenschrei gemahnt ihn an seine Verabredung. 

Ehe es Tag wurde, sprang er rasch auf, denn er hatte ein Licht 

in seiner Kammer. 

Er rief seinen Kammerdiener, der auf der Stelle antwortete, 

und befahl, seinen Kettenpanzer zu bringen und sein Pferd zu 
satteln. 

Der Diener stand auf, brachte ihm seine Ausrüstung und 

staffierte ihn prächtig aus: Zuerst zog er ihm als Schutz vor der 
Kälte Stoffkleider an, dann legte er ihm den Harnisch an, den 
er sorgsam gepflegt hatte, den Bauchreifen und den 
Plattenpanzer, alles glänzend poliert und die Ringe der 
schönen Brünne ganz ohne Rost: Alles war  wie neu, und der 
Ritter dankte ihm von Herzen. 

Gawain legte alle blankpolierten Stücke an  – der feinste 

Ritter von hier bis Griechenland  – und rief dann nach seinem 
Pferd. 
 
 

80. 

background image

Aber das kostbarste seiner Stücke legte er selber an: 
seinen Wappenrock mit dem eingewirkten Zeichen 

des Pentagramms auf samtenem Stoff, der ringsum mit 
kostbaren Edelsteinen besetzt, mit einem bestickten Saum 
verziert und innen mit feinem Pelz gefüttert war; aber den 
Gürtel, den ihm die Dame geschenkt hatte, vergaß er nicht, 
sich selber zum Vorteil. Nachdem er sein Schwert an seinen 
schlanken Hüften festgemacht hatte, wickelte er das 
Liebeszeichen zweimal um den Leib und gürtete es 
hoffnungsvoll um die Taille. Der Gürtel aus grüner Seide stand 
dem tapferen Ritter gut und hob sich unübersehbar von der 
tiefroten Kleidung ab. Aber diesen Gürtel trug er weder um 
seiner Schönheit willen noch aus Stolz auf die Anhängsel, 
wenngleich sie prächtig blitzten und an den Enden golden 
schimmerten, sondern um sich selbst zu retten, wenn er den 
Tod  finden würde, ohne sich mit Klinge oder Kampfschwert 
verteidigen zu können. 

Als der kühne Ritter so gerüstet vor die Tür trat, dankte er ein 

weiteres Mal allen Bewohnern der Burg. 
 
 

Gringolet war inzwischen bereit, das große, kräftige 
Pferd, das nach seinem Gefallen prächtig 

untergebracht und gepflegt worden war. Der prachtvolle 
Hengst war in guter Form und begierig nach einem Ausritt. 

Sein Herr trat zu ihm, betrachtete sinnend sein glattes Fell 

und sprach bei sich: »Wahrlich, hier ist eine Gesellschaft 
beisammen, welche die Regeln der Ehre befolgt. Und der Herr 
dieser Burg kann sich ihrer erfreuen! Und die liebe Herrin, ihr 
möge lebenslang Liebe vergönnt sein! Wenn  diese Menschen 
aus Mitgefühl sich um einen Gast bemühen, ihr Haus in Ehren 
halten, möge Gott im Himmel sie dafür belohnen. Wenn ich 

81. 

82. 

background image

auf dieser Erde noch eine Weile zu leben hätte, würde ich euch 
gern eine Belohnung verschaffen, wenn ich könnte.« 

Dann trat er in den Steigbügel, stieg aufs Pferd, sein Diener 

reichte ihm seinen Schild, den er sich über die Schulter hängte, 
gab Gringolet die Sporen, das Pferd hörte auf zu tänzeln und 
wollte nicht länger auf dem gepflasterten Pfad bleiben. 

Sein Herr war nun bereit zum Ritt, gerüstet mit Helm und 

Lanze. 

»Christus schütze dieses Haus!« rief er und wünschte ihm 

Glück. 
 
 

Die Zugbrücke wurde heruntergelassen, das mächtige 
Tor wurde entriegelt und drehte sich auf den beiden 

Angeln. Der brave Mann bekreuzigte sich, und der Torhüter, 
der vor Gawain niederkniete, sagte zu ihm: »Gott befohlen, 
Herr Gawain!« und »Gott schütze Euch«, ehe er die hölzernen 
Planken passierte. 

Dann macht er sich auf den Weg, allein von dem Mann 

begleitet, der ihn zu dem kummervollen Ort geleitet, wo er den 
qualvollen Schlag empfangen soll. 

Sie ziehen über Abhänge, vorbei an entlaubten Bäumen, 

klettern über Klippen, die vor Kälte starren. Die Wolken 
stehen hoch, aber darunter lastet schlimmer Nebel feucht auf 
dem Hochland und löst sich auf den Bergen auf. Jeder Hügel 
trägt eine Haube, eine gewaltige Nebelkappe. 

Überall stürzen von  den Höhen brodelnde Bäche. Der Pfad 

durch den Wald, den sie einschlagen müssen, ist sehr 
unwegsam, bis endlich die Zeit des Sonnenaufgangs kommt. 

Als sie auf einen hohen Hügel gelangten, wo weißer Schnee 

sie umgab, bat sein Begleiter den Ritter, haltzumachen. 

 
 

83. 

background image

»Ich habe Euch, Herr, jetzt bis hierher gebracht, und 
nun seid Ihr dem berüchtigten Ort nahe, nach dem Ihr 

so hartnäckig gefragt und gesucht habt. Aber weil ich Euch 
kenne und Ihr ein edler Herr seid, den ich sehr liebe, werde ich 
Euch die Wahrheit sagen und Euch einen Rat geben, den Ihr zu 
Eurem Vorteil befolgen solltet. Dieser Ort, nach dem es Euch 
so zieht, wird für überaus gefährlich gehalten: Der schlimmste 
Unhold des Landes haust in dieser Einöde, denn er ist groß und 
kraftvoll und liebt es  zu schlagen. Und er verfügt über mehr 
Kraft als jeder andere Mann auf Erden, und er ist größer als die 
besten Männer, die sich an Artus’ Hof finden, selbst Hektor 
oder jemand anderer reicht nicht an ihn heran. Alles geschieht 
nach seinem Willen an der Grünen Kapelle. Mag jemand auch 
noch so gut bewaffnet an diesen Ort kommen, bringt er ihn 
doch mit der Stärke seiner Hand ums Leben. Denn er ist ein 
ungeheuerlicher Mann, dem Mitleid fremd ist. Ob ein 
Vagabund oder ein Kaplan an der Kapelle vorbeireitet, ein 
Mönch oder ein hochgestellter Priester oder sonst jemand, er 
wird ihn umgehend erschlagen, denn das ist seine größte 
Freude. Und darum sage ich Euch, wenn Ihr dorthin kommt 
und der Kerl  seiner Vorliebe folgt, werdet Ihr getötet werden. 
Glaubt mir, das ist die Wahrheit, und hättet Ihr auch noch 
zwanzig Leben vor Euch. Er hat nun lange hier gehaust und 
fortwährend Streit gesucht; gegen seine entsetzlichen Schläge 
könnt Ihr Euch nicht schützen. 
 
 

Und darum, guter Ritter Gawain, wendet Euch 
anderswohin und gebt Euch, Gott bewahre, nicht mit 

diesem Mann ab. Zieht in ein anderes Land, mag Christus 
Euch dort schützen! Und ich werde wieder nach Hause reiten 
und verspreche bei meiner Ehre und schwöre bei Gott und 
allen seinen Heiligen, bei allem, was mir heilig ist, daß ich 

84. 

85. 

background image

Euer Geheimnis bewahren und nicht ein Wort darüber sagen 
werde, daß Ihr vor einem Feind, den ich kenne, geflohen seid.« 

»Ich danke dir«, widersprach Gawain und erwiderte 

wehmütig: »Ich wünsche dir Glück, mein guter Mann, denn du 
meinst es gut mit mir und würdest mein Geheimnis sicherlich 
bewahren. Aber wie verschwiegen du auch wärst, wenn ich aus 
Furcht hier fortritte, wie du es mir vorschlägst, so wäre ich 
doch ein ritterlicher Feigling, für den es keine Entschuldigung 
gäbe. Nein, ich werde mich zu dieser Kapelle begeben, was 
immer auch geschieht, und jenem wilden Manne sagen, was 
ich zu sagen habe, gehe es nun gut oder schlecht aus, wie das 
Schicksal es will. Er mag ein furchteinflößender Geselle sein, 
der nicht zu zähmen ist und dessen Keule mich erwartet. Doch 
der Herr im Himmel vermag seine Knechte zu schützen.« 
 
 

»Bei Gott«, sagte der Mann, »da Ihr nun so 
unmißverständlich sagt, daß Ihr seihst Euer 

Verhängnis über Euch bringen und aus treten Stücken Euer 
Leben verlieren wollt, will ich Euch nicht länger davon 
abhalten! Setzt Euren Helm auf, nehmt den Speer in die Hand 
und reitet auf dem nämlichen Pfad an der Felswand entlang, 
bis Ihr am Grund des schauerlichen Tals angekommen seid. 
Schaut ein wenig zu Eurer Linken über die Lichtung, und Ihr 
werdet auf dem Hang eben jene Kapelle erblicken und den 
großen, grimmigen Mann, der sie bewacht. Nun lebt wohl in 
Gottes Namen, Gawain, Ihr edler Ritter! Für alles Gold der 
Welt würde ich nicht mit Euch gehen noch Euch einen Fuß 
weiter durch diesen Wald als Gefährte dienen!« 

Mit diesen Worten lenkt der Mann sein Pferd wieder in den 

Wald, treibt sein Pferd mit aller Kraft an, galoppiert über die 
Wiese und läßt den guten Ritter allein. 

86. 

background image

Da sprach Gawain bei sich: »Bei Gott im Himmel, ich will 

weder jammern noch stöhnen. Ich will mich Gottes Willen 
fügen und mich seinem Schutz anvertrauen.« 
 
 

Dann spornte er Gringolet an, erspähte den Pfad, ritt 
am Rand eines Dickichts am Flußufer entlang, den 

schroffen Abhang hinunter geradewegs in das Tal. Und dort 
blickte er sich nach allen Seiten um: ein fürchterlicher Ort, 
dachte er und sah nirgendwo eine Behausung, nur auf allen 
Seiten hohe, steile Felswände und gezackte, verwitterte 
Klippen, beladen mit Felsbrocken. Der Himmel schien durch 
die Felsspitzen aufgekratzt zu sein. Da hielt er an und verharrte 
eine Weile und drehte sich mehrmals, um die Kapelle zu 
finden, doch er erblickte sie nirgendwo, und das kam ihm 
merkwürdig vor. 

Nur am Rand der Lichtung erkannte er einen Erdwall, einen 

verfallenen Hügel auf einem Hang in der Nähe eines Baches, 
in den ein Wasserfall stürzte; der Bach brodelte, als wenn er 
kochen würde. 

Da trieb er sein Pferd an und gelangte an den Erdhügel, saß 

ab und band das Tier sicher an die kahlen Äste eines Baumes. 
Dann ging er zum Hügel und umkreiste ihn und fragte sich, 
was das wohl sein mochte. Auf beiden Seiten hatte der Hügel 
ein Loch, war ganz mit Büscheln von Gras bewachsen und 
hatte innen einen Hohlraum. Ob es nun eine alte Höhle oder 
bloß eine Kluft im Fels war, hätte er nicht genau sagen können. 

»Kann das die Grüne Kapelle sein, o Herr?« fragte sich der 

edle Ritter. »Hier könnte vielleicht der Teufel, will mir 
scheinen, um Mitternacht seine Frühmette abhalten.« 
 
 

87. 

background image

»Wahrhaftig!« sagte Gawain. »Das ist hier eine 
Wildnis! Diese Kapelle sieht böse aus. So wie sie von 

Unkraut überwuchert ist, paßt sie gut zu dem grünen Gesellen, 
hier seine teuflische Andacht zu halten. Jetzt spüre ich mit 
meinen fünf Sinnen, daß es der Teufel selbst ist, der mich zu 
diesem Treffen verlockt hat, um mich hier zu vernichten. Dies 
ist eine Kapelle des Unglücks, eine der verfluchtesten Kirchen, 
die ich je betreten habe. Möge das Unheil sie heimsuchen.« 

Den Helm auf dem Haupt, den Speer in der Hand klimmt er 

auf das Dach der ungefügen Behausung. Da hört  er von dem 
hohen Hügel auf einer harren Felswand jenseits des Baches 
plötzlich einen erschreckenden Lärm. Es rasselte im Fels, als 
wollte er zerspringen oder als schleifte jemand eine Sense auf 
einem Schleifstein! Es sirrte und zischte wie Wasser in einem 
Mühlrad! Es rauschte und dröhnte und war schrecklich 
anzuhören! 

»Bei Gott«, dachte Gawain, »ich fürchte, dieser Lärm wird 

meinetwegen vollführt, als angemessene Begrüßung für einen 
Ritter! Wenn es denn Gottes Wille ist! Sei’s drum! Das hilft 
mir kein bißchen. Da ich nun einmal mein Leben verliere, kann 
kein Lärm mich schrecken.« 
 
 

Dann rief der Ritter mit lauter Stimme: »Wer ist Herr 
über diesen Ort, um die Verabredung mit mir 

einzuhalten? Denn hier steht Gawain, der stets zuverlässige 
Ritter. Wenn jemand etwas von mir will, soll er sich 
unverzüglich zeigen, jetzt oder nie, um sein Anliegen 
vorzutragen.« 

»Gemach!« sagte jemand auf dem Hang über seinem Kopf. 

»Du sollst rechtzeitig das bekommen, was ich dir zu geben 
geschworen habe.« Doch fuhr er noch eine Weile mit  dem 
Geratter und Krachmachen fort und wandte sich wieder dem 

88. 

89. 

background image

Wetzen zu, ehe er sich bequemte, herabzusteigen. Er kletterte 
über eine Klippe und kam aus einem Loch, bog geschwind um 
eine Ecke, in der Hand eine entsetzliche Waffe: einer Streitaxt, 
die für den Schlag gerade frisch geschliffen war, mit massiger 
Klinge und geschwungenem Griff, auf einem Wetzstein 
geschärft und vier Fuß lang, und der prächtig leuchtende 
Riemen konnte ihre Größe nicht mindern. 

Und wie beim ersten Mal war der große Mann in Grün 

gekleidet. Seine Haarlocken, sein Bart, die Beine und sein 
Antlitz, nur daß er die Füße fest auf den Boden setzte, den 
Axtstiel wie einen Spazierstock benutzte und nebenher schritt. 

Als er an den Bach gelangte, wollte er nicht hindurchwaten, 

sondern sprang, gestützt auf die Axt, hinüber und kam mit 
zorniger, grimmiger Miene über das weithin mit Schnee 
bedeckte Feld. 

Dort trat Herr Gawain dem Mann gegenüber, ohne sich zu 

verbeugen. 

Der andere sagte: »Nun lieber Herr, Verabredungen haltet Ihr 

getreulich ein.« 
 
 

»Gawain«, fuhr der Grüne Mann fort, »möge Gott 
Euch behüten! Fürwahr, Herr, bei meiner Ehre, ich 

heiße Euch an meiner Stätte willkommen, und Ihr habt Euren 
Reiseplan genauso eingehalten, wie ein Mann von Ehre es tun 
muß, und Ihr habt die Vereinbarung nicht vergessen, die wir 
getroffen haben: Heute vor zwölf Monaten habt Ihr Eure 
Einwilligung gegeben, und ich sollte an diesem Neujahrstag 
Euch heimzahlen, was Ihr mir gabt. Und in diesem Tal sind 
wir jetzt ganz unter uns; niemand ist da, der uns trennen könnte 
– wir können unser Spiel ausführen, wie es uns gefällt. Setzt 
Euren Helm ab und empfangt hier Eure Bezahlung! Macht 

90. 

background image

nicht mehr Worte als ich, da Ihr mit nur einem Streich den 
Kopf abgeschlagen habt!« 

»Nein!« erwiderte Gawain. »Bei Gott, der mir meine  Seele 

schenkte, ich werde nicht den geringsten Groll gegen Euch 
hegen, was immer mir zustößt. Nur beschränkt Euch auf einen 
einzigen Schlag, und ich werde mich bei allem was Ihr tut, 
nicht zur Wehr setzen.« 

Er beugte den Hals und entblößte das weiße Fleisch; er wollte 

sich nicht als furchtsamer Feigling zeigen und keine Spur von 
Angst offenbaren. 
 
 

Da machte sich der große Mann freudig bereit und 
hob seine grimmige Waffe, um Gawain zu schlagen; 

mit der ganzen Kraft seiner Glieder holte er zu einem Hieb aus, 
der so gewaltig war, als wollte er ihn töten. 

Wäre die Waffe mit solcher Wucht heruntergekommen, hätte 

der kühnste Mann diesen Schlag nicht überlebt. Doch Gawain 
warf einen Seitenblick auf die Schneide, als sie heruntersauste, 
um ihn zu vernichten, und zuckte mit den Schultern vor der 
schimmernden Klinge ein wenig zusammen. 

Mit einem Ruck riß der andere Mann die Axt zurück und 

überhäufte den Ritter wortreich mit Spott. 

»Ihr seid nicht Gawain«, rief er, »der Mann, der als so mutig 

bekannt ist, daß er vor keinem Gegner in Wald und Feld Angst 
hat. Und Ihr zuckt furchtsam zusammen, noch ehe Ihr Schmerz 
verspürt! Von diesem Ritter habe ich nie gehört, daß man ihn 
solcher Feigheit anklagte. Ich hingegen zuckte weder 
zusammen noch wich ich Eurem Hieb aus, Herr, als Ihr Euren 
Schlag geführt habt, und äußerte keine Widerrede am Hof von 
König Artus. Mein Kopf flog mir vor die Füße und doch 
zuckte ich nicht. Aber Ihr? Euer Herz ist voller Angst, bevor 

91. 

background image

Ihr eine Wunde davongetragen habt. Also verdiente ich es, daß 
man von uns beiden mich den edleren Ritter nennt.« 

Darauf erwiderte Gawain: »Einmal habe ich gezuckt, aber ein 

zweites Mal wird das nicht geschehen. Doch meinen Kopf 
kann ich, wenn er jetzt zu Boden fällt, nicht wieder aufsetzen. 
 
 

Jetzt beeilt Euch, wenn ich bitten darf, Herr. Macht, 
daß mein Schicksal sich erfülle, und macht es rasch! 

Denn ich werde einen Schlag von Euch erdulden und nicht 
noch einmal zucken, bevor Eure Axt mich getroffen hat, mein 
Wort darauf!« 

»So sei es denn!« sagte der andere, hob die Axt in die Höhe 

und blickte ihn so zornig an, als sei er vor Wut außer sich. Er 
holte zu einem gewaltigen Schlag aus, aber plötzlich hielt er 
inne und erstarrte in der Bewegung, ehe er Gawain traf und 
verwundete. 

Dieser, der gefaßt den Schlag erwartete, zuckte mit keinem 

Glied, sondern stand unbeweglich da, wie ein Stein oder ein 
Baumstumpf, der mit hundert Wurzeln im Felsen verankert ist. 

Dieses Mal bemerkte der Grüne Mann belustigt: »Da Ihr nun 

wieder Mut gefaßt habt, muß ich einen Schlag tun. Möge Euch 
der hohe Orden, den Artus Euch verliehen hat, schützen.« 

Da erwiderte Gawain in hellem Zorn: »Auf! Schlagt zu, Ihr 

grober Mann. Ihr droht zu lange. Ich glaube fast, es ist Euer 
eigener Mut, an dem Ihr zweifelt!« 

»Wahrlich«, sagte der Grüne Mann, »wenn Ihr schon so 

kühne Reden führt, will ich dem Ende Eures Auftrags nicht 
länger im Wege stehen.« 

Dann nahm er die Schlaghaltung ein, zog eine Grimasse mit 

Lippen und Stirn, was Gawain, der keine Hoffnung auf 
Rettung sah, nicht wenig mißfiel. 
 

92. 

background image

 

Der Grüne Ritter hob mit Leichtigkeit die Axt und 
ließ sie mit der gebogenen Spitze der Klinge genau 

auf den entblößten Hals niedersausen; obgleich er wie mit 
einem Hammer zuschlug, war die einzige Wunde, die er ihm 
zufügte, ein Riß in der Haut, als ihn die Klinge auf der einen 
Seite streifte. Sie drang durch die Haut so tief in das Fleisch 
des Ritters, daß über seine Schultern helles Blut auf die Erde 
spritzte. 

Als der edle Ritter das Blut auf dem Schnee erblickte, sprang 

er eilig eine Speerlänge oder mehr von dem Mann fort, ergriff 
hurtig seinen Helm, setzte ihn auf, warf mit einem Schwung 
seiner Schultern den Schild nach vorn, zückte sein glänzendes 
Schwert und sagte kühn  – und er war, seit seine Mutter ihn 
geboren, niemals in seinem Leben halb so glücklich  
gewesen –: 

»Hört auf mit Euren Schlägen, Herr, und erteilt mir keine 

mehr. Ich habe ohne Widerstand auf diesem Platz einen Streich 
von Euch empfangen, und wenn Ihr mir weitere zufügen wollt, 
werde ich es Euch umgehend heimzahlen und sie, worauf Ihr 
Euch verlassen  könnt, mit aller Kraft erwidern. Einen Schlag 
habe ich empfangen, so lautete die Abmachung, die wir in 
Artus’ Halle trafen. Und darum, guter Herr, gebt Euch 
zufrieden!« 
 
 

Der andere wandte sich von Gawain ab, stützte sich 
auf seine Axt, stieß den Schaft in die Erde, lehnte sich 

dagegen und blickte den edlen Ritter an, der über die Lichtung 
schritt. Es erfreute insgeheim sein Herz, als Gawain so ernst 
und gefaßt mit seinen Waffen dastand, ohne jede Furcht. 

Da sagte er mit fröhlicher, lauter und weithallender Stimme: 

»Furchtloser Ritter, seid an diesem Ort nicht so aufgebracht! 

93. 

94. 

background image

Niemand hier hat Euch unziemlich behandelt, mißhandelt noch 
den Vertrag mißachtet, den wir am Hof geschlossen haben. 
Einen Schlag habe ich Euch versprochen, jetzt habt Ihr ihn 
erhalten, also seid zufrieden; ich spreche Euch von allen Euren 
Verpflichtungen frei. Hätte ich härter zugeschlagen, Euch 
gröber behandelt, hätte ich Euch Schaden zufügen können. 
Zuerst bedrohte ich Euch zum Scherz mit einer Täuschung und 
vermied es, Euch zu zerhauen. Ich hatte dazu das Recht wegen 
des raschen Paktes, den wir am ersten Abend schlossen, und 
Ihr ehrlich und unfehlbar Euer Wort gehalten habt und mir 
alles zurückgabt, was Ihr erworben hattet. Den zweiten Schlag, 
guter Mann, gab ich Euch für den Morgen, als Ihr meine 
schöne Frau geküßt und mir die Küsse zurückgegeben habt. 
Für diese beiden Tage versetzte ich Euch bloß zum Schein 
zwei Schläge, ohne Euch Leid zuzufügen. Wer ehrlich nimmt, 
muß ehrlich zurückgeben, dann braucht er kein Unheil zu 
besorgen. Am dritten Tag habt Ihr gefehlt und dafür den dritten 
Schlag bekommen! 
 
 

Denn dieser gewehte Gürtel, den Ihr tragt, gehört mir. 
Meine eigene Gemahlin gab ihn Euch, das weiß ich 

wohl. Ich weiß auch alles über Eure Küsse und Euer 
Benehmen und das Werben meiner Gemahlin: ich selbst habe 
dafür gesorgt! Ich trug ihr auf, Euch zu versuchen, und 
wirklich scheint Ihr mir der makelloseste Mann zu sein, den 
die Erde je sah! So wie eine Perle viel mehr wert ist als eine 
weiße Erbse, so ist Gawain ohne Zweifel wertvoller als andere 
tapfere Ritter. Aber hier habt Ihr gefehlt, Herr, ein wenig hat es 
an Treue gemangelt. Aber es geschah nicht aus gemeiner 
Verschlagenheit noch aus Liebestollheit, sondern weil Ihr Euer 
Leben geliebt habt  – um so weniger mache ich Euch einen 
Vorwurf daraus.« 

95. 

background image

Der andere aufrechte Mann stand eine Weile 

gedankenverloren da, von solcher Trübsal erfaßt, daß ihn 
schauderte, sein Herzblut schoß ihm ins Gesicht, und er 
erschrak vor Scham angesichts dieser Worte. 

Und dann fand er folgende Worte: »Seid verflucht, Gier und 

Feigheit! Ihr bergt Gemeinheit und Lasterhaftigkeit, welche die 
Tugend zerstören.« 

Damit faßte er das tückische Gewirk, löste den Knoten und 

warf den Gürtel flugs vor die Füße des anderen. 

»Nehmt hin den Irreführer, er soll verflucht sein! Die Angst 

vor Eurem Schlag genügte meiner Feigheit, mich zur Habgier 
zu verlocken und meine wahre Natur zu verleugnen, meine 
Großmut und Redlichkeit, die einen Ritter auszeichnen 
müssen. Jetzt bin ich verworfen und falsch, der sich immer vor 
Heimtücke und Unlauterkeit gefürchtet hat: mögen die zwei 
fortan mein Fluch sein! Ich bekenne Euch, Herr, verwerflich 
ist mein Tun gewesen. Schenkt mir Eure Gnade noch einmal, 
und ich will ihr getreu leben.« 
 
 

Da lachte der andere Mann und sagte begütigend: 
»Ich meine, das Unrecht, das mir widerfuhr, ist 

zweifellos vergolten. Ihr habt ein offenes Bekenntnis abgelegt 
und Eure Irrtümer eingestanden und vor meiner Klinge 
gesühnt. Ich betrachte Euch als von jeder Schuld gereinigt und 
als so unschuldig, als hättet Ihr seit Eurer Geburt nichts Böses 
getan. Und ich schenke Euch, Herr, den goldgesäumten Gürtel, 
weil er so grün ist wie mein Kleid. So mögt Ihr Euch denn, 
Herr Gawain, an unseren Kampf erinnern, wenn Ihr in der 
Schar berühmter Fürsten weilt. Er wird ein schlichtes Zeichen 
sein für das, was sich an der Grünen Kapelle zwischen zwei 
ritterlichen Männern zugetragen hat. Und an diesem 
Neujahrstag sollt Ihr wieder in mein Haus kommen, und dort 

96. 

background image

wollen wir den Rest dieses herrlichen Festes in bester Laune 
verbringen.« 

Der Burgherr bedrängte ihn, seinem Vorschlag zu folgen, und 

sagte: »Mit meiner Gemahlin, das weiß ich, werden wir Euch 
rasch versöhnen, die Euer erbitterter Gegner war.« 
 
 

»Nein, keinesfalls«, erwiderte der Ritter, griff nach 
seinem Helm, lüftete  ihn kurz und dankte seinem 

mannhaften Gegenüber: »Ich bin lange genug unterwegs 
gewesen! Möge Euer Leben gesegnet sein und Gott, der Hort 
aller Ehren, Euch belohnen. Und empfehlt mich Eurer 
liebreizenden, schönen Gemahlin und den anderen verehrten 
Damen, die ihren Ritter mit ihren Listen so kunstfertig genarrt 
haben. Doch es ist kein Wunder, wenn ein Tor durch die 
Schliche eines Weibes in Not gerät. Denn immerhin wurde 
auch Adam von einer Frau getäuscht, und Salomon von vielen, 
und auch Samson wurde von Dalila hinters Licht geführt; und 
David wurde später von Rathseba getäuscht und erlitt bitteres 
Leid. Da diese Männer nun durch die Arglist der Frauen ins 
Unglück gerieten, wäre es ein großer Gewinn, könnte man die 
Frauen lieben, ohne ihnen zu vertrauen – falls das in der Macht 
eines Mannes liegt. Denn diese Männer der Vorzeit waren die 
edelsten und vom Schicksal vor allen anderen Menschen 
begünstigt. Und doch wurden alle von Frauen betrogen, die sie 
kannten. Wenn ich auch jetzt als Tölpel dastehe, hätte ich 
doch, wie ich meine, ein wenig Verständnis verdient. 
 
 

Was aber den Gürtel betrifft, möge Gott Euch für die 
Gabe belohnen. Ich werde ihn immer mit Freuden 

tragen, nicht wegen des strahlenden Goldes oder wegen der 
edlen Seide, noch wegen der langen Anhängsel, wegen seines 

97. 

98. 

background image

unschätzbaren Wertes oder der feinen Handwerkskunst, 
sondern als Zeichen meines Versagens, wenn ich in vornehmer 
Gesellschaft bin, um mich voller Reue an meinen Fehler und 
an die Schwachheit meines Fleisches zu erinnern, das sich so 
leicht mit dem Makel der Sünde befleckt. Und darum soll 
mich, wenn der Stolz mich zum Kampf anstachelt, ein Blick 
auf diesen Gürtel mit Demut erfüllen. Aber um eines möchte 
ich Euch bitten und hoffe, es mißfällt Euch nicht: Weil Ihr der 
Herr des Landes seid, wo ich eine Weile ehrenhaft mit Euch in 
Eurem Hause gelebt habe  – möge es Euch der Himmel 
vergelten! –, nennt mir Euren richtigen Namen. Mehr will ich 
nicht von Euch wissen.« 

»Diese Frage will ich Euch wahrheitsgemäß beantworten«, 

erwiderte der Grüne Mann. »Bertilak des Hautdesert werde ich 
hier genannt. Durch die Zauberkraft von Morgan La Fay, die 
bei mir haust, wurde ich verwandelt und erhielt diese 
schreckliche Gestalt. Ihre magischen Fähigkeiten und 
geheimen Künste hat sie von Merlin erworben, denn diesem 
feinsinnigen Weisen hat sie einmal ihre Liebe geschenkt, dem 
verschlagenen Zauberer, der auch in Camelot wohlbekannt ist. 
Darum hat man ihr den Namen ›Morgan, die Göttin‹ 
zugeschrieben, denn es gibt keine Macht und keinen Hochmut, 
die sie nicht zähmen könnte. 
 
 

Sie sandte mich in dieser Verkleidung an Euren 
prächtigen Hof, um den Stolz seiner Ritter auf die 

Probe zu stellen und zu ergründen, ob der große Ruhm der 
Tafelrunde zu Recht besteht. Sie legte diesen Zauber auf mich, 
um Euren Verstand zu verwirren und Ginevra durch den 
Anblick eines Mannes, der, seinen Kopf in der Hand, wie ein 
Gespenst vor der hohen Tafel sprach, zu Tode zu erschrecken. 
Sie ist die ältere Dame in meinem Haus; außerdem ist sie Eure 

99. 

background image

Tante, Artus’ Halbschwester, die Tochter der Herzogin von 
Tintagel, mit welcher der tapfere Uther später Artus zeugte, 
der jetzt der Hochkönig ist. Darum bitte ich Euch dringend, 
Herr, zu Eurer Tante zurückzukehren! In meinem Haus 
herrscht Frohsinn; alle haben Euch gern, und auch ich, Herr 
Ritter, schätze Euch wie keinen unter der Sonne wegen Eurer 
Vertrauenswürdigkeit.« 

Aber Gawain lehnte den Vorschlag ab. »Nein, auf keinen 

Fall«, antwortete er. 

Da umarmten und küßten sie sich und empfahlen sich 

gegenseitig dem Herrscher des Paradieses und trennten sich 
auf dem kalten Feld. 

Darauf eilte Gawain auf seinem schnellen Pferd ohne Verzug 

davon, und der Ritter in leuchtendem Grün ging seiner Wege. 
 
 

Gawain ritt auf unwegsamen Pfaden mit Gringolet 
durch das Land; dank der Gnade Gottes war er 

noch am Leben. Oft kam er in einer Herberge unter, oft 
übernachtete er im Freien, oft besiegte er Feinde und erlebte 
Abenteuer, von denen ich in dieser Geschichte nicht berichten 
will. Die Wunde an seinem Hals war geheilt, und an dieser 
Stelle trug er jetzt den glänzenden Gürtel, kreuzweise wie ein 
Wehrgehenk seitlich gebunden und unter dem linken Arm 
verknotet – als Zeichen seines Fehlers, dessen er sich schuldig 
gemacht hatte. 

Und so kam er endlich sicher an den Hof zurück, was in der 

Burg große Freude auslöste. 

Der König küßte den Ritter, und die Königin küßte ihn auch, 

und dann hießen ihn der Reihe nach die tapferen Recken 
willkommen. Sie befragten ihn nach seiner Queste, und er 
berichtete von allen Wundern, schilderte die Mühsal, die er 
hatte erdulden müssen, erzählte, was an der Kapelle 

100. 

background image

vorgefallen war, von der Liebe der Dame und zum Schluß von 
dem Gürtel. Er entblößte seinen Hals und zeigte ihnen den 
leichten Schnitt, den ihm der Hausherr zur Strafe für seine 
Unehrlichkeit zugefügt hatte. 

Es war qualvoll, die Wahrheit zu gestehen, das Blut  schoß 

ihm ins Gesicht vor Scham, er ächzte vor Kummer und Reue, 
als er seine Geschichte erzählte. 
 
 

»Seht, Herr«, sagte er schließlich und griff nach 
dem Gürtel. »Dies ist das Band! Ich trage es als 

Zeichen eines Tadels am Hals! Es ist ein Zeichen des Unrechts 
und des Leides, die ich auf mich nehmen mußte wegen der 
Treulosigkeit und Feigheit, deren Beute ich dort wurde. Dies 
ist das Zeichen der Treulosigkeit, bei der ich ertappt wurde, 
und darum muß ich es tragen, solange ich  lebe. Denn der 
Mensch kann sein Vergehen verheimlichen, aber er kann es 
nicht rückgängig machen. Denn wenn er sich einmal damit 
befleckt hat, wird er es nie wieder los!« 

Der König tröstete den Ritter, und alle Anwesenden lachten 

zudem noch laut darüber und kamen heiter überein, daß sich 
jeder, der zur Tafelrunde gehörte und ein Ritter der 
Bruderschaft war, ein solches Band in leuchtendem Grün 
verschaffen und kreuzweise gebunden tragen sollte. Denn das 
sei zum Ruhm der Tafelrunde nur recht und billig. 

Und es gereichte jedem Ritter zur Ehre, der es später trug, 

wie man in den besten Romanzenbüchern lesen kann. 

So fand in Artus’ Zeiten dieses wundersame Abenteuer statt, 

wie das Buch des Brutus bezeugt. Seit Brutus, der kühne 
Ritter, als erster nach Britannien kam, nachdem die Belagerung 
und Eroberung Trojas vorüber waren, haben sich von damals 
bis heute mancherlei Abenteuer zugetragen. 

101. 

background image

Gebe Christus, der die Dornenkrone trug, seinen Segen! 

Amen! 

Honi soit qui mal y pense! 

background image

 

Nachbemerkung des Übersetzers 

 
 
 

Über den anonymen Verfasser von Sir Gawain and the Green 
Knight  
wissen wir so gut wie nichts. Er war ein Zeitgenosse 
von Geoffrey Chaucer, dessen  Canterbury Tales  noch heute 
bekannt sind. Sir Gawain dürfte um 1370 entstanden sein. Sein 
vermutlich aus den nordwestlichen Midlands stammender 
Autor braucht indessen den Vergleich mit Chaucer nicht zu 
scheuen, denn sein Zugriff auf das Thema und seine 
Originalität als Stilist sind erstaunlich. 

J. R. R. Tolkien, der sich mit dieser mittelenglischen 

Ritterromanze intensiv befaßt hat, sagte von ihr, sie sei neben 
Chaucers  Troilus und Criseyde  »immer noch die am besten 
angelegte und ausgeführte Verserzählung des 14. Jahrhunderts, 
ja, des Mittelalters in englischer Sprache«. Die einzige 
Handschrift, in der die Erzählung überliefert ist, muß um 1400 
entstanden sein. 

Die Geschichte des Artus-Ritters Gawain wird in einer 

Strophenform erzählt, die aus einer unregelmäßigen Anzahl 
von Stabreimversen besteht, gefolgt von fünf kurzen Versen, 
die durch das Reimschema ababa verbunden sind. 

Die abenteuerliche Queste des tapferen und edlen Ritters 

Gawain, dessen Tugenden durch eine schöne Frau auf die 
Probe gestellt werden, zeichnet sich durch eine einfühlsame 
Beschreibung der Natur (die hier nicht bloße Staffage ist) und 
des mittelalterlichen Lebens aus, und in der Gestaltung der 
Verführungsszenen und der Psychologie seines Helden beweist 
der Autor eine souveräne Erzählkunst. Auch die 
Wirklichkeitsnähe des Verfassers ist bemerkenswert, die sich 
zum Beispiel in den Jagdszenen zeigt. 

background image

Es war wahrscheinlich nicht die Absicht des Verfassers, die 

mittelalterlichen Wertmaßstäbe zu bestätigen oder gar zu 
verherrlichen, sondern er maß sie eher an einer ethisch 
ambivalenten Realität, die ebensowenig vollkommen war wie 
der Held Gawain. Die kanonischen Ideale des höfischen 
Rittertums sieht er durchaus skeptisch: Gawain stellt 
keineswegs ein Idealbild dar, den makellosen Prototyp eines 
Ritters, sondern er erscheint als ein unvollkommener Mensch, 
dessen Moral durchaus nicht über jeden Zweifel erhaben ist. 
Der Autor läßt nicht erkennen, welche Bedeutung die 
ethischen Normen seiner Epoche für ihn haben, seine 
Absichten sind nicht eindeutig zu erkennen, was zu 
zahlreichen Deutungen geführt hat. 

J. R. R. Tolkien hat den mittelenglischen Text zusammen mit 

E.  V. Gordon herausgegeben (Oxford, 1925). Eine 
Neuausgabe, besorgt von N. Davis, erschien 1967. Diese 
Übersetzung liegt der vorliegenden Prosanachbildung 
zugrunde.  Sir Gawain  ist häufig ins Neuenglische übersetzt 
worden, meist unter Beibehaltung der Versform (z. B. von 
Tolkien selbst). Auch die Übertragung von Brian Stone 
(Harmondsworth 1959) ist lesenswert. 

Die erste Übersetzung ins Deutsche stammt von Manfred 

Markus (Stuttgart 1974). Er bemüht sich um eine möglichst 
genaue Wiedergabe des mittelenglischen Textes. Wenngleich 
nicht gerade lesefreundlich, war diese Edition eine Pioniertat, 
nicht zuletzt wegen der informativen Anmerkungen. 
 
 
Der Übersetzer der hier vorliegenden Ausgabe hat sich 
bemüht, einen für die meisten Leser vermutlich »verstaubten« 
oder »unmodernen« Text durch eine Prosafassung zugänglich 
zu machen, die weder auf philologische Genauigkeit noch auf 
eine verklärende »Nachdichtung« zielt. Freilich sollte der Text 

background image

nicht nur als kuriose Abenteuergeschichte gelesen werden, 
sondern auch als Zeugnis einer Epoche, in der die Menschen 
begannen, die tradierten Regeln, Ordnungen und ethischen 
Normen ihrer Zeit in Frage zu stellen. Dabei setzt der anonyme 
Dichter Mittel ein, die beinahe »modern« anmuten, zum 
Beispiel den Wechsel der Erzählperspektive. 

Es  war kaum zu vermeiden, daß bei der Übertragung eines 

mittelenglischen Versepos in heutige Prosa sprachliche und 
stilistische Eigenarten auf der Strecke bleiben mußten. Honi 
soit qui mal y pense! 

 

H. J. S. 

background image

 

J. R. R. Tolkien Sir Gawain und der Grüne Ritter 

 
 
 

Es ist mir eine hohe Ehre, an dieser alten Universität zu einer 
Vorlesung eingeladen zu sein, die den großen Namen W. R. 
Kers trägt. Ich habe einmal eine Zeitlang Kers Exemplar des 
Sir Gawain benutzen dürfen. Es verriet deutlich, daß Ker, wie 
es trotz der Weite seiner Belesenheit und seiner literarischen 
Interessen seine Art war, auch dieses Werk genau gelesen 
hatte. 

Und es ist dies freilich ein Gedicht, das eine genaue, 

eingehende Lektüre verdient und, an sie anschließend (nicht 
ihr voraufgehend, wie in der literaturwissenschaftlichen Kritik 
nur allzu üblich), eine sorgfältige und mehrfache Betrachtung. 
Es ist eines der Meisterwerke der englischen Dichtung im 14. 
Jahrhundert und der englischen Literatur insgesamt – eines von 
jenen Werken, die es nicht nur vertragen, daß man sie an den 
Universitäten breittritt, daß sie zu einem »Text« und sogar  – 
wohl die härteste Bewährungsprobe  – zu einer Pflichtlektüre 
werden, sondern unter solcher Ausquetschung auch tatsächlich 
mehr und mehr hergeben. Denn es gehört zu der Art von 
Literatur, die mit tiefen Wurzeln in die Vergangenheit 
zurückreicht, noch tieferen, als selbst der Autor es wußte. Es 
besteht aus Geschichten, die zuvor und anderswo schon oft 
erzählt worden waren, und aus Elementen, die fernen Zeiten 
außer Sichtweite oder Kenntnis des Autors entstammen: ganz 
wie der  Beowulf  oder wie manche Hauptwerke Shakespeares, 
der König Lear oder der Hamlet. 

Man könnte sich fragen, was dies für ein Reiz ist, was für 

eine Atmosphäre oder Kraft, die solchen verwurzelten Werken 
eignen, und auf welche Weise die Mängel und 

background image

Unstimmigkeiten der Bearbeitung wettzumachen sind, die 
ganz unvermeidlich auftreten, wenn Stoffe, Motive und 
Symbole neu aufgenommen und dem Geist einer späteren Zeit 
dienstbar gemacht werden, wo sie ganz andere Ideen 
ausdrücken müssen als die, aus denen sie hervorgegangen sind. 
Obwohl aber der  Sir Gawain  für die Erörterung dieser Frage 
eine sehr geeignete Textgrundlage wäre, will ich doch von 
dergleichen Dingen heute nicht sprechen. Ich befasse mich hier 
nicht mit der Forschung über die Quellen der Erzählung oder 
ihrer Einzelheiten, auch nicht mit der Frage, in welcher 
besonderen Gestalt sie dem Verfasser des Gedichtes 
bekanntgeworden sein mögen, ehe er sich an die Arbeit 
machte. Ich möchte über seine Behandlung des Stoffes 
sprechen, oder über einen besonderen Aspekt dieser 
Behandlung: was ihm durch den Kopf ging, als er die 
Geschichte schrieb und (woran ich nicht zweifle) so lange 
wieder umschrieb, bis sie die Form hatte, in der sie auf uns 
gekommen ist. Aber die andere Frage darf nicht vergessen 
werden. Altertum hängt wie ein mit vielen Figuren bestickter 
Vorhang stets hinter der Szene. Im Hintergrund schreiten 
Gestalten älterer Mythen vorüber, und durch die Verse des 
Gedichtes hören wir das Echo alter Kulte, Religionen und 
Symbole, die dem Bewußtsein des gebildeten Moralisten (der 
aber auch ein Dichter war) im späten 14. Jahrhundert 
fernlagen. Seine Erzählung  handelt  nicht von diesen alten 
Dingen, empfängt aber von ihnen einen Teil ihrer 
Lebendigkeit, Bewegtheit und Spannung. So verhält es sich 
mit allen größeren Märchen – zu denen auch dieses gehört. 

Es gibt ja keinen geeigneteren Träger moralischer Belehrung 

als ein gutes Märchen (worunter ich eine wahrhaft 
tiefverwurzelte Geschichte verstehe, die um ihrer selbst willen 
erzählt wird und nicht als Mäntelchen für eine moralische 
Allegorie dient). Dies scheint der Autor des  Sir Gawain 

background image

erkannt oder vielleicht eher instinktiv als bewußt erfaßt zu 
haben: Denn als ein Mann des 14. Jahrhunderts, eines 
nüchternen, lehrhaften, enzyklopädischen, um nicht zu sagen 
pedantischen Jahrhunderts hatte er den Stoff seiner »Mär« eher 
ererbt als sich bewußt zu ihr hingewendet. Von all den vielen 
neuen Dingen also, über die man hoffen könnte, etwas Neues 
zu sagen – auch heute noch, nachdem diesem Gedicht mehrere 
Ausgaben, Übersetzungen, Diskussionen und zahlreiche 
Aufsätze gewidmet worden sind  – Themen wie die 
Enthauptungswette, der unheimliche Gastgeber oder die 
sonnenhafte Mythengestalt, die durch den höflichen Sir 
Gawain, König Artus’ Neffen, ebenso unverkennbar, wenn 
auch blasser hindurchscheint als der Bärenknabe, der sich 
hinter dem Helden Beowulf, König Hygelacs Neffen, verbirgt; 
oder auch Themen wie der irische Einfluß auf Britannien, der 
Einfluß beider Länder auf Frankreich und die französische 
Gegenströmung; oder, um näher auf die Zeit unseres Autors 
einzugehen, das Wiederaufleben des alliterierenden Verses und 
die zeitgenössische Diskussion um seine Verwendung für 
erzählende Gedichte, von der heute fast nichts mehr erhalten 
ist als ein paar kurze Nachklänge im  Sir Gawain  und bei 
Chaucer (von dem ich glaube, daß er den Sir  Gawain  und 
vermutlich auch dessen Autor gekannt hat)  – von all diesen 
und anderen Gegenständen, die der Titel  Sir Gawain und der 
Grüne Ritter  
nahelegen könnte, möchte ich mich nur einem 
zuwenden, der weniger Beachtung gefunden hat, obwohl er 
mir von grundsätzlicherer Bedeutung zu sein scheint: dem 
Hauptstück, dem inneren Knoten des Gedichts in seiner 
endgültigen Gestalt, dem großen dritten Gesang und innerhalb 
desselben der Versuchung und Beichte Sir Gawains. 

Wenn ich davon spreche, von Gawains Versuchung und 

Beichte, muß ich mich natürlich darauf verlassen, daß das 
Gedicht insgesamt bekannt ist, im Originaltext oder aus einer 

background image

Übersetzung. Wo ein Zitat nötig ist, werde ich eine 
Übersetzung verwenden, die ich gerade abgeschlossen habe, 
weil ich glaube, zwei Ziele darin einigermaßen erreicht zu 
haben: das Versmaß und die Alliterationen des Originals 
wiederzugeben, ohne die eine Übersetzung wenig Sinn hat, es 
sei denn als Lesehilfe; und den edlen Anstand dieses Gedichtes 
zu wahren und in einem verständlichen, modernen Idiom 
nachzubilden, mit Rücksicht auf einen Dichter, dem der 
höfische Anstand so viel bedeutet hat.

 

Da ich nicht von dem Gedicht als ganzem oder seinem 

vortrefflichen Aufbau sprechen will, muß ich hierzu nur auf 
eines hinweisen, was für mein Vorhaben wichtig ist. Das 
Gedicht ist in vier »fyttes« oder Gesänge eingeteilt, von denen 
der dritte bei weitem der längste ist, viel mehr als ein Viertel 
des Ganzen umfassend (872 Zeilen von insgesamt 2530)  – 
gewissermaßen ein numerischer Hinweis auf das wirkliche 
Hauptaugenmerk des Dichters. Dabei hat er obendrein diesen 
numerischen Sachverhalt noch zu bemänteln versucht, indem 
er geschickt und dennoch künstlich einen Teil dessen, was 
eigentlich zum Geschehen des dritten Gesanges gehört, schon 
im zweiten Gesang unterbringt. Sir Gawains Versuchung 
beginnt eigentlich schon mit der 39. Strophe (Vers 928), wenn 
nicht noch früher, und dauert dann über mehr als tausend 
Zeilen hin fort. Alles Übrige ist vergleichsweise flüchtig 
behandelt, trotz mancher sehr bildhafter Schilderungen. Die 
Versuchung war für den Dichter die  Raison d’être  dieses 
Gedichtes; alles andere war für ihn nur Szenerie, Hintergrund 
oder Handlungsmechanik – Kunstgriffe, um den Helden in die 
Situation zu bringen, die der Dichter näher ansehen will. 

                                                           

  Im folgenden werden die Zitate aus dem Gedicht in Tolkiens 

neuenglischer Übersetzung wiedergegeben, mit einer anspruchslosen 
deutschen Prosa-Wiedergabe in den Fußnoten. [A. d. Ü.] 

background image

An das Vorhergehende brauche ich daher nur kurz zu 

erinnern. Der Rahmenschauplatz wird uns vorgeführt, mit 
einer kurzen Schilderung der Herrlichkeit an König Artus’ Hof 
während der (für die Engländer) höchsten Festtage des Jahres, 
zu Weihnachten. Am Neujahrstag kommt während des Mahles 
ein großer grüner Ritter in die Halle geritten, auf einem grünen 
Roß und mit einer grünen Axt, und spricht eine 
Herausforderung  aus: Jeder, der den Mut hat, darf die Axt 
nehmen und dem Grünen Ritter ohne jede Gegenwehr einen 
einzigen Hieb versetzen, unter der Bedingung, daß er 
verspricht, sich über Jahr und Tag von dem Grünen Ritter 
einen ebensolchen Hieb erteilen zu lassen. 

Schließlich ist es Sir Gawain, der die Herausforderung 

annimmt. Aber von all dem ist mir hier nur ein Aspekt wichtig. 
Von Anfang an oder zumindest beim zweiten Lesen und nach 
reiflicher Überlegung können wir die moralische Absicht 
sehen, die dem Dichter vorschwebt. Damit Gawain in 
Versuchung geführt werden kann, müssen seine Handlungen 
zunächst einmal moralisch untadelig sein; und  bei all der 
»Märchenhaftigkeit« hat der Dichter einige Mühe zu zeigen, 
daß sie es sind. Gawain nimmt die Herausforderung an, um 
den König zu retten, der sich durch seine Voreiligkeit in eine 
schiefe Position gebracht hat. Sein Beweggrund ist weder der 
Stolz auf die eigene Kraft noch Prahlerei oder der Leichtsinn, 
mit dem die Ritter sich bei den weihnachtlichen Gelagen auf 
verrückte Wetten und Gelübde einlassen. Er hat vielmehr 
etwas ganz Bescheidenes im Sinn: den König Artus, seinen 
Oheim und das Haupt der Tafelrunde, vor Herabsetzung und 
Gefahr zu schützen und dafür das eigene Leben zu wagen. 
Unter den Rittern, so erklärt Gawain, sei er  selbst der 
unbedeutendste, derjenige, dessen Verlust am leichtesten zu 
verschmerzen wäre. Soweit das in einem Märchen möglich ist, 
gerät er in die Angelegenheit also nur aus Pflichtgefühl, 

background image

Bescheidenheit und Aufopferungsbereitschaft hinein. Da aber 
die Absurdität der Herausforderung sich nicht ganz beheben 
ließ  – Absurdität, wenn sich nämlich die Erzählung auf einer 
ernsthaft moralischen Ebene bewegen soll, wo jede Tat des 
Helden Gawain zu prüfen und moralisch zu beurteilen ist  –, 
wird der König selbst kritisiert, sowohl von dem Dichter und 
Erzähler als auch von den Rittern bei Hofe. 

Noch eines, auf das wir später zurückkommen werden: 

Gawain wird von Anfang an hereingelegt oder wenigstens in 
eine Falle gelockt. Er nimmt die Bedingung an, daß er den 
Hieb verabreichen muß quatso bifallez after (»ohne Rücksicht 
auf die Folgen«) und daß er dann nach einem Jahr sich ohne 
Gehilfen oder Ersatzmann einfinden muß, um seinerseits den 
Hieb mit einer von dem Grünen Ritter nach Belieben zu 
wählenden Waffe »heimgezahlt« zu bekommen. Kaum hat er 
angenommen, da erfährt er, daß er  selbst den Grünen Ritter 
erst in irgendeiner ungenannten Gegend, wo er lebt, wird 
aufsuchen müssen, um seinen »Lohn« zu empfangen. Er 
nimmt auch diese erschwerende Bedingung an. Nachdem er 
aber den Hieb ausgeführt und den Ritter geköpft hat, schnappt 
die Falle zu; denn der Herausforderer ist nicht tot, sondern 
nimmt den eigenen Kopf vom Boden auf, steigt wieder zu 
Pferde und reitet davon, nachdem der scheußliche 
abgeschlagene Kopf, den er mit der Hand hochhebt, Gawain 
ermahnt hat, sein Versprechen zu halten. 

Nun wird dies im Publikum unseres Dichters für viele 

zweifellos ebensowenig überraschend gewesen sein wie für 
uns. Wenn uns ein grüner Mann vorgestellt wird, mit grünem 
Haar, grünem Gesicht und auf einem grünen Pferd, noch dazu 
am Hofe König Artus’, so sind wir auf magische 
Verwicklungen gefaßt, und Artus und Gawain, meinen wir, 
hätten auch damit rechnen sollen. Die meisten Anwesenden 
jedenfalls scheinen es richtig erfaßt zu haben: »Ein Phantom 

background image

und Feienstück, fanden die Leute« (11.240). Der Dichter aber 
war offenbar entschlossen, die Geschichte mit ihrem ganzen 
Hergang so zu nehmen, wie sie war, und sich dafür näher um 
die Probleme des ritterlichen Betragens zu kümmern, wie sie 
sich besonders für Sir Gawain ergeben. Eines der Themen, die 
ihn vor allem beschäftigen werden, ist die  lewte,  das 
»Worthalten«. Es ist daher sehr wichtig, sich von vornherein 
über das Verhältnis zwischen dem Grünen Ritter und Sir 
Gawain und über die Bedingungen des Vertrages  zwischen 
ihnen genau klarzuwerden, ganz so, als hätten wir es hier mit 
einer normalen und möglichen Vereinbarung zwischen zwei 
»Herren« zu tun. So gibt sich der Dichter offenbar Mühe, 
darauf hinzuweisen, daß die »Magie«, deren Möglichkeit für 
den Herausgeforderten immerhin zu befürchten stünde, vom 
Herausforderer, während sie die Vereinbarung treffen, 
unterschlagen wird. Der König nimmt die Herausforderung 
unbesehen an: eine Torheit, denn warum sollte der Grüne 
Ritter darum bitten, auf der Stelle erschlagen zu werden? Und 
später, wenn Gawain sich zu dem Schlag bereitmacht, heißt es: 

 
»Take care, cousin«quoth the king, »orte cut to address, and 
if thou kamest him his lesson, I believe very well that thou 
wilt bear any blow that he gives back later.«
 

(17372-4)

 

 
Und obwohl Gawains Gutgläubigkeit auf eine harte Probe 

gestellt wird  –  quatso bifallez after,  wie er selbst sagt  –, hat 
doch eigentlich sein Gegner ihm die Tatsache verherrlicht, daß 
er auf diese Weise nicht erschlagen werden kann, weil er von 
Magie beschützt wird. Und nun hat sich Gawain zu einer Fahrt 

                                                           

 »Aufgepaßt, Neffe«, sagte der König, »nur einen Schlag hast du frei, doch 

wenn du ihm  seine Lehre erteilst, so will ich meinen, daß du den Schlag 
wirst ertragen können, den er dir später heimzahlt.« 

background image

und zu einem Abenteuer verpflichtet, das nur allzu 
wahrscheinlich mit seinem Tod enden wird. Denn seinerseits 
verfügt er (noch) über keinerlei Magie; und wenn die Zeit 
kommt, muß er, um den königlichen  Oheim und die Ehre 
seines Ordens zu retten, allein und schutzlos aufbrechen, mit 
unerschrockenem Mut und mit levote. 

Schließlich ist es soweit, und Sir Gawain trifft seine 

Vorbereitungen, ehe er sich aufmacht, nach dem Grünen Ritter 
und der Grünen Kapelle  zu suchen, wo er sein Versprechen 
einlösen soll. Und nun jedenfalls, was immer man von der 
Märchenszene mit dem abgeschlagenen Kopf und von den 
ethischen Überlegungen halten mag, die ich an den ersten 
Gesang herangetragen habe, läßt der Dichter keinen Zweifel 
mehr, um was es ihm geht. Er beschreibt Sir Gawains Rüstung, 
und wenn uns auch der Kontrast zwischen dem glühenden 
Scharlach und blanken Gold mit dem Grün des 
Herausforderers ins Auge fällt und uns über deren mögliche 
überlieferte Bedeutung nachdenken läßt, so ist doch der Autor 
von einem anderen Interesse geleitet. Alles in allem hat er für 
die ganze Rüstung nur ein paar Zeilen übrig, und die Farbe Rot 
(red  und  goulez)  wird nur zweimal erwähnt. Was ihn länger 
beschäftigt, ist der Schild. Gawains Schild dient dem Dichter 
geradezu als Wappen für die eigene Absicht und Gesinnung, 
und darum widmet er ihm drei ganze Strophen. Auf den Schild 
malt er  – der Dichter nämlich, denn ohne Zweifel handelt es 
sich hier um eine Hinzufügung seinerseits  – nicht eines der 
heraldischen Motive, wie sie sich in anderen Ritterromanen 
finden, etwa einen Löwen, Adler oder Greifen, sondern das 
Symbol des Pentagramms. Nun kommt es nicht allzu sehr 
darauf an, welche Bedeutung oder Bedeutungen diesem 
Symbol anderswo oder in früherer Zeit zugeschrieben wurden.

 

                                                           

 Für die Bezeichnung  pentangk  (Pentagramm) enthält das Ge dicht die 

erste volkssprachliche Belegstelle, überhaupt die ein zige im 

background image

Ebensowenig wie es auf die anderen oder älteren Bedeutungen 
des Grün und des Rot, des Stechpalmenzweigs oder der Axt 
ankommt. Denn was das Pentagramm in diesem Gedicht zu 
bedeuten hat, wird deutlich gemacht  – deutlich genug 
jedenfalls, was die allgemeine Bewandtnis angeht

: Es soll die 

»Vollkommenheit« bezeichnen  – Vollkommenheit in der 
Religion (dem christlichen Glauben), in der Frömmigkeit  und 
Moral und im höfischen Anstand, hinüberwirkend in die 
gesellschaftlichen Beziehungen; in all diesem herrscht 
Vollkommenheit in den Einzelheiten, und eine vollkommene, 
ungebrochene Einheit verbindet die höheren mit den niederen 
Ebenen. Mit diesem Zeichen auf dem Schild (es ist außerdem, 
wie wir gleich erfahren, auch auf Gawains Mantel gestickt), 
wo es unser Dichter aufgemalt hat  – denn die Gründe, die er 
für seine Verwendung nennt, sind nach ihrer Beschaffenheit 
und nach dem Stil ihrer Aufzählung keine, die Gawain selbst 
gehabt oder gar öffentlich erklärt haben könnte  –, mit diesem 

                                                                                                                           
Mittelenglischen. Doch behauptet der Dichter, die Engländer würden das 
Zeichen allgemein den »endlosen Knoten« nennen. Zumindest soviel kann 
man dazu sagen: Das Fehlen von anderen Belegen muß zufällig sein, denn 
die verwendete Form  penta(u)ngel  weist bereits deutliche Spuren 
volkssprachlichen Gebrauches auf, da sie durch die Verbin dung mit angle 
(Eck, Winkel) von dem korrekt lateinischen  pentaculum  abgezweigt ist. 
Außerdem sagt der Dichter zwar viel über die symbolische Bedeutung der 
Figur, spricht im übrigen aber so, als könnte das Publikum sie sich gut 
vorstellen. 

 Der Versuch, diese komplexe Figur und ihre Symbolik zu be schreiben, 

überstieg sogar die nicht geringen Fähigkeiten unseres Dichters im 
Gebrauch des alliterierenden Langver ses. Da ihre Bedeutung zum Teil die 
wechselseitige Verbun denheit des religiösen Glaubens mit Pietät und 
Höflichkeit in menschlichen Beziehungen war, bringt jedenfalls der Ver 
such, »Tugenden« aufzuzählen, nur die Willkürlichkeit ihrer Einteilung und 
ihrer individuellen Benennungen zu einer bestimmten Zeit zum Vorschein, 
ebenso wie das ständige In einanderfließen ihrer Namen (wie  pite  oder 
fraunchyse) von Epoche zu Epoche. 

background image

Zeichen  also reitet Sir Gawain von Camelot aus. Seine lange 
und gefahrvolle Suche nach der Grünen Kapelle wird kurz und 
in groben Zügen hinlänglich geschildert. Hinlänglich, 
wohlgemerkt, für das Vorhaben des Dichters, wenn auch den 
Kommentatoren manche Stellen flüchtig und andere dunkel 
erscheinen. Der Dichter hat es eilig, das Schloß zu erreichen, 
wo die Versuchung wartet. Um alle weiteren Einzelheiten, ehe 
das Schloß in Sicht kommt, brauchen wir uns hier nicht zu 
kümmern. Und wenn wir einmal da sind, werden wir nur 
darauf achten, was der Autor aus dem Schloß gemacht hat, 
nicht auf die Stoffe, die er dabei verwendet hat und die 
vermutlich für einen ganz anderen Zweck bestimmt waren. 

Und wie findet Gawain das Schloß?  Als Erhörung eines 

Gebets!  Er ist schon seit Allerheiligen unterwegs. Nun ist es 
Heiligabend, und er hat sich im Waldesdickicht einer fremden, 
öden Gegend verirrt; seine größte Sorge aber gilt der Messe am 
Weihnachtsmorgen, die er keinesfalls versäumen will. Er ist: 

 
troubled lest a truant at that time he should prove from the 
service of the sweet Lord, who on that selfsame night of a 
maid became man our mourning to conquer. And therefore 
sighing he said: »I beseech thee, O Lord, and Mary, who is 
the mildest mother most dear, for some harbour where with 
honour I might hear the Mass and thy Matins tomorrow. This 
meekly I ask, and thereto promptly I pray with Pater and Ave 
and Creed.«
 

(32.751-8)

 

                                                           

 … besorgt, seine Pflicht zu versäumen, den Dienst unseres Herrn, der in 

selbiger Nacht von einer Jungfrau geboren  wurde, um unser Leid zu 
besiegen. Und darum betete er seufzend: »Ich bitte dich, o Herr, und deine 
liebste und teuerste Mutter Maria, zeige mir eine Herberge, wo ich die 
Christmesse hören kann und morgen früh die Matutin! Darum bitte ich in 
Demut und will nun das Paternoster, Ave und Credo beten.« 
 

background image

 
Nachdem er so gebetet, sein Gewissen erleichtert und sich 

dreimal bekreuzigt hat, wird er plötzlich durch das Gehölz 
hindurch einer schönen weißen Burg ansichtig und reitet hin, 
einem freundlichen Empfang und der Erhörung seines Gebets 
entgegen. 

Aus welchen uralten Steinen die schimmernde, doch solide 

Pracht dieser Burg auch erbaut sein, welche Wendung die 
Geschichte noch nehmen oder was für Einzelheiten man 
entdecken mag, die der Autor ererbt, aber übersehen oder mit 
seinem neuen Vorhaben nicht recht vereinbart hat, eines wird 
deutlich: Unser Dichter führt seinen Helden nicht in eine 
Höhle von Dämonen und Feinden des Menschengeschlechts, 
sondern in eine gesittete, christliche Halle. Der Artushof und 
die Tafelrunde werden dort in Ehren gehalten, die 
Kirchenglocken läuten zur Vesper, und die milde Luft des 
Christentums weht. 

 
On  the morn when every man remembers the time that our 
dear Lord for our doom to die was born, in every home wakes 
happiness on earth for His sake. So did it there on that day 
with the dearest delights:
 

(41.995-8)

 

 
Dort soll Gawain sich eine kurze Zeitlang »zu Hause« fühlen. 

Unerwartet findet er sich umgeben von einer Geselligkeit und 
Lebensweise, wie sie ihm am liebsten ist und wo seine Freude 
am artigen Umgang und seine Gewandtheit ihm höchste Ehren 
eintragen. 

                                                           

 An dem Morgen, wenn alle Menschen der Zeit gedenken, als unser lieber 

Herr geboren wurde, um für unser Schicksal zu sterben, erwacht um 
seinethalben in jedem Haus auf Erden die Freude. So auch hier an diesem 
Tag mit dem reinsten Entzücken. 

background image

Und doch hat seine Versuchung schon begonnen. Vielleicht 

bemerken wir es nicht gleich beim ersten Lesen, aber der 
zweite Blick zeigt uns, daß diese merkwürdige Geschichte, 
diese  mayn meruayle  (ob wir ihr nun Glauben schenken oder 
nicht), von geschickter Hand und nach dem Ermessen eines 
klugen und noblen Geistes sorgsam umgestaltet worden ist. 
Gerade in einer Umgebung, wie Gawain sie gewohnt ist und 
wo er bisher höchstes Ansehen genießt, innerhalb der 
Christenheit und als Christ soll er auf die Probe gestellt 
werden. Ihm selbst gilt die Probe und allem, wofür er steht. 

Und wenn das Pentagramm mit seinem Anflug von gelehrter 

Pedanterie, der dem künstlerischen Instinkt eines erzählenden 
Dichters zu widerstreiten schien

, uns für einen Augenblick 

vielleicht hat befürchten lassen, man werde uns statt einer Mär 
bloß eine formelhafte Allegorie auftischen, so werden wir nun 
sogleich beruhigt. Die »Vollkommenheit« ist dem Gawain nur 
als Maßstab mitgegeben (denn kein geringeres Ideal würde 
ihm auch nur die Annäherung an sie erlauben), doch er selbst 
wird nicht als mathematisch genaue Allegorie hingestellt, 
sondern als Mann und menschliches Individuum. Sogar seine 
höfische Artigkeit ist nicht bloß ein verwirklichtes Ideal oder 
eine Mode dieser vorgestellten Zeit, sondern geht aus seinem 
Charakter hervor. Er genießt sehr lebhaft den liebenswürdigen 
Umgang mit den edlen Damen, und weibliche Schönheit 
vermag ihn auf der Stelle tief zu bewegen. Dies zeigt sich bei 
seiner ersten Begegnung mit der schönen Burgherrin. Gawain 
hat die Abendandacht in der Kapelle besucht, und nach dem 
Gottesdienst kommt die Dame aus ihrem privaten Kirchenstuhl 
hervor. 

 

                                                           

 »Und warum das Pentagramm diesem edlen Fürsten so ge mäß ist, will ich 

Euch nun erzählen, auch wenn meine Ge schichte dadurch aufgehalten 
wird.« (27.623/4) 

background image

And from her closet she came with many comely maidens. 
She was fairer in face, in her flesh and her skin, her 
proportions
,  her complexion, and her port than all others, 
and more lovely than Guinevere to Gawain she looked. He 
came through the chancel to pay court to her grace;
 

(39.951-8)

 

 
Es folgt eine kurze Beschreibung ihrer Schönheit, im 

Kontrast zu der Häßlichkeit der runzligen Alten, von der sie 
begleitet wird: 

for if the younger was youthful, yellow was the elder; 
with rose-hue the one face was richly mantled, 
rough wrinkled cheeks rolled on the other; 
on the kerchiefs of the one many clear pearls were, 
her breast and bright throat were bare displayed, 
fairer than white snow that falls on the hills; 
the other was clad with a cloth that enclosed all her neck, 
enveloped was her black chin with chalk-white veils… 

(39.951-8)

∗∗

 

 
When Gawain glimpsed that gay lady that so gracious 
looked, 
with leave sought of the lord towards the ladies he went; 

                                                           

 Und von ihrem Kirchenstuhl kam sie mit vielen ansehnlichen Mägden. An 

Leib und Gesicht, Haut und Gestalt, Farbe und Bewegung war sie schöner 
als alle andern, liebreizender noch als Guinevere, so schien es Gawain. Er 
ging durch den Chorraum, ihrer Anmut zu huldigen. 

∗∗

  Denn so blühend jung die eine war, so welk war die ältere; voller 

Rosenfarben das Gesicht der einen, schlaff und runzlig die Wangen der 
andern; das Mieder der einen, mit vielen reinen Perlen besetzt, gab die Brust 
und den weißen Hals frei, leuchtend wie neuer Schnee auf den Bergen; die 
andere trug ein Tuch hoch um den Hals, mit kreideweißen Schleiern um ihr 
schwärzliches Kinn… 

background image

the elder he saluted, low to her bowing, about the lovelier 
he laid then lightly his arms and kissed her 
in courtly wise with courtesy speaking. 

(40.970-4)

 
 

Tags darauf dann sitzt er beim Weihnachtsmahl auf dem 

Thronsitz neben ihr; und von all der Pracht und Heiterkeit des 
Festes will der Autor, wie er sagt, nur das Entzücken dieser 
beiden schildern. 

 
Yet I ween that Gawain and that woman so fair 
in companionship took such pleasure together 
in sweet society soft words speaking, 
their courteous converse clean and clear of all evil, 
that with their pleasant pastime no prince’s sport compares. 
Drums beat, and trumps men wind, 
many pipers play their airs; 
each man his needs did mind, 
and they two minded theirs

(41.1011-19)

∗∗

 

 
So geht es zu auf der Burg, aber noch ist die Situation nicht 

ganz fertig. Obgleich Gawain sich ein Weilchen Ruhe gönnt, 
vergißt er nicht, was er vorhat. Vier Tage lang beteiligt er sich 
an den Lustbarkeiten, doch am Abend des vierten Tages, als 

                                                           

 Als Gawain die schöne Dame erblickte, die ihn so freundlich ansah, ging 

er mit Erlaubnis des Burgherrn zu den beiden. Die Ältere begrüßte er mit 
einer tiefen Verbeugung; die Lieblichere umarmte er kurz, küßte sie nach 
höfischer Sitte und führte artige Reden. 

∗∗

  Doch mein’ ich, daß Gawain und die Schöne aneinander so viel 

Vergnügen fanden, im freundlichen Umgang, unter artigen Worten und 
vertraulichen Gesprächen fern von allem Bösen, daß sie sich fürstlich 
amüsierten. Trompeten spielten, Trommeln und Flöten; jedermann 
vergnügte sich nach eigener Laune, und die beiden nach der ihren. 

background image

vom alten Jahr nur noch drei Tage bleiben, ehe er sich zu 
Neujahr am verabredeten Ort einfinden muß, bittet er, sich für 
den nächsten Morgen verabschieden zu dürfen. Von seinen 
Absichten sagt er nur, daß er verpflichtet sei, einen Ort namens 
die Grüne Kapelle zu suchen, den er bis zum Neujahrsmorgen 
erreichen müsse. Darauf erfährt er von dem Burgherrn, er 
könne sich in Ruhe noch drei weitere Tage von den 
Entbehrungen seiner Fahrt erholen, denn die Grüne Kapelle 
liege keine zwei Meilen weit entfernt. Ein Führer, der ihn am 
Neujahrsmorgen dorthin bringe, werde sich finden. 

An dieser Stelle nimmt der Autor eine seiner vielen 

geschickten Verbindungen zwischen älteren märchenhaften 
Elementen und dem Charakter Gawains vor (so wie er ihn 
schildert), um die Geschichte in seinem Sinne fortführen zu 
können. Im folgenden erkennen wir die  Gestalt des 
gefährlichen Gastgebers, dem man in allem gehorchen muß, so 
töricht oder empörend es auch scheinen mag; aber wir 
erkennen auch die Warmherzigkeit, fast möchte man sagen, 
den stürmischen Übereifer des höfischen Anstandes, der den 
Helden charakterisiert. Genauso wie er sich bei der 
Bekräftigung des Vertrages mit dem Grünen Ritter durch sein 
großartiges »Komme, was da kommen mag« mehr 
Verpflichtungen aufgeladen hat, als ihm lieb ist, ruft er nun vor 
Freude und Dankbarkeit aus: 

 
»Now I thank you a thousand times for this beyond all! Now 
my quest is accomplished, as you crave it, I will dwell a few 
days here, and else do what you order.«
 

(44.180-2)

 

 

                                                           

  »Nun dank’ ich Euch tausendmal über alles dafür! Nun bin ich am Ziel 

meiner Fahrt, und wie Ihr verlangt, bleib’ ich ein paar Tage hier und tu’ 
dann, was Ihr befehlt.« 

background image

Der Burgherr läßt sich das nicht zweimal sagen und nimmt 

ihn beim Wort: Gawain soll lange ausschlafen  und dann mit 
der Dame des Hauses den Tag verbringen, während der Herr 
auf Jagd geht. Und dann schlägt er dem Helden einen 
augenscheinlich absurden Pakt vor: 

»One thing more«, said the master, »we’ll make an 

agreement: whatever I win in the wood at once shall be yours, 
and whatever gain you may get you shall give in exchange. 
Shall we swap thus, sweet man – come, say what you think! – 
whether one’s luck be light, or one’s lot be better?« 

»By God«, quoth good Gawain, »1 agree to it all, and 

whatever play you propose seems pleasant to me.« 

»Done! Tis  a bargain! Who’ll bring us the drink?« So said 

the lord of that land. They laughed one and all; they drank and 
they dallied, and they did as they pleased, these lords and 
ladies, as long as they wished, and then with customs of 
France and many courtly phrases they stood in sweet debate 
and soft words bandied, and lovingly they kissed, their leave 
taking. With trusty attendants and torches gleaming they were 
brought at the last to their beds so soft, one and all.
 

Yet ere to bed they came, 
he the bargain did oft recall; 
he knew how to play a game 
the old governor of that hall. 
(45,1105-25)

 

                                                           

  »Noch etwas«, sagte der Hausherr, »machen wir einen Vertrag: Was ich 

im Wald erbeute, soll Euch gehören, und dafür bekomm’ ich von Euch, was 
Ihr hier erlangt habt. Sollen wir so tauschen, lieber Freund – sagt, was Ihr 
denkt!  –, ob nun der eine weniger Glück hat oder mehr?«  – »Bei Gott«, 
sprach Gawain, »ich bin mit allem einverstanden, und jede Wette, die Ihr 
vorschlagt, ist mir genehm.« – »Abgemacht! Die Wette gilt! Wer bringt uns 
den Trunk?«  So sprach der Herr jenes Landstrichs. Sie lachten alle 
miteinander, sie tranken und tändelten und vergnügten sich, die edlen 

background image

Damit endet der zweite und beginnt der dritte Gesang, über 

den ich vor allem reden will Über seinen glanzvollen Aufbau 
muß ich nicht viel sagen, denn er wurde schon oft bemerkt. 
Seine Vortrefflichkeit ist für jeden aufmerksamen Leser wohl 
offenkundig (besonders wenn er dem »Sport« jener Zeit und 
seinen Einzelheiten ein bißchen Interesse entgegenbringt, aber 
notfalls auch ohne diese Voraussetzung): die Art, wie die 
Jagden zwischen die Versuchungsszenen eingeschoben 
werden; das bedeutsame Diminuendo von den Herden der am 
ersten Tag erlegten Hirschkühe (im Winter ein echter 
wirtschaftlicher Vorteil) bis hin zu dem einen jämmerlichen 
Fuchspelz am letzten Tag, im Kontrast zu den immer 
gefährlicher werdenden Versuchungen; der dramatische Sinn 
der Jagden, die nicht nur die Zeit gliedern und eine doppelte 
Perspektive offenhalten, so daß alle drei Hauptfiguren ständig 
in Sicht bleiben, sondern  auch die drei entscheidenden Tage 
des einen Jahres, in dem sich die ganze Handlung abspielt, 
lang und schicksalsschwer machen  – all dies bedarf keiner 
Erläuterung. Aber die Jagden haben noch einen anderen 
Zweck, der für die Behandlung der Geschichte in dieser 
Fassung wesentlich ist und der meinem Thema näherliegt. Wie 
schon angedeutet, wird jeder Vergleich mit ähnlichen Werken, 
besonders den weniger höfischen, oder auch jede genaue 
Lektüre ohne Heranziehung anderer Texte zeigen, daß unser 
Dichter sich alle Mühe gegeben hat, den Ort der Versuchungen 
nicht als ein zauberisches Luftschloß oder einen Feienpalast 
erscheinen zu lassen, sondern als eine echte Ritterburg, in der 

                                                                                                                           
Herren und Damen, solange sie wollten, und dann, mit französischer 
Artigkeit und vielen wohlgesetzten Reden standen sie in liebenswürdigem 
Gespräch beisammen und wechselten leise Worte und küßten sich herzlich 
zum Abschied. Dank der getreuen Diener und der hellen Fackeln fanden sie 
am Ende in ihre weichen Betten, einer wie der andere. Doch ehe alles 
schlief, dachte Gawain noch oft an  diese Wette. Der verstand sich auf 
solche Spiele, der alte Herr dieses Hauses! 

background image

die höfischen Regeln, die Gastfreundschaft und die Moral 
gelten. Dabei spielen die Jagden eine wichtige Rolle. Der 
Burgherr verhält sich so, wie man es von einem reichen 
Landgrafen zu dieser Jahreszeit tatsächlich erwarten kann. Er 
muß aus dem Wege sein, verschwindet aber nicht einfach und 
bleibt auch nicht auf mysteriöse Weise im Hintergrund. Seine 
Abwesenheit und die um so größere Zugänglichkeit der Dame 
finden eine natürliche Erklärung, und dies trägt dazu bei, daß 
auch die Versuchungen natürlicher und auf eine normale 
moralische Ebene gerückt erscheinen. 

Wer diese Geschichte

5

 tatsächlich zum erstenmal liest oder 

hört, wird wohl, und ich bin sicher, daß es der Autor so 
beabsichtigt hat, ebensowenig wie Sir Gawain (dies wird klar 
gezeigt) einen Verdacht schöpfen, daß es sich bei den 
Versuchungen um eine »gestellte« Affäre handelt, eine der 
Gefahren und Prüfungen, um derentwillen man ihn von Artus’ 
Hofe weggelockt hat, um seinen Untergang oder seine 
Entehrung herbeizuführen. Man kann sich sogar fragen, ob der 
Autor hier nicht zu weit gegangen ist. Hat nicht seine Intrige 
eine große Schwäche? Alles, wenn man von der 
ungewöhnlichen, aber nicht unglaubhaften Pracht absieht, alles 
geht so normal zu auf dieser Burg, daß man sich bei näherer 
Überlegung bald fragen muß, was passiert wäre, wenn Gawain 
die Prüfung nicht bestanden hätte. Denn wir erfahren am Ende, 
daß der Burgherr und seine Gattin in  stillem Einverständnis 
gehandelt haben; dennoch sollte die Prüfung echt sein und 
nach Möglichkeit den Helden zu Fall bringen und den Rittern 
der Tafelrunde Schande bereiten. Die Dame war tatsächlich 
seine erbitterte Feindin. Wodurch aber wurde sie beschützt, 
wenn ihr Gatte fort war und sich auf der Jagd in den Wäldern 
tummelte? Es wäre keine Antwort auf diese Frage, wollte man 
auf alte, barbarische Bräuche oder auf die Erzählungen 
hinweisen, in denen ihr Andenken bewahrt ist. Denn der Autor 

background image

führt uns nicht in jene Welt, und wenn er überhaupt etwas von 
ihr wußte, hat er sie völlig verworfen. Aber die »Zauberei« hat 
er nicht ganz verworfen. Und die Antwort könnte sein, daß das 
»Märchenhafte«, obgleich verhüllt oder im Hergang der 
Ereignisse als selbstverständlich genommen, in Wahrheit aus 
diesem Teil der Erzählung ebensowenig wegzudenken ist wie 
aus den anderen, wo es deutlicher und unverändert zutage 
liegt, wie etwa beim ersten Auftritt des Grünen Ritters. Nur die 
fayrye (240) reicht aus, um die Geschichte von dem Burgherrn 
und seiner Gattin verständlich und innerhalb der imaginären 
Welt, die der Autor geschaffen hat, tragfähig zu machen. 
Ebenso wie Sir Bertilak für die Begegnung bei der Kapelle 
wieder grün werden und die Gestalt wechseln kann, so müssen 
wir auch von der Dame annehmen, daß sie sich durch eine 
plötzliche Verwandlung oder durch eine vernichtende Kraft 
hätte schützen können, der Gawain ausgeliefert gewesen wäre, 
hätte er der Versuchung auch nur in seinen Wünschen 
nachgegeben.

 Wenn wir dies bedenken, wird die »Schwäche« 

vielleicht sogar zu einer Stärke. Die Versuchung ist echt und 
von höchster Gefährlichkeit auf der moralischen Ebene (denn 
auf dieser Ebene zählt nur, wie Gawain selbst die Umstände 
auffaßt

∗∗

); aber für jeden, der den Unterton der »Mär« in einem 

Ritterroman herauszuhören vermag, schwebt im Hintergrund 
eine furchtbare Drohung von Unglück und Vernichtung. Das 

                                                           

 Ich meine, der Autor, wenn man ihm diese Frage vorlegen könnte, hätte 

eine Antwort, denn er hatte sich die ganze Sache überlegt, vor allem 
dasjenige, was einen moralischen Aspekt aufwies; und ich glaube, daß seine 
Antwort im Idiom seiner Zeit dieselbe gewesen wäre, die ich zu geben 
versuche. 

∗∗

 Ich meine, der Autor, wenn man ihm diese Frage vorlegen könnte, hätte 

eine Antwort, denn er hatte sich die ganze Sache überlegt, vor allem 
dasjenige, was einen moralischen Aspekt aufwies; und ich glaube, daß seine 
Antwort im Idiom seiner Zeit dieselbe gewesen wäre, die ich zu geben 
versuche. 

background image

Ringen gewinnt eine Deutlichkeit, die eine bloß realistische 
Erzählung von einem frommen Ritter, der einer Versuchung 
zum Ehebruch (mit der Frau eines Gastgebers) widersteht, 
schwerlich erreichen könnte.

 Daß die Szene und die 

handelnden Figuren in dieser Weise vergrößert werden, ist eine 
Eigenschaft des Märchens; oder besser, es ist eine jener 
Eigenschaften, die durch literarische Alchimie herausdestilliert 
werden, wenn eine alte, tiefverwurzelte Geschichte von einem 
echten Dichter nach seinen eigenen Vorstellungen neu 
bearbeitet wird. 

Meiner Ansicht nach waren also die Versuchungen des  Sir 

Gawain, sein Verhalten dabei und die Kritik seines 
Ehrenkodex für unseren Autor das Wichtigste an der 
Geschichte, dem alles andere untergeordnet wurde. Ich will 
dies nicht weiter begründen. Gewicht, Länge und detaillierte 
Ausführung des dritten Gesangs (und des zweiten, in dem die 
Situation abgesteckt wird) zeigen zur Genüge, wie schon 
gesagt, worauf der Dichter sein Augenmerk zumindest in der 
Hauptsache gerichtet hatte. 

Ich möchte nun auf die Versuchungsszenen eingehen, 

besonders auf die Stellen, die wohl am meisten über die 
Absicht und Auffassung des Dichters besagen, die 
Schlüsselstellen für die Beantwortung der Frage, wovon dieses 
Gedicht, so wie er es uns darbietet, eigentlich handelt. Dazu ist 
es nötig, sich die Gespräche zwischen Gawain und der 
Burgherrin noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. 

                                                           

 Im maschinengeschriebenen Text stand hier: »nicht er reichen könnte. 

Oder nicht erreichen würde. Denn auf diese Weise wird die wirkliche 
Spannung spürbar gemacht, die man in der Erzählung von einem 
moralischen Ringen spüren sollte.« Als »nicht erreichen könnte« zu 
»schwer lich erreichen könnte« verändert wurde, wurde zugleich der 
folgende Satz wie zur Herausnahme in Klammern ge setzt. [Hg.] 

background image

(Hier wurden die Versuchungsszenen in Übersetzung 

vorgelesen.)

 

Aus diesen Szenen möchte ich nun einige ausgewählte 

Stellen näher besprechen. Am 29. Dezember tritt die Dame in 
Gawains Schlafzimmer, ehe er noch  ganz wach ist, setzt sich 
auf den Rand seines Bettes und umarmt ihn, als er sich 
aufrichten will (49.1224/5). Sie sagt, daß sie beide ganz allein 
seien, und läßt keinen Zweifel an ihren Absichten. Es ist 
wichtig, hier anzumerken, daß manche Kritiker, die darin einen 
Fehler der Dame sehen wollen (was in Wahrheit nur bedeuten 
könnte, einen Fehler des Dichters), sicherlich ihrerseits einen 
Fehler begehen. Die Dame ist sehr schön, und wie wir schon 
gehört haben, fühlte Gawain sich vom ersten Augenblick an 
mächtig zu ihr hingezogen. Sie unternimmt nicht nur bei dieser 
Gelegenheit einen lebhaften Verführungsversuch, sondern sagt 
ihm auch, daß die Versuchung in Kraft bleiben werde, solange 
sie zusammen sind. 
Von da an treibt alles, was sie miteinander 
tun und reden, auf einen Ehebruch zu. 

Nach der ersten Verführungsszene wird bis zum nächsten 

Besuch der Dame in Gawains Zimmer von keinem 
vertraulichen Gespräch zwischen ihnen beiden mehr berichtet; 
sie treffen sich nun immer in Anwesenheit der älteren 
Begleiterin oder in größerer Gesellschaft, wie an den Abenden, 
wenn der Burgherr von der Jagd heimgekehrt ist  – abgesehen 
von dem Abend nach der zweiten Versuchung. Und wir 
können die eingetretene Veränderung wohl ermessen, wenn 
wir die Szene nach dem Abendessen am 30. Dezember mit der 
ungetrübten Stimmung beim Mittagsmahl am Weihnachtstage 
(in der auf Seite 115 zitierten Stelle) vergleichen: 

 
Much gladness and gaiety began then to spring round the fire 
on the hearth, and freely and oft at supper and later: many 

                                                           

 Dieser Hinweis stammt vom Verfasser. Siehe dazu das Vor wort. [Hg.] 

background image

songs of delight, such as canticles of Christmas, and new 
carol-dances, amid all the mannerly mirth that men can tell 
of; and ever our noble knight was next to the lady. Such 
glances she gave him of her gracious favour, secretly stealing 
sweet looks that strong man  to charm, that he was passing 
perplexed, and ill-pleased at heart. Yet he would fain not of 
his courtesy coldly refuse her, but graciously engaged her, 
however against the grain the play. 

(66.1652-62)

 

 

Dies scheint mir eine plausible Übersetzung für eine Passage 

zu sein, in der uns der Wortlaut und möglicherweise auch die 
Textgestalt manche Probleme aufgeben; doch weder diese 
Wiedergabe noch das Original darf man mißverstehen. Gawain 
ist nicht abgeschreckt, ihm ist nicht »die Laune verdorben« 
worden, sondern er ist in der Stimmung eines Mannes, der 
nicht weiß, was er tun soll. Er liegt in den Qualen der 
Versuchung. Seine ganze Erziehung gebietet ihm, das 
bedenkliche Spiel fortzusetzen; die Dame aber hat die 
schwache Seite dieser »Zucht« schon bloßgelegt: In einer 
solchen Lage ist dies ein heikles Mittel, wie ein Bündel 
Feuerwerkskörper neben einem Pulverfaß. Gleich darauf 
mahnen Furcht oder Vorsicht ihn zur Flucht, und er bittet um 
Entlassung aus seinem Versprechen, nach dem Geheiß des 
Schloßherrn noch drei  Tage zu bleiben. Aber wieder ist er 
durch Höflichkeitspflichten gebunden. Als Entschuldigung 

                                                           

  Freude und Ausgelassenheit kamen auf um das Herdfeuer, und während 

des Abendessens und nachher wurden allerlei hübsche Lieder gesungen, 
Weihnachtslieder und die neuesten Tänze, unter allen erdenklichen ehrbaren 
Scherzen; und die ganze Zeit über wich unser Ritter der Dame nicht von der 
Seite. Augen machte sie ihm, so hold und verstohlen, den Wackern zu 
bezaubern, daß ihm angst und bange wurde. Doch artig wie er war, konnte 
er sie nicht einfach zurückweisen, so sehr ihm das Ganze gegen den Strich 
ging. 

background image

kann er nur vorbringen, die Zeit, zu der er verabredet ist, sei 
schon nahe, und er wolle lieber schon am nächsten Morgen 
aufbrechen. Dies kann der Schloßherr leicht entkräften, indem 
er vorgibt, die eigene Vertrauenswürdigkeit in Zweifel 
gezogen zu sehen; und er wiederholt sein Versprechen, daß Sir 
Gawain die Grüne Kapelle beizeiten erreichen werde. Daß 
dieses Fluchtstreben auf seiten Gawains der moralischen 
Klugheit (nämlich der Furcht vor sich selbst) und nicht einem 
Widerwillen entspringt, wird aus dem Folgenden klar. 

Abgesehen von dieser Andeutung jedoch begnügt sich der 

Autor in den beiden ersten Szenen mit der Wiedergabe dessen, 
was gesagt und getan wurde. Gawains Gefühle (oder die 
Ansichten des Autors) werden nicht mitgeteilt. Aber sobald 
wir zur dritten Szene kommen, wechselt der Ton. Bisher hat 
Gawain es vornehmlich mit einem Problem des höfischen 
Anstandes zu tun gehabt, und wir sehen ihn den Verstand und 
die guten Manieren, die man ihm nachrühmt, geschickt und 
noch immer (bis zum Abend des 30. Dezember) mit einer 
gewissen Selbstsicherheit gebrauchen. Aber mit den Strophen 
70 und 71 (Zeilen 1750ff.) kommen wir zum »Knoten« der 
ganzen Affäre. Gawain ist nun in höchster Gefahr. Flucht als 
Vorsichtsmaßnahme hat sich als unmöglich erwiesen, wenn er 
nicht sein Wort brechen und die Höflichkeitspflichten gegen 
seinen Gastgeber verletzen will.

 Sein Schlaf ist von 

Todesfurcht getrübt und umdunkelt. Als er die Dame 
wiedersieht, begrüßt er sie freudig und voll Bewunderung für 
ihre Schönheit. Am letzten Morgen des alten Jahres kommt sie 
zum dritten Mal in sein Zimmer: 

 

                                                           

 Mit einem Bleistiftzusatz im Typoskript: »ein Opfer, zu dem er noch nicht 

bereit ist«  – entweder am Ende des Satzes ein zufügen oder hinter »sein 
Wort brechen«. [Hg.] 

background image

in a gay mantle that to the ground was measured 
and was fur-lined most fairly with fells well trimmed
with no comely coif on her head, only the clear jewels 
that were twined in her tressure by twenties in clusters; 
her noble face and her neck all naked were laid, 
her breast bare in front and at the back also. 
She came through the chamber-door 
and closed it behind her,
 
wide set a window, and to wake him she called, 
thus greeting him gaily with her gracious words of cheer: 
»Ah! man, how canst thou sleep, 
the morning is so clear!« 
He lay in darkness deep, 
but her call he then could hear. 
 
In heavy darkness drowsing he dream-words muttered, 
as a man whose mind was bemused 
with many mournful thoughts,
 
how destiny should his doom on that day bring him 
when he at the Green Chapel the great man would meet, 
and be obliged his blow to abide without debate at all. 
But when so comely she came, he recalled then his wits, 
swept aside his slumbers, and swiftly made answer. 
The lady in lovely guise came laughing sweetly, 
bent down o’er his dear face, and deftly kissed him. 
He greeted her graciously with a glad welcome, 
seeing her so glorious and gaily attired, 
faultless in her features and so fine in her hues 
that at once joy up-welling went warm to his heart. 
With smiles sweet and soft they turned swiftly to mirth, 
and only brightness and bliss was broached there 
between them so gay.
 
They spoke then speeches good, 

background image

much pleasure was in that play; 
great peril between them stood, 
unless Mary for her knight should pray. 

(69-70.1736-69)

 

Und damit hören wir zum ersten Mal, seit von dem 

Pentagramm und Gawains Schild die Rede war (worauf hier 
eigentlich angespielt wird), wieder von der  Religion  als von 
etwas, das höher steht als ein Kodex höfischer Manieren, von 
denen sich erwiesen hat und endgültig erweisen wird, daß sie 
nicht nur eine letzten Endes untaugliche Waffe, sondern 
geradezu gefährlich sind, da sie dem Feind in die Hände 
arbeiten. 

Gleich darauf fällt zum ersten und einzigen Mal in diesem 

hochmoralischen Gedicht, und darum nur um so 

                                                           

 In einem bunten Gewand, an den Rändern zierlich mit Pelzen besetzt, das 

bis zum Boden herabhing; sie trug keine Haube, nur ein Haarnetz, in das 
reine Juwelen in Grüppchen zu je zwanzig eingeflochten waren. Das edle 
Gesicht und der Hals waren bloß, ebenso Brust und Rücken. Sie trat ins 
Zimmer, schloß hinter sich die Tür, riß ein Fenster auf und rief laut, um den 
Ritter zu wecken, und fröhlich scheltend: »O Mann, wie könnt Ihr so lange 
schlafen an diesem schönen Morgen?« Er lag tief in  einem schweren 
Schlaf, aber ihren Ruf konnte er hören. 
Dunkle, beklommene Traumwörter murmelte er vor sich hin, bedrückt von 
vielen trüben Gedanken, was das Schicksal wohl für ihn bereithalte an dem 
Tage, wenn er dem Mann bei der Grünen Kapelle begegnen würde und sich 
ohne Gegenwehr einen Hieb von ihm müßte gefallen lassen. Doch als die 
Schöne eintrat, kam er zu sich, schob die Träume beiseite und gab gleich 
Antwort. Zärtlich lachend kam sie zu ihm, beugte sich über sein schönes 
Gesicht und küßte ihn anmutig. Artig und freundlich begrüßte er sie, als er 
sie sah in ihrem prächtigen, reizenden Aufputz und mit ihrer fehlerlosen 
Gestalt, den zarten Farbtönen ihrer Haut, und vor Freude wurde ihm ganz 
warm ums Herz. Sogleich begannen sie zu plaudern und zu scherzen, und 
alles, was zwischen ihnen zur Sprache kam, war Freude und Seligkeit. 
Schöne Worte wechselten sie und hatten viel Vergnügen dabei, doch 
zwischen ihnen stand eine große Gefahr  – wenn nicht Maria ihren Ritter 
beschirmte. 

background image

nachdrücklicher, das Wort synne, Sünde. Und mehr noch, eine 
Unterscheidung wird getroffen, die Gawain selbst vornehmen 
muß, die Unterscheidung zwischen der »Sünde« (nach 
moralischem Gesetz) und der Verletzung der ritterlichen 
Anstandspflichten: 

 
For she, queenly and peerless, pressed him so closely, led 
him so near the line, that at last he must needs either refuse 
her with offence or her favours there take. He cared for his 
courtesy, lest a caitiff he proved, yet more for his sad case, if 
he should sin commit and to the owner of the house, to his 
host, be a traitor. »God help me!« said he. »Happen  that 
shall not!« 

(71.1770-6)

 

 
Das Ende der letzten Versuchungsszene, wenn die Dame 

nach ihrer endgültigen Niederlage auf der höheren (oder einzig 
wirklichen) Ebene ein völlig anderes Gebaren zeigt, bringt 
allerdings eine weitere Komplikation in dieses komplexe 
Gedicht, die an gegebener Stelle noch zu erörtern sein wird. 
Hier aber müssen wir sogleich zu der an die Versuchung 
anschließenden Stelle, zu Gawains Beichte übergehen 
(75.1874-84). 

Gollancz hat das Verdienst, zu der Beichte, die früher wenig 

oder gar nicht beachtet worden war, wenigstens eine 
Anmerkung gemacht zu haben.

∗∗

 Aber an der Sache oder an 

                                                           

 Denn die edle, unvergleichliche Schöne trieb ihn so sehr in die Enge, bis 

dicht an die Grenze, wo er kaum mehr umhin konnte, sie entweder durch 
eine Zurückweisung zu kränken, oder aber zu nehmen, was sie gewährte. 
Viel lag ihm daran, den Anstand zu wahren und kein Flegel zu sein; mehr 
aber fürchtete er das Los des Sünders, wenn er sich dem Hausherrn, seinem 
Gastgeber, untreu erwiese. »Gott sei davor!« sagt’ er. »Das soll nicht 
geschehen.« 

∗∗

 Die Rede ist von Sir Israel Gollancz, Hg.  Sir Gawain and the Green 

background image

den Sachen geht er völlig vorbei. Diese möchte ich nun 
gesondert behandeln. Es ist wohl keine Übertreibung, zu 
sagen, daß die gesamte Deutung und Bewertung des Gedichtes 
davon abhängt, was man von der dreißigsten Strophe des 
dritten Gesanges [Strophe 75] hält. Entweder wußte der 
Dichter, was er tat, meinte, was er sagte, und stellte diese 
Strophe dorthin, wo er sie haben wollte – und dann müssen wir 
sie gewissenhaft lesen und seine Absichten bedenken; oder 
aber er wußte es nicht und war bloß irgendein gedankenloser 
Versemacher, der konventionelle Szenen aneinanderreihte, und 
dann verdiente sein Werk überhaupt keine Beachtung, 
allenfalls als Rumpelkammer halbvergessener und kaum zur 
Hälfte verstandener alter Geschichten und Motive, einfach ein 
Märchen für Erwachsene, und nicht einmal ein besonders 
gutes. 

Letzteres dachte offenbar Gollancz, denn er macht die 

erstaunliche Anmerkung, daß Gawain,  obwohl der Dichter es 
nicht bemerkt (!)
,  eine frevlerische Beichte ablegt. Denn er 
verheimlicht den Umstand, daß er den Gürtel angenommen 
hat, mit der Absicht, ihn zu behalten.  
Das ist blanker Unsinn. 
Wie  wir sehen werden, ist es auch aus dem Text nicht zu 
belegen. Aber zuerst einmal ist es ganz unglaublich, daß ein 
Dichter von so tiefem Ernst

, der in ausdrücklich moralischer 

Absicht schon einen langen Exkurs über das Pentagramm und 
Gawains Schild eingefügt hat, in einer Passage  über die 
Beichte  und die  Absolution  (für ihn  ein ehrfurchtgebietendes 
Thema, was auch die heutigen Kritiker davon halten mögen) 
ganz nebenbei und ohne es zu »merken« so eine Kleinigkeit 

                                                                                                                           
Knight,  Early English Text Society 1940, S. 123, An merkung zu Vers 
1880. [Hg.] 

 Und ein Dichter, kann man hinzufügen, der, wie nicht ernstlich zu 

bezweifeln ist, auch Pearl geschrieben hat, um von Purity und Patience gar 
nicht zu reden. 

background image

wie ein Sakrileg anbringen sollte. Wenn er ein solcher Esel 
war, fragt man sich, warum Gelehrte die Mühe nicht scheuen, 
seine Werke herauszugeben. 

Sehen wir also in den Text. Zuerst einmal: Der Autor macht 

keine näheren Angaben darüber, was Gawain gebeichtet hat; 
daher können wir auch nicht sagen, was er ausgelassen hat, 
und es ist mutwillig und albern, zu behaupten, er habe etwas 
verheimlicht. Wir erfahren jedoch, daß  er  schewed his 
mysdedez, of pe more and pe mynne,  
das heißt,  beichtete alle 
seine Sünden (oder alle, die zu beichten nötig war), die großen 
wie die kleinen. Sollte das noch nicht eindeutig genug sein, so 
wird noch klarer gemacht, daß es eine gute Beichte war und 
keine »frevlerische«; und von der Absolution wird versichert, 
daß sie gültig war:

 

 

There he cleanly confessed himself and declared his 
misdeeds, both the more and the less, and for mercy he 
begged, to assolve him of them all he besought the good man; 
and he assoiled him and made him as safe and as clean as for 
Doom’s Day indeed, were it due on the morrow.
 

(75.1880-4)

∗∗

 

 
Und, wie wenn das noch nicht genügte, beschreibt der 

Dichter auch noch, wie Gawains Herz nachher leichter ist: 

 

                                                           

 Denn die Gültigkeit einer Beichte hängt ganz und gar von der inneren 

Verfassung des Bußfertigen ab; und die Worte des Priesters können böse 
Absichten oder willentlich ver heimlichte Sünden nicht gutmachen. 

∗∗

  Dann beichtete er alle seine Sünden, die größeren wie die geringeren, 

flehte um Vergebung, und dann bat er den guten Mann, ihn von allen 
loszusprechen. Und der Priester erteilte ihm die volle Absolution, so daß er 
ruhig und rein wurde wie für den Jüngsten Tag, wenn er morgen 
bevorstünde. 
 

background image

Thereafter more merry he made among the fair ladies, 
with carol-dances gentle and all kinds of rejoicing, 
than ever he did ere that day, 
till the darkness of night, in bliss.
 
Each man there said: »I vow 
a delight to all he is! 
Since hither he came till now, 
he was never so gay as this.« 

(75.1885-92)

 

 
Muß ich erst sagen, daß seine Herzensverfassung nicht die 

eines Menschen ist, der einen Beichtfrevel begangen und 
Sünden willentlich verheimlicht hat? 

Gawains Beichte wird also als richtig dargestellt. Den Gürtel 

aber behält er. Dies kann kein Zufall oder Versehen sein. Wir 
sind also gezwungen, uns über die vom Autor bewußt so 
angelegte Situation klarzuwerden; wir werden gedrängt, uns 
die Beziehung all dieser Spiel-, Verhaltens- und 
Höflichkeitsregeln zur Sünde, zur Moral zu vergegenwärtigen, 
zu denjenigen Werten, die der Autor für ewig und universell 
erachten würde. Und eben dies ist sicherlich der Grund, warum 
die Beichte eingefügt ist, und zwar an dieser Stelle. In dieser 
letzten gefährlichen Notlage sieht sich Gawain gezwungen, 
seinen Sitten-»Kodex« in zwei Hälften zu zerreißen und den 
Anteil der guten Manieren von dem Anteil der Moral zu 
unterscheiden. Wir sind nun gehalten, diesen Fragen weiter 
nachzugehen. 

Das erste, was aus der Beichte hervorgeht, ist also, daß in der 

Sicht des Autors das Behalten des Gürtels keine Missetat oder 
Sünde  auf der moralischen Ebene gewesen ist. Denn es gibt 

                                                           

 Um so mehr und heiterer als je zuvor tanzte und scherzte er dann mit den 

schönen Damen, bis zum späten Abend. Und alle waren entzückt von ihm 
und sagten: »So froh war er noch nie, seit er hier ist.« 

background image

nur zwei Möglichkeiten: Entweder a) hat Gawain den Gürtel 
gar nicht erwähnt, weil er aufgeklärt genug ist, um zwischen 
solchem Zeitvertreib und ernsthaften Dingen zu unterscheiden; 
oder b) wenn er ihn doch erwähnt hat, so ist er von seinem 
Beichtvater eines Besseren belehrt worden. Das erstere ist 
wohl weniger wahrscheinlich, weil Gawains Bildung in dieser 
Richtung, wie man sagen könnte, eben erst begonnen hat; 
hingegen erfahren wir, daß er, bevor er zur Beichte geht, den 
Priester um seinen Rat bittet.

 

Wir haben damit eigentlich den Schnittpunkt zweier Ebenen 

erreicht: eines wirklichen und dauernden Wertgefüges und 
eines unwirklichen und vergänglichen, der  Moral  einerseits 
und eines Ehrenkodex oder eines Regelspiels andererseits. Die 
persönlichen Verhaltensregeln der meisten Menschen waren 
und sind vielfach noch heute aus einem dichten Gemisch 
dieser beiden Elemente zusammengesetzt, und Brüche an 
bestimmten Stellen dieses persönlichen Wertgefüges haben 
dann einen ganz ähnlichen emotionalen Beigeschmack. Nur 
eine Krise oder (seltener) gründliches Nachdenken ohne Krise 
werden zur Entwirrung der verschiedenen Elemente führen; 
und dieser Vorgang, wie Gawain entdeckt, kann schmerzhaft 
sein. 

Ein »Regelspiel« kann sich natürlich ebensogut mit trivialen 

wie mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigen, etwa mit 
Spielkarten als der untersten Stufe der Skala. Je mehr sich das 
Spiel mit echten Pflichten und Angelegenheiten beschäftigt 
oder verquickt, desto größer wird seine moralische Tragweite; 

                                                           

 Ich behaupte natürlich nicht, daß eine echte Übereinkunft, auch eine 

solche, die nur zum Zeitvertreib geschlossen wird, keinerlei moralische 
Bedeutung habe und keine Verpflich tungen mit sich bringe. Aber ich meine 
wohl, daß nach An sicht des Autors eine »Weihnachtsbelustigung« wie der 
Pakt zwischen Gawain und dem Burgherrn nicht in diese Kategorie gehört. 
Ich komme später noch darauf zurück. 

background image

was man tut oder nicht tut, bestimmt sich nun von zwei Seiten 
her, vom Ritual oder den Spielregeln und von den ewigen 
Regeln; und um so mehr Anlässe gibt es  daher für ein 
Dilemma, einen Konflikt der Regeln. Je ernster man das Spiel 
nimmt, desto schärfer und schmerzlicher das Dilemma. Sir 
Gawain (so wie er dargestellt wird) gehört nach Klasse, 
Tradition und Erziehung zu jener Menschenart, die ihre Spiele 
sehr ernst nimmt. Er leidet schmerzlich. Eben aus diesem 
Grunde, könnten wir sagen, wurde er zum Helden auserwählt – 
von einem Autor, der zur gleichen Klasse und Tradition 
gehörte und der von innen her wußte, wie ihm zumute war, den 
aber zugleich auch die Probleme moralischen Tuns 
beschäftigten und der über sie nachgedacht hatte. 

Hier könnte man sich berechtigt fühlen, die Frage 

einzuwerfen: »Aber ist es denn nicht ein  Kunstfehler,  ein 
poetischer Mißgriff, etwas so Ernstes wie eine echte Beichte 
und Absolution sich an dieser Stelle eindrängen zu lassen? 
Warum wird die Aufmerksamkeit des Lesers so gewaltsam auf 
diesen Wertkonflikt gelenkt (der ihn vielleicht gar nicht 
sonderlich interessiert)? Warum sollten überhaupt solche 
Dinge in einem Märchen zur Sprache kommen, warum müssen 
Absurditäten wie der Austausch der Jagdbeute gegen Küsse so 
ernsthaft behandelt werden?« 

Ich kann mir im Augenblick mit der Beantwortung dieser 

Frage nicht viel Mühe geben; denn einstweilen möchte ich vor 
allem, wenn es möglich ist, zeigen, daß der Autor des 
Gedichtes tatsächlich ebendies getan hat, und daß seine 
Bearbeitung des Stoffes unerklärlich oder weithin 
unverständlich bleiben wird, wenn man dies nicht erkennt. 
Wenn man mir die Frage aber stellte, würde ich antworten: 
Das Gedicht hat eine Kraft und Lebendigkeit, die fast 
allgemein anerkannt werden. Es ist wahrscheinlicher, daß diese 
von dem moralischen Ernst des Autors ausgehen, als daß sie 

background image

sich  trotz  des Ernstes erhalten haben. Aber es kommt 
großenteils darauf an, was der Leser will oder zu wollen meint. 
Wollen Sie vom Autor verlangen, daß er die Ziele verfolgt, die 
Sie bei ihm erwarten, oder die Ansichten hegt, die Ihnen lieber 
wären? Daß er zum Beispiel ein anthropologischer 
Altertumsforscher gewesen wäre? Oder hätte er sich einfach 
damit zufrieden geben sollen, ein fesselndes Märchen gut zu 
erzählen, so daß eine für Unterhaltungszwecke ausreichende 
literarische Glaubhaftigkeit erzielt würde? Und wie hätte er das 
anfangen sollen, nach den Maßstäben seiner Zeit und seiner 
Denkweise? Wäre er nicht, wenn ihm nur dies einfache Ziel 
vorgeschwebt hätte (unwahrscheinlich genug in dem 
komplexen und didaktischen 14. Jahrhundert), bei einer 
solchen Wiederbelebung alter Sagen unvermeidlich in die 
Behandlung zeitgenössischer oder ewiger Fragen des 
moralischen Tuns hineingeraten? Eben dadurch hat er seine 
Figuren aufgefrischt und den alten Geschichten neues Leben 
verliehen  – etwas ganz anderes als ihre frühere Bedeutung 
(über die er vermutlich viel weniger  wußte und die ihn mit 
Sicherheit viel weniger interessierte als manche Menschen von 
heute). Zweifellos ist dies ein Fall, wo neuer Wein in alte 
Schläuche gefüllt wurde, und daher gibt es unvermeidlich 
manche Risse und Brüche. Aber ich zumindest finde diese 
ethische Frage wegen ihres absonderlichen und bizarren 
Hintergrundes nur um so lebendiger und für sich genommen 
interessanter als alle Vermutungen über primitivere Zeitalter. 
Allerdings glaube ich auch, daß das 14. Jahrhundert höher 
steht als die Barbarei, und Theologie und Ethik höher als 
Volkskunde. 

Ich will natürlich nicht behaupten, der Autor müsse sich 

bewußtermaßen etwas wie eine Untersuchung des 
Verhältnisses zwischen echten und künstlichen 

background image

Verhaltensregeln zum Ziel gesetzt haben, als er die Geschichte 
zu bearbeiten anfing. 

Ich könnte mir denken, daß er für dieses Gedicht eine ganze 

Weile gebraucht und daß er es mehrere Mal überarbeitet hat, 
hier etwas erweitert und da etwas gekürzt. Aber die 
moralischen Fragen sind nun einmal da; sie stecken in der 
Geschichte selbst und werden naturgemäß hervortreten und 
Aufmerksamkeit fordern, um so mehr, je realistischer der Stoff 
behandelt wird und je mehr der Autor ein Mann von Geist und 
Verstand ist und nicht nur ein Geschichtenkrämer. Auf jeden 
Fall ist deutlich, daß der Autor, bevor er letzte Hand anlegte, 
klar gewußt haben muß, was er wollte: nämlich ein 
»moralisches« Gedicht schreiben, eine Studie über ritterliche 
Tugend und Gesittung in einem Belastungszustand; denn er hat 
eigens zwei Strophen (»mag es meine Geschichte auch 
aufhalten«, und mögen wir auch im Moment nichts davon 
hören wollen) über das Pentagramm eingefügt, ehe er den 
Ritter zu seiner Bewährungsprobe aufbrechen läßt. Und vor 
der Strophe über die Beichte, nach der schwersten Versuchung 
des Helden, hat er unsere Aufmerksamkeit schon auf den 
Wertkonflikt gelenkt, durch die klare Unterscheidung in den 
Zeilen 1773/4, wo das moralische Gesetz über die 
Anstandspflichten gestellt und ausdrücklich, durch Gawain 
selbst, der  Ehebruch  als möglicher Teil des  vollendet 
ritterlichen Verhaltens verworfen wird. Ein sehr 
zeitgebundener und sehr englischer Standpunkt!

 

Die offene 

Aufforderung zum Ehebruch aber – in den Zeilen 49.1237-40, 

                                                           

 Daß Gawain mit der synne einen weiteren Gesichtspunkt verbindet, durch 

den sie noch hassenswerter würde, nämlich den Betrug eines Gastes an 
seinem Gastgeber, ist sowohl ethisch berechtigt als auch seinem Charakter 
gemäß. Es ist auch sehr richtig für dieses Gedicht, das von einer  Loyalität 
auf allen Ebenen handelt. Hier sehen wir Gawain eine Illoyalität ablehnen, 
die wirklich eine Sünde gewesen wäre, so daß wir den Mangel an Loyalität, 
der ihm später vorge worfen wird, im rechten Maßstab sehen können. 

background image

und dies ist sicher einer der Gründe, warum sie an den Anfang 
gestellt wurde  –  läßt uns die Hohlheit all der höfischen 
Tändeleien, die nun folgen, erkennen. Denn von diesem 
Augenblick an kann Gawain keinen Zweifel mehr haben, was 
die Dame vorhat:  to hafwonnen hym to wore  (»ihn zu 
Liebesbeweisen zu locken«, 61.1550). Er wird an zwei Fronten 
angegriffen und hat die Haltung der »Dienstbarkeit«, die 
vollkommene Unterwerfung des ritterlichen »Knechts« unter 
das Wünschen und Wollen der Dame, in Wahrheit von Anfang 
an aufgegeben; dennoch bemüht er sich im ganzen Fortgang, 
den verbalen Schein dieser Haltung, die Glätte des höfischen 
Redens und Betragens zu wahren. 

 
by God, I would be glad, if good to you seemed whatever I 
could say, or in service could offer to the pleasure of your 
excellence – it would be pure delight. 

(50.1245-7) 

 
But I am proud of the praise you are pleased to give me, and 
as your servant in earnest my sovereign I hold you…
 

(51.3277/8) 

 
All your will 1 would wish to work, as I am able, being so 
beholden in honour, and, so help me the Lord, desiring ever 
the servant of yourself to remain.
 

(61.1546-8)

 

 

                                                           

  Bei Gott, ich wäre froh, wenn ich Euch in Wort oder Tat dienen und zu 

Gefallen sein könnte – dies wär mir eine reine Freude… Doch bin ich stolz 
auf Euer Lob, das Ihr mir so großzügig spendet, und als Euer Diener erachte 
ich mich in vollem Ernst und Euch als meine Herrin… Ich will tun, was Ihr 
wollt, so gut ich kann, bleibe Euch tief verbunden, so wahr mir Gott helfe, 
als Euer getreuer Diener für immer. 

background image

All diese Äußerungen sind nun reine Spiegelfechtereien, 

nicht viel mehr als ein Teil der weihnachtlichen Belustigungen, 
nachdem das  wylnyng  (»Begehren«, 1546) der Dame ein für 
allemal zurückgewiesen ist. 

Nur noch durch höfische  Gewandtheit der Rede und des 

spielerischen Umgangs kann Gawain es vermeiden, sich offen 
crapayn zu betragen, und vileinye zu bekunden, das heißt, sich 
bäurisch oder brutal offen auszudrücken (ob zutreffend oder 
nicht).

 Obwohl er entwaffnend liebenswürdig  bleibt, wird 

doch das Gebot, daß er den Wünschen der Dame »dienstbar« 
sein müsse, faktisch gebrochen. Und der Beweggrund für 
diesen Ungehorsam und für seine geschickte Verteidigung 
kann von Anfang an nur ein moralischer gewesen sein, obwohl 
er erst in 71.1773/4 genannt wird. Hätte es keinen anderen 
Ausweg gegeben, hätte Gawain sogar auf die Höflichkeit 
verzichten und die Dame verletzend zurückweisen müssen 
(1772). In keinem Augenblick kommt er der Wahrheit näher, 
als wenn er versichert, keine andere Geliebte zu haben und 
vorerst auch keine haben zu wollen (71.1790/1), was trotz des 
glatten Lächelns deutlich genug ist, für die Dame das 
Schlimmste, was er ihr nur sagen kann (72.1792). Aber sie 
bedrängt ihn nicht weiter, ohne Zweifel, weil der Autor das 
freundliche Äußere seines Helden nicht in die Brüche gehn 
lassen wollte. Der Autor wußte gute Manieren und das 
Vermeiden der »vileinye« zu schätzen, wenn sie auf Tugend 

                                                           

 So sagt Chaucer von seinem  perfit gentil knight,  daß er  neuer  yet no 

vileinye ne sayde…  vnto no maner wight;  und später ver  teidigt er sich 
blendend gegen den Vorwurf der  vileinye  (näm lich einer rohen und 
gemeinen Sprache), den man gegen seine derberen Geschichten und 
Charaktere erheben könnte. 

background image

gegründet waren  – einem Destillat des Höfischen in der 
»höfischen Liebe«, ohne den Ehebruch.

∗∗

 

Wir müssen also anerkennen, daß die Einfügung der Beichte 

an genau dieser Stelle des Gedichtes mit Bedacht geschehen ist 
und daß sie die Ansicht des Autors bekundet, daß Spielregeln 
und gute  Manieren  letztlich (für das »Seelenheil«, 75.1879) 
nicht wichtig oder jedenfalls der echten Tugend  untergeordnet 
seien, hinter der sie im Falle des Konflikts zurücktreten 
müßten. Sogar der Grüne Ritter erkennt den Unterschied an 
und erklärt Gawain für »den makellosesten Mann der Welt« 
(95.2363) im Hinblick auf das moralische Hauptproblem. 

Aber mit einigen interessanten Kleinigkeiten sind wir noch 

nicht fertig. Der Grüne Ritter fährt fort: Bot here yow lakked a 
lyttel, sir, and lewte yow wonted  
(95-2366). Was ist  diese 
lewte,  an der Gawain es hat fehlen lassen? »Loyalität« oder 
»Treue« wäre trotz der Wortverwandtschaft keine gute 
Übersetzung, denn darunter verstehen wir heute meist die 
Ehrlichkeit und Standhaftigkeit in einer wichtigen persönlichen 
Pflicht oder Beziehung (gegen König und Vaterland, gegen 
Verwandte oder gute Freunde). »Legalität« wäre ebenfalls 
wortverwandt und käme dem Gemeinten näher; denn  lewte 
konnte einfach das »Festhalten an Regeln« bezeichnen, gleich 
welcher Ordnung und welchen göttlichen oder weltlichen 
Ranges. So kann unser Autor zum Beispiel die Alliterationen, 
die nach metrischen Regeln an bestimmten Stellen in seinen 

                                                           

∗∗

 Ob er das Ansinnen der Dame als  vileinye  bezeichnet haben würde, ist 

eine andere Frage. Die Handlungsweisen des Burg herrn und der Dame 
werden im Grunde überhaupt nicht be urteilt. Nur das Verhalten Gawains, 
als des Vertreters von Anstand und Frömmigkeit, wird aus der Nähe 
betrachtet. Was andere tun und sagen, dient im wesentlichen nur dazu, die 
Situationen zu schaffen, in denen sein Charakter und Betragen hervortreten 
können. 
 

background image

Versen auftreten, als  lel lettres,  »loyale Lettern«, bezeichnen 
(2.35). 

Was für Regeln soll Gawain durch das Annehmen, Behalten 

und Verheimlichen des Zaubergürtels verletzt haben? Drei 
könnten es sein: Daß er ein Geschenk angenommen hat, ohne 
es zu erwidern; daß er den Gürtel als einen Teil seines 
»Gewinns« am dritten Tage nicht abgeliefert hat (wie er es 
nach dem scherzhaften Pakt mit dem Schloßherrn, dem  layke 
oder »Spiel«, wie es bezeichnet wird, hätte tun müssen); und 
daß er ihn bei dem Treffen mit dem Grünen Ritter zu seinem 
Schutz umgelegt hat. Es ist wohl klar, denke ich, daß der 
Grüne Ritter nur an die zweite dieser Regelverletzungen denkt. 
Er sagt: 

 
The true shall truly repay, 
for no peril then need he quake. 
Thou didst fail on the third day… 

(94.2354-6) 

 

For it is my weed that thou wearest… 

(95.2358)

 

 

Also er spricht mit Gawain von Mann zu Mann, und als 

Widersacher in einem Spiel stellt er ihn zur Rede. Und ich 
denke, es ist  klar, daß er hier auch die Ansicht des Dichters 
ausspricht. 

Denn der Dichter war nicht einfältig. Wer eine letztlich 

strenge und kompromißlose moralische Haltung einnimmt, 
muß nicht unbedingt ein Trottel sein. Vielleicht ist das 

                                                           

 Der Ehrliche soll ehrlich entgelten, dann hat er nichts zu befürchten. Am 

dritten Tag wart Ihr nicht ehrlich… Denn der Gürtel, den Ihr da tragt, ist 
mein… 

background image

Hauptproblem für ihn theoretisch klar gewesen, aber in seiner 
Behandlung der Geschichte deutet nichts darauf hin, daß er 
moralisches Verhalten in der Praxis für etwas Einfaches und 
Müheloses gehalten hätte. Jedenfalls war er, wie wir sagen 
könnten, ein Gentleman – mit Humor, den das Nebensächliche 
interessierte. Die moralitas seines Gedichtes wird ja durch die 
Vorführung des Regelkonflikts auf einer niederen Ebene zwar 
komplizierter, aber auch reicher. Er hat ein sehr ansehnliches 
kleines Problem an den Tag gebracht oder auf die Beine 
gestellt. 

Gawain wird von der Dame zur Annahme eines 

Abschiedsgeschenks bewogen. Von dem Schönheitsfehler der 
»Habsucht« (daß er es ohne Gegengabe nimmt) wird er 
ausdrücklich freigesprochen: Er hat nichts, was er ihr geben 
könnte, ohne sie durch Ungleichheit der Werte zu beleidigen 
(72.1798ff.); an die Schönheit oder den Geldwert des Gürtels 
denkt er dabei nicht (81.2037-40). Aber er wird dadurch in 
eine Lage gebracht, in der sich unabweisbar der Gedanke 
aufdrängt, daß ihm der Gürtel bei der Begegnung mit dem 
Grünen Ritter womöglich das Leben retten könne. Nun hat sich 
der Autor nirgendwo über die Ethik dieser Enthauptungswette 
geäußert; wenn wir diese aber bedenken wollen, so werden wir 
nicht finden, daß Gawain irgendeinen Artikel seines Vertrages 
bricht, wenn er den Gürtel zu einem solchen Zweck anlegt. 
Versprochen hat er nur, in eigener Person zu kommen und 
nicht etwa einen Stellvertreter zu entsenden (die 
wahrscheinliche Bedeutung der Zeile 17384:  wyth no wyellez 
on lyue, 
»mit niemand anders auf der Welt als mir«); an einem 
vereinbarten Tag zur Stelle zu sein und sich ohne Widerstand 
einen Hieb gefallen zu lassen. So gesehen, braucht Gawain 
wohl keinen Advokaten; obwohl es leicht wäre zu zeigen, daß 
Gawain ja seinerseits mit List zu der Abmachung bewogen 
wurde, bevor der Grüne Ritter verraten hatte, daß er magischen 

background image

Schutz genoß. Gawains Versprechen könnte man also gut und 
gern als ethisch nichtig betrachten, und ein bißchen 
Privatmagie von seiner Seite wäre daher nur gerecht. Aber in 
einem solchen Rechtsfall wollte der Autor nicht urteilen, 
obwohl ihm die Entlastungsgründe nicht unklar waren, denn er 
läßt Gawain einwenden, wenn ihm nun der Kopf abfalle, so 
könne er ihn nicht wieder aufsetzen (91.2282/3). 

Wir reden jetzt also nur von den Vorgängen in der Burg und 

dem scherzhaften Pakt mit dem Burgherrn. Gawain hat aus 
Furcht vor dem Enthauptetwerden den Zaubergürtel als 
Geschenk angenommen. Doch abermals ist er überlistet 
worden. Die Dame drängt ihm den Gürtel auf, und im 
Augenblick, als er schwach wird und ihn annimmt, läßt sie die 
Falle zuschnappen: Sie bittet ihn, ihrem Gatten nichts zu 
sagen. Er willigt ein. Etwas anderes hätte er kaum tun können; 
aber mit der charakteristischen Großmut, man könnte  auch 
sagen, der überschwenglichen Großspurigkeit, die wir an ihm 
schon bemerkt haben, gelobt er sogleich, auch sonst 
niemandem auf der Welt etwas davon zu sagen.

 Natürlich 

möchte er den Gürtel haben, wegen der gewissen Chance 
(allzu fest scheint er nicht daran zu glauben), durch ihn vor 
dem Tode bewahrt zu werden; aber auch wenn er ihn nicht 
wollte, wäre er mit seiner »Höflichkeit« hier in einem 
Dilemma. Den schon angenommenen Gürtel wieder 
zurückzuweisen, oder aber die Bitte um Geheimhaltung 
abzuschlagen wäre beides nicht eben »höfisch«. Warum er den 
Gürtel geheimhalten soll, geht ihn nichts an; vermutlich nur, 
um der Dame eine Verlegenheit zu ersparen, denn einen Grund 
zu der Annahme, daß er ihr nicht gehörte, gibt es nicht. 
Zumindest kann sie ihn ebensogut verschenken wie ihre Küsse, 
und in diesem Punkt hat er ihr schon Verlegenheiten erspart, 

                                                           

 Was er später  – im gleichen Geiste  – damit abbüßt, daß er’s aller Welt 

erzählt. 

background image

indem er ihrem Gatten nicht sagte, von wem er sie bekommen 
hat.

 Es wird nicht gesagt, ob Gawain in dem Augenblick, wo 

er den Gürtel annimmt und Schweigen gelobt, überhaupt an 
seinen scherzhaften Pakt mit dem Burgherrn denkt. Aber 
letztlich ist das keine Entschuldigung, denn lange kann er dies 
nicht vergessen haben. Wenn der Burgherr abends 
heimkommt, muß er sich wieder daran erinnern. Und so ist es. 
Es wird nicht gesagt, aber in Strophe 77 wird es an der Eile 
deutlich, mit der Gawain den abendlichen Austausch der 
Trophäen hinter sich bringt. »Diesmal will ich zuerst zahlen«, 
ruft er dem heimgekehrten Burgherrn entgegen (womit er 
wieder einmal übers Ziel hinausschießt, ob nun beim Abgeben 
oder beim Bruch eines Versprechens, vgl. 1932 – 4). 

An dieser Stelle nun und nur hier ertappen wir Gawain bei 

einem Fehler, denn immerhin ist es einer. »Ich will als  erster 
unseren Vertrag erfüllen«, sagt er, aber er tut es nicht, soweit 
man den Vertrag irgend gelten läßt. Er sagt nichts von dem 
Gürtel. Und ihm ist nicht wohl dabei. »Genug!« ruft er aus, als 
der Burgherr sagt (mit einem Hintersinn, den Gawain nicht 
bemerken kann, und wir ebensowenig, solange wir die 
Geschichte noch nicht bis zum Ende gelesen haben), daß ein 
Fuchspelz ein schlechter Gegenwert zu drei Kostbarkeiten wie 
Gawains Küssen sei. 

                                                           

 Wozu wir allerdings, wenn wir diese märchenhafte Einzelheit einer 

Prüfung unterziehen wollten, der sie kaum stand hält, meinen könnten, daß 
man einen empfangenen Kuß nicht an jemand anders weitergeben kann; und 
wenn oben drein die Herkunft ungenannt bleibt, so wird man nicht gut 
sagen können, daß die Küsse der Dame ihrem Gatten abgetreten würden. 
Aber selbst dies ist dem Autor nicht entgangen. Die zwei angetäuschten 
Axthiebe tun Gawain zwar keinen leiblichen Schaden (94-2353), sind aber 
gewiß nicht leicht zu ertragen. Der Grüne Ritter (oder Sir Bertilak) scheint 
die Küsse, die Gawain von seiner Gattin erhalten hat, nicht ganz belanglos 
zu finden, auch wenn sie nur »aus Höflichkeit« angenommen wurden. 

background image

Jedenfalls, da haben wir’s. Tyme prowe best, aber at pe prid 

pou fayled pore.  Es ist nicht meine Sache zu behaupten, daß 
Gawain überhaupt nicht »gefehlt« habe, denn auch der Autor 
war nicht dieser Ansicht. Sondern ich will überlegen, in 
welchem Maße und auf welcher Ebene er »gefehlt« hat, soweit 
die Meinung des Autors hierzu erkennbar ist; denn an solchen 
Fragen nahm er ein tiefes Interesse. Für ihn, soviel scheint mir 
aus seiner Behandlung der Geschichte deutlich, gab es  drei 
solcher Ebenen: eine des scherzhaften Zeitvertreibs mit 
Übereinkünften wie der zwischen Gawain und dem Burgherrn; 
eine des höfischen Anstands

, ein Kodex edlen oder gesitteten 

Betragens, der auch eine besondere Ehrerbietung gegenüber 
Frauen umfaßte und der von der Burgherrin so ausgelegt 
werden konnte, als ob auch das ernstere und daher 
gefährlichere »Spiel« der höfischen Liebe dazu gehöre, so daß 
die Anstandspflichten mit den moralischen Gesetzen in 
Konkurrenz treten konnten: und drittens die echte Moral, die 
Tugenden und Sünden. Diese drei Ebenen konnten einander 
widerstreiten, und die niederen müssen dann der höheren 
untergeordnet werden. Sobald Gawain auf der Burg eintrifft, 
werden Situationen angebahnt, in denen solche Konflikte, 
mitsamt einem Verhaltenszwiespalt, auftreten werden. Der 

                                                           

 In ihren gewöhnlichen, weltlichen Bedeutungen. Wenn un ser Autor auch 

Pearl  geschrieben hat (was ich für gewiß halte), so hat er das Vorhaben 
derjenigen, die seine Geistesart und seine Ansichten insgesamt verstehen 
wollen, da durch erschwert, daß er von »Höflichkeit« dort in einem hö 
heren Sinne spricht: nicht von den Sitten irdischer Höfe, sondern des 
himmlischen Hofstaates; von göttlicher Groß mut und Gnade und von 
unverkürzter Demut und Milde der Seligen; von einem Geiste also, aus dem 
auch die weltliche »Höflichkeit« hervorgehen muß, wenn sie lebendig, 
aufrich tig und auch rein sein soll. Eine Spur davon ist wohl im Zu 
sammentreffen von »Reinheit« und »Höflichkeit« im fünf ten Feld des 
Pentagramms zu sehen (28.653), welches die Tugendhaftigkeit in 
menschlichen Beziehungen darstellt. 

background image

Autor interessiert sich vornehmlich für den Konflikt zwischen 
Anstand und Tugend (Reinheit und Treue); er zeigt uns, wie 
sie immer weiter auseinanderklaffen und wie Gawain in der 
Krise der Versuchung dies erkennt und sich für die Tugend 
entscheidet, aber doch die Glätte der Manieren und die 
Artigkeit der Ausdrucksweise bewahrt, die zum wahren Kern 
des höfischen Wesens gehören. Ich glaube, durch die Beichte 
hat er unter anderem zeigen wollen, daß die unterste Ebene, die 
des scherzhaften Zeitvertreibs, letzten Endes überhaupt nicht 
wichtig war  – aber erst nachdem er sich sozusagen damit 
amüsiert hat, ein Dilemma auszumalen, das die Artigkeit sogar 
auf der niederen Ebene hervorrufen konnte. In diesem Falle, 
wo Fragen der Tugend und Sünde fernliegen, gibt der Held den 
Anstandspflichten Vorrang und gehorcht der Dame, obwohl er 
deshalb wortbrüchig werden muß (allerdings nur in einem 
Spiel ohne jeden Ernst). Aber leider hätte unser Dichter 
vermutlich gesagt, daß Anstandspflichten, da sie nicht von 
allumfassender Gültigkeit seien wie die Gebote der Moral, den 
Helden nicht wirklich entschuldigen könnten, nicht einmal 
dann, wenn sie sein einziger Beweggrund gewesen wären, den 
Gürtel anzunehmen. Aber sie waren nicht der einzige. Er wäre 
gar nicht erst in die Lage gekommen, entgegen seinem Pakt 
mit dem Burgherrn etwas für sich behalten zu müssen, wenn er 
den Gürtel nicht wegen seiner immerhin möglichen 
Zauberkraft hätte besitzen wollen: Gawain will sein Leben 
retten, ein schlichtes, redliches Motiv, und zwar durch ein 
Mittel, das seinem ersten Vertrag mit dem Grünen Ritter 
keinesfalls widerspricht und nur mit dem scheinbar absurden, 
scherzhaften Pakt mit dem Burgherrn nicht zu vereinbaren ist. 
Das ist sein einziger Verstoß. Wir können sehen, daß jede 
dieser drei »Ebenen« ihre  eigene Gerichtsbarkeit hat. Das 
moralische Recht ist Sache der Kirche. Über die Einhaltung 
der Spielregeln, wenn es nur um ein Spiel Mann gegen Mann 

background image

geht, urteilt der Grüne Ritter, der die Verhandlung sogar mit 
pseudoreligiösen Ausdrücken bezeichnet  – allerdings nur 
(dürfen wir anmerken), wo von dem Spiel die Rede ist, denn 
über die höheren Belange ist das Urteil schon gefällt worden: 
Gawain leistet »Beichte« und »Buße« unter der Schneide der 
Axt. Die Fragen des Anstands werden an den obersten 
Gerichtshof für derlei Belange, den Hof des Königs Artus  of 
kydde cortaysye,  
verwiesen, und dort wird der Angeklagte 
durch allgemeines Gelächter freigesprochen. 

Aber es gibt noch einen anderen Richter: Sir Gawain selbst, 

der über sich urteilt. Doch sagen wir sogleich, daß er in diesem 
Falle nicht unbefangen ist und daß sein Urteil daher nicht 
gelten kann. Es verwundert nicht, daß er zuerst in einer sehr 
aufgewühlten, verstörten inneren Verfassung ist, nachdem 
nicht nur sein ganzer Ehrenkodex in Scherben liegt, sondern 
auch noch sein Stolz tiefe Wunden empfangen hat. Sein erster 
Ausbruch gegen sich selbst wird wohl ebensowenig gerecht 
sein wie sein bitteres, summarisches Urteil über die Frauen.

 

Und dennoch sollten wir nicht überhören, was er zu sagen hat; 

                                                           

 Dies könnte zunächst als ein Makel erscheinen, obgleich als der einzige 

größere in diesem Gedicht. Es scheint mir tat sächlich auch in eine Form 
gekleidet zu sein, die dem Helden kaum gemäß ist, so daß es ich eher wie 
ein Satz des auctor liest, ein Stück geistlicher Pedanterie. Aber im Grunde 
bleibt es doch im Charakterbild, entspricht dem Wesen des Helden, so wie 
er geschildert wird, und kann mit seiner »Reaktion« in diesem Augenblick 
entschuldigt werden. Gawain geht immer ein bißchen weiter, als es die 
Umstände erfor dern. Es wäre genug, wenn er sagte: Viele größere Männer 
als ich sind schon von Frauen getäuscht worden, also bin ich ein wenig 
entschuldigt. Er müßte gar nicht fortfahren, daß es viel besser für die 
Männer wäre, wenn sie die Frauen lieben könnten, ohne ihnen zu trauen. 
Aber das sagt er. Und das sieht nicht nur diesem Gawain sehr ähnlich, 
sondern liegt keinem »Höfling« sehr fern, den man gerade bei seiner 
Höflichkeit und beim Stolz auf sie gepackt hat, um ihn zu beschämen. Sei 
es nur Spiel denn und Verstellung! ruft er aus – in diesem Augenblick. 
 

background image

denn er ist ein plastisch gezeichneter Charakter und nicht nur 
ein Sprachrohr für Meinungen und Analysen. Unser Dichter 
verstand sich auf die Kunst der Charakterzeichnung. Die Dame 
spielt zwar, wenn  sie in direkter Rede zu Wort kommt, nur 
eine einfache, von einer einzigen Richtlinie (ihrer nicht weiter 
erklärten »Feindschaft«) bestimmte Rolle, doch hat alles, was 
sie sagt, einen unverkennbar eigenen Ton. Noch besser und 
kunstvoller gezeichnet ist Sir  Bertilak, in Gebaren und 
Redeweise sowohl  als der Grüne Ritter wie auch als der 
Gastgeber von solcher Glaubhaftigkeit, daß beide Gestalten, 
wenn sie nicht ein und derselbe wären, als hinreichend 
individuell charakterisiert gelten könnten – und doch wird uns 
am Ende ebenso glaubhaft, daß wir die ganze Zeit über 
dieselbe Person gehört haben: Dies ist es wohl hauptsächlich, 
was den Leser ihre Identität ebenso fraglos hinnehmen läßt wie 
Gawain, ohne daß (in diesem Gedicht) nach der Aufklärung 
irgendeine Entzauberung oder ein Wechsel der Gestalt 
stattfände. Doch die Dame und Sir Bertilak sind nur 
Nebenfiguren, mit dem Zweck, die Situation für Gawains 
Prüfung zu schaffen. Nur Gawain selbst hat volle literarische 
Realität. 

Seine »Vollkommenheit« wird durch den kleinen Makel um 

so menschlicher, glaubhafter und daher als etwas wahrhaft 
Edles um so anerkennenswerter.

 Doch meiner Ansicht nach 

trägt nichts so sehr dazu bei, ihn als wirklichen Menschen 
»lebendig« erstehen zu lassen, wie die Schilderung seiner 
»Reaktionen« auf die abschließende Aufklärung der Intrige: 
Hier kann das oft so grob mißbrauchte Wort »Reaktion« mit 
einigem Recht gebraucht werden, denn seine Worte und sein 
Gebaren sind vornehmlich instinkt- und gefühlshaft. Man sehe 

                                                           

 Man kann jedoch denken, daß er sich der Vollkommenheit nie angenähert 

hätte, wenn er sich nicht die durch das Pen tagramm symbolisierte absolute 
oder mathematische Voll kommenheit zum Ideal genommen hätte. 

background image

nur den Kontrast zwischen diesen Strophen und den Versen, in 
denen die Gefahren seiner Reise beschrieben werden – Verse, 
die zugleich pittoresk und flüchtig sind. Aber diesen Dichter 
interessierte das Märchenhafte oder Abenteuerliche nicht 
wirklich um seiner selbst willen. Außerdem ist  es, glaube ich, 
ein abschließender Kunstgriff, ein Gedicht, das sich so sehr auf 
die Tugend und die Fragen moralischen Tuns konzentriert hat, 
mit einem Blick auf die »Reaktionen« eines wahrhaft »edlen«, 
aber nicht allzu nachdenklichen Menschen enden zu lassen, der 
einen für den außenstehenden Beurteiler unerheblichen Fehler 
in seinem persönlichen Verhaltenskodex entdeckt. Mit einem 
Blick nämlich auf jene zweierlei Maß, mit denen alle halbwegs 
mitfühlenden Menschen messen: dem strengeren für das 
eigene, dem nachsichtigeren für das fremde Tun.

 »Der König 

tröstete den Ritter, und der ganze Hof stimmte darob in ein 
lautes Gelächter ein.« 

Was empfindet Gawain, und was sagt er? Er wirft sich 

»Feigheit« und »Habsucht« vor. Er »stand lange still in 
Gedanken« 

 
in such grief and disgust he had a grue in his heart; all the 
blood from his breast in his blush mingled, and he shrank 
into himself with shame at that speech. The first words on 
that field that he found then to say were: »Cursed be ye, 
Coveting, and Cowardice  also! In you is vileness, and vice 
that virtue destroyeth.« He took then the treacherous thing, 
and untying the knot fiercely flung he the belt at the feet of 
the knight: »See there the falsifier, and foul be its fate! 
Through care for thy blow Cowardice brought me to consent 
to Coveting, my true kind to forsake, which is free-hand and 
faithful word that are fitting to knights
Now I am faulty and 

                                                           

 Je mitfühlender, desto größer oft die Divergenz, z. B. zu der Strenge eines 

Heiligen gegen sich selbst. 

background image

false, who afraid have been ever of treachery and troth-
breach: the two now my curse may bear! 

(95.2370-84)

 

Später, nach seiner Rückkehr an den Hof, erzählt er seine 

Abenteuer in dieser Reihenfolge:

∗∗

 die Beschwerden seiner 

Reise, das Treffen bei der Grünen Kapelle, das Liebeswerben 
der Dame und (zu allerletzt) die Sache mit dem Gürtel. Er 
weist die Schramme an seinem Hals vor, die er zur Strafe für 
seine Leute erhalten hat: 

 
It was torment to tell the truth: 
in his face the blood did flame; 
he groaned for grief and ruth 
when he showed it, to his shame. 
 
»Lord«, he said at last, and the lace handled,
 

                                                           

 innerlich erschauernd vor Kummer und Abscheu; all sein Herzblut schoß 

ihm ins Gesicht, und er schrumpfte in sich zusammen vor Scham über das 
Gesagte. Die ersten Worte, die ihm dazu auf die Lippen kamen, waren 
»verflucht seist du, Habsucht, und Feigheit auch! In euch steckt Laster und 
Gemeinheit, an euch wird die Tugend zunichte.« Dann griff er nach dem 
tückischen Ding, löste den Knoten und warf den Gürtel wütend dem Ritter 
zu Füßen: »Da hast du den Stifter des Trugs, verflucht soll er sein! Durch 
die Furcht vor deinem Hieb machte mich Feigheit der Habsucht gefügig, 
gegen meine Natur, die dem Ritter Großmut und Treue gebietet. Nun bin 
ich treulos und falsch, der ich doch Tücke und Wortbrüchigkeit stets 
gemieden habe, und beides sei nun verflucht!…« Es war ihm peinlich, 
davon zu erzählen; das Blut stieg ihm ins Gesicht, und er stöhnte vor Scham 
und Schmerz, als er sein Schandmal vorzeigte. »Sieh, Herr!« sagte er 
schließlich und gab ihm den Gürtel. »Das ist er. Dafür trage ich nun ein Mal 
am Hals. Dies sind der Schade und die Schande, in die Habsucht und 
Feigheit mich brachten, die mich dort überkamen. Dies ist das Zeichen des 
Wortbruchs, bei dem ich ertappt wurde, und ich muß es tragen, solang ich 
lebe.« 

∗∗

 Je mitfühlender, desto größer oft die Divergenz, z. B. zu der Strenge eines 

Heiligen gegen sich selbst. 

background image

»This is the band! For this a rebuke I bear in my neck! 
This is the grief and disgrace 
I have got for myself from the covetousness and cowardice 
that overcame me there!
 
This is the token of the troth-breach that I am detected in, 
and needs must I wear it while in the world I remain…« 

 

Zwei Zeilen folgen noch, von denen die erste unklar ist, die 

aber bei jeder denkbaren Interpretation oder Emendation nur 
besagen können, daß Gawain glaubt, diesen Makel nie wieder 
tilgen zu können. Das stimmt zu seinem sonstigen 
Überschwang in Gemütsregungen, aber auch zu den 
Emotionen vieler anderer Menschen. Denn wie er glaubt man 
zwar an die Vergebung der Sünden und ist auch bereit, die 
eigenen vergeben oder sogar vergessen sein zu lassen, aber der 
Stachel der moralischen Beschämung in einer ganz 
nebensächlichen Angelegenheit sitzt oft tiefer und schmerzt 
nach Jahren noch unvermindert. 

Sir Gawain ist also von einer brennenden Scham erfüllt. Was 

er sich zur Last legt, sind Feigheit und Habsucht  – vor allem 
Feigheit, denn durch sie ist er der Habsucht erlegen. Das muß 
auch besagen, daß Gawain als Ritter der Tafelrunde wegen der 
Unbilligkeit der Enthauptungswette (auf die er in den Zeilen 
2282/3 angespielt hat) gegen den Grünen Ritter keinerlei 
Vorwurf erhebt, daß er zu seinem Wort steht – quatso bifallez 
after  
(382)  – und sich dem Urteil einfach deshalb unterwirft, 
weil das ganze Abenteuer für einen Ritter seines Ordens eine 
reine Mutprobe gewesen sei: Nachdem er sein Wort einmal 
gegeben hat, war er verpflichtet, es zu halten; und wenn er 
deshalb den Tod finden müßte, so sollte er ihm mit 
ungebeugtem Mannesmut begegnen. Den Umständen nach war 
er der Vertreter der Tafelrunde, und als solcher hätte er ohne 
fremde Hilfe seinen Mann stehen müssen. 

background image

Auf dieser schlichten, aber sehr hohen Anspruchsebene ist er 

beschämt worden und infolgedessen in seinen Gefühlen 
aufgewühlt. Daher bezeichnet er seine Abneigung gegen das 
widerstandslose Wegwerfen des eigenen Lebens  oder das 
Nichtverzichtenwollen auf einen Talisman, der ihn womöglich 
retten könnte, als »Feigheit«. Die Annahme eines Geschenkes 
von einer Dame ohne sofortige Gegengabe nennt er 
»Begehrlichkeit«, obwohl ihm das Geschenk erst nach 
zweifacher Weigerung aufgedrängt worden ist und obwohl ihm 
dessen Kostbarkeit nichts bedeutet. Tatsächlich ist er 
»begehrlich« nur im Rahmen seines Paktes mit dem Burgherrn 
gewesen: weil er etwas von dem waith zurückbehalten hat, das 
er (aus welchem Grund immer) für sich selber wollte. Und als 
»Verrat«

∗∗

 bezeichnet er die Regelverletzung in einem bloßen 

Zeitvertreib, den er als scherzhaft oder schrullig betrachten 
konnte (was immer der Burgherr sich bei seinem Vorschlag zu 
diesem Spiel insgeheim gedacht haben mochte), denn ein 
echter Tausch zwischen der Tagesbeute eines Jägers und den 
Gewinnen eines untätig Daheimgebliebenen war natürlich ein 
Unding. 

Und damit endet es. Weiter führt unser Dichter uns nicht. Wir 

haben einen edlen Ritter gesehen, der die Gefährlichkeit des 
höfischen Anstands am eigenen Leib erlebt hat und die 
Unwirklichkeit von Behauptungen einsehen lernt, daß man der 
ergebene »Diener« einer Dame, einer obersten »Gebieterin« 
sein wolle, deren Wille einem Gesetz sei;

 denn in letzter und 

                                                           
 

 Es sei denn, die Dame würde ihrerseits einem höheren Ge setz als dem des 

Eigennutzes oder der »Liebe« gehorchen. 

∗∗

 Engl. »treachery« – dies war nicht immer ein so starkes Wort wie heute, 

seitdem es wegen der Assoziation mit »treason« und  »traitor« (die 
ursprünglich nicht mit ihm verbunden waren) nur noch für sehr niedrige und 
schädliche Handlungen gebraucht werden kann. 

background image

oberster Instanz, so haben wir gesehen, erkennt er ein höheres 
Gesetz an. Aber wenn er sich auch nach diesem höheren 
Gesetz als »ohne Fehl« erwiesen hat, so ist die Bloßstellung 
dieser Art von höfischen Manieren doch weiter gegangen, und 
er muß zuletzt die Kränkung erleben, festzustellen, daß der 
Wille der Dame nur dahin ging, ihn in Unehre zu bringen, und 
daß alle ihre schmeichlerischen Liebesbeteuerungen falsch 
waren. In einem Augenblick der Erbitterung läßt er all seine 
cortaysye fallen und bricht in Schmähungen weiblicher Arglist 
aus: »Am besten wär’ es, sie zu lieben, ohne ihnen zu trauen – 
wenn man nur könnte!« (97-2420/1) Aber das ist noch nicht 
alles, was er als Ritter hat erdulden müssen: Er ist auch 
verleitet worden, in einem ritterlichen Spiel die Regeln und 
sein Wort zu brechen, und wir haben schon gesehen, daß er für 
diese Verfehlung auf einer niederen Ebene Qualen  der 
emotionalen Beschämung erleidet, wie sie eigentlich nur einer 
Verfehlung auf der höheren Ebene gemäß wären. Dies alles 
erscheint mir lebenswahr und glaubwürdig, und ich will die 
Sache nicht veralbern, wenn ich sage, daß wir Gawain sich am 
Ende die Schulkrawatte abreißen (weil er unwürdig sei, sie zu 
tragen) und mit einer weißen Feder an der Mütze heimreiten 
sehen – nur um zu erfahren, daß dieses Feiglingszeichen fortan 
von der ersten Mannschaft im Wappen geführt wird, während 
die ganze Angelegenheit mit dem Gelächter des Ehrengerichts 
endet. Aber wie getreu dem geschilderten Charakter des 
Helden ist doch dieses Übermaß der Scham, dieses 
Hinausschießen über jedes erdenkliche Ziel, wenn er ein 
Zeichen der Unehre annimmt, auf daß jedermann jederzeit 
sehen  könne,  in tokenyng he watz tane in tech of a faule 
(100.2488)!  Und wie getreu auch dem Ton und Klima dieses 
Gedichtes, dem es so sehr um das »Beichten« und Büßen geht! 

 
Grace innogh pe man may have pat synnez penne new, 

background image

if him repente, 
Bot wytli sors and syt he mot it craue, 
And byde pe payne perto is bent 
 
sagt derselbe Dichter in seiner  Pearl  (661-4).

 Nach der 

Beschämung die Reue, dann die rückhaltlose Beichte mit 
Kummer und Buße, zuletzt aber nicht nur Vergebung, sondern 
auch Wiedergutmachung, so daß der unverheimlichte »Harm« 
und der freiwillig getragene Vorwurf zu einer Auszeichnung 
werden,  evermore after.  Und damit beginnt die ganze Szene, 
die eine Zeitlang so lebendig, anschaulich und sogar aktuell 
gewesen ist, in die Vergangenheit zurückzutreten.

∗∗

  Gawayn 

with his olde curteisye kehrt heim ins Reich der Fairye.

∗∗∗

 

 
as it is written in the best of the books of romance. Thus in 
Arthur his days happened this marvel, as the Book of the Brut 
beareth us witness; since Brutus the bold knight to Britain 
came first, after the siege and the assault had ceased at Troy, 
I trow, many a marvel such before has happened here ere 

                                                           

 In meines Vaters Übersetzung der  Pearl  sind diese Zeilen so 

wiedergegeben: 
Grace enow may the man receive 
Who sins anew, if he repent; 
But craving it he must sigh and grieve 
And abide what pains are consequent. [Hg.] 

∗∗

  … wie in den besten Ritterromanen geschrieben steht. Zu Artus’ Zeiten 

also hat sich dies zugetragen, von denen der Roman de Brut Zeugnis gibt. 
Seit der kühne Ritter Brutus erstmals nach Britannien kam, nachdem Troja 
erobert war, haben sich gewiß schon viele solche Abenteuer hier ereignet. 
Und nun geb Er uns seinen Segen, der die Dornenkrone trug! Amen. 

∗∗∗

 Chaucer,  The Squires Tale,  V 95/6.  Die Passage, in der diese Verse 

stehen, war (zum Teil) der Grund, warum mein Vater glaubte, wie er zu 
Anfang dieser Vorlesung (S. 94) sagte, daß Chaucer  Sir Gawain and the 
Knight 
gekannt habe. [Hg.] 

background image

now. To His bliss us bring Who bore the Crown of Thorns on 
brow! Amen. 
 
Zu  den obigen Ausführungen wurde gesagt (S. 130), daß 

Gawain sein Herz erleichtert fühle, sei ein hinreichendes 
Anzeichen dafür, daß er eine »gute Beichte« abgelegt hat. 
Damit meinte ich, daß die Heiterkeit eines »erleichterten 
Herzens« oft die Folge sein kann und ist, wenn ein Gläubiger 
in gebührender Weise ein Sakrament empfängt, und zwar ganz 
unabhängig von anderen Sorgen oder Beschwerden, wie in 
Gawains Falle der Furcht vor dem Axthieb und vor dem Tode. 
Aber dazu sind Einwände möglich und auch erhoben worden. 
Man hat gefragt: Ist er nicht vielmehr deshalb heiter, weil er 
nun den Gürtel hat und den Axthieb nicht mehr zu fürchten 
braucht? Oder, wie auch schon vertreten wurde, Gawains 
Stimmung könnte auch aus der Verzweiflung erwachsen: Laßt 
mich schlemmen und guter Dinge sein, denn morgen muß ich 
sterben! 

Wir haben es nicht mit einem einfältigen Autor und auch 

nicht mit einer einfältigen Epoche zu tun; daher ist es nicht 
nötig, nur eine Erklärung für Gawains Stimmung als möglich 
(d. h. vom Dichter beabsichtigt) anzunehmen. Gawain wird 
einfühlsam gezeichnet; er wird mit Gefühlen, Worten und 
Verhaltensweisen ausgestattet, wie sie zu einem Menschen in 
seiner Lage insgesamt passen würden: im Hinblick auf die 
Tröstungen der Religion, den Zaubergürtel (oder zumindest 
den Glauben, daß etwas dergleichen möglich sei), die nahende 
Todesgefahr und alles andere. 

Dennoch glaube ich, daß die Stellung der Zeilen, die seine 

Stimmung gleich nach der Absolution beschreiben (And sypen 
1885), und der Gebrauch der Wörter ioye und blys hinreichend 
zeigen, daß nach Absicht des Autors die Beichte der 
Hauptgrund für Gawains gehobene Stimmung sein soll, und 

background image

daß er nicht an die wilde Ausgelassenheit der Verzweiflung 
gedacht hat. 

Aber zu dem Gürtel ist noch einiges zu sagen. Ich finde es 

bemerkenswert, daß Gawain in die Zauberkraft des Gürtels 
nirgendwo Vertrauen bekundet, nicht einmal so viel Hoffnung, 
daß daraus eine sorglose Fröhlichkeit erwachsen könnte. 
Vielmehr scheinen seine Hoffnungen auf den Gürtel nach der 
Beichte immer mehr abzunehmen. Zwar hat er bei der 
Annahme des Gürtels und vor dem Aufsuchen des Priesters der 
Dame herzlich und überschwenglich gedankt (ein so höflicher 
Mensch wie er könnte auch schwerlich anders), doch schon in 
dem Augenblick, wenn ihm der erste Gedanke kommt, auf 
diese Weise vielleicht dem Tod zu entrinnen (Zeilen 1855ff.), 
ein Gedanke, der am stärksten ist, bevor der Held zu reiflicher 
Überlegung Zeit findet, teilt der Dichter über seine Gedanken 
strenggenommen nur so viel mit: »Das wäre eine gute Sache 
bei meinem verzweifelten Auftrag. Wenn ich irgendwie daran 
vorbeikäme, erschlagen zu werden, wäre das ein sehr 
willkommener Zauber.« Es klingt nicht so zuversichtlich, daß 
es erklären könnte, warum er an diesem Tag besserer Laune 
sein sollte als je zuvor. Jedenfalls schläft er schlecht in dieser 
Nacht, hört jedesmal den Hahn krähen und fürchtet sich vor 
der Stunde des Treffens bei der Grünen Kapelle. In den Versen 
83.2075/6 lesen wir über  pat tene place per pe ruful race he 
schulde resayue  
(»den furchtbaren Ort, wo er den 
schmerzhaften Hieb empfangen soll«), was offenbar ein 
Gedanke Gawains ist, als er sich mit seinem Führer auf den 
Weg macht. In den Versen 85.2138/9 erklärt er dem Führer, 
daß er all seine Zuversicht in Gott setze, dessen Diener er sei.

 

Ähnlich in 86.2158/9, wo er sicherlich seine Beichte und 
Todesbereitschaft  meint, wenn er sagt:  to Goddez wylle I am 

                                                           

 Allerdings könnte in einer Welt, wo dergleichen möglich und rechtens ist, 

auch der Gürtel ein Werkzeug Gottes sein. 

background image

ful bayn, and to hym I hafme tone.  Und auch in 88.2208-11 
überwindet er seine Furcht nicht in der Hoffnung oder 
Erwähnung höheren Lohnes, sondern durch Unterwerfung 
unter Gottes Willen. In 90.2255 ff. ist seine Furcht vor dem 
unmittelbar drohenden Tode so stark, daß er sie nur mit Mühe 
und nicht ganz erfolgreich beherrschen kann. In 91.2265-7 
erwartet er, daß der Hieb ihn töten werde. Und in den Versen 
92.2307/8 schließlich heißt es: »Kein Wunder, daß er 
erbleichte, denn er hatte keine Hoffnung auf Rettung.« 

All diese Furcht nun und das Aufbieten des Mutes gegen den 

Tod stimmen vollkommen mit den Tröstungen der Religion 
und der empfangenen Absolution zusammen, aber ganz und 
gar nicht mit dem Besitz eines Talismans, von dem man 
glaubt,  daß er vor körperlichem Schaden bewahren könne, 
nach den Worten der Versucherin: »Denn wer diesen grünen 
Gürtel trägt, den kann, solange er ihn fest umgebunden hat, 
kein Feind auf der Welt verwunden, und er kann nicht getötet 
werden, durch keine List und von keiner Hand auf Erden« (74-
1851-4). Vielmehr können wir wohl sagen, daß der Gürtel vom 
Augenblick seiner Annahme, mit Sicherheit aber vom 
Augenblick der Absolution an, keinerlei Mut oder Trost mehr 
zu spenden scheint.

 Wären nicht die Zeilen 81.2030-40, wo 

Gawain den Gürtel for gode of hymseluen  umlegt, so könnten 
wir annehmen, er habe nach der Beichte beschlossen, ihn nicht 
zu verwenden, obwohl er ihn aus Höflichkeit nun nicht wieder 
zurückgeben oder das versprochene Stillschweigen brechen 
konnte. Von Gawains Aufbruch an bis zu seiner Beschämung 
durch die Aufklärung der Intrige wird der Gürtel vom Dichter 

                                                           

 Eine interessante und von seiten des Dichters gewiß nicht unbeabsichtigte 

Einzelheit ist es, daß der Gürtel, um dessentwillen Gawain die Spielregeln 
bricht, was den einzigen Makel seines sonst in jeder Hinsicht 
vollkommenen Verhal tens ausmacht, tatsächlich niemals irgendeinen 
Nutzen für ihn besitzt und nicht einmal viel Hoffnung erweckt. 

background image

jedenfalls ignoriert; und auch Gawain scheint sich nicht mehr 
um ihn zu kümmern. Was er, abgesehen vom eigenen 
natürlichen Mut, an innerer Kraft und Festigkeit aufbringt, 
fließt ihm nur aus der Religion zu. Ohne Zweifel kann man 
eine solche moralische und religiöse Auffassung mißbilligen, 
aber der Dichter hat sie nun einmal; und wenn man dies (ob 
mit oder ohne Mißfallen) nicht erkennt, wird man Sinn und 
Zweck des Gedichtes, zumindest soweit sie vom Dichter 
beabsichtigt wurden, verfehlen. 

Dennoch kann man einwenden, daß ich dem Autor hier etwas 

abpresse. Hätte Gawain keine Furcht gezeigt, sondern nur 
fröhliches Vertrauen auf seinen Zaubergürtel (no more mate ne 
dismayd for hys mayn dintez, 
wie der Grüne Ritter, der auf die 
Kraft der Zauberin Morgan le Fay vertraut), so hätte die letzte 
Szene, die Begegnung an der Grünen Kapelle, allen Reiz 
verloren. Auch wenn man die Magie und sogar einen 
allgemeinen Glauben an die Möglichkeit von Zaubergürteln 
und dergleichen gelten läßt, müßte der Held doch schon sehr 
lebhaft gerade an diesen Gürtel glauben, um ein solches 
Treffen ohne jedes Achselzucken durchstehen zu können. 
Soviel sei eingeräumt. Aber dies bestätigt eigentlich nur meine 
Argumentation. Gawain wird  nicht  so geschildert, als hätte er 
einen sehr lebhaften Glauben an den Gürtel, auch wenn 
erzählerische Gründe dabei ganz oder teilweise maßgebend 
sind. Seine »Freude« am Neujahrstag kann nicht daher 
kommen. Sie muß also aus der  Absolution erwachsen, an die 
sie auch zeitlich anschließt. Gawain wird als ein Mensch mit 
»reinem Gewissen« gezeigt, und seine Beichte war nicht 
»frevlerisch«. 

Aber ganz abgesehen von der erzählerischen Technik hat der 

Dichter offenbar beabsichtigt, die moralischen und (wenn man 
so will) höheren Seiten von Gawains Charakter zu betonen. 
Denn es ist ganz einfach so, daß er dies durchgängig getan hat, 

background image

ob dies seinem überlieferten Stoff nun immer ganz gemäß 
gewesen sein mag oder nicht. Und darum nimmt Gawain den 
Gürtel zwar nicht nur aus Höflichkeit an, sondern wird auch 
durch die Hoffnung auf magischen Beistand verführt und 
vergißt es nicht, ihn, wenn er sich rüstet, mit anzulegen,  for 
gode of hymseluen 
und to saven hymself, aber dies Motiv wird 
doch heruntergespielt, und Gawain scheint gar nicht darauf zu 
vertrauen, wenn es zum bitteren Ende kommt  – denn der 
Gürtel, nicht minder als der furchtbare Grüne Ritter und seine 
faierie,  überhaupt alle  faierie  ist letztlich Gott Untertan. Ein 
Gedanke, der den Zaubergürtel eher schwächlich erscheinen 
läßt, wie er nach der Absicht des Dichters ohne Zweifel auch 
erscheinen sollte. 

Wir sollen in Sir Gawain nach seiner letzten Beichte also 

einen Menschen von reinem Gewissen sehen, der wie jeder 
andere tapfere und fromme Mann (allerdings nicht so sehr wie 
ein Heiliger) imstande ist, sich in Erwartung des Todes mit 
dem Gedanken aufrechtzuhalten, daß Gott letztlich den 
Redlichen schützen werde. Das besagt nicht nur, daß er den 
Versuchungen der Dame standgehalten hat, sondern auch, daß 
sein ganzes Abenteuer  für ihn  ein redliches oder wenigstens 
doch rechtmäßiges Vorhaben ist. Wir sehen nun, wie wichtig 
es gewesen ist, daß im ersten Gesang  geschildert wurde, wie 
Sir Gawain in die Angelegenheit verwickelt wird, und was die 
bemerkenswerten Einwände zu bedeuten haben, die am Hofe 
gegen den König Artus laut werden (im zweiten Gesang, 
Strophe 29). Dabei wird gezeigt, daß sich Gawain nicht aus 
nobelay  in Gefahr begeben hat, auch nicht wegen irgendeines 
abstrusen Brauches, eines prahlerischen Eides, aus Stolz auf 
die eigene Mannhaftigkeit, oder weil er sich für den besten 
Ritter seines Ordens hielte – allesamt mögliche Motive, die aus 
einer strengmoralischen Sicht die ganze Affäre für ihn töricht 
oder verwerflich machen würden, ein mutwilliges Wagestück 

background image

oder Vergeuden des eigenen Lebens ohne zureichenden Grund. 
Mutwille und Hochmut fallen auf den König zurück; Gawain 
wird nur aus Bescheidenheit und Pflichtgefühl gegen den 
königlichen Oheim in die Sache verwickelt. Wir können uns 
sogar vorstellen, daß der Autor diese merkwürdige Passage 
nach einigem Nachdenken eingefügt hat. Da er einmal 
Gawains Verhalten bei seinem Abenteuer zum Gegenstand 
einer ernsthaften moralischen Untersuchung gemacht hatte, 
mußte er dafür sorgen, daß das Abenteuer auf derselben 
Urteilsebene für Gawain eine löbliche Tat blieb. In Wahrheit 
hat der Autor diese Geschichte oder diese Mischung von 
Geschichten mit all ihren Unwahrscheinlichkeiten, ihrer 
Inkohärenz und ihrem Mangel an zuverlässig vernünftigen 
Motiven zu einer  Handlungsmaschinerie  zu machen versucht, 
bei der ein tugendhafter Mann in eine tödliche Gefahr 
verstrickt wird, die zu bestehen für ihn etwas Edles oder 
zumindest seiner Würdiges ist (und nicht etwas Unrechtes oder 
Törichtes); und dabei gerät er folgerichtig in Versuchungen, 
denen er sich nicht mutwillig oder wissentlich aussetzt. Und 
am Ende übersteht  er alles mit den schlichten Waffen der 
Moral. Daß das Pentagramm auf Gawains Schild an die Stelle 
des Greifen tritt, erscheint so als Teil eines wohlüberlegten und 
durchgehaltenen Planes  – durchgehalten jedenfalls in der 
ganzen endgültigen Fassung, die uns vorliegt. Diesen Plan, die 
Wahl dieses Emblems und dieses Akzentes muß man 
berücksichtigen. 

Eine andere Frage ist es, ob diese Behandlungsweise 

berechtigt oder künstlerisch gelungen ist. Für mein Teil würde 
ich sagen, daß es für dieses Gedicht

 notwendig, richtig und 

realistisch ist, daß Artus kritisiert und Gawain zu einem 

                                                           

 Man könnte darin einen Mangel der Artus-Geschichten ins gesamt sehen. 

Für mein Teil glaube ich nicht, daß die Her absetzung des Königs (als 
sumquat childgered und ähnliches) viel Gutes bewirkt. 

background image

Stellvertreter des Königs mit ganz bescheidenen und 
uneigennützigen Motiven gemacht wird. Das Pentagramm ist 
gerechtfertigt und nur deshalb unwirksam (wenigstens für 
meinen Geschmack und, vermute ich, auch für den Geschmack 
vieler meiner Zeitgenossen), weil es »pedantisch« ist, nämlich 
allzu sehr in einer beinahe chaucerischen Pedanterie im Stile 
des 14. Jahrhunderts befangen, außerdem allzu lang und breit 
ausgeführt, und (vor allem) weil es sich für das Geschick des 
Autors mit dem alliterierenden Vers, den er verwendet, als zu 
schwierig erwies. Die Behandlung des Zaubergürtels mit dem 
Schwanken zwischen Glauben und Nichternstnehmen ist 
einigermaßen gelungen, wenn man nicht allzu genau hinsieht. 
Ein wenig Glauben an den Gürtel ist notwendig für die letzte 
Versuchungsszene; er erweist sich als der einzig wirksame 
Köder, mit dem die Dame den Helden in die Falle locken kann 
und der für den einzigen »Fehl« (auf der niedersten Ebene der 
»Spielregeln«) sorgt  – wodurch Gawains eigentliches 
Verhalten und sein Beinah-Vollkommensein um so viel 
glaubwürdiger werden als die mathematische Vollkommenheit 
des Pentagramms. 

Aber dieser Glaube oder diese Hoffnung muß zu Beginn des 

letzten Gesanges heruntergespielt werden  – sogar wenn dies 
nur ein Ritterroman ohne moralische Thematik wäre, denn 
selbst dann würde das Vertrauen auf  den Zaubergürtel die 
letzten Szenen verderben. Die Schwäche des Gürtels, der fähig 
sein soll (oder von dem geglaubt wird, er sei es), einen Mann 
vor Wunden zu schützen, ist tief eingewurzelt. In dem Gedicht 
selbst ist diese Schwäche  weniger  störend, als sie hätte sein 
können, eben wegen der Ernsthaftigkeit des Autors und der 
Frömmigkeit, die er seinen Rittern zuschrieb; denn die 
Mißachtung des Talismans im kritischen Augenblick ist bei 
einem Charakter wie dem Gawain dieses Gedichtes 
glaubhafter, als sie es bei einem reinen Abenteurer wäre. Und 

background image

dennoch, wenn ich eines bedaure, so nicht diesen kleinen 
Makel des Helden, auch nicht, daß die Dame immerhin einen 
Köder für ihr Opfer gefunden hat, sondern daß dem Dichter 
nichts anderes eingefallen ist, was Gawain von ihr hätte 
annehmen können und worüber er sich hätte bereden lassen, 
Stillschweigen zu wahren, und doch etwas, das seine 
Auffassung von dem gefährlichen Treffen bei der Grünen 
Kapelle nicht beeinflußt hätte. Aber ich wüßte nicht, was; und 
ein solcher Einwand,  kesting  such cavillacioun,  ist daher 
müßig. 

Sir Gawain and the Green Knight  ist immer noch die am 

besten angelegte und ausgeführte Verserzählung des 14. 
Jahrhunderts, ja, des Mittelalters in englischer Sprache, gegen 
nur eine Ausnahme. Einen Rivalen mit dem Anspruch auf 
gleichen, nicht höheren Rang hat das Gedicht in Chaucers 
Meisterwerk  Troilus and Criseyde.  Das ist ein größeres, 
längeres und verwickelteres, vielleicht auch subtileres, aber 
keineswegs klügeres, scharfsinnigeres und ganz gewiß weniger 
edles Gedicht. Und beide behandeln aus je verschiedenem 
Blickwinkel die Probleme, die dem Engländer so sehr am 
Herzen lagen: das Verhältnis des höfischen Anstands und der 
Minne zur Moral, zur christlichen Moral und zur ewigen 
Gerechtigkeit. 

 


Document Outline