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RICHARD 

DAWKINS 

 
 
 

Und es 

entsprang ein Fluß 

in Eden 

 
 

Das Uhrwerk 

der Evolution 

 
 
 

Zeichnungen von Lalla Ward 

 

Aus dem Englischen 
von Sebastian Vogel 

 
 
 
 
 
 

GOLDMANN 

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Die Serie »Science Masters« erscheint weltweit und umfaßt populärwis- 
senschaftliche Bücher, die von international führenden Wissenschaft- 
lern verfaßt werden. An diesem einzigartigen Projekt beteiligen sich 
sechsundzwanzig Verlage, die John Brockman zusammengebracht hat. 
Die Idee zu dieser Serie stammt von Anthony Cheetham vom englischen 
Verlag Orion und von John Brockman, der eine Literaturagentur in New 
York leitet. Entwickelt wurde die Serie »Science Masters« in Zusammen- 
arbeit mit dem amerikanischen Verlag BasicBooks. 

Der Name »Science Masters« ist urheberrechtlich geschützt. Er gehört 
John Brockman Inc., New York, und ist an die Verlage lizenziert, die die 
Serie »Science Masters« veröffentlichen. 

 
 
 
 

Umwelthinweis: 

Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches 

sind chlorfrei und umweltschonend. 

 
 
 
 
 
 
 

Der Goldmann Verlag 

ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Berteismann 

Vollständige Taschenbuchausgabe September 1998 

Wilhelm Goldmann Verlag, München 

© 1996 der deutschsprachigen Ausgabe 

C. Berteismann Verlag, München 

© 1995 der Originalausgabe Richard Dawkins 

Originalverlag: BasicBooks, New York 

Originaltitel: River out of Eden 

Umschlaggestaltung: Design Team München 

Druck: Presse-Druck Augsburg 

Verlagsnummer: 12784 

KF • Herstellung: Sebastian Strohmaier 

Made in Germany 

ISBN 3-442-12784-X 

1 3 5 7 9 10 8 6 4 2 

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In Erinnerung an Henry Colyear Dawkins (1921-1992), 
der am St. John College in Oxford gelehrt hat 
und ein Meister in der Kunst war, Dinge zu erklären. 
 
 
 
»Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu 
bewässern...« 
Genesis 2,10 

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Inhalt 

 
 
 

Vorwort   9 

Der digitale Fluß    13 

Mutter Afrika und ihre Kinder   43 

Heimlicher Nutzen   73 

Gottes Nutzenfunktion    111 

Die Replikationsbombe    153 

Quellen und ausgewählte 
weiterführende Literatur   183 

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Vorwort 

Natur, so scheint's, ist nur ein Wort 
für Milliarden und Abermilliarden 
von Teilchen im unendlichen Spiel 
eines kosmischen Billards. 
Piet Hein
 

Piet Hein fängt die klassisch-urtümliche Welt der Physik ein. 
Aber wenn die Querschläger des atomaren Billards sich zufäl- 
lig zu einem Gebilde zusammenfinden, das eine bestimmte, 
scheinbar harmlose Eigenschaft hat, geschieht im Universum 
etwas Folgenschweres. Diese Eigenschaft ist die Fähigkeit zur 
Selbstverdoppelung, das heißt, das Gebilde kann mit dem 
Material seiner Umgebung genaue Kopien von sich selbst 
herstellen, und wenn sich gelegentlich kleine Kopierfehler 
einschleichen, werden sie ebenfalls verdoppelt. Auf dieses 
einzigartige Vorkommnis irgendwo im Universum folgt die 
Darwinsche Selektion und damit jenes üppig-sonderbare Phä- 
nomen, das wir auf unserem Planeten Leben nennen. Noch nie 
wurden so viele Tatsachen mit so wenigen Hypothesen er- 
klärt. Die Darwinsche Theorie hat nicht nur eine enorme

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Aussagekraft; ihre Bündigkeit ist von einer geschmeidigen 
Eleganz, von einer poetischen Schönheit, die auch die wohl- 
klingendsten Schöpfungsmythen der Welt in den Schatten 
stellt. Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich unter anderem das 
Ziel, der inspirierenden Qualität unseres heutigen darwinisti- 
schen Verständnisses vom Leben die verdiente Aufmerksam- 
keit zu verschaffen. Die Eva der Mitochondrien vereinigt in 
sich mehr Poesie als ihre mythologische Namensvetterin. 

Das Kennzeichen des Lebens, das, wie David Hume es 

ausdrückte, »alle Menschen, die es je betrachtet haben, zur 
Bewunderung hinreißt«, ist die komplexe Einzelheit, mit der 
ihre Mechanismen - die Mechanismen, die Charles Darwin 
»Organe von äußerster Vollkommenheit und Kompliziert- 
heit« nannte - offensichtlich einen Zweck erfüllen. Das zweite 
beeindruckende Merkmal des irdischen Lebens ist seine über- 
schäumende Vielfalt: An der geschätzten Zahl der Arten ge- 
messen, gibt es einige Zigmillionen Wege, das Leben zu fri- 
sten. Weiterhin möchte ich meine Leser davon überzeugen, 
daß »das Leben fristen« soviel bedeutet wie »in DNA codierte 
Texte in die Zukunft weitertragen«. Mein »Fluß« ist ein Fluß 
aus DNA, der durch die geologischen Zeiträume fließt und 
sich verzweigt; die Metapher von den steilen Ufern, die den 
genetischen Spielraum der einzelnen Arten begrenzen, er- 
weist sich überraschenderweise als wirksames, nützliches Mit- 
tel zur Erklärung. 

Auf die eine oder andere Weise sind alle meine Bücher 

dem Ziel gewidmet, die fast unbegrenzte Kraft des darwinisti- 
schen Prinzips zu erläutern und zu untersuchen, eine Kraft, 
die jedesmal dann frei wird, wenn soviel Zeit zur Verfügung 
steht, daß sich die Folgen der ursprünglichen Selbstverdop- 
pelung entfalten können. Und es entsprang ein Fluß in 
Eden  
setzt dieses Vorhaben fort und führt die Geschichte 
der Rückwirkungen, die sich ergeben, wenn das Phänomen 
der Replikatoren in das zuvor schlichte Spiel der atomaren 

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11 

Billardkugeln einsickert, zu einem extraterrestrichen Höhe- 
punkt. 

Beim Schreiben dieses Buches wurde ich von folgenden 

Personen in unterschiedlichster Weise unterstützt: Michael 
Birkett, John Brockman, Steve Davies, Daniel Dennett, John 
Krebs, Sara Lippincott, Jerry Lyons und insbesondere von Lalla 
Ward, meiner Frau, die auch die Zeichnungen anfertigte. 
Einige Abschnitte sind neubearbeitete Fassungen von Texten, 
die schon an anderer Stelle erschienen sind. Die Passagen im 
ersten Kapitel über digitale und analoge Codes gründen sich 
auf meinen Artikel im Spectator vom 11. Juni 1994. Der Bericht 
im dritten Kapitel über die Arbeiten von Dan Nilsson und 
Susanne Pelger zur Evolution des Auges stammt teilweise aus 
meinem Aufsatz in der Rubrik »News and Views« der Zeit- 
schrift Nature vom 21. April 1994. Ich danke den Redaktionen 
dieser beiden Zeitschriften, die jeweils den Abdruck des be- 
treffenden Artikels gestatteten. Und schließlich danke ich John 
Brockman und Anthony Cheetham für die Einladung, mich an 
der Serie Science Masters zu beteiligen. 

Oxford 1994 

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12 

 

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13 

Der digitale Fluß 

In allen Völkern gibt es Epen und Sagen über die Ahnen, und 
häufig sind diese Erzählungen in die Form religiöser Kulte 
gegossen. Die Menschen verehren ihre Vorfahren und beten 
sie sogar an; warum auch nicht. Immerhin liegt der Schlüssel 
zum Verständnis des Lebens bei den wirklichen Vorfahren 
und nicht bei übernatürlichen Göttern. Von allen Lebewesen, 
die geboren werden, stirbt die Mehrheit, ohne sehr alt zu 
werden. Und von der Minderheit, die überlebt und sich paart, 
hat nur ein noch viel kleinerer Bruchteil in tausend Generatio- 
nen noch Nachkommen. Diese winzige Minderheit einer Min- 
derheit, diese Elite der Vorfahren, können alle zukünftigen 
Generationen als ihre Ahnen anführen. Vorfahren sind selten, 
Nachkommen sind häufig. 

Alle Organismen, die jemals gelebt haben - jedes Tier und 

jede Pflanze, alle Bakterien und Pilze, alles, was kreucht und 
fleucht, und sämtliche Leser dieses Buches - können auf ihre 
Vorfahren zurückblicken und folgende stolze Behauptung 
aufstellen: Von unseren Vorfahren ist kein einziger als Säug- 
ling gestorben. Alle haben das Erwachsenenalter erreicht, und 
jedem einzelnen gelang es, mindestens einen heterosexuel- 
len Partner (beziehungsweise eine Partnerin) zu finden und

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14 

sich mit Erfolg zu paaren.* Kein einziger unserer Vorfahren 
wurde von einem Feind niedergestreckt oder von einem 
Virus oder einem falsch eingeschätzten Schritt am Rand einer 
Klippe getötet, bevor er mindestens ein Kind in die Welt 
gesetzt hatte. Tausende von Zeitgenossen unserer Vorfahren 
haben in allen diesen Punkten versagt, aber von unseren 
Ahnen selbst passierte das keinem einzigen auch nur in einer 
Hinsicht. Diese Aussagen sind so offenkundig, daß man sie 
leicht übersieht, aber aus ihnen folgt eine Menge: viel Seltsa- 
mes und Unerwartetes, vieles, das erklärt, und vieles, das 
verwundert. Von allen diesen Themen wird in dem vorliegen- 
den Buch die Rede sein. 

Da alle Lebewesen ihre Gene von ihren Vorfahren erben 

und nicht von deren erfolglosen Zeitgenossen, besitzen alle 
Lebewesen in der Regel auch erfolgreiche Gene. Sie haben 
das Zeug zu Vorfahren, das heißt, sie können überleben und 
sich vermehren. Deshalb vererben die Lebewesen im allge- 
meinen Gene mit der Anlage zum Aufbau einer gut gestalteten 
Maschine, eines Körpers, der so funktioniert, als wollte er 
unbedingt ein Vorfahr werden. Das ist der Grund, warum 
Vögel gut fliegen, Fische gut schwimmen, Affen gut klettern 
und Viren sich so gut verbreiten können. Das ist der Grund, 
warum wir das Leben lieben, den Sex lieben und Kinder 
lieben. Es liegt daran, daß wir alle ohne einzige Ausnahme 
unsere Gene von einer ununterbrochenen Reihe erfolgrei- 
cher Vorfahren geerbt haben. Die Welt hat sich mit Lebewesen 
gefüllt, die das Zeug zu  Vorfahren  haben.  Das  ist,  um  es  mit 
einem Satz zu sagen, Darwinismus. Natürlich sagte Darwin 
 

* Genaugenommen gibt es Ausnahmen. Manche Tiere, beispielsweise die Blatt- 

läuse, pflanzen sich ohne Sexualität fort. Mit Methoden wie der künstlichen 
Befruchtung können die Menschen heute ohne Geschlechtsverkehr ein Kind 
haben, und - da man die Eizellen für die künstliche Befruchtung einem 
weiblichen Fetus entnehmen kann - sogar ohne das Erwachsenenalter zu 
erreichen. Für die meisten Fälle ist meine Aussage aber  unvermindert gültig. 

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15 

noch vieles andere, und heute können wir noch viel mehr 
sagen. Deshalb ist das Buch hier auch noch nicht zu Ende. 

Man kann den vorangegangenen Abschnitt auf eine natürli- 

che und sehr verhängnisvolle Weise mißverstehen. Wenn un- 
sere Vorfahren Erfolgreiches geleistet haben, so - ist man 
versucht zu denken - müssen die Gene, die sie an ihre Kinder 
weitergegeben haben, im Vergleich zu denen, die sie von 
ihren Eltern erbten, verbessert worden sein. Man könnte mei- 
nen, der Erfolg habe irgendwie auf die Gene abgefärbt, und 
deshalb seien die Nachkommen so gut im Fliegen, Schwim- 
men, Partnerwerben. Falsch, völlig falsch! Gene werden durch 
Gebrauch nicht besser; sie werden nur weitergegeben, und 
zwar, von ein paar zufälligen Fehlern abgesehen, unverändert. 
Erfolg sorgt nicht für gute Gene. Gute Gene sorgen für Erfolg, 
und nichts, was ein Lebewesen während seines Lebens tut, hat 
auf die Gene auch nur die geringsten Auswirkungen. Indivi- 
duen, die mit den besten Genen geboren werden, erreichen 
mit der größten Wahrscheinlichkeit das Alter, in dem sie zu 
erfolgreichen Vorfahren werden können; deshalb werden 
gute Gene eher als schlechte in die Zukunft weitergegeben. 
Jede Generation ist ein Filter, ein Sieb: Gute Gene fallen 
hindurch und gelangen in die nächste Generation; schlechte 
Gene enden in Körpern, die früh oder ohne sich fortzupflan- 
zen sterben. Ein oder zwei Generationen lang können auch 
schlechte Gene durch das Sieb fallen, vielleicht weil sie das 
Glück haben, ihren Körper mit guten Genen zu teilen. Aber 
um sich erfolgreich durch tausend hintereinandergeschaltete 
Siebe zu lavieren, braucht man mehr als Glück. Nach tausend 
Generationen sind die Gene, die es geschafft haben, wahr- 
scheinlich die guten. 

Ich habe gesagt, daß die Gene, die über Generationen 

hinweg überleben, auch diejenigen sind, denen es gelungen 
ist, Vorfahren zu erzeugen. Das stimmt auch, aber es gibt 
offenkundig eine Ausnahme, und mit ihr muß ich mich befas- 

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16 

sen, bevor der Gedanke daran Verwirrung stiftet. Manche 
Individuen sind ein für allemal unfruchtbar, und doch sind sie 
anscheinend dazu bestimmt, zur Weiterleitung ihrer Gene an 
zukünftige Generationen beizutragen. Die Arbeiterinnen der 
Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten sind steril. Sie arbei- 
ten, nicht um Vorfahren zu werden, sondern damit ihre frucht- 
baren Verwandten - in der Regel ihre Schwestern und Brüder 
- Vorfahren sein können. Hier muß man zwei Dinge begrei- 
fen. Erstens haben Schwestern und Brüder bei allen Tieren 
mit hoher Wahrscheinlichkeit teilweise die gleichen Gene. 
Und zweitens bestimmen nicht die Gene, sondern die Umwelt 
darüber, ob beispielsweise eine einzelne Termite fruchtbar ist 
oder Arbeiterin wird. Alle Termiten besitzen Gene, die sie 
unter geeigneten Umweltbedingungen zu Arbeiterinnen und 
unter anderen Voraussetzungen zu fortpflanzungsfähigen Tie- 
ren machen. Die fruchtbaren Termiten geben Kopien der 
gleichen Gene weiter, welche die sterilen Arbeiterinnen ver- 
anlassen, ihnen dabei zu helfen. Die Arbeiterinnen rackern 
sich ab unter dem Einfluß von Genen, deren genaue Kopien in 
den fruchtbaren Tieren zu Hause sind. Die Genkopien in den 
Arbeiterinnen sorgen dafür, daß ihren eigenen zur Fortpflan- 
zung bestimmten Kopien der Durchgang durch das Genera- 
tionensieb erleichtert wird. Die Arbeiterinnen der Termiten 
können männlich oder weiblich sein; bei Ameisen, Bienen 
und Wespen handelt es sich ausschließlich um Weibchen, 
aber das Prinzip ist dasselbe. In verwässerter Form gilt es auch 
für einige Arten von Vögeln, Säugern und anderen Tieren, die 
sich bis zu einem gewissen Grad um die Jungen ihrer älteren 
Brüder oder Schwestern kümmern. Zusammenfassend kann 
man sagen: Gene können sich ihren Weg durch das Sieb nicht 
nur dadurch bahnen, daß sie den eigenen Körper zum Vorfah- 
ren zu machen versuchen, sondern auch indem sie dem Kör- 
per eines Verwandten helfen, Nachkommen hervorzubrin- 
gen. 

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17 

Der im Titel meines Buches genannte Fluß ist ein Fluß aus 

DNA, und er fließt nicht durch den Raum, sondern durch die 
Zeit. Es ist ein Strom der Informationen, nicht der Knochen 
und Gewebe: ein Fluß der abstrakten Anweisungen für den 
Aufbau von Körpern, kein Fluß aus den festen Körpern selbst. 
Die Informationen fließen durch die Körper und beeinflussen 
sie, aber sie selbst werden von ihnen auf ihrem Weg nicht 
beeinflußt. Der Strom ist nicht nur unbeeinflußt von den 
Erfahrungen und Leistungen der aufeinanderfolgenden Kör- 
per, durch die er fließt, sondern auch unbeeinflußt von einer 
möglichen Quelle der Verunreinigung, die, wie es aussieht, 
viel wirkungsvoller ist: von der Sexualität. 

In jeder unserer Zellen wirkt die Hälfte der Gene unserer 

Mutter mit der Hälfte der Gene unseres Vaters zusammen. 
Väterliche und mütterliche Gene treten in enge Wechselwir- 
kung und machen uns zu einer raffinierten, unteilbaren Mi- 
schung. Aber die Gene mischen sich nicht; das tun nur ihre 
Wirkungen. Die Gene selbst haben eine diamantharte Identi- 
tät. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, zu dem sie in die 
nächste Generation übergehen sollen, wandert ein Gen ent- 
weder in den Körper des Kindes oder nicht. Väterliche und 
mütterliche Gene verschmelzen nicht, sondern kombinieren 
sich unabhängig voneinander neu. Ein einzelnes Gen ist ent- 
weder vom Vater oder von der Mutter gekommen. Es stammte 
auch von einem und nur einem der vier Großeltern; von 
einem und nur einem der acht Urgroßeltern; und so immer 
weiter zurück. 

Ich habe von einem Fluß der Gene gesprochen, aber 

ebensogut könnten wir ihn als eine Gruppe guter Kameraden 
bezeichnen, die durch die geologischen Zeiten marschieren. 
In einer fruchtbaren Population sind alle Gene auf lange Sicht 
gegenseitige Begleiter. Kurzfristig befinden sie sich in einzel- 
nen Körpern und sind mit den anderen Genen in diesem 
Körper besonders eng verbunden. Über die Zeitalter hinweg 

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18 

überleben Gene nur dann, wenn sie Körper bauen können, 
die unter den besonderen, von der jeweiligen Art gewählten 
Lebensumständen gut leben und sich fortpflanzen können. 
Aber das ist noch nicht alles. Um gut überleben zu können, 
muß ein Gen gut mit den anderen Genen in derselben An - 
demselben Fluß - zusammenwirken können. Um langfristig 
erhalten zu bleiben, muß ein Gen ein guter Kamerad sein. Es 
muß sich in Gesellschaft der anderen Gene in dem Fluß oder 
vor ihrem Hintergrund gut benehmen. Gene einer anderen 
Art gehören zu einem anderen Fluß. Gene verschiedener 
Flüsse müssen nicht unbedingt gut miteinander auskommen 
- zumindest nicht in demselben Sinn -, denn sie brauchen 
sich nicht die gleichen Körper zu teilen. 

Eine Art ist durch ein entscheidendes Merkmal definiert: 

Durch alle ihre Individuen fließt derselbe Genfluß, und alle 
Gene einer Art müssen dazu angelegt sein, daß sie gegenseitig 
gute Kameraden sein können. Eine neue Art entsteht, wenn 
eine Vorläuferart sich teilt. Der Genfluß gabelt sich in der Zeit. 
Aus der Sicht der Gene ist die Entstehung neuer Arten ein 
»langer Abschied«. Nach einer kurzen Phase der partiellen 
Trennung gehen die beiden Flüsse für immer eigene Wege, 
oder zumindest so lange, bis einer von ihnen austrocknet und 
im Sande verläuft. Innerhalb der von den Ufern gesicherten 
Grenzen wird das Wasser jedes Flusses durch die sexuelle 
Rekombination immer wieder neu gemischt. Aber nie tritt das 
Wasser über die Ufer, um einen anderen Fluß zu verunreini- 
gen. Wenn eine Art sich geteilt hat, sind die Gene der beiden 
Gruppen füreinander keine Kameraden mehr. Sie treffen 
nicht mehr in denselben Körpern zusammen und brauchen 
nicht mehr gut miteinander auszukommen. Es gibt zwischen 
ihnen keinen Verkehr mehr, und »Verkehr« bedeutet hier 
ganz wörtlich Geschlechtsverkehr zwischen ihren vorüberge- 
henden Vehikeln, den Körpern. 

Warum trennen sich zwei Arten? Was setzt den langen Ab- 

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19 

schied ihrer Gene in Gang? Was veranlaßt einen Fluß, sich zu 
gabeln, so daß die beiden Arme auseinanderweichen und sich 
nie wieder treffen? Die Einzelheiten sind umstritten, aber 
niemand zweifelt daran, daß zufällige geographische Isolie- 
rung das Entscheidende ist. Der Fluß der Gene fließt durch die 
Zeit, aber die physische Vereinigung der Gene findet in greif- 
baren Körpern statt, und Körper besetzen einen Platz im 
Raum. Ein nordamerikanisches Grauhörnchen könnte sich 
mit einem englischen Grauhörnchen paaren, wenn die bei- 
den sich jemals begegneten. Aber das ist unwahrscheinlich. 
Der Fluß der amerikanischen Grauhörnchengene ist sehr 
wirksam, nämlich durch fünftausend Kilometer Ozean, vom 
Fluß der englischen Grauhörnchengene getrennt. Die Gene 
der beiden Gruppen sind eigentlich keine Kameraden mehr, 
auch wenn sie es vermutlich sein könnten, wenn sich die 
Gelegenheit ergäbe. Sie haben sich voneinander verabschie- 
det, aber es ist kein unwiderrufliches Lebewohl - noch nicht. 
Nach ein paar tausend weiteren Jahren der Trennung werden 
die beiden Flüsse sich aber wahrscheinlich so weit voneinan- 
der entfernt haben, daß sie keine Gene mehr austauschen 
könnten. Mit »entfernt« ist dabei nicht der räumliche Abstand 
gemeint, sondern die Verträglichkeit. 

Etwas Ähnliches ist mit ziemlicher Sicherheit die Ursache 

für die ältere Trennung von Grauhörnchen und Rothörnchen. 
Diese Arten können sich nicht kreuzen. Ihre Verbreitungsge- 
biete überschneiden sich in Teilen Europas, und obwohl sie 
sich treffen und gelegentlich wahrscheinlich über die eine 
oder andere Nuß in Streit geraten, können sie sich nicht 
paaren und fruchtbare Nachkommen zeugen. Ihre geneti- 
schen Flüsse sind schon zu weit auseinandergewichen, das 
heißt, ihre Gene eignen sich nicht mehr dazu, in ein und 
demselben Körper zusammenzuwirken. Vor vielen Genera- 
tionen waren die Vorfahren der Grau- und Rothörnchen die- 
selben Individuen. Aber sie wurden geographisch getrennt - 

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20 

vielleicht durch ein Gebirge, vielleicht durch Wasser, schließ- 
lich durch den Atlantik. Nun entwickelte sich ihre genetische 
Ausstattung in unterschiedliche Richtungen. Aus der geogra- 
phischen Trennung erwuchs die Unverträglichkeit. Gute Ka- 
meraden wurden zu schlechten Kameraden (oder sie würden 
sich als schlechte Kameraden erweisen, wenn sie durch eine 
paarungsträchtige Begegnung auf den Prüfstand gestellt wür- 
den). Die schlechten Kameraden wurden immer schlechter, 
bis sie überhaupt keine Kameraden mehr waren. Ihr Abschied 
ist endgültig. Die beiden Flüsse haben sich getrennt und sind 
dazu bestimmt, sich immer weiter zu trennen. Der gleiche 
Ablauf liegt auch beispielsweise der sehr viel älteren Tren- 
nung zwischen unseren Vorfahren und etwa den Vorfahren 
der Elefanten zugrunde. Oder auch zwischen den Vorfahren 
des Vogels Strauß (die auch unsere Vorfahren waren) und den 
Vorfahren der Skorpione. 

Der DNA-Fluß hat jetzt vielleicht dreißig Millionen Arme - 

so viele Arten gibt es den Schätzungen zufolge auf der Erde. 
Und man hat auch geschätzt, daß die heutigen Arten nur etwa 
ein Prozent aller Arten darstellen, die es jemals gegeben hat. 
Demnach hätte der DNA-Fluß alles in allem ungefähr drei 
Milliarden Verzweigungen. Die heutigen dreißig Millionen 
Äste sind unwiderruflich getrennt. Viele von ihnen sind dazu 
bestimmt, ins Nichts zu wachsen, denn die meisten Arten 
sterben aus. Verfolgt man die dreißig Millionen Flüsse (der 
Einfachheit halber werde ich die Flußarme von jetzt an als 
Flüsse bezeichnen) zurück in die Vergangenheit, so stellt man 
fest, daß sie sich nach und nach mit anderen Flüssen vereini- 
gen. Der Fluß der menschlichen Gene vereinigt sich mit dem 
der Schimpansengene ungefähr zur gleichen Zeit wie der Fluß 
der Gorillagene, nämlich vor etwa sieben Millionen Jahren. 
Ein paar Millionen Jahre vorher fließt unser gemeinsamer 
Fluß der afrikanischen Menschenaffengene mit dem Fluß der 
Orang-Utan-Gene zusammen, und in noch fernerer Vergan- 

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21 

genheit kommt der Fluß der Gibbongene hinzu, der sich 
weiter stromabwärts in die Flüsse mehrerer Gibbon- und 
Siamangarten aufspaltet. Gehen wir weiter zurück in die Ver- 
gangenheit, vereinigt sich unser genetischer Fluß mit ande- 
ren, die sich, verfolgt man sie wieder in Richtung Gegenwart, 
in Alt- und Neuweltaffen sowie die Lemuren Madagaskars 
aufspalten. Noch weiter zurück fließt er mit den Flüssen der 
anderen großen Säugetiergruppen zusammen: Nagetiere, Kat- 
zen, Fledermäuse, Elefanten. Und danach treffen wir auf die 
Flüsse, die zu den verschiedenen Reptilien, Vögeln, Amphi- 
bien, Fischen und wirbellosen Tieren führen. 

In einem wichtigen Punkt müssen wir aber mit der Meta- 

pher vom Fluß vorsichtig sein. Wenn wir an den Arm denken, 
der zu allen Säugetieren führt (im Gegensatz beispielsweise 
zu den Ästen des Stroms, die bei Rot- und Grauhörnchen 
enden), liegt die Vorstellung nahe, es handele sich um etwas 
Gewaltiges von den Ausmaßen eines Mississippi/Missouri. Im- 
merhin sollte sich der Säugetierfluß später immer wieder 
verzweigen, bis er schließlich alle einzelnen Säugetiere her- 
vorbrachte, von der Zwergspitzmaus bis zum Elefanten und 
von den Maulwürfen unter der Erde bis zu den Affen in den 
Baumwipfeln. Der Flußarm der Säugetiere nährt so viele tau- 
send wichtige Zweigwasserstraßen, muß er da nicht eine ge- 
waltige, rollende Flut sein? Aber diese Vorstellung ist völlig 
falsch. Als die Vorläufer aller heutigen Säugetiere sich von 
denen trennten, die keine Säugetiere waren, hatte dieses Er- 
eignis nichts Bedeutsameres als jede andere Artbildung. Kei- 
nem Naturforscher, der sich zu jener Zeit umgesehen hätte, 
wäre es aufgefallen. Der neue Arm des Genflusses wäre ein 
Rinnsal gewesen, beheimatet in einer Art kleiner, nachtaktiver 
Geschöpfe, die sich von ihren nicht zu den Säugetieren gehö- 
renden Vettern nicht stärker unterschieden als ein Rot- von 
einem Grauhörnchen. Nur rückblickend können wir diesen 
Vorfahren aller Säugetiere überhaupt als Säugetier erkennen. 

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22 

Zu seiner Zeit war es nur eine weitere Art säugetierähnlicher 
Reptilien, nicht merklich anders als vielleicht ein Dutzend 
weiterer kleiner, langnasiger, insektenfressender Stückchen 
Dinosaurierfutter. 

Ebenso undramatisch verliefen auch die früheren Aufspal- 

tungen zwischen den Vorfahren aller großen Tiergruppen: 
Wirbeltiere, Weichtiere, Krebstiere, Insekten, Gliederwür- 
mer, Plattwürmer, Quallen und so weiter. Als der Fluß, der zu 
den Weichtieren (und anderen) führen sollte, sich von demje- 
nigen trennte, der zu den Wirbeltieren (und anderen) führte, 
sahen sich die beiden Populationen der (vermutlich wurm- 
ähnlichen) Geschöpfe so ähnlich, daß sie sich hätten paaren 
können. Daß sie es nicht taten, hatte nur einen Grund: Sie 
waren zufällig durch ein geographisches Hindernis getrennt, 
vielleicht durch trockenes Land, welches das zuvor gemein- 
sam bewohnte Gewässer geteilt hatte. Niemand hätte damals 
ahnen können, daß aus der einen Population die Weichtiere 
und aus der anderen die Wirbeltiere hervorgehen sollten. 
Noch waren die beiden DNA-Flüsse kleine, kaum getrennte 
Rinnsale, und die beiden Tiergruppen waren fast nicht zu 
unterscheiden. 

Die Zoologen wissen das alles, aber wenn sie über die 

wirklich großen Tiergruppen wie Weich- und Wirbeltiere 
nachdenken, vergessen sie es manchmal. Sie neigen dazu, sich 
die Aufspaltung zwischen den großen Gruppen als schicksals- 
trächtiges Ereignis vorzustellen. Daß Zoologen so in die Irre 
gehen können, hat einen bestimmten Grund: Sie wurden in 
dem fast dogmatischen Glauben erzogen, jede der großen 
Gruppen im Tierreich sei mit einem ganz einzigartigen Bau- 
plan ausgestattet. Dieses deutsche Wort ist auch im Englischen 
zu einem Fachausdruck geworden, obwohl es (wie ich mit 
leichtem Erschrecken feststellen mußte) in der neuesten Aus- 
gabe des Oxford English Dictionary nicht vorkommt. (Da ich 
an dem Wort weniger Vergnügen habe als manche meiner 

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23 

Kollegen, bekenne ich mich zu einem winzigen frisson  der 
Schadenfreude  über sein Fehlen; diese beiden Fremdworte 
stehen in dem Wörterbuch, das demnach keine prinzipiellen 
Vorurteile gegen Sprachimporte hegt.) Unter dem Bauplan im 
wissenschaftlichen Sinn versteht man oft ein grundlegendes 
Konstruktionsprinzip, und das Attribut »grundlegend« (oder 
der verlegene Wechsel ins Deutsche, wenn man Tiefgründig- 
keit demonstrieren will) ist die Ursache des Übels. Es kann 
dazu führen, daß die Zoologen schwere Irrtümer begehen. 

Ein Zoologe äußerte zum Beispiel die Vermutung, die Evo- 

lution müsse im Kambrium (der Zeit vor etwa sechshundert 
bis fünfhundert Millionen Jahren) völlig anders abgelaufen 
sein als in späterer Zeit. Er argumentierte, daß heute neue 
Arten auftauchten, während im Kambrium die großen Grup- 
pen entstanden seien, beispielsweise die Weichtiere und die 
Krebse. Welch ein krasser Irrtum! Selbst Geschöpfe, die sich 
so stark unterscheiden wie Weichtiere und Krebse, waren 
ursprünglich nur geographisch getrennte Populationen der- 
selben Art. Eine Zeitlang hätten sie sich bei einem Zusammen- 
treffen noch kreuzen können, aber sie taten es nicht. Nach 
Jahrmillionen der getrennten Evolution erwarben sie die Ei- 
genschaften, in denen wir heutigen Zoologen rückblickend 
die Merkmale der Weichtiere beziehungsweise Krebse erken- 
nen. Und diese Eigenschaften bezeichnen wir hochtrabend als 
»grundlegenden Körperbauplan«. Aber die wichtigen Bau- 
pläne des Tierreiches zweigten sich allmählich von den ge- 
meinsamen Ursprüngen ab. 

Zugegebenermaßen bestehen kleine, allerdings sehr öf- 

fentlichkeitswirksame Meinungsverschiedenheiten darüber, 
wie  allmählich oder »sprunghaft« die Evolution verlaufen sei. 
Aber niemand, wirklich niemand, hält sie für so sprunghaft, 
daß dabei ein ganzer neuer Bauplan in einem Schritt hätte 
entstehen können. Der Autor, den ich zitiert habe, schrieb 
1958. Die wenigsten Zoologen würden heute offen seinen 

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24 

Standpunkt teilen, aber unausgesprochen tun sie das manch- 
mal: Sie reden so, als wären die wichtigsten Tiergruppen nicht 
durch die Aufspaltung einer zufällig geographisch isolierten 
Population entstanden, sondern plötzlich und in vollkomme- 
ner Gestaltung wie Athene aus dem Haupte des Zeus.* 

Molekularbiologische Untersuchungen haben in jedem Fall 

gezeigt, daß die großen Tiergruppen einander viel näherste- 
hen, als man bis dahin gedacht hatte. Man kann den geneti- 
schen Code als Wörterbuch betrachten, in dem vierundsech- 
zig Wörter einer Sprache (die vierundsechzig Dreiergruppen 
eines Alphabets mit vier Buchstaben) den einundzwanzig 
Wörtern einer anderen Sprache (zwanzig Aminosäuren und 
ein Satzzeichen) zugeordnet werden. Die Chance, zweimal 
durch Zufall zu demselben Zusammenhang von 64 zu 21 zu 
gelangen, liegt bei eins zu einer Million Millionen Millionen 
Millionen Millionen. Und doch ist der genetische Code bei 
allen Tieren, Pflanzen und Bakterien, die man jemals unter- 
sucht hat, buchstäblich identisch. Alle Lebewesen auf der Erde 
stammen mit Sicherheit von einem gemeinsamen Vorfahren 
ab. Das stellt niemand in Frage, aber jetzt, wo man nicht nur 
den genetischen Code selbst, sondern einzelne Abschnitte der 
genetischen Information analysiert, zeigen sich auch einige 
verblüffende Ähnlichkeiten beispielsweise zwischen Insekten 
und Wirbeltieren. Ein höchst komplizierter genetischer Me- 
chanismus ist für den gegliederten Körperbauplan der Insek- 
ten verantwortlich, und einen geradezu erschreckend ähnli- 
chen genetischen Apparat hat man auch bei Säugetieren ge- 
funden. Aus molekularer Sicht sind alle Tiere untereinander 
und sogar mit den Pflanzen recht eng verwandt. Um unsere 
entfernteren Vettern zu finden, muß man sich schon die Bakte- 
 

Diese Aussagen sollte der Leser im Kopf behalten, wenn er Zufall Mensch liest, 
den wunderschön geschriebenen Bericht von S. J. Gould über die Fauna von 
Burgess Shale aus dem Kambrium.

 

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25 

rien ansehen, und selbst die haben den gleichen genetischen 
Code wie wir. Daß man über den genetischen Code solche 
genauen Aussagen machen kann, nicht aber über die Bau- 
pläne, hat einen einfachen Grund: Der genetische Code ist 
streng digital, das heißt auf Ziffern gegründet, und Ziffern 
kann man genau zählen. Der Fluß der Gene ist ein digitaler 
Fluß. Jetzt muß ich erklären, was dieser technische Begriff 
bedeutet. 

In der Technik kennt man den wichtigsten Unterschied 

zwischen digitalen und analogen Codes. Der Plattenspieler 
und das Tonbandgerät verwenden - wie bis vor kurzem auch 
die meisten Telefone - analoge Codes. Compact Disc, Compu- 
ter und die meisten modernen Telefonsysteme arbeiten dage- 
gen digital. Bei einem analogen Telefon werden stetig verän- 
derliche Luftdruckwellen (Schall) in ebenso stetig veränderli- 
che Spannungsschwankungen in einer Leitung umgewandelt. 
Ganz ähnlich ist das Prinzip bei einer Schallplatte: Die gewell- 
ten Rillen versetzen eine Abtastnadel in Schwingungen, und 
diese Bewegung wird in entsprechende Schwankungen der 
elektrischen Spannung umgesetzt. Am anderen Ende der Lei- 
tung findet der umgekehrte Vorgang statt: Eine vibrierende 
Membran in der Hörmuschel des Telefons oder im Lautspre- 
cher des Plattenspielers macht aus den Spannungsschwankun- 
gen wieder Luftdruckwellen, die wir hören können. Es ist ein 
einfacher, unmittelbarer Code: Die elektrischen Schwankun- 
gen in der Leitung sind den Luftdruckschwankungen propor- 
tional. Innerhalb bestimmter Grenzen sind in der Leitung alle 
Spannungswerte möglich, und die Unterschiede zwischen 
ihnen sind von großer Bedeutung. 

Beim digitalen Telefon wandern nur zwei mögliche Span- 

nungen - oder eine andere genau festgelegte Zahl solcher 
Werte, beispielsweise 8 oder 256 - durch den Draht. Die 
Information ergibt sich nicht aus der Spannung selbst, son- 
dern aus dem Muster der verschiedenen Werte. Dieses Prinzip 

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26 

nennt man Pulscodemodulation. Die Spannung selbst ent- 
spricht zu jedem beliebigen Zeitpunkt kaum einmal genau 
einem der beispielsweise acht vorgegebenen Werte, aber das 
Empfangsgerät rundet sie zu der nächsten vorprogrammier- 
ten Spannung auf oder ab; auf diese Weise kommt am Ende 
etwas fast Vollkommenes heraus, selbst wenn die Leitung 
selbst nur eine schlechte Übertragungsqualität bietet. Man 
muß die abgegrenzten Spannungswerte nur mit ausreichend 
großen Abständen festlegen, damit der Empfangsapparat sie 
auch bei zufälligen Schwankungen nicht falsch einordnet. Das 
ist der große Vorteil der Digitalcodes, und es ist auch der 
Grund, warum man nicht nur Audio- und Videosysteme, son- 
dern die ganze Informationstechnologie zunehmend digitali- 
siert. Computer bedienen sich natürlich für alle ihre Anwen- 
dungen ausschließlich digitaler Codes. Aus praktischen Grün- 
den handelt es sich dabei um einen Binärcode, das heißt, er 
kennt nicht acht oder zweihundertsechsundfünfzig Span- 
nungswerte, sondern nur zwei. 

Selbst beim Digitaltelefon besteht der Schall, der in die 

Sprechmuschel gelangt und aus dem Hörer dringt, noch aus 
analogen Luftdruckschwankungen. Digital ist nur die Informa- 
tion, die zwischen diesen beiden Stationen hin- und herfließt. 
Dazu muß man einen Code schaffen, der die Analogwerte von 
Mikrosekunde zu Mikrosekunde in Reihen digitaler Impulse 
übersetzt, das heißt, man braucht digital codierte Zahlen. 
Wenn eine Frau am Telefon mit ihrem Geliebten flüstert, läuft 
jede Nuance, jedes Stocken der Stimme, jedes leidenschaftli- 
che Seufzen und jede sehnsüchtige Klangfärbung ausschließ- 
lich in Form von Zahlen durch die Leitung. Zahlen können zu 
Tränen rühren - vorausgesetzt, sie werden schnell genug 
verschlüsselt und wieder entschlüsselt. Die modernen elek- 
tronischen Schaltkreise sind so schnell, daß man die Übertra- 
gungszeit in Stücke zerlegen kann, ganz ähnlich wie ein 
Schachgroßmeister, der seine Zeit bei einem Simultanspiel 

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27 

zwischen zwanzig Gegnern aufteilt. Auf diese Weise lassen 
sich Tausende von Telefongesprächen über eine einzige Lei- 
tung übertragen - scheinbar gleichzeitig, aber in Wirklichkeit 
elektronisch getrennt und ohne sich gegenseitig zu stören. 
Eine große Datenleitung - häufig handelt es sich dabei nicht 
mehr um Drähte, sondern um Funkwellen, die unmittelbar 
von Berggipfel zu Berggipfel übertragen oder indirekt von 
Satelliten zurückgeworfen werden - ist ein riesiger Zahlen- 
fluß. Aber wegen der genialen elektronischen Trennung be- 
steht er eigentlich aus Tausenden von digitalen Flüssen, die 
nur bei oberflächlicher Betrachtung im gleichen Bett fließen - 
wie Rot- und Grauhörnchen, die sich dieselben Bäume teilen, 
aber nie ihre Gene vermischen. 

Kehren wir noch einmal in die Welt der Technik zurück: Die 

Schwächen der analogen Signale fallen nicht besonders stark 
ins Gewicht, solange sie sich nicht ständig wiederholen. Das 
Hintergrundrauschen bei einer Bandaufnahme ist unter Um- 
ständen so gering, daß man es kaum bemerkt - bis man den 
Schall und damit auch das Rauschen verstärkt, so daß ein 
neues Geräusch hinzukommt. Macht man aber eine Kopie von 
dem Band, und dann eine Kopie von der Kopie und so weiter, 
bleibt nach hundert »Generationen« nur noch ein entsetzli- 
ches Rauschen übrig. Etwas Ähnliches war in den Zeiten analo- 
ger Telefone ein großes Problem. Jedes Telefonsignal 
schwächt sich über große Entfernungen ab und muß etwa alle 
hundertfünfzig Kilometer verstärkt werden. Dieser Vorgang 
war in den Tagen der Analogtechnik sehr fehleranfällig, denn 
das Hintergrundrauschen wurde mit jedem Verstärkungs- 
schritt lauter. Digitale Signale müssen ebenfalls verstärkt wer- 
den, aber bei ihnen schleicht sich dabei aus den beschriebe- 
nen Gründen kein Fehler ein: Man kann es so einrichten, daß 
die Information einwandfrei übermittelt wird, unabhängig 
davon, wie viele Verstärkerstationen dazwischenliegen. Selbst 
nach vielen tausend Kilometern nimmt das Rauschen nicht zu. 

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28 

Als ich Kind war, erklärte mir meine Mutter, die Nervenzel- 
len seien die Telefonleitungen unseres Körpers. Aber sind sie 
analog oder digital? Die Antwort: Sie sind eine interessante 
Mischung aus beidem. Eine Nervenzelle ist nicht wie eine 
Elektroleitung, sondern ein langes, dünnes Rohr, durch das 
Wellen chemischer Veränderungen laufen, ähnlich wie die 
Flamme, die sich an einer Spur von Schießpulver auf dem 
Boden entlangfrißt; aber anders als das Schießpulver erholt 
sich die Nervenzelle bald wieder, so daß sie nach einer kurzen 
Ruhepause erneut »brennen« kann. Die Höhe der Welle, ge- 
wissermaßen die Temperatur der Flamme, kann auf dem Weg 
am Nerv entlang schwanken, aber das ist ohne Bedeutung. Der 
Code spricht darauf nicht an. Der chemische Impuls ist entwe- 
der vorhanden oder nicht, wie bei den beiden Spannungszu- 
ständen in einem Digitaltelefon. Bis hierhin ist das Nervensy- 
stem digital. Aber die Nervenimpulse werden nicht in Bytes 
gezwängt: Sie setzen sich nicht zu getrennten Codezahlen 
zusammen. Die Stärke der Nachricht (die Lautstärke von 
Schall, die Helligkeit von Licht, vielleicht sogar die Heftigkeit 
von Gefühlen) ist vielmehr in der Geschwindigkeit der Im- 
pulse verschlüsselt. In der Technik kennt man das Prinzip 
unter dem Namen Pulsfrequenzmodulation; es war dort sehr 
beliebt, bevor sich die Pulscodemodulation durchsetzte. 

Die Geschwindigkeit von Impulsen ist eine analoge Größe, 

aber die Impulse selbst sind digital: Sie sind entweder vorhan- 
den oder nicht vorhanden, dazwischen gibt es nichts. Und 
daraus zieht das Nervensystem den gleichen Nutzen wie jedes 
andere digitale System. Wegen der Funktionsweise der Ner- 
venzellen gibt es auch die Entsprechung zu den Verstärkersta- 
tionen - nicht alle hundertfünfzig Kilometer, sondern nach 
jedem Millimeter, achthundert Verstärker vom Rückenmark 
bis zur Fingerspitze. Wäre die absolute Größe des Nervenim- 
pulses - die Temperatur der Schießpulverflamme - von Be- 
deutung, würde die Nachricht auf dem Weg durch den 

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29 

menschlichen Arm bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, vom Hals 
einer Giraffe ganz zu schweigen. In jedem Stadium der Ver- 
stärkung würden sich neue zufällige Fehler einschleichen, wie 
bei einer Tonbandaufnahme, die man achthundertmal ko- 
piert, oder wie bei einem Bild, bei dem man immer wieder die 
Kopie auf das Xeroxgerät legt. Nach achthundert »Generatio- 
nen« des Fotokopierens wären nur noch graue verschwom- 
mene Flecken übrig. Die digitale Codierung ist die einzige 
Lösung für das Problem der Nervenzellen, und die natürliche 
Selektion hat sie pflichtschuldigst übernommen. Das gleiche 
gilt auch für die Gene. 

Francis Crick und James Watson, die die molekulare Struk- 

tur der Gene erschlossen haben, sollten nach meiner Über- 
zeugung ebenso über Jahrhunderte hinweg berühmt bleiben 
wie Aristoteles und Platon. Ihren Nobelpreis erhielten sie »in 
Physiologie oder Medizin«, was zwar richtig, aber auch fast 
trivial ist. Eine »anhaltende Revolution« ist zwar fast ein Wider- 
spruch in sich, aber die Veränderung des Denkens, die diese 
beiden jungen Männer 1953 in Gang setzten, wird nicht nur 
die Medizin, sondern unsere gesamte Sicht des Lebens immer 
wieder revolutionieren. Die Gene selbst und die genetisch 
bedingten Krankheiten sind nur die Spitze des Eisbergs. Das 
wirklich Revolutionäre an der Molekularbiologie der Ära seit 
Watson und Crick ist die Tatsache, daß sie digital geworden ist. 

Seit Watson und Crick wissen wir, daß die Gene selbst mit 

ihrer winzigkleinen inneren Struktur lange Ketten digitaler 
Informationen sind. Und das ist noch nicht alles: Sie sind 
wirklich digital im umfassenden, strengen Sinne der Compu- 
ter und Compact Discs, nicht in der schwachen Form des 
Nervensystems. Der genetische Code ist weder binär wie die 
Computersprache, noch hat er acht Ebenen wie manche Tele- 
fonsysteme; er ist ein quaternärer Code mit vier Symbolen. 
Die Maschinensprache der Gene ist furchterregend compu- 
terähnlich. Sieht man von den Unterschieden im Jargon ab, 

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30 

könnte man die Seiten einer molekularbiologischen Fachzeit- 
schrift gegen die eines Journals für Computertechnik austau- 
schen. Diese digitale Revolution im innersten Kern des Le- 
bens hatte neben vielen anderen Auswirkungen die Folge, daß 
der Vitalismus den letzten Todesstoß erhielt, jene Überzeu- 
gung, wonach Lebendiges sich deutlich von unbelebter Mate- 
rie unterscheidet. Bis 1953 konnte man noch glauben, es gebe 
im lebenden Protoplasma etwas grundlegend und unauflös- 
lich Geheimnisvolles, Danach ging das nicht mehr. Selbst 
diejenigen Philosophen, die zu einer mechanistischen Sicht 
des Lebens neigten, hätten auf diese Erfüllung ihrer kühnsten 
Träume nicht zu hoffen gewagt. 

Die folgende Science-fiction-Handlung ist durchaus plausi- 

bel, wenn man eine Technologie voraussetzt, die sich von der 
heutigen nur durch eine etwas größere Schnelligkeit unter- 
scheidet. Professor Jim Crickson wurde von einer bösen frem- 
den Macht entführt und gezwungen, in ihren Labors für biolo- 
gische Kriegsführung zu arbeiten. Um die menschliche Zivili- 
sation zu retten, muß er unbedingt eine streng geheime Nach- 
richt an die Außenwelt übermitteln, aber alle normalen Kom- 
munikationskanäle sind ihm verschlossen. Es gibt nur eine 
Ausnahme. Der DNA-Code besteht aus vierundsechzig Tri- 
plett»codons«, genug für ein vollständiges englisches Alpha- 
bet mit Groß- und Kleinbuchstaben, zehn Ziffern, einem Leer- 
zeichen und einem Punkt. Professor Crickson nimmt ein ge- 
fährliches Influenzavirus aus der Schublade und verändert 
sein Genom so, daß es seine Botschaft in vollendet gebildeten 
englischen Sätzen nach außen trägt. Seine Nachricht wieder- 
holt sich in dem Genom immer aufs neue, und außerdem ist 
sie mit einer leicht erkennbaren »Markierungssequenz« ver- 
sehen, zum Beispiel mit den ersten zehn Primzahlen. Dann 
infiziert er sich selbst mit dem Virus und niest es in einem 
Raum voller Menschen aus. Eine Grippewelle geht um die 
Welt, und die medizinischen Labors in anderen Ländern, die 

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31 

einen Impfstoff entwickeln wollen, sequenzieren das Genom 
des Erregers. Schnell wird deutlich, daß die DNA ein seltsames 
Wiederholungsmuster enthält. Von den Primzahlen alarmiert, 
die nicht von selbst entstanden sein können, kommt jemand 
auf die Idee, herkömmliche Dechiffrierungsmethoden auf die 
Sequenz anzuwenden. Von da an ist es nur noch wenig Arbeit, 
bis man die Botschaft lesen kann, die Professor Crickson in die 
Welt geniest hat. 

Unser genetisches System, das universelle System allen Le- 

bens auf der Erde, ist durch und durch digital. Das gesamte 
Neue Testament könnte man Wort für Wort in denjenigen 
Teilen des menschlichen Genoms verschlüsseln, die heute als 
»DNA-Schrott« gelten, weil der Organismus sie - zumindest 
in der herkömmlichen Weise - nicht nutzt. Jede Zelle unseres 
Körpers enthält die Entsprechung zu sechsundvierzig riesigen 
Datenbändern, an denen viele gleichzeitig arbeitende Lese- 
köpfe die digitalen Buchstaben ablesen. In jeder Zelle enthal- 
ten diese Bänder - die Chromosomen - die gleiche Informa- 
tion, aber die Leseköpfe suchen sich in den einzelnen Zellty- 
pen unterschiedliche Abschnitte der Datenbank für ihre Spe- 
zialistenarbeit heraus. Deshalb unterscheiden sich Muskelzel- 
len von Leberzellen. Es gibt keine von einem Geist angetrie- 
bene Lebenskraft, kein pulsierendes, knospendes, protoplas- 
matisches, geheimnisvolles Gelee. Leben besteht schlicht aus 
Bytes und Bytes und Bytes digitaler Information. 

Gene sind Information in Reinkultur - und diese Informa- 

tion kann verschlüsselt, neu verschlüsselt und entschlüsselt 
werden, ohne daß ihr Inhalt zerstört oder verändert wird. 
Reine Information läßt sich kopieren, und das, da es sich um 
digitale Information handelt, mit unglaublicher Genauigkeit. 
Die Buchstaben der DNA werden mit einer Präzision verdop- 
pelt, die es mit allen Leistungen moderner Ingenieure aufneh- 
men kann. Sie werden von Generation zu Generation kopiert, 
und das gerade mit soviel Fehlern, daß Vielfalt entsteht. Die 

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32 

ganze Vielfalt dieser Buchstabenkombinationen wird in Kör- 
pern kopiert und umgesetzt, und dabei werden in der Welt 
offenkundig und ganz automatisch diejenigen Kombinationen 
zahlreicher, die ihren Körper dazu veranlassen können, die 
DNA-Botschaft aktiv zu erhalten und weiterzuverbreiten. Wir 
- und damit meine ich alle Lebewesen - sind Überlebensma- 
schinen, die so programmiert sind, daß sie die digitale Daten- 
bank, die das Programm enthält, vermehren. Der Darwinis- 
mus ist, mit heutigen Begriffen beschrieben, das Überleben 
der Überlebenden auf der Ebene des rein digitalen Codes. 

Rückblickend betrachtet, konnte es auch gar nicht anders 

sein. Ein analoges genetisches System könnte man sich zwar 
ausmalen, aber wir haben bereits gesehen, was mit analoger 
Information geschieht, wenn sie über viele Generationen hin- 
weg kopiert wird. Es ist wie »Stille Post«. Telefonsysteme mit 
Verstärkern, Tonbandkopien, Fotokopien von Fotokopien - 
analoge Signale sind so anfällig für zunehmende Zerstörung, 
daß die Fortschreibung über eine begrenzte Anzahl von Gene- 
rationen hinaus nicht mehr möglich ist. Gene dagegen kön- 
nen sich über Zigmillionen Generationen hinweg fortpflan- 
zen und verändern sich dabei kaum. Nur wegen dieses fehler- 
losen Kopiervorganges (abgesehen von abgegrenzten Muta- 
tionen, die von der natürlichen Selektion beibehalten oder 
ausgemerzt werden) kann der Darwinismus funktionieren. 
Unser digitales genetisches System ist in der Lage, den Darwi- 
nismus über die Äonen der Erdgeschichte aufrechtzuerhalten. 
Das Jahr 1953, das Jahr der Doppelhelix, wird eines Tages 
nicht nur als der Endpunkt der mystischen, vernebelten Sicht 
des Lebens gelten; die Darwinisten werden darin auch das Jahr 
sehen, in dem ihr Fachgebiet endgültig digitalisiert wurde. 

Der Fluß der rein digitalen Information, der majestätisch 

durch die Erdgeschichte fließt und sich in drei Milliarden 
Arme gabelt, ist ein machtvolles Bild. Aber wo bleiben dabei 
die vertrauten Eigenschaften des Lebendigen? Wo bleiben 

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33 

Körper, Hände und Füße, Augen, Gehirn und Tasthaare, Blät- 
ter, Stämme und Wurzeln? Wo bleiben wir selbst und unsere 
Körperteile? Sind wir - wir Tiere, Pflanzen, Protozoen, Pilze 
und Bakterien - nur die Ufer, zwischen denen die Rinnsale 
der digitalen Daten fließen? In einem gewissen Sinne ja. Aber 
wie ich bereits angedeutet habe, ist das nicht alles. Gene 
stellen nicht nur Kopien von sich selbst her, die durch die 
Generationen fließen. In Wirklichkeit sind sie in Körpern zu 
Hause, und sie beeinflussen Gestalt und Verhalten der aufein- 
anderfolgenden Körper, in denen sie sich befinden. Die Kör- 
per sind ebenfalls wichtig. 

Der Körper eines Eisbären zum Beispiel bildet nicht nur 

zwei Uferböschungen, zwischen denen ein digitaler Bach ver- 
läuft. Er ist auch eine Maschine von bärenstarker Komplexität. 
Alle Gene der gesamten Eisbärenpopulation sind eine Ge- 
meinschaft, gute Kameraden, die im Laufe der Zeit alle einmal 
aufeinandertreffen. Aber sie befinden sich nicht ständig in der 
Gesellschaft aller anderen Mitglieder ihrer Gemeinschaft, son- 
dern tauschen innerhalb dieser Gruppe immer wieder die 
Partner. Die Gemeinschaft ist definiert als die Gruppe von 
Genen, die sich potentiell begegnen können (aber nicht den 
Mitgliedern einer der dreißig Millionen anderen Gemein- 
schaften auf der Erde). Das tatsächliche Zusammentreffen 
spielt sich immer in einer Zelle im Körper des Eisbären ab. 
Und dieser Körper ist kein passives Gefäß für die DNA. 

Zunächst einmal entzieht sich schon die reine Zahl der 

Zellen, von denen jede die komplette Genausstattung enthält, 
jeder Vorstellungskraft: Bei einem ausgewachsenen Bären- 
männchen sind es etwa neunhundert Millionen Millionen. 
Eine Kette aus den hintereinander aufgereihten Zellen eines 
einzigen Bären würde ohne weiteres von der Erde zum Mond 
und wieder zurück reichen. Alle Zellen gehören zu ein paar 
hundert unterschiedlichen Typen, und diese Typen sind prak- 
tisch bei allen Säugetieren die gleichen: Muskelzellen, Ner- 

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34 

venzellen, Knochenzellen, Hautzellen und so weiter. Gewebe 
bestehen jeweils aus einer großen Masse von Zellen eines 
solchen Typs: Muskelgewebe, Knochengewebe und so weiter. 
All diese verschiedenen Zelltypen enthalten die genetischen 
Anweisungen zur Herstellung sämtlicher einzelner Zelltypen, 
aber angeschaltet sind nur diejenigen Gene, die zu dem jewei- 
ligen Gewebe gehören. Das ist der Grund, warum die Zellen 
der einzelnen Gewebe sich in Form und Größe unterschei- 
den. Und, was noch interessanter ist, die Gene, die in den 
Zellen eines bestimmten Typs angeschaltet sind, sorgen auch 
dafür, daß das betreffende Gewebe eine bestimmte Form 
annimmt. Knochen sind keine gestaltlosen Massen aus hartem, 
starrem Gewebe. Sie haben bestimmte Formen mit hohlen 
Schäften, Gelenkköpfen und Gelenkpfannen, Fortsätzen und 
Vorsprüngen. Die Zellen sind durch die in ihnen angeschalte- 
ten Gene darauf programmiert, sich so zu verhalten, als wüß- 
ten sie, wo sie im Verhältnis zu ihren Nachbarzellen stehen, 
und deshalb bauen sie Gewebe in der Form von Ohrläppchen 
oder Herzklappen, Augenlinsen oder Schließmuskeln auf. 

Die Komplexität eines Lebewesens wie des Eisbären ist 

vielschichtig. Der Körper ist eine komplexe Ansammlung prä- 
zise gestalteter Organe wie Leber, Nieren und Knochen. Jedes 
Organ ist ein komplexes Gebilde aus bestimmten Geweben, 
und die Bausteine der Gewebe sind die Zellen, die oft in 
Schichten angeordnet sind, vielfach aber auch feste Massen 
bilden. Im viel kleineren Maßstab besitzt jede Zelle eine 
höchst komplexe innere Struktur aus gefalteten Membranen. 
Diese Membranen und das Wasser in ihren Zwischenräumen 
sind der Schauplatz zahlreicher verschiedenartiger, kompli- 
zierter chemischer Reaktionen. In einer Chemiefabrik von ICI 
oder Union Carbide laufen vielleicht ein paar hundert ver- 
schiedene chemische Reaktionen ab, die durch die Wände von 
Flaschen, Röhren und so weiter voneinander getrennt sind. 
Ähnlich viele Reaktionen finden auch im Inneren einer leben- 

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35 

den Zelle gleichzeitig statt. Die Membranen entsprechen da- 
bei bis zu einem gewissen Grad den Glasgefäßen im Labor, 
aber der Vergleich hinkt, und zwar aus zwei Gründen: Erstens 
spielen sich zwischen den Membranen zwar viele Reaktionen 
ab, aber nicht wenige ereignen sich auch innerhalb  der Mem- 
bransubstanz selbst. Zweitens werden die Reaktionen in der 
Zelle auf eine viel bedeutsamere Art und Weise getrennt: Jede 
von ihnen wird von einem eigenen Enzym katalysiert. 

Ein Enzym ist ein sehr großes Molekül, das aufgrund seiner 

dreidimensionalen Form eine bestimmte chemische Reaktion 
begünstigt: Es stellt eine Oberfläche zur Verfügung, an der die 
Umsetzung ablaufen kann. Da die Raumstruktur das Entschei- 
dende an biologischen Molekülen ist, kann man ein Enzym als 
große Maschine betrachten, die genau darauf abgestimmt ist, 
Moleküle einer bestimmten Form zu produzieren. Deshalb 
können in jeder Zelle auf der Oberfläche der verschiedenen 
Enzymmoleküle Hunderte von chemischen Reaktionen gleich- 
zeitig und getrennt ablaufen. Um welche Reaktionen es sich 
dabei in einer bestimmten Zelle im einzelnen handelt, hängt 
davon ab, welche Enzymmoleküle in großer Zahl vorhanden 
sind. Jedes Enzymmolekül mit seiner alles entscheidenden 
Form wird unter dem bestimmenden Einfluß eines bestimm- 
ten Gens aufgebaut. Genauer gesagt, legt die Reihenfolge 
mehrerer hundert Codebuchstaben im Gen nach einigen 
heute genau bekannten Regeln (dem genetischen Code) die 
Reihenfolge der Aminosäuren im Enzymmolekül fest. Jedes 
Enzymmolekül ist eine Kette aus Aminosäuren, und jede der- 
artige Aminosäurekette verschlingt sich von selbst wie in 
einem Knoten zu einer charakteristischen, einzigartigen 
Raumstruktur, in der sich Querverbindungen zwischen ver- 
schiedenen Teilen der Kette ausbilden. Wie die dreidimensio- 
nale Struktur des Knotens im einzelnen aussieht, bestimmt die 
eindimensionale Abfolge der Aminosäuren, und damit ist sie 
abhängig von der ebenfalls eindimensionalen Sequenz der 

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36 

Codebuchstaben im Gen. Über die chemischen Reaktionen in 
einer Zelle entscheiden also die jeweils angeschalteten Gene. 

Aber was entscheidet nun darüber, welche Gene in einer 

bestimmten Zelle angeschaltet sind? Die Antwort heißt: die 
Substanzen, die in der Zelle bereits vorhanden sind. Das 
Ganze hat etwas von dem Paradox mit der Henne und dem Ei, 
aber die Schwierigkeit ist hier nicht unüberwindlich. Die 
Lösung ist im Prinzip sogar recht einfach, im Detail allerdings 
kompliziert. In der Computertechnik kennt man die Lösung 
unter dem Namen Bootstrapping oder Ureingabe. Als ich in 
den sechziger Jahren zum ersten Mal Computer benutzte, 
mußte man alle Programme mit Hilfe von Papierstreifen la- 
den. (Amerikanische Computer bedienten sich damals zu die- 
sem Zweck häufig der Lochkarten, aber es war das gleiche 
Prinzip.) Bevor man den großen Streifen eines ernsthaften 
Programms laden konnte, mußte man ein kleineres Pro- 
gramm eingeben, das sogenannte Ureingabe-Ladeprogramm, 
das nur eine Aufgabe hatte: Es sagte dem Computer, wie er 
Papierstreifen laden sollte. Aber - und hier kommt wieder das 
Henne-Ei-Problem ins Spiel - wie wurde das Ureingabe-Lade- 
programm selbst geladen? In den heutigen Computern ist das 
entsprechende Programm fest verdrahtet, aber in jenen Früh- 
zeiten mußte man dazu Schalter in einer festgelegten Abfolge 
betätigen. Diese Abfolge war für den Computer der Befehl, 
den ersten Teil des Streifens mit dem Ureingabe-Ladepro- 
gramm zu lesen. Der erste Abschnitt des Programms gab dann 
ein paar weitere Befehle zum Lesen des nächsten Teils und so 
weiter. Wenn das gesamte Ureingabe-Ladeprogramm eingele- 
sen war, wußte der Computer, wie er jeden beliebigen Papier- 
streifen lesen sollte, und damit war er zu einem nützlichen 
Computer geworden. 

Die Entwicklung eines Embryos beginnt mit der Zweitei- 

lung einer einzelnen Zelle, des befruchteten Eies; aus den 
zwei Zellen werden durch Teilung vier, aus den vier werden 

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37 

acht und so weiter. Nur wenige Dutzend Zellgenerationen 
sind notwendig, und schon geht die Zahl der Zellen in die 
Billionen - so wirksam ist exponentielle Vermehrung. Aber 
wenn das alles wäre, würden die Billionen Zellen einander 
genau gleichen. Statt dessen differenzieren sie sich (um den 
Fachausdruck zu gebrauchen) zu Leberzellen, Muskelzellen, 
Nierenzellen und so weiter, in denen jeweils andere Gene 
angeschaltet und andere Enzyme am Werk sind. Wie kommt es 
dazu? Durch Bootstrapping, und das funktioniert folgender- 
maßen. Die Eizelle sieht zwar wie eine Kugel aus, aber in 
Wirklichkeit hat sie im Inneren eine chemische Polarität. Es 
gibt ein Oben und Unten, und in vielen Fällen auch ein Vorn 
und Hinten (und demnach auch eine rechte und linke Seite). 
Diese Richtungen zeigen sich in Form chemischer Gradien- 
ten. Die Konzentration bestimmter Substanzen steigt von vorn 
nach hinten stetig an, für andere verläuft das Gefalle von oben 
nach unten. Diese Gradienten sind anfangs recht einfach, aber 
sie reichen aus, um das erste Stadium der Ureingabe zu bil- 
den. 

Wenn aus der Eizelle beispielsweise zweiunddreißig Zellen 

geworden sind, also nach fünfmaliger Zellteilung, enthalten 
einige dieser Zellen eine größere Menge der Substanzen von 
der Oberseite, in anderen ist der Gehalt an Verbindungen von 
der Unterseite unverhältnismäßig hoch. Die Zellen können 
sich, was die Substanzen des Vorn-Hinten-Gradienten angeht, 
ebenfalls im Ungleichgewicht befinden. Diese Unterschiede 
genügen, damit in den einzelnen Zellen unterschiedliche 
Genkombinationen eingeschaltet werden, so daß in den ver- 
schiedenen Teilen des frühen Embryos jeweils eine andere 
Enzymausstattung vorliegt. Das wiederum führt dazu, daß in 
verschiedenen Zellen jeweils andere Kombinationen weiterer 
Gene eingeschaltet werden. Auf diese Weise gleichen die Ab- 
stammungslinien der Zellen im Embryo nicht mehr ihrem ein- 
zelnen Vorfahren, sondern sie entwickeln sich auseinander. 

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38 

Es handelt sich aber um eine ganz andere Art der Auseinan- 
derentwicklung als bei der zuvor beschriebenen Trennung 
verschiedener Arten. Der unterschiedliche Werdegang der 
Zellen ist programmiert und läßt sich in allen Einzelheiten 
vorhersagen, während die Auseinanderentwicklung der Arten 
die unberechenbare Folge geographischer Zufälligkeiten ist 
und deshalb nicht vorhersagbar. Außerdem entwickeln sich 
mit den Arten auch die Gene selbst auseinander, ein Vorgang, 
den ich überschwenglich als »langen Abschied« bezeichnet 
habe. Wenn die Abstammungslinien der Zellen innerhalb des 
Embryos sich auseinanderentwickeln, behalten die Teilgrup- 
pen - und zwar alle - die gleichen Gene. Unterschiedlich sind 
in den Zellen jedoch die Substanzen kombiniert, die verschie- 
dene Genkombinationen anschalten, und manche Gene be- 
wirken, daß andere Gene an- oder abgeschaltet werden. Da- 
mit setzt sich die Ureingabe fort, bis das gesamte Spektrum der 
verschiedenen Zelltypen vorhanden ist. 

Der Embryo differenziert sich aber in seiner Entwicklung 

nicht nur zu ein paar hundert verschiedenen Zelltypen. Er 
macht auch elegante, dynamische Veränderungen der inneren 
und äußeren Form durch. Der vielleicht spektakulärste der- 
artige Vorgang ist auch einer der ersten: die Gastrulation. Der 
angesehene Embryologe Lewis Wolpert ging sogar so weit zu 
sagen: »Weder Geburt noch Heirat oder Tod, sondern vielmehr 
die Gastrulation ist das wirklich wichtige Ereignis in unserem 
Leben.« Was geschieht bei der Gastrulation? Eine Hohlkugel 
aus Zellen stülpt sich ein und bildet einen innen ausgekleideten 
Becher. Praktisch alle Embryonen im Tierreich machen diesen 
gleichen Vorgang der Gastrulation durch. Sie ist die einheit- 
liche Grundlage, auf der die vielfältigen Wege der Entwicklung 
des Embryos aufbauen. Ich erwähne die Gastrulation hier nur 
als besonders augenfälliges Beispiel für die ruhelose, Origami- 
artige Bewegung ganzer Zellschichten, die man in der Entwick- 
lung des Embryos häufig beobachtet. 

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39 

Am Ende einer virtuosen Origami-Vorstellung, nach zahlrei- 

chen Vorgängen des Faltens, Nach-außen-Drückens, Ausbeu- 
lens und Dehnens von Zellschichten, nach umfangreichem, 
dynamisch koordiniertem, unterschiedlich starkem Wachs- 
tum von Teilen des Embryos auf Kosten anderer Teile, nach 
der Differenzierung zu Hunderten unterschiedlich speziali- 
sierter Zelltypen - und wenn die Gesamtzahl der Zellen in die 
Billionen geht, ist das Baby endgültig gebildet. Nein, selbst das 
Baby ist nichts Endgültiges, denn auch das gesamte Wachstum 
des einzelnen über die Erwachsenenzeit bis ins hohe Alter - 
wobei wiederum manche Teile sich schneller entwickeln als 
andere - sollte man eigentlich als Fortsetzung der Entwick- 
lung des Embryos ansehen: Embryologie total. 

Die Unterschiede zwischen den Individuen beruhen auf 

quantitativen Unterschieden in ihrer gesamten Embryologie. 
Eine Zellschicht wächst ein wenig länger, bevor sie sich zu- 
rückfaltet, und das Ergebnis ist - was? - eine Adlernase an- 
stelle eines Stupsnäschens; Plattfüße, die einem vielleicht das 
Leben retten könnten, weil sie einen vor dem Militärdienst 
bewahren; eine besondere Form des Schulterblattes, die zu 
einer besonderen Begabung für den Speerwurf führt (oder 
gegebenenfalls für das Werfen von Handgranaten oder Krik- 
ketbällen). Manchmal haben einzelne Abweichungen im Ori- 
gami der Zellschichten tragische Folgen, zum Beispiel, wenn 
ein Baby mit Armstummeln und ohne Hände geboren wird. 
Nicht weniger wichtig sind die Folgen individueller Unter- 
schiede, die sich nicht im Origami der Zellschichten, sondern 
rein chemisch zeigen: die Unfähigkeit, Milch zu verdauen, 
eine homosexuelle Veranlagung, eine Allergie gegen Erd- 
nüsse oder die Empfindung, daß Mangos entsetzlich nach 
Terpentin schmecken. 

Die Entwicklung des Embryos ist ein höchst komplizierter 

chemischer und physikalischer Vorgang. Eine winzige Verän- 
derung an einer beliebigen Stelle kann im weiteren Verlauf 

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40 

beachtliche Folgen haben. Das ist nicht verwunderlich, wenn 
man daran denkt, wie stark alles von der Ureingabe abhängt. 
Viele Unterschiede in der Entwicklung des einzelnen Lebewe- 
sens gehen auf unterschiedliche Umweltbedingungen zurück, 
beispielsweise auf Sauerstoffmangel oder die Einwirkung von 
Thalidomid (Contergan). Eine Vielzahl weiterer Unterschiede 
beruhen auf genetischen Abweichungen - nicht nur in einzel- 
nen Genen, sondern auch in ihren Wechselbeziehungen un- 
tereinander und mit der Umwelt. Ein derart komplizierter, 
kaleidoskopartiger, auf verzwickte Weise wechselseitig von 
Ureingaben abhängiger Vorgang wie die Entwicklung des Em- 
bryos ist robust und empfindlich zugleich. Robust ist er, weil 
er viele mögliche Veränderungen auffangen kann, so daß auch 
bei scheinbar übermächtigen Widrigkeiten noch ein lebendes 
Baby entsteht. Gleichzeitig ist er aber gegenüber Veränderun- 
gen so empfindlich, daß zwei Individuen, sogar eineiige Zwil- 
linge, sich niemals in allen ihren Eigenschaften völlig glei- 
chen. 

Damit sind wir bei dem Punkt angelangt, um den es mir bei 

alledem geht. Soweit die Unterschiede zwischen Individuen 
auf die Gene zurückgehen (was in größerem oder geringerem 
Umfang der Fall sein kann), begünstigt die natürliche Selek- 
tion unter Umständen besondere Launen des embryologi- 
schen Origami oder der embryologischen Chemie, während 
andere beeinträchtigt werden. Soweit der Wurfarm von den 
Genen beeinflußt ist, kann die natürliche Selektion ihn bevor- 
zugen oder benachteiligen. Wenn die Fähigkeit zum Werfen 
auch nur geringfügige Auswirkungen auf die Wahrscheinlich- 
keit hat, daß das betreffende Individuum lange genug lebt, um 
Kinder zu haben, und wenn die Werferqualitäten in einem 
gewissen Umfang von den Genen bestimmt werden, haben 
diese Gene eine entsprechend größere Chance, in die nächste 
Generation zu gelangen. Jedes einzelne Individuum kann aus 
Gründen sterben, die nichts mit der Fähigkeit zu werfen zu 

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41 

tun haben. Aber ein Gen, das, wenn es vorhanden ist, zu 
besseren Werferqualitäten führt, ist über viele Generationen 
hinweg in zahlreichen guten und schlechten Körpern zu 
Hause. Vom Standpunkt dieses einzelnen Gens heben sich die 
anderen Todesursachen gegenseitig auf. Aus seiner Perspek- 
tive gibt es nur die langfristige Aussicht auf den DNA-Fluß, der 
durch die Generationen fließt und nur vorübergehend in 
bestimmten Körpern verweilt, nur vorübergehend einen Kör- 
per mit Genkameraden teilt, die mehr oder weniger erfolg- 
reich sein können. 

Auf lange Sicht füllt sich der Fluß mit Genen, die aus ver- 

schiedenen Gründen gut für das Überleben geeignet sind: 
weil sie die Fähigkeit zum Speerwerfen ein wenig verbessern, 
weil sie das Schmecken von Giften erleichtern, oder was es 
auch sonst sein mag. Gene, die im Durchschnitt weniger gut 
zum Überleben beitragen - vielleicht, weil sie zum Astigmatis- 
mus führen, so daß ihre aufeinanderfolgenden Körper 
schlechtere Speerwerfer sind, oder weil sie ihre aufeinander- 
folgenden Körper weniger attraktiv machen, so daß sie schwe- 
rer einen Partner finden - werden aus dem Fluß der Gene 
verschwinden. Bei alledem muß man daran denken, was ich 
zuvor gesagt habe: In dem Fluß bleiben diejenigen Gene 
erhalten, die in der durchschnittlichen Umwelt der jeweiligen 
Art gut für das Überleben sind. Vielleicht der wichtigste Aspekt 
dieser Umwelt sind die anderen Gene der Art; Gene, mit 
denen ein Gen sich seinen Körper teilen muß; die anderen 
Gene, die mit ihm in demselben Fluß durch die geologischen 
Zeiträume schwimmen. 

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42 

 

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43 

Mutter Afrika und ihre 

Kinder 

Oft hält sich jemand für besonders scharfsinnig, wenn er 
behauptet, die Wissenschaft sei nichts anderes als unser mo- 
derner Schöpfungsmythos. Die Juden hatten Adam und Eva, 
die Sumerer Marduk und Gilgamesch, die Griechen Zeus und 
und die olympischen Götter, die Nordländer Walhalla. Was ist 
die Evolution anderes, so sagen ein paar kluge Leute, als unser 
modernes Pendant zu Göttern und Helden, nicht besser und 
nicht schlechter, nicht richtiger und nicht falscher. Es gibt eine 
modische Salonphilosophie, die sich kultureller Relativismus 
nennt; in ihrer extremen Form behauptet sie, die Naturwissen- 
schaft habe soviel Wahrheitsgehalt wie ein Stammesmythos: 
Sie sei schlicht der Mythos, den unser abendländischer Stamm 
bevorzuge. Einmal provozierte mich ein Anthropologe dazu, 
die Sache folgendermaßen auf den Punkt zu bringen: »Ange- 
nommen«, so sagte ich, »ein Naturvolk hält den Mond für eine 
alte Kalebasse, die in den Himmel geworfen wurde und knapp 
außerhalb der eigenen Reichweite über den Baumwipfeln 
hängt. Behaupten Sie wirklich, daß unsere wissenschaftliche 
Wahrheit - der Mond ist etwa 350.000 Kilometer entfernt und 
hat ein Viertel des Erddurchmessers - nicht wahrer ist als die 
Geschichte von der Kalebasse?« - »Ja«, sagte der Anthropo-

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44 

loge. »Nur sind wir in einer Kultur aufgewachsen, in der man 
die Welt mit wissenschaftlichen Augen sieht. Diese Leute ha- 
ben gelernt, sie auf andere Weise zu betrachten. Keine der 
beiden Arten ist wahrer als die andere.« 

Zeige mir einen kulturellen Relativisten in zehntausend 

Metern Höhe, und ich zeige dir einen Heuchler. Flugzeuge, 
die nach wissenschaftlichen Prinzipien gebaut werden, funk- 
tionieren. Sie bleiben in der Luft, und man gelangt mit ihnen 
an den gewünschten Bestimmungsort. Flugzeuge, die nach 
Stammestraditionen oder mythischen Vorgaben gebaut wer- 
den wie die Flugzeugattrappen oder Südseekulturen auf 
Dschungellichtungen oder die mit Bienenwachs befestigten 
Schwingen des Ikarus, funktionieren nicht.* Wer zu einer 
Anthropologen- oder Literaturkritikertagung fliegt, kommt 
dort höchstwahrscheinlich auch an, und daß das geschieht 
und man nicht in den nächsten umgepflügten Acker stürzt, 
liegt nur daran, daß viele in westlicher Wissenschaft ausgebil- 
dete Ingenieure richtig gerechnet haben. Auf der Grundlage 
überzeugender Beweise, daß der Mond die Erde in einem 
Abstand von 350.000 Kilometern umkreist, und mit Hilfe im 
Abendland konstruierter Computer und Raketen ist es der 
abendländischen Wissenschaft gelungen, einen Menschen auf 
den Mond zu bringen. Die Wissenschaft der Naturvölker, für 
 

* Es war nicht das erste Mal, daß ich diese Holzhammermethode benutzt habe. 

Ich muß betonen, daß sie ausschließlich auf Leute gemünzt ist, die so denken 
wie der Anthropologe über die Kalebasse. Andere bezeichnen sich verwirren- 
derweise ebenfalls als Vertreter des kulturellen Relativismus, haben aber ganz 
andere und völlig vernünftige Ansichten. Für sie bedeutet kultureller Relativis- 
mus nur, daß man eine Kultur nicht verstehen kann, wenn man sie in den 
Begriffen des eigenen Kulturkreises interpretiert. Man muß die Überzeugun- 
gen jeder Kultur im Zusammenhang ihrer übrigen Überzeugungen betrachten. 
Diese vernünftige Form des kulturellen Relativismus ist nach meiner Ver- 
mutung die ursprüngliche, und was ich kritisiert habe, dürfte eine extreme, 
allerdings beunruhigend verbreitete Perversion davon sein. Vernünftige Relati- 
visten sollten sich stärker darum bemühen, sich von dieser einfältigen Art zu 
distanzieren.

 

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45 

die der Mond über den Baumwipfeln hängt, wird ihn außer- 
halb ihrer Träume nie erreichen. 

Ich halte kaum einmal einen öffentlichen Vortrag, ohne daß 

jemand aus dem Publikum sehr gescheit ähnliche Argumente 
anführt wie der genannte Anthropologe, und die Folge ist in 
der Regel ein Gemurmel und Nicken der Zustimmung. Die 
Nickenden halten sich zweifellos für gut und liberal und un- 
rassistisch. Ein noch zuverlässigerer Nickauslöser ist der Satz 
»Im Grunde ist Ihre Überzeugung, daß es die Evolution gibt, 
eine Glaubensfrage, und deshalb ist sie nicht besser, als wenn 
ein anderer an das Paradies glaubt«. 

Jeder Kulturkreis hat seinen Schöpfungsmythos, seine Ge- 

schichte zur Erklärung von Universum, Leben und Mensch- 
heit. In einem gewissen Sinn bietet die Wissenschaft tatsäch- 
lich etwas Entsprechendes, zumindest für den gebildeten Teil 
unserer abendländischen Gesellschaft. Man kann die Natur- 
wissenschaft sogar als Religion bezeichnen, und ich habe mich 
einmal, nicht nur im Spaß, in einer kurzen öffentlichen Erklä- 
rung dafür ausgesprochen, naturwissenschaftliche Themen 
im Religionsunterricht zu behandeln.* (In Großbritannien ist 
Religion ein reguläres Schulfach, im Gegensatz zu den Verei- 
nigten Staaten, wo man es aus Angst, die Vielzahl der unverein- 
baren Glaubensrichtungen zu verletzen, verboten hat.) Die 
Naturwissenschaft hat mit der Religion eines gemeinsam: 
Beide erheben den Anspruch, die schwierigen Fragen nach 
Ursprung und Wesen des Lebendigen sowie nach dem Univer- 
sum zu beantworten. Aber damit ist die Ähnlichkeit auch 
schon zu Ende. Naturwissenschaftliche Überzeugungen wer- 
den durch Beobachtungen gestützt und führen zu Ergebnis- 
sen. Bei Mythen und religiösem Glauben ist das nicht der Fall. 

Unter allen Schöpfungsmythen ist die jüdische Geschichte 

vom Garten Eden so tief in unserer Kultur verwurzelt, daß sie 
 

The Spectator (London), 6. August 1994. 

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46 

auch einer wichtigen wissenschaftlichen Theorie über unsere 
Vorfahren den Namen gegeben hat: der Theorie von der »afri- 
kanischen Eva«. Ihr widme ich dieses Kapitel, unter anderem, 
weil ich mit ihrer Hilfe den Vergleich mit dem DNA-Fluß weiter- 
entwickeln kann, aber auch weil ich sie als naturwissenschaft- 
liche Hypothese der mythischen Urmutter im Garten Eden ge- 
genüberstellen will. Wenn das gelingt, wird die Wahrheit inter- 
essanter und vielleicht sogar poetisch bewegender erscheinen 
als der Mythos. Ich beginne mit einer Übung in reinem logi- 
schen Denken. Wozu sie gut ist, wird bald deutlich werden. 

Jeder Mensch hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroß- 

eltern und so weiter. Die Zahl der Vorfahren verdoppelt sich 
mit jeder Generation. Geht man um g  Generationen zurück, 
ist die Zahl der Vorfahren 2, mal mit sich selbst multipliziert: 
2 hoch g.  Nur ist es so, daß man ohne viel Mühe erkennt: so 
kann es nicht sein. Um uns davon zu überzeugen, müssen wir 
nur ein wenig in der Zeit zurückgehen, beispielsweise bis in 
die Tage Jesu vor genau zweitausend Jahren. Unterstellt man 
vorsichtig vier Generationen je Jahrhunden - das heißt, die 
Menschen zeugen mit fünfundzwanzig Jahren ihre Nachkom- 
men -, machen zweitausend Jahre gerade achtzig Generatio- 
nen aus. In Wirklichkeit ist diese Zahl wahrscheinlich größer 
(bis vor kurzer Zeit bekamen Frauen in sehr jungen Jahren das 
erste Kind), aber es ist nur eine theoretische Berechnung, und 
das Entscheidende wird auch ohne solche Einzelheiten deut- 
lich. Multipliziert man die Zwei achtzigmal mit sich selbst, 
gelangt man zu einer beeindruckenden Zahl, nämlich zu einer 
Eins mit 24 Nullen. Jeder von uns hatte zu Zeiten Jesu eine 
Million Millionen Millionen Millionen Vorfahren! Aber die 
gesamte Weltbevölkerung war zu jener Zeit nur ein Bruchteil 
eines winzigen Bruchteils der Zahl, die wir gerade für unsere 
Vorfahren berechnet haben. 

Irgendwo haben wir offensichtlich etwas falsch gemacht, 

aber wo? Wir haben richtig gerechnet. Der einzige Fehler liegt 

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47 

in der Annahme, daß die Zahl sich in jeder Generation verdop- 
pelt. Wir haben vergessen, daß auch Cousin und Cousine 
heiraten. Ich habe angenommen, daß wir acht Urgroßeltern 
haben, aber jedes Kind aus einer Ehe von Cousin und Cousine 
ersten Grades hat nur sechs Urgroßeltern, denn die gemein- 
samen Großeltern der Eheleute sind auf zweierlei Weise die 
Urgroßeltern der Kinder. Jetzt fragt sich mancher vielleicht: 
»Na und?« Manche Leute heiraten ihre Cousine (Emma Wedg- 
wood, Charles Darwins Frau, war seine Cousine ersten Gra- 
des), aber das kommt doch sicher nicht so oft vor, daß es eine 
große Rolle spielt? Doch, das tut es sehr wohl, denn »Cousin 
und Cousine« bedeutet in unserem Zusammenhang auch 
Cousin und Cousine zweiten Grades, fünften Grades, sech- 
zehnten Grades und so weiter. Wenn man derart entfernte 
Verwandte mitzählt, ist jede Ehe eine Ehe zwischen Cousin 
und Cousine. Manchmal hört man, wie Leute sich brüsten, sie 
seien entfernte Verwandte der englischen Königin, aber das ist 
ziemliche Angeberei, denn wir sind alle  entfernte Verwandte 
der Queen und auch jedes anderen Menschen, und zwar auf 
mehr Wegen, als daß man es jemals im einzelnen nachvollzie- 
hen könnte. Das einzige Besondere an Königshäusern und 
Adligen besteht darin, daß sie ihre Abstammung tatsächlich 
zurückverfolgen können. Als der vierzehnte Earl of Home 
wegen seines Titels von einem politischen Gegner verspottet 
wurde, erwiderte er: »Ich nehme an, wenn Mr. Wilson wirk- 
lich darüber nachdenkt, ist er der vierzehnte Mr. Wilson.« 

Die Quintessenz aus alledem lautet: Wir sind viel engere 

Cousins und Cousinen, als uns normalerweise klar ist, und wir 
haben viel weniger Vorfahren, als einfache Berechnungen 
vermuten lassen. Einmal wollte ich eine Studentin dazu bewe- 
gen, ihre Überlegungen in diese Richtung zu lenken, und bat 
sie um eine begründete Schätzung für die Zeit, als ihr und 
mein letzter gemeinsamer Vorfahr lebte. Sie sah mir unver- 
wandt ins Gesicht und erwiderte, ohne zu zögern, in schlep- 

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48 

pendem, bäuerlichem Tonfall: »Damals bei den Affen.« Das 
war zwar ein verzeihlicher spontaner Lapsus, aber sie lag 
damit um ungefähr zehntausend Prozent falsch. Es würde eine 
Trennung von mehreren Millionen Jahren bedeuten. Die 
Wahrheit ist, daß unser letzter gemeinsamer Vorfahr mög- 
licherweise vor nicht mehr als ein paar Jahrhunderten gelebt 
hat, vermutlich ein gutes Stück nach Wilhelm dem Eroberer. 
Und außerdem sind wir mit Sicherheit auf vielerlei Weise 
Cousin und Cousine. 

Die Vorstellung von den Ahnen, die zu der fehlerhaft aufge- 

blähten Berechnung führte, gründet sich auf das Bild des 
Stammbaums, der sich immer und immer wieder verzweigt. 
Ebenso falsch ist das auf den Kopf gestellte Modell eines 
Baumes von Nachkommen. Ein Mensch hat im typischen Fall 
zwei Kinder, vier Enkel, acht Urenkel und so weiter bis hin zu 
den unmöglichen Billionen Nachkommen in ein paar Jahr- 
hunderten. Ein viel realistischeres Bild von Vorfahren und 
Nachkommen ist das von dem Fluß der Gene, das ich im 
vorangegangenen Kapitel eingeführt habe. Die Gene sind ein 
ständig wogender Strom, der zwischen seinen Ufern durch 
die Zeit fließt. Wenn die Gene in ihm hin und her schwimmen, 
wirbeln die Strömungen auseinander und vereinigen sich 
wieder. An Stellen, die am Fluß entlang verteilt sind, holen wir 
immer wieder einen Eimer voll heraus. Die Molekülpaare in 
einem solchen Eimer waren auf ihrem Weg im Fluß schon 
früher Kameraden und werden es auch später wieder sein. Sie 
waren in der Vergangenheit auch schon weit getrennt, und 
auch das wird in Zukunft wieder eintreten. Die Berührungs- 
punkte im einzelnen zurückzuverfolgen, ist schwierig, aber 
aus mathematischer Sicht können wir sicher sein, daß es 
solche Berührungen gibt. Wenn zwei Gene an einem be- 
stimmten Punkt keinen Kontakt haben, ist mathematisch gesi- 
chert, daß wir in beiden Richtungen nicht allzuweit gehen 
müssen, bis sie sich wieder treffen. 

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49 

Eine Frau weiß vielleicht nicht, daß sie die Cousine ihres Ehe- 

mannes ist, aber nach der statistischen Wahrscheinlichkeit 
müssen die beiden ihre Ahnenreihe nicht besonders weit 
zurückverfolgen, um auf eine Verbindung zu stoßen. Blickt 
man in die Zukunft, erscheint es offenkundig, daß die beiden 
mit großer Wahrscheinlichkeit gemeinsame Nachkommen ha- 
ben werden. Aber hier gibt es einen viel interessanteren Ge- 
danken. Wenn Sie das nächste Mal unter vielen Menschen sind 
- beispielsweise in einem Konzert oder bei einem Fußball- 
spiel -, sehen Sie sich im Publikum um und überlegen Sie 
folgendes: Wenn Sie in ferner Zukunft überhaupt Nachkom- 
men haben, sind in dem Konzert wahrscheinlich noch andere, 
denen Sie als Vorfahren gemeinsamer Nachkommen die Hand 
schütteln können. Die Großeltern wissen in der Regel, daß sie 
gemeinsame Enkelkinder haben, und es muß ihnen ein gewis- 
ses Gefühl der Verbundenheit vermitteln, ob sie nun persön- 
lich gut miteinander auskommen oder nicht. Sie können sich 
ansehen und sagen: »Nun ja, ich mag ihn nicht besonders, aber 
seine DNA hat sich in unserem gemeinsamen Enkel mit mei- 
ner vermischt, und wir können hoffen, daß wir auch in Zu- 
kunft, wenn es uns längst nicht mehr gibt, gemeinsame Nach- 
kommen haben. Das schafft sicher eine Verbindung zwischen 
uns.« Worauf ich aber hinauswill: Wenn man überhaupt mit 
entfernten Nachkommen gesegnet ist, wird irgendein völlig 
Fremder in dem Konzertsaal ebenfalls ein Vorfahr dieser 
Nachkommen sein. Man kann das Publikum mustern und 
darüber spekulieren, welche Männer oder Frauen dazu be- 
stimmt sind, die Nachkommen mit einem selbst zu teilen. Sie 
und ich, wer Sie auch sind, welches Geschlecht und welche 
Hautfarbe Sie auch haben, könnten gemeinsame Vorfahren 
sein. Vielleicht ist Ihre DNA dazu bestimmt, sich mit meiner zu 
vermischen. Seien Sie gegrüßt! 

Reisen wir nun einmal mit einer Zeitmaschine in die Ver- 

gangenheit, vielleicht zu der Menschenmenge im Kolosseum, 

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50 

zu einem Markt in Ur, oder noch weiter zurück. Sehen wir uns 
wieder die Menschen an, wie wir es mit dem Konzertpubli- 
kum in der Gegenwart getan haben. Machen wir uns klar, daß 
wir diese längst verstorbenen Menschen in zwei und nur zwei 
Gruppen einteilen können: diejenigen, die unsere Vorfahren 
sind, und diejenigen, von denen wir nicht abstammen. Das ist 
recht naheliegend, aber jetzt sind wir bei einer bemerkens- 
werten Tatsache. Hat die Zeitmaschine uns weit genug in die 
Vergangenheit befördert, können wir bei den Menschen un- 
terscheiden zwischen denjenigen, die die Vorfahren aller 
1995 lebenden Menschen sind, und jenen anderen, die 1995 
die Vorfahren von niemandem sind. Dazwischen gibt es 
nichts. Jede Person, die man erblickt, wenn man aus der 
Zeitmaschine tritt, ist entweder ein Vorfahr aller Menschen 
oder kein Vorfahr von irgend jemandem. 

Das ist ein fesselnder Gedanke, der aber ganz einfach zu 

beweisen ist. Man muß sich mit der gedachten Zeitmaschine 
nur grotesk weit zurückversetzen, beispielsweise in die Zeit 
vor dreihundertfünfzig Millionen Jahren, als unsere Vorfahren 
Fische mit lappenförmigen Flossen und einer Lunge waren, 
die aus dem Wasser stiegen und zu Amphibien wurden. Wenn 
ein bestimmter Fisch mein Vorfahr war, ist es unvorstellbar, 
daß er nicht auch der Vorfahr aller anderen Menschen ist. 
Wäre es anders, würde das bedeuten, daß die Abstammungsli- 
nien, die zu mir und zu einem anderen Menschen geführt 
haben, unabhängig voneinander und ohne Querverbindun- 
gen entstanden sind, vom Fisch über Amphibien, Reptilien, 
Säugetiere, Primaten, Menschenaffen und Hominiden, und am 
Ende wäre etwas so Ähnliches herausgekommen, daß wir 
miteinander reden und, wenn wir unterschiedlichen Ge- 
schlechts sind, uns miteinander paaren können. Und das glei- 
che gilt auch für jedes andere beliebige Paar von Menschen. 

Es ist also bewiesen: Wenn wir in der Zeit weit genug 

zurückgehen, muß jedes Individuum, auf das wir treffen, ent- 

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51 

weder ein Vorfahr von uns allen oder von niemandem sein. 
Aber wie weit zurück ist weit genug? Offenbar brauchen wir 
nicht bis zu den Fischen mit lappenförmigen Flossen zurück- 
zugehen - das war die reductio ad absurdum -, aber wie weit 
müssen wir uns wirklich in die Vergangenheit begeben, damit 
wir auf den allgemeinen Vorfahren aller 1996 lebenden Men- 
schen treffen? Das ist eine viel schwierigere Frage, und ihr 
möchte ich mich als nächstes zuwenden. Sie läßt sich nicht 
theoretisch beantworten. Wir brauchen dazu echte Informa- 
tionen, Messungen aus der nüchternen Welt bestimmter Tat- 
sachen. 

Sir Ronald Fisher, der englische Genetiker und Mathe- 

matiker, in dem man sowohl Darwins wichtigsten Nachfolger 
im 20. Jahrhundert als auch den Vater der modernen Statistik 
sehen kann, traf 1930 die folgende Feststellung: 

Die geographischen und anderen Hindernisse für den Ge- 

schlechtsverkehr zwischen verschiedenen Rassen... sind das 
einzige, was verhindert hat, daß die gesamte Menschheit, von 
den letzten paar tausend Jahren abgesehen, die gleichen Vor- 
fahren hat. Angehörige der gleichen Nation unterscheiden 
sich in ihrer Abstammung jenseits der letzten fünfhundert 
Jahre unter Umständen kaum; bei zweitausend Jahren bleiben 
offenbar als einzige Unterschiede die zwischen den ethnogra- 
phischen Rassen; diese... dürften tatsächlich sehr alt sein; 
aber das war über so lange Epochen hinweg nur möglich, 
wenn es praktisch keine Vermischung des Blutes zwischen 
den getrennten Gruppen gab. 

Im Sinne unserer Flußanalogie bezieht Fisher sich eigentlich 

auf die Tatsache, daß die Gene aller Angehörigen einer geo- 
graphisch zusammengehörenden Rasse in demselben Fluß 
schwimmen. Was aber die genauen Zahlen anging - fünfhun- 
dert Jahre, zweitausend Jahre, das enorme Alter der Trennung 
verschiedener Rassen -, so war Fisher auf begründete Ver- 
mutungen angewiesen. Die einschlägigen Tatsachen kannte 

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52 

man zu seiner Zeit noch nicht. Heute, nach der molekularbio- 
logischen Revolution, stehen sie in Hülle und Fülle zur Verfü- 
gung. Die Molekularbiologie hat uns die charismatische afri- 
kanische Eva beschert. 

Man hat sich neben dem digitalen Fluß auch anderer Meta- 

phern bedient. So liegt es nahe, die DNA jedes Menschen mit 
einer Familienbibel zu vergleichen. Die DNA ist ein sehr 
langer Text, der, wie wir gesehen haben, in einem Alphabet 
aus vier Buchstaben geschrieben ist. Diese Buchstaben wur- 
den von unseren Vorfahren und nur von unseren Vorfahren 
peinlich genau abgeschrieben, mit bemerkenswerter Origi- 
naltreue sogar im Falle sehr weit entfernter Vorfahren. Durch 
den Vergleich der in verschiedenen Menschen erhalten ge- 
bliebenen Texte sollte es deshalb möglich sein, ihre Ver- 
wandtschaftsverhältnisse zu rekonstruieren und einen ge- 
meinsamen Vorfahren ausfindig zu machen. 

Entfernte Vettern, beispielsweise Norweger und australi- 

sche Aborigines, deren DNA mehr Zeit für die Auseinander- 
entwicklung hatte, sollten sich in mehr Wörtern unterschei- 
den. Ähnlich verfahren die Gelehrten mit den verschiedenen 
Versionen biblischer Texte. Bei der DNA hat die Sache leider 
einen Haken, und der heißt Sexualität. 

Die Sexualität ist der Alptraum eines Archivars. Anstatt die 

alten Texte, mit Ausnahme eines gelegentlichen unvermeidli- 
chen Fehlers, unverändert zu lassen, greift sie mutwillig und 
energisch ein und zerstört die Indizien. Kein Elefant hat jemals 
einen Porzellanladen so verwüstet wie die Sexualität die DNA- 
Archive. In der Bibelwissenschaft gibt es so etwas nicht. Zuge- 
gebenermaßen merkt auch ein Gelehrter, der beispielsweise 
die Ursprünge vom Hohenlied Salomons aufspüren will, daß 
der Text nicht ganz das ist, was er zu sein scheint. Das Lied 
enthält seltsame, zusammenhanglose Stellen, die darauf 
schließen lassen, daß es sich in Wirklichkeit um Bruchstücke 
mehrerer verschiedener Gedichte handelt, von denen nur ein 

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53 

Teil erotisch war und die zusammengeflickt wurden. Und es 
enthält Fehler - Mutationen -, insbesondere in der Überset- 
zung. »Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die 
Weinberge verderben« ist eine falsche Übersetzung, an deren 
sprachlichen Reiz aber das richtigere »Fangt uns die Fleder- 
mäuse, die kleinen Fledermäuse...« nicht heranreicht. Aber 
das sind kleinere Fehler, unvermeidliche geringfügige Verzer- 
rungen, mit denen man immer rechnen muß, wenn Texte 
nicht tausendfach gedruckt oder in Computerdiscs geätzt, son- 
dern von menschlichen Schreibern immer wieder von einem 
verschlissenen, verletzlichen Papyrus auf den anderen über- 
tragen werden. 

Aber jetzt kommt die Sexualität ins Spiel. (Nein, in dem 

Sinne, der hier gemeint ist, kommt Sexualität im Lied der 
Lieder nicht vor.) Die Sexualität, die ich meine, bedeutet 
nichts anderes, als daß man ein Dokument zur Hälfte in 
kleine, zufällige Schnipsel zerreißt und mit der zweiten 
Hälfte eines ebenso kleingehackten Dokuments vermischt. 
So unglaublich und sogar barbarisch das klingt, nichts ande- 
res geschieht bei der Entstehung einer Geschlechtszelle. 
Wenn sich beispielsweise in einem Mann eine Samenzelle 
bildet, paaren sich die Chromosomen, die er von seinem 
Vater und seiner Mutter geerbt hat, und große Brocken von 
ihnen tauschen die Plätze. Die Chromosomen eines Kindes 
sind ein unentwirrbarer Mischmasch aus den Chromosomen 
seiner Großeltern und weiter zurück bis zu denen der ent- 
ferntesten Vorfahren. Von den künftig alten Texten können 
die Buchstaben und vielleicht die Wörter über die Generatio- 
nen hinweg erhalten bleiben. Aber Kapitel, Seiten, sogar ein- 
zelne Abschnitte werden auseinandergerissen und mit einer 
so rücksichtslosen Effizienz neu zusammengesetzt, daß sie 
als Mittel zur historischen Spurensuche fast nutzlos sind. Was 
die Geschichte der Vorfahren angeht, ist Sexualität die große 
Verschleierung. 

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54 

Man kann anhand der DNA-Archive immer dann die Vergan- 

genheit rekonstruieren, wenn Sexualität mit Sicherheit nicht 
im Spiel war. Mir fallen dazu zwei wichtige Beispiele ein. Das 
eine ist die afrikanische Eva - auf sie komme ich noch zu 
sprechen. Das andere betrifft die Rekonstruktion der weiter 
zurückliegenden Abstammung, bei der man Verwandtschafts- 
verhältnisse nicht innerhalb einzelner Arten, sondern zwi- 
schen ihnen betrachtet. 

Wenn eine Ausgangsart eine neue Art hervorbringt, teilt sich 

der Genfluß in zwei Arme. Nachdem sie sich ausreichend 
lange voneinander entfernt haben, ist die sexuelle Vermi- 
schung innerhalb des Flusses keineswegs ein Hindernis für 
den genetischen Archivar, sondern sie hilft sogar bei der 
Rekonstruktion der Abstammungs- und Verwandtschaftsver- 
hältnisse zwischen den Arten. Nur bei den Verwandtschaftsbe- 
ziehungen innerhalb einer Art bringt Sexualität die Indizien 
durcheinander. Geht es dagegen um die Beziehungen zwi- 
schen verschiedenen Arten, ist sie eine Hilfe, denn sie sorgt 
ganz automatisch dafür, daß jedes Individuum genetisch ein 
repräsentatives Beispiel für die gesamte Art darstellt. Welches 
Wasser man mit dem Eimer aus einem gut durchgemischten 
Fluß schöpft, spielt keine Rolle: Es ist immer repräsentativ für 
alles Wasser dieses Flusses. 

Man hat tatsächlich die DNA-Texte von Vertretern verschie- 

dener Arten Buchstabe für Buchstabe verglichen und auf diese 
Weise sehr erfolgreich Artenstammbäume konstruiert. Einer 
einflußreichen wissenschaftlichen Schule zufolge, kann man 
den Verzweigungsstellen sogar Zeitpunkte zuordnen. Diese 
Möglichkeit ergibt sich aus der allerdings noch umstrittenen 
Vorstellung von einer »molekularen Uhr«: Man nimmt an, daß 
Mutationen in jedem beliebigen Abschnitt des genetischen 
Textes sich mit gleichbleibender Häufigkeit pro Jahrmillion 
ereignen. Wir werden in Kürze auf die Hypothese von der 
molekularen Uhr zurückkommen. 

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55 

Der »Abschnitt« in unseren Genen, der ein Protein namens 

Cytochrom c beschreibt, hat eine Länge von 339 Buchstaben. 
Das Cytochrom c des Menschen unterscheidet sich durch 
zwölf veränderte Buchstaben vom Cytochrom c der Pferde, 
die mit uns nur ziemlich entfernt verwandt sind. Nur die 
Veränderung eines Buchstabens trennt uns von den Affen 
(unseren recht nahen Verwandten), ein einziger anderer 
Buchstabe trennt auch Pferde und Esel (recht nahe Ver- 
wandte), und drei veränderte Buchstaben wiederum unter- 
scheiden Pferde von Schweinen (ihren etwas entfernteren 
Verwandten). 

Zwischen Menschen und Hefe liegen fünfundvierzig verän- 

derte Buchstaben, und die gleiche Zahl von Veränderungen 
trennt auch Schweine von Hefe. Daß diese beiden Zahlen 
gleich sind, ist nicht verwunderlich, denn wenn wir den zum 
Menschen führenden Fluß zurückverfolgen, vereinigt er sich 
zunächst mit dem zu den Schweinen führenden Strom, und 
erst in viel entfernterer Vergangenheit vereinigt sich dieser 
gemeinsame Fluß mit dem, der zur Hefe fließt. Dennoch gibt 
es in den Zahlen kleine Ungenauigkeiten. Vergleicht man das 
Cytochrom c von Pferden und Hefe, sind nicht fünfundvierzig, 
sonden sechsundvierzig Buchstaben anders. Das bedeutet 
nicht, daß Schweine mit der Hefe enger verwandt wären als 
Pferde. Der Abstand ist genau gleich groß, denn beide sind 
Wirbeltiere - und überhaupt Tiere. 

Die zusätzliche Veränderung hat sich in die Abstammungs- 

linie der Pferde möglicherweise erst recht spät eingeschlichen, 
zur Zeit des letzten Vorfahren, den sie mit den Schweinen 
gemeinsam hatten. Aber das ist im Grunde nicht so wichtig. 
Insgesamt entspricht die Zahl der veränderten Buchstaben im 
Cytochrom c zwischen verschiedenen Lebewesen ziemlich 
genau dem, was man nach der zuvor beschriebenen Vorstel- 
lung von der Verzweigung des Evolutionsbaumes erwarten 
würde. 

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56 

Wie bereits erwähnt, macht ein Textabschnitt nach der Theo- 

rie von der molekularen Uhr in einer Million Jahren immer 
ungefähr die gleiche Zahl von Veränderungen durch. Von den 
sechsundvierzig Buchstabenabweichungen im Cytochrom c, 
die Hefe und Pferde trennen, ist dieser Annahme zufolge 
die Hälfte während der Evolution vom gemeinsamen Vor- 
fahren zu den heutigen Pferden entstanden, die andere Hälfte 
auf dem Weg vom gemeinsamen Vorfahren zur heutigen 
Hefe (zur Vollendung der beiden Evolutionswege war natür- 
lich die gleiche Zahl von Jahrmillionen notwendig). Diese 
Annahme erscheint zunächst verblüffend. Immerhin ähnelte 
der gemeinsame Vorfahr der heutigen Hefe wahrscheinlich 
mehr als einem Pferd. Die Lösung liegt in einer Vermutung, 
die zuerst von dem angesehenen japanischen Genetiker Mo- 
too Kimura vertreten wurde und sich mittlerweile allgemein 
durchgesetzt hat: Danach kann sich der größte Teil des geneti- 
schen Textes beliebig verändern, ohne daß das seine Bedeu- 
tung beeinflußt. 

Ein guter Vergleich ist die Abwandlung von Schriftarten in 

einem gedruckten Satz: »Ein Pferd ist ein Säugetier.« »Hefe 
ist  ein Pilz.« Der Sinn dieser Sätze ist deutlich erkennbar, 
obwohl fast jedes Wort in einer anderen Schriftart gedruckt ist. 
Auch die molekulare Uhr tickt über die Jahrmillionen hinweg 
mit dem Äquivalent bedeutungsloser Schriftartveränderun- 
gen. Die Abwandlungen, die der natürlichen Selektion unter- 
worfen werden und den Unterschied zwischen Pferd und 
Hefe bestimmen - die Veränderungen in der Bedeutung  der 
Sätze - sind nur die Spitze des Eisbergs. 

Bei manchen Molekülen tickt die Uhr schneller als bei 

anderen. Das Cytochrom c entwickelt sich relativ langsam: 
Ungefähr alle fünfundzwanzig Millionen Jahre verändert sich 
ein Buchstabe. Das liegt wahrscheinlich daran, daß Cytochrom 
c für das Überleben eines Organismus unentbehrlich ist und 
seine Funktion entscheidend von der genauen Gestalt seiner 

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57 

Moleküle abhängt. Die meisten Abwandlungen solcher »form- 
kritischen« Moleküle werden von der natürlichen Selektion 
nicht toleriert. Andere Proteine, beispielsweise die sogenann- 
ten Fibrinopeptide, sind zwar ebenfalls wichtig, aber sie funk- 
tionieren in vielen verschiedenen Formen gleichermaßen gut. 
Die Fibrinopeptide wirken bei der Blutgerinnung mit und 
lassen sich in vielen Einzelheiten abwandeln, ohne daß das 
ihre nützliche Wirkung beeinträchtigt. Bei diesen Proteinen 
liegt die Mutationsrate bei einer einzigen Veränderung in 
sechshunderttausend Jahren, und damit ist sie um über vier- 
zigmal schneller als beim Cytochrom c. Deshalb eignen sich 
die Fibrinopeptide nicht besonders zur Rekonstruktion alter 
Abstammungslinien; aber zum Nachzeichnen von Verwandt- 
schaftsverhältnissen aus jüngerer Zeit - beispielsweise inner- 
halb der Gruppe der Säugetiere - waren sie sehr nützlich. Es 
gibt Hunderte verschiedene Proteine, die sich jeweils mit 
einer eigenen, charakteristischen Geschwindigkeit pro Jahr- 
million verändern und sich unabhängig voneinander zur Re- 
konstruktion von Stammbäumen eignen. Dabei ergibt sich im 
wesentlichen immer das gleiche Bild von den Abstammungs- 
verhältnissen - auch das übrigens ein recht guter Hinweis 
(falls er noch notwendig sein sollte), daß die Evolutionstheo- 
rie stimmt. 

Ausgangspunkt dieser Erörterung war die Erkenntnis, daß 

Sexualität die historischen Belege durcheinanderbringt. Wir 
haben zwei Wege aufgezeigt, wie man die Auswirkungen der 
Sexualität umgehen kann. Von einem davon war gerade die 
Rede - er ergibt sich aus der Tatsache, daß Sexualität nicht 
zum Genaustausch zwischen verschiedenen Arten führt. Da- 
mit eröffnet sich die Möglichkeit, mit Hilfe der DNA-Sequen- 
zen den Stammbaum unserer weit entfernten Vorfahren zu 
rekonstruieren, die lange vor der Zeit lebten, als wir erkenn- 
bar menschliche Züge annahmen. Aber wenn man so weit in 
die Vergangenheit zurückgeht - darin waren wir uns schon 

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58 

einig -, stammen alle Menschen ohnehin von ein und demsel- 
ben Individuum ab. Wir wollten in Erfahrung bringen, wel- 
ches der späteste Zeitpunkt ist, zu dem wir noch von einer 
gemeinsamen Abstammung aller Menschen ausgehen kön- 
nen. Um das festzustellen, müssen wir uns mit anderen Befun- 
den beschäftigen, die sich aber ebenfalls auf die DNA gründen. 
Hier kommt nun die afrikanische Eva ins Spiel. 

Die afrikanische Eva wird manchmal auch Eva der Mito- 

chondrien genannt. Mitochondrien sind winzige, bonbonför- 
mige Körperchen, die zu Tausenden in jeder unserer Körper- 
zellen herumschwimmen. Sie sind eigentlich hohl, aber in 
ihrem Inneren bilden Membranen ein kompliziertes System 
von Scheidewänden. Die Fläche dieser Wände ist insgesamt 
viel größer, als man nach der äußeren Form der Mitochon- 
drien vermuten würde, und sie wird genutzt. Die Membranen 
sind die Fließbänder einer Fabrik - oder eigentlich eher eines 
Kraftwerkes. An ihnen entlang spielt sich eine genau gesteu- 
erte Reaktionsfolge ab, die mehr Einzelstufen umfaßt als die 
Produktionsprozesse in jeder von Menschen konstruierten 
Fabrik. Das Endprodukt ist Energie, die aus den Nährstoffmo- 
lekülen stammt; sie wird in geregelten Portionen freigesetzt 
und in wiederverwendbarer Form gespeichert, so daß sie 
später bei Bedarf an jeder beliebigen Stelle im Organismus 
verwertet werden kann. Ohne Mitochondrien würden wir 
sofort sterben. 

Das ist die Tätigkeit der Mitochondrien, aber uns geht es 

hier mehr um ihre Herkunft. Ursprünglich, in der Frühzeit der 
Evolution, waren sie Bakterien - so die bemerkenswerte 
Theorie der redegewaltigen Lynn Margulis von der University 
of Massachusetts in Amherst, die für diese anfangs ketzerische 
Idee zunächst widerwilliges Interesse weckte und sie bis zur 
triumphalen und heute fast uneingeschränkten Anerkennung 
führte. Vor zwei Milliarden Jahren waren frei lebende Bakte- 
rien die entfernten Vorfahren der Mitochondrien. Zusammen 

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59 

mit anderen Bakterienarten nisteten sie sich in größeren Zel- 
len ein. Die so entstandene Lebensgemeinschaft »prokaryonti- 
scher« Bakterien wurde zu der heutigen großen »eukaryonti- 
schen« Zelle. Jeder von uns ist eine Gemeinschaft von hundert 
Millionen Millionen voneinander abhängigen Eukaryonten- 
zellen, und jede dieser Zellen ist ihrerseits eine Gemeinschaft 
von Tausenden speziell gezähmter Bakterien, die völlig in der 
Zelle eingeschlossen sind und sich dort wie Bakterien ver- 
mehren. Einer Berechnung zufolge würden alle Mitochon- 
drien eines einzigen Menschen, hintereinander aufgereiht, 
die Erde nicht einmal, sondern zweitausendmal umspannen. 
Jedes Tier und jede Pflanze ist eine riesige Gemeinschaft von 
Gemeinschaften, die in interagierenden Schichten angeord- 
net sind wie ein tropischer Regenwald. Und wie in einem 
Regenwald wimmelt es in dieser Lebensgemeinschaft von 
vielleicht zehn Millionen Arten von Organismen, wobei jedes 
Mitglied einer Art selbst wieder eine Gemeinschaft von Ge- 
meinschaften domestizierter Bakterien darstellt. Dr. Margulis' 
Geschichte von den Ursprüngen - die Zelle als umfriedeter 
Bakteriengarten - ist nicht nur ungleich inspirierender, aufre- 
gender und erhebender als die Geschichte vom Garten Eden. 
Sie hat außerdem den Vorteil, daß sie mit ziemlicher Sicher- 
heit wahr ist. 

Ich gehe heute wie die meisten Biologen von der Annahme 

aus, daß Margulis' Theorie stimmt; in diesem Kapitel erwähne 
ich sie nur, weil daraus etwas ganz Bestimmtes folgt: Mito- 
chondrien besitzen ihre eigene DNA, die wie bei anderen 
Bakterien ein einziges ringförmiges Chromosom bildet. Und 
damit ist der Punkt erreicht, zu dem das alles hinführen sollte: 
Die Mitochondrien-DNA beteiligt sich an keinerlei sexueller 
Vermischung, weder mit der Hauptmenge der DNA in den 
Zellkernen noch mit der DNA anderer Mitochondrien. Die 
Mitochondrien vermehren sich wie viele Bakterien durch ein- 
fache Zweiteilung. Wenn aus einem von ihnen zwei gleichar- 

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60 

tige Tochtermitochondrien werden, erhält jedes davon - ab- 
gesehen von der einen oder anderen seltsamen Mutation - 
eine genaue Kopie des ursprünglichen Chromosoms. Jetzt 
erkennt man, wie schön das unter dem Gesichtspunkt der 
langfristigen Stammbaumforschung ist. Wie wir gesehen ha- 
ben, werden die Indizien in unseren gewöhnlichen DNA- 
Texten in jeder Generation durch die Sexualität durcheinan- 
dergewürfelt, so daß die Beiträge der mütterlichen und väter- 
lichen Linie nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Die Mito- 
chondrien-DNA ist erfreulich zölibatär. 

Unsere Mitochondrien erhalten wir ausschließlich von der 

Mutter. Samenzellen sind sehr klein und enthalten nur wenige 
Mitochondrien, die gerade eben ausreichen, um auf dem Weg 
zur Eizelle die Energie für die Schwimmbewegungen des 
Schwanzes zu liefern; bei der Befruchtung, wenn der Kopf der 
Samenzelle in die Eizelle aufgenommen wird, gehen diese 
Mitochondrien zusammen mit dem Schwanz zugrunde. Die 
Eizelle ist im Vergleich dazu riesengroß; ihr gewaltiger, flüs- 
sigkeitsgefüllter Innenraum enthält eine Fülle von Mitochon- 
drien, die in den Körper des Kindes gelangen. Die Mitochon- 
drien von Männern und Frauen stammen also gleichermaßen 
von diesen anfänglichen, von der Mutter kommen Mitochon- 
drien ab. Und ebenso sind bei Männern und Frauen alle 
Mitochondrien aus den Mitochondrien der Großmutter müt- 
terlicherseits hervorgegangen. Keines davon kommt vom 
Vater, keines von einem der Großväter, keines von der Groß- 
mutter väterlicherseits. Die Mitochondrien sind eigenstän- 
dige Zeugnisse der Vergangenheit, nicht verunreinigt durch 
die Hauptmenge der DNA im Zellkern, die mit gleicher 
Wahrscheinlichkeit von jedem der vier Großeltern stammen 
kann, und ebenso von jedem der acht Urgroßeltern und so 
weiter. 

Die Mitochondrien-DNA ist nicht verunreinigt, aber sie ist 

nicht immun gegen Mutationen, zufällige Kopierfehler. Ganz 

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61 

im Gegenteil: Sie mutiert sogar häufiger als unsere »eigent- 
liche« DNA, denn (wie bei allen Bakterien) fehlt ihr der 
hochentwickelte Apparat zur Fehlerkorrektur, den die Evolu- 
tion im Laufe der Zeit in unseren Zellen hervorgebracht hat. 
In der Mitochondrien-DNA verschiedener Menschen gibt es 
einige Unterschiede, und ihre Zahl ist ein Maß dafür, in 
welch ferner Vergangenheit sich die jeweiligen Abstam- 
mungslinien der Vorfahren getrennt haben. Nicht aller  Vor- 
fahren, sondern der Vorfahren in der weiblichen, weib- 
lichen, weiblichen... Linie. Wenn die Mutter eine reinerbige 
australische Ureinwohnerin oder eine reinerbige Chinesin 
oder eine reinrassige Angehörige der !Kung San aus der Kala- 
hari ist, findet man in ihrer Mitochondrien-DNA eine ganze 
Reihe von Unterschieden zu der einer Europäerin. Wer der 
Vater ist, spielt dabei keine Rolle: Er kann ein englischer Lord 
oder ein Siouxhäuptling sein, die Unterschiede in den Mito- 
chondrien sind immer die gleichen. Und das gleiche gilt für 
alle männlichen Vorfahren aller Zeiten. 

Es gibt also die eigenständigen Apokryphen der Mitochon- 

drien, die zusammen mit der großen Familienbibel weiterge- 
geben werden, aber mit der Besonderheit, daß die Vererbung 
nur über die weibliche Linie erfolgt. Das ist kein sexistischer 
Standpunkt; es wäre genausogut, wenn alles über die männli- 
che Linie verliefe. Der Vorteil liegt darin, daß die DNA unver- 
sehrt bleibt und nicht in jeder Generation auseinandergeris- 
sen und vermischt wird. Zusammenhängende Vererbung 
über eines der beiden Geschlechter, aber nicht über beide: 
Genau das brauchen wir als DNA-Stammbaumforscher. Das Y- 
Chromosom wird - wie bis vor einiger Zeit der Familienname 
- nur über die männliche Linie weitergegeben und würde 
sich deshalb theoretisch ebensogut eignen, aber es enthält zu 
wenig nützliche Information. Die mitochondrialen Apokry- 
phen sind das ideale Mittel zur Datierung gemeinsamer Vor- 
fahren innerhalb einer Art. 

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62 

Mit der Mitochondrien-DNA beschäftigte sich ein Wissen- 

schaftlerteam im kalifornischen Berkeley unter der Leitung 
des verstorbenen Allan Wilson. In den achtziger Jahren analy- 
sierte er zusammen mit seinen Kollegen die Mitochondrien- 
DNA aus einer Stichprobe von 135 Frauen aus der ganzen 
Welt, darunter australische Ureinwohnerinnen, Bewohnerin- 
nen des Hochlandes von Neuguinea, Indianerinnen, Europäe- 
rinnen, Chinesinnen und Angehörige verschiedener afrikani- 
scher Völker. Die Wissenschaftler untersuchten genau, wie 
viele unterschiedliche Buchstaben die einzelnen Frauen 
trennten. Diese Zahlen fütterten sie in einen Computer und 
wiesen ihn an, daraus den sparsamsten Stammbaum abzulei- 
ten. »Sparsam« bedeutet in diesem Zusammenhang, daß man 
mit möglichst geringem Aufwand zur Übereinstimmung ge- 
langt. Das erfordert ein wenig Erklärung. 

Denken wir noch einmal an die zuvor gegebene Beschrei- 

bung von Pferden, Schweinen und Hefe sowie an die Analyse 
der Buchstabenfolge im Cytochrom c. Wie ich dort erläutert 
habe, unterscheiden sich Pferde und Schweine nur in drei 
dieser Buchstaben, zwischen Schwein und Hefe liegen fünf- 
undvierzig, zwischen Pferd und Hefe dagegen sechsundvier- 
zig solche Unterschiede. Die theoretische Aussage, die wir 
daraus abgeleitet haben, lautete: Da Pferde und Schweine 
über einen gemeinsamen Vorfahren, der in relativ junger 
Vergangenheit gelebt hat, verwandt sind, sollten sie von der 
Hefe genau gleich weit entfernt sein. Der Unterschied zwi- 
schen fünfundvierzig und sechsundvierzig ist eine Anomalie, 
die es in einer idealen Welt nicht gäbe. Ihre Ursache kann eine 
zusätzliche Mutation auf dem Weg zu den Pferden oder eine 
umgekehrte Mutation auf dem Weg zu den Schweinen sein. 

Aber so absurd diese Möglichkeit in der Realität auch er- 

scheinen mag: Theoretisch ist es denkbar, daß Schweine mit 
der Hefe näher verwandt sind als mit Pferden. Theoretisch 
wäre es möglich, daß die starke Ähnlichkeit zwischen Schwei- 

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63 

nen und Pferden (ihre Cytochrom-c-Texte sind nur um drei 
Buchstaben voneinander entfernt, und ihr Körperbau ist ent- 
sprechend dem Grundmuster der Säugetiere fast identisch) 
sich durch einen riesigen Zufall entwickelt hat. Daß wir das 
nicht annehmen, hat einen ganz bestimmten Grund: Die Zahl 
der Ähnlichkeiten zwischen Schweinen und Pferden ist bei 
weitem größer als die der Übereinstimmungen zwischen 
Schweinen und Hefe. Zugegebenermaßen gibt es einen einzi- 
gen Buchstaben in der DNA, in dem die Schweine der Hefe 
offenbar näher sind als den Pferden, aber dagegen stehen 
Millionen von Übereinstimmungen in der anderen Richtung. 
Es ist ein Sparsamkeitsargument. Wenn man annimmt, daß 
Schweine den Pferden näher sind, muß man nur eine einzige 
zufällige Ähnlichkeit unterstellen. Wollte man jedoch eine 
engere Verwandtschaft zwischen Schweinen und Hefe postu- 
lieren, müßte man eine völlig unrealistische Kette unabhängig 
voneinander erworbener zufälliger Ähnlichkeiten vorausset- 
zen. 

Bei Pferden, Schweinen und Hefe ist dieses Sparsamkeitsar- 

gument so übermächtig, daß man es nicht in Zweifel ziehen 
kann. In der Mitochondrien-DNA verschiedener Menschen- 
rassen gibt es dagegen an den Ähnlichkeiten nichts Übermäch- 
tiges. Auch hier lassen sich Sparsamkeitsargumente anwen- 
den, aber es sind schwächere, quantitative Argumente, die 
keineswegs alles andere vom Tisch wischen. Das ist, zumin- 
dest in der Theorie, die Aufgabe des Computers: Er stellt alle 
möglichen Stammbäume der 135 Frauen auf, vergleicht sie 
miteinander und sucht den sparsamsten heraus, das heißt 
denjenigen, der mit der geringsten Zahl zufälliger Ähnlichkei- 
ten auskommt. Man muß anerkennen, daß auch der beste 
Stammbaum einige zufällige Ähnlichkeiten einschließt, genau 
wie wir hinnehmen mußten, daß die Hefe im Hinblick auf 
einen Buchstaben der DNA den Schweinen nähersteht als den 
Pferden. Aber zumindest theoretisch sollte der Computer in 

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64 

der Lage sein, dies in Rechnung zu stellen und etwas darüber 
auszusagen, welcher der vielen möglichen Stammbäume der 
sparsamste, am wenigsten vom Zufall bestimmte ist. 

Soweit die Theorie. In der Praxis hat die Sache einen Haken. 

Die Zahl möglicher Stammbäume ist größer, als jeder von uns 
und jeder Mathematiker sich vorstellen können. Für Pferd, 
Schwein und Hefe sind nur drei Stammbäume möglich. Der 
offenkundig richtige lautet ([Schwein Pferd] Hefe): Schwein 
und Pferd gehören zusammen in die inneren Klammern, Hefe 
ist die entfernter verwandte »äußere Gruppe«. Die beiden 
anderen theoretischen Stammbäume lauten ([Schwein Hefe] 
Pferd) 
und ([Pferd Hefe] Schwein). Nehmen wir eine vierte Art 
(zum Beispiel den Tintenfisch) hinzu, steigt die Zahl der 
möglichen Stammbäume auf fünfzehn. Ich möchte sie hier 
nicht alle aufführen, aber der wirkliche (sparsamste) lautet 
([[Schwein Pferd] Tintenfisch] Hefe). Auch hier stehen Schwein 
und Pferd als enge Verwandte nahe zusammen in den innersten 
Klammern. Als nächstes kommt der Tintenfisch hinzu, der mit 
der Abstammungslinie von Schwein und Pferd einen jüngeren 
gemeinsamen Vorfahren hat als die Hefe. Alle vierzehn ande- 
ren Stammbäume - zum Beispiel ([Schwein Tintenfisch] [Pferd 
Hefe]) - 
sind eindeutig weniger sparsam. Es ist höchst unwahr- 
scheinlich, daß die vielen Ähnlichkeiten von Schwein und 
Pferd sich unabhängig voneinander entwickelt haben, wenn 
das Schwein tatsächlich ein näherer Verwandter des Tintenfi- 
sches und das Pferd ein näherer Verwandter der Hefe wäre. 

Wenn für drei Lebewesen drei und für vier Lebewesen 

fünfzehn Stammbäume möglich sind, wie viele Stammbäume 
kann man dann für 135 Frauen aufstellen? Die Antwort lautet: 
eine so gewaltig große Zahl, daß es keinen Sinn hätte, sie 
aufzuschreiben. Wenn der größte und schnellste Computer 
der Welt alle diese Stammbäume aufführen sollte, wäre das 
Ende der Welt da, bevor er mit seiner Aufgabe auch nur ein 
merkliches Stück vorangekommen wäre. 

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65 

Dennoch ist die Sache nicht hoffnungslos. Wir sind es ge- 

wohnt, unmöglich große Zahlen mit Hilfe vernünftiger Stich- 
proben in den Griff zu bekommen. Wir können die Insekten 
im Amazonasbecken nicht zählen, aber wir können ihre Zahl 
abschätzen, indem wir kleine, zufällig über den Regenwald 
verteilte Flächen untersuchen und annehmen, daß diese Stich- 
proben repräsentativ sind. Unser Computer kann nicht alle 
Stammbäume analysieren, die die 135 Frauen verbinden, aber 
er kann Stichproben aus der Gesamtmenge der möglichen 
Stammbäume ziehen. Wenn man dann feststellt, daß die spar- 
samsten Stammbäume in jeder Stichprobe aus den Gigamil- 
liarden möglicher Stammbäume jedesmal einige gemeinsame 
Eigenschaften haben, kann man schließen, daß vermutlich 
auch die sparsamsten aller Stammbäume diese Eigenschaften 
aufweisen. 

Genau das hat man getan. Aber wie man es am besten 

anfängt, ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Genau wie die 
Insektenforscher, die sich vielleicht nicht einig sind, wie man 
am besten Stichproben im brasilianischen Regenwald nimmt, 
haben auch die DNA-Stammbaumforscher ihre Stichproben 
mit unterschiedlichen Methoden gewonnen. Und die Ergeb- 
nisse stimmen leider nicht immer überein. Wegen ihres Wer- 
tes möchte ich dennoch die Befunde darstellen, zu denen die 
Arbeitsgruppe in Berkeley bei ihrer Analyse der menschlichen 
Mitochondrien-DNA gelangte. Ihre Schlußfolgerungen waren 
nämlich äußerst interessant und provozierend. Der sparsam- 
ste Stammbaum hat demnach seine festen Wurzeln in Afrika. 
Das bedeutet, daß manche Afrikanerinnen mit anderen Afrika- 
nerinnen entfernter verwandt sind als mit sonst irgend jeman- 
dem auf der Welt. Die gesamte übrige Menschheit - Europäe- 
rinnen, Indianerinnen, australische Aborigines, Chinesinnen, 
Bewohner von Neuguinea, Inuit und alle anderen - bilden 
eine Gruppe relativ enger Verwandter. Auch manche Afrikane- 
rinnen gehören in diese Gruppe, andere aber nicht. Nach 

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66 

dieser Analyse sieht der sparsamste Stammbaum folgender- 
maßen aus: (manche Afrikanerinnen [andere Afrikanerinnen 
/ [noch andere Afrikanerinnen [wieder andere Afrikanerinnen 
und alle anderen]]]). Die Wissenschaftler gelangten deshalb zu 
dem Schluß, die große Urmutter von uns allen müsse in Afrika 
gelebt haben: eine »afrikanische Eva«. Wie ich schon erwähnt 
habe, ist diese Aussage umstritten. Andere behaupteten, man 
könne ebenso sparsame Stammbäume finden, deren äußerste 
Äste außerhalb Afrikas liegen. Außerdem sei die Gruppe von 
Berkeley nur deshalb zu ihren Ergebnissen gelangt, weil der 
Computer die Stammbäume in einer bestimmten Reihenfolge 
untersucht habe. Natürlich sollte die Reihenfolge der Untersu- 
chung keine Rolle spielen. Dennoch würden die meisten 
Experten auch heute noch ihr Geld dafür wetten, daß die Eva 
der Mitochondrien eine Afrikanerin war, aber sie würden es 
nicht mehr mit allzu großer Sicherheit tun. 

Weniger umstritten ist die zweite Schlußfolgerung der Ber- 

keley-Gruppe. Unabhängig davon, wo die Eva der Mitochon- 
drien lebte, können wir abschätzen, wann das war. Wie schnell 
die Mitochondrien-DNA sich verändert, weiß man, und des- 
halb kann man jedem Verzweigungspunkt in ihrem Evolu- 
tionsstammbaum einen Zeitpunkt zuordnen. Und der Zeit- 
punkt, der die gesamte weibliche Menschheit vereint - der 
Tag, an dem die Eva der Mitochondrien geboren wurde - liegt 
zwischen hundertfünfzigtausend und einer Viertelmillion 
Jahre zurück. 

Ob die Eva der Mitochondrien nun Afrikanerin war oder 

nicht, wichtig ist, daß man dies nicht mit etwas anderem 
durcheinanderbringt: In einem anderen Sinn gibt es nämlich 
keinen Zweifel, daß unsere Vorfahren aus Afrika stammen. Die 
Eva der Mitochondrien ist eine Vorfahrin aller heutigen Men- 
schen und hat in recht junger Vergangenheit gelebt. Sie ge- 
hörte zur Spezies Homo sapiens. Fossilien des Homo erectus, 
einer viel älteren Hominidenart, hat man sowohl in Afrika als 

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67 

auch auf anderen Kontinenten gefunden. Fossilien noch ent- 
fernterer Vorfahren wie Homo habilis und die verschiedenen 
Arten von Australopithecus  (darunter eine neuentdeckte, die 
über vier Millionen Jahre alt ist) kennt man dagegen nur aus 
Afrika. Wenn wir also seit einer Viertelmillion Jahren die 
Nachkommen einer kleinen afrikanischen Menschenge- 
meinde sind, dann war es die zweite kleine afrikanische Men- 
schengemeinde. Schon früher, vor vielleicht eineinhalb Mil- 
lionenjahren, gab es eine große Wanderung, und der Homo 
erectus  
besiedelte von Afrika aus auf verschlungenen Wegen 
Teile des Nahen Ostens und Asiens. Die Theorie von der 
afrikanischen Eva behauptet nicht, es habe diese früheren 
Asiaten nicht gegeben, sondern sie besagt nur, daß sie keine 
heute noch lebenden Nachkommen haben. Wie man es auch 
betrachtet: Wenn wir zwei Millionen Jahre zurückgehen, sind 
wir alle Afrikaner. Die Theorie von der afrikanischen Eva 
behauptet zusätzlich, man brauche nur ein paar hunderttau- 
send Jahre in die Vergangenheit zu blicken, dann seien alle 
überlebenden Menschen Afrikaner. Es wäre, falls neue Be- 
funde eine solche Ansicht stützen, durchaus möglich, die ge- 
samte heutige Mitochondrien-DNA auf eine Quelle außerhalb 
Afrikas (beispielsweise eine »asiatische Eva«) zurückzuführen 
und gleichzeitig weiterhin die Meinung zu vertreten, daß 
unsere entfernteren Vorfahren ausschließlich in Afrika zu 
Hause waren. 

Nehmen wir einmal an, die Gruppe in Berkeley habe recht 

gehabt, und betrachten wir als nächstes, was ihre Erkenntnis 
bedeutet und was sie nicht bedeutet. Das Etikett »Eva« hat 
unglückselige Folgen. Manche Träumer kamen auf den Ge- 
danken, sie sei eine einsame Frau gewesen, die einzige Frau 
auf Erden, das eigentliche genetische Nadelöhr, ja sogar eine 
Bestätigung der Genesis! Das ist ein völliges Mißverständnis. 
Postuliert wird nicht, daß sie die einzige Frau auf der Welt 
gewesen sei, nicht einmal, daß die Bevölkerung zu ihrer Zeit 

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68 

besonders klein gewesen sei. Sie kann durchaus zahlreiche 
und fruchtbare Zeitgenossen beiderlei Geschlechts gehabt 
haben. Vielleicht leben sogar heute noch viele Nachkommen 
von ihnen. Aber alle Nachkommen ihrer Mitochondrien sind 
ausgestorben, weil ihre Verbindung zu uns zu irgendeinem 
Zeitpunkt über einen Mann verläuft. In ganz ähnlicher Weise 
kann auch ein adliger Familienname (Familiennamen sind in 
der Regel an das Y-Chromosom gekoppelt und werden, genau 
spiegelbildlich zu den Mitochondrien, über die männliche 
Linie vererbt) aussterben, aber das bedeutet nicht, daß die 
Träger dieses Namens keine Nachkommen haben. Die Nach- 
kommen können über die weibliche Linie sogar zahlreich 
sein. Richtig ist nur, daß die Eva der Mitochondrien die letzte 
Frau ist, von der man sagen kann, daß alle heutigen Menschen 
in der weiblichen Linie von ihr abstammen. Es muß eine  Frau 
geben, auf die diese Behauptung zutrifft. Fraglich ist nur, ob 
sie hier oder dort und zu dieser oder jener Zeit lebte. Die 
Tatsache, daß sie irgendwann irgendwo gelebt hat, ist gesi- 
chert. 

Hier gibt es ein zweites Mißverständnis, und zwar eines, das 

verbreiteter ist; ich habe gehört, wie sogar führende Wissen- 
schaftler, die sich mit der Mitochondrien-DNA beschäftigen, es 
vertraten. Es ist die Ansicht, die Eva der Mitochondrien sei 
unsere jüngste gemeinsame Vorfahrin. Ursache ist die Ver- 
wechslung zwischen dem letzten gemeinsamen Vorfahren 
und der letzten gemeinsamen Vorfahrin in der rein weib- 
lichen Linie. In der rein weiblichen Linie ist die Eva der 
Mitochondrien tatsächlich die jüngste gemeinsame Ahnin al- 
ler Menschen, aber man kann von Menschen außer in der 
weiblichen Linie auf vielerlei andere Arten abstammen. Auf 
Millionen andere Arten. Kehren wir noch einmal zur Berech- 
nung der Zahl unserer Vorfahren zurück (und vergessen wir 
dabei die Komplikation durch die Heirat von Cousin und 
Cousine, die in der Argumentation zuvor der entscheidende 

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69 

Punkt war). Man hat acht Urgroßeltern, aber nur eine dieser 
Personen steht in der rein weiblichen Linie. Man hat sechzehn 
Ururgroßeltern, aber auch hier gibt es nur eine rein weibliche 
Linie. Auch wenn man annimmt, daß die Zahl der Vorfahren in 
einer bestimmten Generation durch die Verwandtenheirat 
geringer wird, kann man immer noch nicht nur in der weib- 
lichen Linie, sondern auf viel, viel mehr Arten zum Vorfahren 
werden. Wenn wir den genetischen Fluß durch die ferne 
Vergangenheit zurückverfolgen, gibt es vermutlich eine 
Menge Evas und eine Menge Adams - Menschen, die zu 
Ausgangspunkten wurden und über die man sagen kann, daß 
alle 1996 lebenden Menschen von ihnen abstammen. Die Eva 
der Mitochondrien ist nur eine davon, und für die Annahme, 
sie sei unter allen diesen Adams und Evas die jüngste, gibt es 
keinen besonderen Grund, ganz im Gegenteil. Allerdings ist 
sie auf besondere Weise definiert: Wir entstammen ihr mittels 
eines besonderen Weges durch den Fluß der Abstammung. Es 
gibt neben der rein weiblichen Linie eine Riesenzahl weiterer 
Abstammungswege, und deshalb ist es mathematisch höchst 
unwahrscheinlich, daß die Eva der Mitochondrien unter den 
vielen Evas und Adams die jüngste ist. Etwas Besonderes unter 
diesen vielen Möglichkeiten ist sie nur in einer Hinsicht (weil 
sie die rein weibliche Linie darstellt). Es wäre schon ein 
bemerkenswerter Zufall, wenn sie auch noch in anderer Hin- 
sicht (nämlich weil sie die jüngste wäre) eine Sonderstellung 
unter diesen Möglichkeiten einnähme. 

Einigermaßen interessant ist auch, daß unser jüngster ge- 

meinsamer Vorfahr mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit 
ein Adam und keine Eva war. Ein Harem aus Frauen ist wahr- 
scheinlicher als ein Harem aus Männern, und sei es nur des- 
halb, weil Männer körperlich in der Lage sind, Hunderte oder 
sogar Tausende von Kindern zu zeugen. Das Guinness Buch 
der Rekorde 
gibt als Rekord eine Zahl von über tausend an, die 
Moulay Ishmael der Blutrünstige erreicht haben soll. (Neben- 

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70 

bei bemerkt, könnten Feministinnen diesen Moulay Ishmael 
durchaus als Musterbeispiel für einen unangenehmen Macho 
anführen. Angeblich bestieg er ein Pferd, indem er das 
Schwert zog und in den Sattel sprang, wobei er, um schnell 
loszureiten, gleichzeitig den Sklaven köpfte, der den Zügel 
hielt. Das mag nicht ganz stimmen, aber die Tatsache, daß 
seine Legende überliefert ist, und zwar zusammen mit dem 
Ruf, er habe zehntausend Menschen mit eigener Hand umge- 
bracht, gibt uns vielleicht eine Vorstellung von den Qualitäten, 
die man bei solchen Männern lange Zeit bewunderte.) Frauen 
dagegen können auch unter Idealbedingungen höchstens ein 
paar Dutzend Kinder haben. Bei einer Frau ist die Wahrschein- 
lichkeit, daß sie die durchschnittliche Zahl von Kindern hat, 
viel größer als bei einem Mann. Einige Männer haben an den 
Kindern vielleicht einen grotesk großen Anteil, aber das heißt, 
daß andere Männer gar keine Kinder haben. Wenn ein Mensch 
sich überhaupt nicht fortpflanzt, handelt es sich mit größerer 
Wahrscheinlichkeit um einen Mann. Und wenn jemand eine 
unverhältnismäßig große Nachkommenschaft hervorbringt, 
ist es wahrscheinlich ebenfalls ein Mann. Das gilt auch für den 
jüngsten gemeinsamen Vorfahren aller Menschen, der dem- 
nach eher ein Adam als eine Eva war. Nehmen wir ein extre- 
mes Beispiel: Wer ist mit größerer Wahrscheinlichkeit der 
gemeinsame Vorfahr aller heutigen Marokkaner, Moulay Ish- 
mael oder eine einzige Frau aus seinem unglückseligen Ha- 
rem? 

Wir können also folgende Schlußfolgerungen ziehen: Er- 

stens gab es mit unumstößlicher Sicherheit eine Frau, die wir 
Eva der Mitochondrien nennen können und die in der rein 
weiblichen Abstammungslinie die jüngste gemeinsame Vor- 
fahrin aller heutigen Menschen ist. Sicher ist, zweitens, auch, 
daß es eine Person unbekannten Geschlechts gab, die wir 
»Ausgangspunkt-Vorfahr« nennen können und die auf allen 
Abstammungswegen den jüngsten gemeinsamen Vorfahren 

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71 

aller heutigen Menschen darstellt. Und drittens wäre es zwar 
möglich, daß die Eva der Mitochondrien und der Ausgangs- 
punkt-Vorfahr ein und dieselbe Person waren, aber die Wahr- 
scheinlichkeit dafür ist verschwindend gering. Viertens ist es 
ein wenig wahrscheinlicher, daß der Ausgangspunkt-Vorfahr 
ein Mann war. Fünftens lebte die Eva der Mitochondrien wahr- 
scheinlich vor weniger als einer Viertelmillion Jahren. Sech- 
stens gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Eva 
der Mitochondrien zu Hause war, aber die Mehrheit der be- 
gründeten Meinungen spricht immer noch für Afrika. Von 
wissenschaftlichen Belegen sind nur die Punkte fünf und 
sechs abhängig. Die ersten vier lassen sich allein durch logi- 
sches Folgern aus den allgemeinen Erkenntnissen ableiten. 
Aber wie ich schon gesagt habe, liegt in den Vorfahren der 
Schlüssel zum Verstehen des Lebens selbst. Die Geschichte 
von der Eva der Mitochondrien ist ein beschränkter, auf den 
Menschen bezogener Ausschnitt aus einem gewaltigeren und 
unvergleichlich viel älteren Epos. Wir werden wieder zu der 
Metapher vom Fluß zurückkehren, zu unserem Strom der 
Gene. Diesmal werden wir ihm in eine Zeit folgen, die unend- 
lich viel weiter zurückliegt als die Jahrtausende der biblischen 
Eva oder die Jahrhunderttausende der Eva der Mitochondrien. 
Der DNA-Fluß fließt durch unsere Vorfahren in einer ununter- 
brochenen Linie, die nicht weniger als drei Milliarden Jahre 
umspannt. 

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72 

 

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73 

Heimlicher Nutzen 

Der Kreationismus hat auch heute noch seinen Reiz, und nach 
den Gründen braucht man nicht lange zu suchen. Sie liegen - zu- 
mindest bei den meisten Menschen, die mir begegnen - nicht 
im Glauben an den wortwörtlichen Inhalt der Genesis oder an 
irgendeinen anderen überlieferten Schöpfungsmythos. Die 
Menschen entdecken vielmehr für sich selbst die Schönheit 
und Vielfalt der Lebewesen und gelangen zu dem Schluß, sie 
müßten »ganz offensichtlich« gezielt gestaltet worden sein. 
Manche Kreationisten erkennen auch, daß die Darwinsche Evo- 
lution zumindest eine Art Alternative zu ihrer biblischen Theo- 
rie darstellt, und greifen dann auf einen etwas raffinierteren 
Einwand zurück. Sie leugnen die Möglichkeit evolutionärer 
Zwischenformen. »X muß  von einem Schöpfer gestaltet wor- 
den sein«, sagen solche Leute, »denn ein halbes X funktioniert 
nicht. Irgend jemand muß alle Teile von X gleichzeitig zusam- 
mengefügt haben; sie können nicht durch allmähliche Evolu- 
tion entstanden sein.« So erhielt ich zum Beispiel zufällig gera- 
de an dem Tag, als ich mit diesem Kapitel anfing, einen Brief. Er 
stammte von einem amerikanischen Geistlichen, der Atheist ge- 
wesen war und sich durch einen Artikel im National Geographic 
hatte bekehren lassen. Er schrieb unter anderem folgendes:

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74 

Der Artikel handelte von den verblüffenden Eigenschaften, 
mit denen Orchideen sich an ihre Umwelt angepaßt haben, 
um sich erfolgreich fortzupflanzen. Besonders beeindruckt 
war ich von der Reproduktionsstrategie einer Art, bei der 
eine männliche Wespe mitwirkt. Die Blüte ähnelt offen- 
sichtlich stark dem Weibchen dieser Wespenart; unter ande- 
rem hat sie an der richtigen Stelle eine Öffnung, so daß das 
Männchen durch Kopulation mit der Blume gerade eben 
den von der Blüte produzierten Pollen erreichen kann. Es 
fliegt zur nächsten Blüte, wo sich der Vorgang wiederholt, 
und dabei findet die Bestäubung statt. Die Blüte wird für das 
Wespenmännchen vor allem dadurch anziehend, daß sie 
Pheromone ausschüttet (chemische Lockstoffe, mit denen 
Männchen und Weibchen vieler Insektenarten einander 
anziehen), die denen der weiblichen Wespen dieser Spe- 
zies gleichen. Mit Interesse studierte ich etwa eine Minute 
lang die Abbildung dazu. Plötzlich wurde mir schockartig 
klar, daß diese Fortpflanzungsstrategie nur dann funktionie- 
ren könne, wenn sie von Anfang an vollkommen war. Sie 
ließe sich nicht mit allmählichen Schritten erklären, denn 
wenn die Orchideenblüte nicht wie das Wespenweibchen 
aussähe und duftete, und wenn sie nicht eine für die Kopu- 
lation geeignete Öffnung besäße, die den Pollen genau in 
Reichweite des männlichen Begattungsorgans enthält, wäre 
das Ganze ein völliger Fehlschlag. 

Ich werde nie das beklemmende Gefühl vergessen, das 

mich dabei überfiel, denn in diesem Augenblick erkannte 
ich, daß es in irgendeiner Form einen Gott geben muß und 
daß dieser Gott ständig mit den Vorgängen verbunden ist, 
durch die alles entsteht. Oder kurz gesagt, daß der Schöp- 
fergott kein vorzeitlicher Mythos, sondern etwas Wirkliches 
ist. Und höchst widerwillig erkannte ich auch sofort, daß ich 
mich auf die Suche begeben mußte, um mehr über diesen 
Gott zu erfahren. 

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75 

Andere Menschen sind zweifellos auf anderen Wegen zur 

Religion gekommen, aber vielfach hatten sie sicher ähnliche 
Erlebnisse wie dieser Geistliche, dessen Leben sich dadurch 
völlig änderte (und dessen Namen ich hier anstandshalber 
nicht preisgeben möchte). Sie haben irgendein Wunder der 
Natur erlebt oder darüber gelesen. Das hat sie ganz allgemein 
mit Ehrfurcht und Staunen erfüllt, und daraus wurde Vereh- 
rung. Genauer gesagt, sind sie wie der Verfasser des Briefes zu 
dem Schluß gelangt, dieses besondere Naturphänomen - ein 
Spinnennetz, Augen oder Flügel eines Adlers oder was auch 
immer - könne nicht allmählich und schrittweise entstanden 
sein, weil die halbfertigen Zwischenstufen zu nichts nütze 
seien. Dieses Kapitel soll das Argument widerlegen, kompli- 
zierte natürliche Vorrichtungen müßten vollkommen sein, 
damit sie funktionieren. Zufällig waren die Orchideen eines 
von Darwins Lieblingsbeispielen. Ein ganzes Buch widmete er 
dem Nachweis, daß man »die verschiedenen  Einrichtungen 
zur Befruchtung der Orchideen durch Insekten« höchst er- 
folgreich mit dem Prinzip der allmählichen Evolution durch 
natürliche Selektion erklären kann. 

Der entscheidende Punkt in der Argumentation des Geistli- 

chen ist die Behauptung, »daß diese Fortpflanzungsstrategie 
nur dann funktionieren könne, wenn sie von Anfang an voll- 
kommen war«. Das gleiche Argument kann man - was auch 
häufig geschehen ist - auf die Evolution des Auges anwenden; 
ich werde später in diesem Kapitel darauf zurückkommen. 

Wenn ich solche Argumente höre, bin ich jedesmal beein- 

druckt davon, mit welcher Überzeugung sie vorgebracht wer- 
den. Wie, so würde ich den Geistlichen fragen, können Sie so 
sicher  sein, daß die Orchidee, die eine Wespe nachahmt (oder 
das Auge oder was auch immer) nicht funktioniert, wenn nicht 
jeder Teil davon vollkommen gestaltet und an seinem Platz ist? 
Haben Sie überhaupt mal einen Augenblick lang über diese 
Frage nachgedacht? Wissen Sie denn Bescheid über Orchi- 

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76 

deen, über Wespen oder über die Augen, mit denen ein 
Wespenmännchen sein Weibchen und die Orchideen be- 
trachtet? Was gibt Ihnen den Mut zu der Behauptung, Wespen 
seien so schwer zu täuschen, daß die Ähnlichkeit der Orchi- 
dee vollkommen sein muß, damit sie wirkt? 

Erinnern Sie sich doch nur einmal daran, wie Sie das letzte 

Mal durch eine zufällige Ähnlichkeit getäuscht wurden. Viel- 
leicht haben Sie auf der Straße jemanden gegrüßt, den Sie 
fälschlicherweise für einen Bekannten hielten. Filmstars ha- 
ben Stuntmen und Doubles, die stellvertretend für sie von 
Pferden fallen oder von Klippen springen. Meist ähnelt der 
Stuntman dem Star nur sehr oberflächlich, aber bei schnellen 
Actionszenen reicht das aus, um die Zuschauer zu täuschen. 
Männer lassen sich durch Bilder in Magazinen sexuell anre- 
gen. Ein solches Bild ist nur Farbe auf einem Blatt Papier. Es ist 
nicht räumlich, sondern zweidimensional und meist nur ein 
paar Zentimeter groß. Vielleicht ist es noch nicht einmal eine 
lebensnahe Abbildung, sondern nur eine Karikatur aus ein 
paar Strichen. Und doch kann es bei einem Mann eine Erek- 
tion auslösen. Vielleicht kann eine schnell fliegende männli- 
che Wespe nur mit einem flüchtigen Anblick des Weibchens 
rechnen, bevor es mit ihr kopuliert. Vielleicht nehmen Wes- 
penmännchen immer nur wenige Schlüsselreize wahr. 

Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß Wespen noch 

leichter zu täuschen sind als Menschen. Für Stichlinge gilt das 
sicher, und Fische haben sowohl ein größeres Gehirn als auch 
bessere Augen als Wespen. Das Stichlingsmännchen hat einen 
roten Bauch und bedroht nicht nur andere Männchen, son- 
dern auch rohe Attrappen, die eine rote »Bauchseite« zeigen. 
Mein alter Guru, der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger 
Niko Tinbergen, erzählte eine berühmte Geschichte von 
einem roten Postauto, das vor dem Fenster seines Labors 
vorbeifuhr: Bei dem Anblick sausten alle Stichlingsmännchen 
zu der dem Fenster zugewandten Seite ihrer Aquarien und 

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77 

machten heftige Drohgebärden. Bei weiblichen Stichlingen, 
deren Eizellen herangereift sind, ist der Bauch auffällig ange- 
schwollen. Wie Tinbergen feststellte, ruft eine sehr grobe, 
leicht verlängerte, silbrige Attrappe, die für menschliche Au- 
gen in nichts außer dem geschwollenen »Bauch« einem Stich- 
ling ähnelt, bei den Männchen das voll ausgeprägte Paarungs- 
verhalten hervor. Neuere Experimente der von Tinbergen 
begründeten Forschungseinrichtung zeigten, daß eine soge- 
nannte Sexbombe - ein birnenförmiger Gegenstand, die 
rundliche Plumpheit in Reinkultur, aber nicht länglich und mit 
aller menschlichen Phantasie nicht fischähnlich zu nennen - 
die Erregung der Stichlingsmännchen sogar noch wirksamer 
auslöste. Die »Sexbombe« der Stichlinge ist ein klassisches 
Beispiel für eine über das Normale hinausgehende Attrappe, 
die stärker wirkt als der eigentliche Reiz. Als weiteres Beispiel 
veröffentlichte Tinbergen das Bild eines Austernfischers, der 
versucht, sich auf einem Ei von der Größe eines Straußeneies 
niederzulassen. Vögel haben ein größeres Gehirn und kön- 
nen besser sehen als Fische, und erst recht gilt das natürlich im 
Vergleich zu Wespen; dennoch »denkt« der Austernfischer 
offenbar, das straußeneigroße Ei sei ein besonders gut geeig- 
netes Objekt zum Brüten. 

Möwen, Gänse und andere am Boden nistende Vögel zei- 

gen eine stereotype Reaktion, wenn ein Ei aus dem Nest 
gerollt ist. Sie strecken den Hals und rollen es mit der Unter- 
seite des Schnabels wieder zurück. Wie Tinbergen und seine 
Schüler zeigen konnten, tun sie das nicht nur mit dem eigenen 
Gelege, sondern auch mit Hühnereiern, ja sogar mit Holzzy- 
lindern oder Coladosen, die Camper zurückgelassen haben. 
Junge Silbermöwen erbetteln Futter von den Eltern: Sie pik- 
ken an dem roten Punkt des Schnabels von Vater oder Mutter 
und regen damit den älteren Vogel dazu an, ein wenig Fisch 
aus dem gefüllten Kröpf hervorzuwürgen. Zusammen mit 
einem Kollegen wies Tinbergen nach, daß auch grobe Pappat- 

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78 

trappen des Altvogelkopfes bei den Jungen sehr wirksam das 
Bettelverhalten auslösen. Dazu ist nur eines notwendig: der 
rote Fleck. Aus der Sicht des Möwenjungen bestehen seine 
Eltern aus einem roten Fleck. Wahrscheinlich erkennt es 
durchaus auch den übrigen Körper, aber er scheint nicht von 
Bedeutung zu sein. 

Diese offensichtlich eingeschränkte visuelle Wahrnehmung 

findet sich nicht nur bei jungen Möwen. Erwachsene Lachmö- 
wen sind leicht an dem maskenartig dunkel gefärbten Gesicht 
zu erkennen. Der Tinbergen-Schüler Robert Mash wollte wis- 
sen, welche Bedeutung diese Färbung für die erwachsenen 
Artgenossen hat, und malte hölzerne Attrappen von Möwen- 
köpfen schwarz an. Jeder dieser Köpfe war auf einem Holz- 
stock befestigt und mit einem Elektromotor verbunden, so 
daß Mash die Köpfe ferngesteuert heben und senken, sowie 
nach rechts und links drehen konnte. Die ganze Anordnung 
vergrub er in der Nähe eines Möwennestes, und zwar so, daß 
auch der Kopf im Sand versteckt war. Dann versteckte er sich 
jeden Tag in Sichtweite des Nestes und beobachtete die Reak- 
tion der Möwen, wenn der hölzerne Kopf auftauchte und sich 
in diese oder jene Richtung drehte. Die Vögel reagierten auf 
den Kopf und seine Bewegungen wie auf eine echte Möwe, 
obwohl es nur eine Attrappe auf einem Holzstock war, ohne 
Körper, ohne Beine, ohne Flügel oder Schwanz, stumm und 
mit einem leblosen, roboterhaften Heben, Drehen und Sen- 
ken als einziger Bewegung. Für eine Lachmöwe, so scheint es, 
ist ein bedrohlicher Nachbar kaum mehr als ein körperloses 
schwarzes Gesicht. Körper, Flügel oder irgendwelche ande- 
ren Merkmale sind dazu offenbar nicht notwendig. 

Um in das Versteck zu gelangen und die Vögel zu beobach- 

ten, machte sich Mash wie viele Ornithologengenerationen 
vor ihm eine seit langem bekannte Einschränkung des Ner- 
vensystems von Vögeln zunutze: Vögel sind von Natur aus 
keine Mathematiker. Zwei Personen begeben sich in das Ver- 

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79 

steck, und nur eine verläßt es wieder. Ohne diesen Trick 
wären die Tiere dem Versteck gegenüber argwöhnisch: Sie 
»wissen«, daß jemand hineingegangen ist. Sehen sie aber, daß 
eine Person wieder weggeht, »nehmen sie an«, daß beide 
verschwunden sind. Wenn schon ein Vogel den Unterschied 
zwischen einer und zwei Personen nicht kennt, ist es dann 
verwunderlich, daß die männliche Wespe von einer Orchidee 
getäuscht wird, die eine nicht ganz vollkommene Ähnlichkeit 
mit dem Wespenweibchen hat? 

Die nächste Vogelgeschichte ist eine Tragödie. Trut- 

hahnmütter beschützen ihre Jungen sehr energisch. Sie müs- 
sen sich gegen Nesträuber wie Wiesel oder Ratten zur Wehr 
setzen. Ob ein solcher Angreifer in der Nähe ist, erkennt das 
Truthahnweibchen nach einer entsetzlich brutalen Faustregel: 
Attackiere in der Nachbarschaft deines Nestes alles, was sich 
bewegt, es sei denn, es macht Geräusche wie ein Truthahnjun- 
ges. Dies entdeckte der österreichische Zoologe Wolfgang 
Schleidt. Er hatte einmal ein Truthahnweibchen, das blindwü- 
tig alle seine eigenen Jungen umbrachte. Der Grund dafür war 
bestürzend einfach: sie war taub. Für das Nervensystem eines 
Truthahns ist ein Feind schlicht ein beweglicher Gegenstand, 
der nicht die Schreie eines Jungen ausstößt. Diese Trut- 
hahnjungen sahen aus wie Truthahnjunge, bewegten sich wie 
Truthahnjunge und rannten vertrauensvoll zu ihrer Mutter 
wie Truthahnjunge, und doch fielen sie der eingeschränkten 
mütterlichen Definition des »Räubers« zum Opfer. Sie 
schützte die eigenen Jungen vor sich selbst und brachte sie 
alle um. 

Einen Anklang an diese traurige Geschichte von den Trut- 

hühnern findet man auch bei den Insekten: In den Antennen 
der Honigbiene gibt es Sinneszellen, die nur auf eine einzige 
chemische Verbindung ansprechen: auf Oleinsäure. (Weitere 
Zellen reagieren auf andere Substanzen.) Oleinsäure wird bei 
der Verwesung toter Bienen frei und löst das »Beerdigungs- 

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80 

verhalten« aus, durch das tote Tiere aus dem Stock entfernt 
werden. Markiert man im Experiment eine lebende Biene mit 
einem Tropfen Oleinsäure, wird das arme Geschöpf wegge- 
zerrt: Obwohl es strampelt und kämpft und ganz offensichtlich 
sehr lebendig ist, wird es mit den Toten hinausgeworfen. 

Das Gehirn ist bei Insekten sehr viel kleiner als bei Truthüh- 

nern oder Menschen. Insektenaugen, selbst die großen Facet- 
tenaugen der Libellen, besitzen nur einen Bruchteil der Seh- 
schärfe eines Menschen- oder Vogelauges. Und davon abgese- 
hen, weiß man auch genau, daß Insekten die Welt optisch ganz 
anders wahrnehmen als wir. Wie der große österreichische 
Zoologe Karl von Frisch schon als junger Mann entdeckte, sind 
sie für rotes Licht blind, aber ultraviolettes Licht, für das wir 
unempfindlich sind, können sie sehen und als eigenen Farb- 
ton unterscheiden. Insektenaugen sind in erheblichem Um- 
fang von einem »Flimmern« erfüllt, das - zumindest wenn das 
Tier sich schnell bewegt - teilweise an die Stelle dessen tritt, 
was wir »Form« nennen. Wie man beobachten konnte, »wer- 
ben« Schmetterlingsmännchen manchmal um verwelkte Blät- 
ter, die von den Bäumen segeln. Für uns ist ein Schmetter- 
lingsweibchen ein Paar großer Flügel, die auf- und zuklappen. 
Der fliegende männliche Schmetterling dagegen sieht es als 
Verdichtung von »Geflimmer« und macht ihm dann den Hof. 
Man kann das Männchen mit einer Stroboskoplampe täu- 
schen, die sich nicht bewegt, sondern nur schnelle Lichtblitze 
aussendet. Stellt man die Geschwindigkeit richtig ein, greift 
der Schmetterling die Lampe an, als sei sie ein Artgenosse, der 
die Flügel entsprechend schnell bewegt. Streifen bilden für 
uns ein feststehendes Muster. Einem vorüberfliegenden In- 
sekt erscheinen sie als »Flimmern«, so daß man sie mit einer 
im richtigen Tempo blitzenden Stroboskoplampe nachahmen 
kann. Durch Insektenaugen gesehen, ist die Welt für uns völlig 
fremdartig, und deshalb ist jede auf unsere eigene Erfahrung 
gegründete Behauptung darüber, wie »vollkommen« eine 

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81 

Orchidee sein muß, damit sie das Wespenweibchen nachah- 
men kann, von menschlichen Vorurteilen geprägt. 

Die Wespen waren selbst der Gegenstand eines klassischen 

Experiments, das ursprünglich von dem großen französischen 
Naturforscher Jean-Henri Fabre ausgeführt und später von 
verschiedenen anderen Wissenschaftlern, darunter solchen 
aus der Tinbergen-Schule, wiederholt wurde. Die weibliche 
Dolchwespe kehrt mit ihrer Beute, die sie durch einen Stich 
gelähmt hat, zu ihrem Bau zurück. Sie läßt ihre Last zunächst 
außerhalb der Behausung und geht hinein, offenbar um nach- 
zusehen, ob alles in Ordnung ist, bevor sie die Beute hinein- 
zerrt. Während sie im Bau ist, entfernt der Experimentator die 
Beute ein paar Zentimeter vom Nesteingang. Sobald die 
Wespe wieder herauskommt, bemerkt sie den Verlust und 
findet die Beute auch bald wieder. Erneut zieht sie das tote 
Tier zum Eingang des Baues. Seit sie sein Inneres inspiziert 
hat, sind nur wenige Sekunden vergangen. Nach unserer Vor- 
stellung gibt es eigentlich keinen Grund, nicht zur nächsten 
Tätigkeit überzugehen, die Beute hineinzuziehen und die 
Angelegenheit abzuschließen. Aber das Verhaltensprogramm 
der Wespe wurde in ein früheres Stadium zurückgespult. 
Pflichtschuldigst läßt sie die Beute wieder draußen und inspi- 
ziert ihren Bau erneut. Der menschliche Beobachter kann die 
Prozedur vierzigmal wiederholen, bis es ihm zu langweilig 
wird. Die Wespe verhält sich wie eine Waschmaschine, deren 
Programmschalter man zurückgedreht hat und die nicht 
»weiß«, daß sie die Wäsche schon vierzigmal ununterbrochen 
gewaschen hat. Der angesehene Computerwissenschaftler 
Douglas Hofstadter hat für solche unflexiblen, geistlos-auto- 
matischen Vorgänge das neue Adjektiv »sphexisch« eingeführt. 
(Sphex  ist der Name einer charakteristischen Dolchwespen- 
gattung.) Demnach lassen Wespen sich zumindest in man- 
chen Dingen leicht hinters Licht führen. Es ist eine ganz 
andere Art der Täuschung als diejenige, deren sich die Orchi- 

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82 

dee bedient. Dennoch müssen wir uns davor hüten, mit 
menschlicher Intuition den Schluß zu ziehen, »daß diese 
Fortpflanzungsstrategie nur dann funktionieren könne, wenn 
sie von Anfang an vollkommen war«. 

Vielleicht habe ich jetzt zu überzeugend argumentiert, daß 

Wespen leicht zu täuschen sind. Möglicherweise habe ich 
damit einen Argwohn geweckt, der dem meines geistlichen 
Briefschreibers fast entgegengesetzt ist. Wenn Insekten so 
schlecht sehen und Wespen so leicht hinters Licht zu führen 
sind, warum macht sich die Orchidee dann überhaupt die 
Mühe, ihre Blüten so wespenähnlich zu gestalten? Nun, so 
schlecht sehen Wespen auch wieder  nicht.  In  manchen Situa- 
tionen haben sie offenbar einen recht guten Scharfblick, bei- 
spielsweise wenn sie nach einem langen Jagdflug ihren Bau 
finden müssen. Dies untersuchte Tinbergen am Bienenwolf 
(Philantus),  der zu den bienenfressenden Grabwespen ge- 
hört. Er wartete, bis die Wespe im Bau war. Bevor sie wieder 
herauskam, stellte er in der Umgebung des Einganges schnell 
einige »Wegweiser« auf, zum Beispiel einen Zweig und einen 
Tannenzapfen. Dann zog er sich zurück und wartete, bis die 
Wespe wegflog. Dabei umkreiste sie zunächst zwei- oder drei- 
mal im Flug den Bau, als ob sie sich die Gegend einprägen 
wollte, und ging dann auf Beutefang. In dieser Zeit nahm 
Tinbergen den Zweig und den Tannenzapfen weg und pla- 
zierte sie ein paar Meter entfernt. Als die Wespe zurückkam, 
verfehlte sie den Bau und grub statt dessen an der Stelle, die 
der neuen Position der »Wegweiser« entsprach, im Boden. 
Auch hier hatte der Mensch die Wespe in einem gewissen 
Sinne »getäuscht«, aber diesmal verdient sie unseren Respekt 
für ihr gutes Sehvermögen. Es schien, als habe sie sich tatsäch- 
lich bei ihrem anfänglichen Rundflug »ein Bild von der Ge- 
gend gemacht«. Offenbar erkannte sie die Gestalt von Zweig 
und Tannenzapfen. Tinbergen wiederholte das Experiment 
viele Male und mit unterschiedlichen Wegweisern, unter an- 

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83 

derem mit einem Ring aus Tannenzapfen. Das Ergebnis war 
immer das gleiche. 

Der Tinbergen-Schüler Gerard Baerends machte ein Expe- 

riment, das in eindrucksvollem Gegensatz zu Fabres »Wasch- 
maschinenversuch« steht. Die Sandwespe Ammophila campe- 
stris,  
mit der Baerends experimentiete (eine Art, die auch von 
Fabre untersucht wurde), hat eine ungewöhnliche Eigen- 
schaft: sie ist ein »Dauerversorger«. Die meisten Wespen stat- 
ten ihren Bau mit Nahrungsvorräten aus, legen ein Ei hinein, 
verschließen das Ganze und überlassen es dann der Larve, 
selbst zu fressen. Ammophila  ist anders. Sie kehrt wie ein 
Vogel jeden Tag zu dem Nest zurück, sieht nach, ob es der 
Larve gutgeht, und füttert sie bei Bedarf. Das allein wäre noch 
nicht besonders bemerkenswert. Aber jedes Ammophila- 
Weibchen versorgt zwei oder drei Nester. In einem davon 
befindet sich eine relativ große, fast ausgewachsene Larve, im 
anderen ist die Larve gerade erst geschlüpft, und im dritten 
befindet sich vielleicht eine im mittleren Alter und von mittle- 
rer Größe. Die drei Larven brauchen natürlich unterschied- 
lich viel Nahrung, und dementsprechend werden sie von der 
Mutter versorgt. Mit einer mühsamen Versuchsreihe, in der 
Baerends unter anderem den Inhalt der Nester vertauschte, 
konnte er schließlich zeigen, daß die Wespenmutter sich tat- 
sächlich nach dem unterschiedlichen Nahrungsbedarf der 
einzelnen Nester richtet. Das erscheint ziemlich klug, aber wie 
Baerends feststellte, ist es auch wieder gar nicht so klug, und 
zwar auf eine sehr seltsame, fremdartige Weise. Die Wespen- 
mutter macht jeden Morgen als erstes die Runde, um ihre 
Nester zu inspizieren. Der Zustand der Nester am frühen 
Morgen ist das, was das Weibchen wahrnimmt, und er beein- 
flußt ihr Verhalten während des ganzen Tages. Nach der mor- 
gendlichen Inspektion konnte Baerends den Inhalt der Bau- 
ten beliebig oft vertauschen, ohne daß die Wespenmutter ihr 
Fütterungsverhalten geändert hätte. Es war, als schaltete sie 

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84 

ihren Mechanismus zur Nestbeurteilung nur bei der Besichti- 
gungsrunde ein und dann wieder aus, um für den Rest des 
Tages Strom zu sparen. 

Einerseits läßt diese Beobachtung darauf schließen, daß es 

im Kopf der Wespenmutter einen raffinierten Apparat zum 
Zählen, Messen und sogar zum Rechnen gibt. Jetzt kann man 
sich leicht vorstellen, daß sich das Wespengehirn tatsächlich 
nur durch eine in alle Einzelheiten gehende Ähnlichkeit zwi- 
schen Orchidee und Weibchen täuschen läßt. Aber gleichzei- 
tig sprechen Baerends' Befunde auch für die Fähigkeit zu 
selektiver Blindheit; die Wespe läßt sich ähnlich leicht täu- 
schen wie in dem Waschmaschinenexperiment, und demnach 
kann man wieder daran glauben, daß eine oberflächliche 
Ähnlichkeit zwischen Orchideenblüte und Weibchen aus- 
reicht. Die allgemeine Lehre, die wir daraus ziehen sollten, 
lautet: Wende auf die Beurteilung solcher Fragen niemals 
menschliche Maßstäbe an. Sage niemals: »Ich kann mir nicht 
vorstellen, daß dieses oder jenes durch allmähliche Selektion 
entstanden ist«, und nimm auch niemanden ernst, der ähnli- 
ches äußert. Ich habe solche Fehler »Argumente aus persön- 
lichem Unglauben« genannt. Sie waren immer wieder das 
Vorspiel zu einem intellektuellen Ausrutscher. 

Das Argument, das ich angreife, besagt: Die allmähliche 

Evolution kann bei dieser oder jener Sache nicht stattgefun- 
den haben, weil diese oder jene Sache »ganz offensichtlich« 
vollkommen und vollständig sein muß, damit sie überhaupt 
funktioniert. Bisher habe ich mich in meiner Erwiderung vor 
allem auf die Tatsache gestützt, daß Wespen und sonstige Tiere 
die Welt ganz anders sehen als wir, und selbst uns zu täuschen, 
ist nicht besonders schwer. Aber ich möchte noch andere 
Argumente darlegen, die sogar noch überzeugender und allge- 
meingültiger sind. Dazu bezeichne ich Einrichtungen, die nur 
funktionieren, wenn sie perfekt sind - wie mein Briefschreiber 
es von den Wespen nachahmenden Orchideen glaubte -, als 

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85 

»empfindlich«. Ich finde es bemerkenswert, daß man sich 
kaum einen ganz und gar empfindlichen Apparat vorstellen 
kann. Ein Flugzeug ist nicht empfindlich: Zwar vertraut jeder 
von uns sein Leben lieber einer Boeing 747 an, deren unzählige 
Teile fehlerlos zusammenarbeiten, aber auch ein Flugzeug, bei 
dem wichtige Teile - sogar ein oder zwei Triebwerke - 
ausgefallen sind, kann noch fliegen. Ein Mikroskop ist nicht 
empfindlich: Ein schlechtes Gerät liefert zwar verschwom- 
mene, unvollständig ausgeleuchtete Bilder, aber man kann 
damit kleine Gegenstände immer noch besser sehen als ohne 
Mikroskop. Ein Radio ist ebenfalls nicht empfindlich: Hat es 
irgendeinen Defekt, verliert es vielleicht an Tonqualität, und 
der Klang ist dünn oder verzerrt, aber man kann die Worte einer 
Sendung immer noch verstehen. Ich habe zehn Minuten aus 
dem Fenster gestarrt und nach einem guten Beispiel für ein von 
Menschen erschaffenes empfindliches Gebilde gesucht, und 
mir ist nur ein einziges eingefallen: das Gewölbe. Ein Gewölbe 
ist nahezu völlig empfindlich. Wenn seine Seiten vereinigt sind, 
ist es sehr kräftig und stabil, aber bevor sie sich berühren, bleibt 
keine Seite allein bestehen. Jedes Gewölbe muß mit einer Art 
Gerüst gebaut werden, das vorübergehend eine Stütze bildet, 
bis das Ganze fertig ist; anschließend kann man es entfernen, 
und das Bauwerk bleibt über lange Zeit bestehen. 

In der Technik der Menschen gibt es keinen prinzipiellen 

Grund, warum ein Gerät nicht empfindlich sein sollte. Den 
Ingenieuren an ihren Zeichenbrettern steht es frei, Vorrich- 
tungen zu entwerfen, die in halbfertigem Zustand überhaupt 
nicht funktionieren. Aber sogar auf dem Gebiet der Technik 
haben wir nur mit Mühe eine wirklich empfindliche Konstruk- 
tion gefunden. Nach meiner Überzeugung gilt das für lebende 
Gebilde in noch viel stärkerem Maße. Sehen wir uns einmal 
ein paar der angeblich empfindlichen Apparate aus der Welt 
des Lebendigen an, die uns die kreationistische Propaganda 
vorgehalten hat. Die Geschichte von der Wespe und der Or- 

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86 

chidee ist nur ein Beispiel für das faszinierende Phänomen 
der Mimikry. Zahlreiche Tiere und auch manche Pflanzen 
ziehen einen Vorteil daraus, daß sie etwas anderem ähneln, 
und zwar oft anderen Tieren oder Pflanzen. An irgendeiner 
Stelle wurde fast jeder Aspekt des Lebendigen durch Mimikry 
gestärkt oder geschwächt: der Beutefang (Tiger und Leopar- 
den sind fast unsichtbar, wenn sie sich in einem von der Sonne 
gesprenkelten Gehölz an ihre Beute anschleichen; die Angler- 
fische ähneln dem Meeresboden, auf dem sie stehen, und 
locken mit einer »Angelschnur«, die am Ende einen wurm- 
ähnlichen Köder trägt, ihre Beute an; die Weibchen einer 
Leuchtkäferart ahmen das Balzblinkmuster einer anderen Art 
nach und locken so deren Männchen an, die sie dann auffres- 
sen; Säbelzahn-Schleimfische ahmen andere Fischarten nach, 
die sich auf das Säubern größerer Fische spezialisiert haben, 
und wenn sie sich zu diesen ungehinderten Zugang  verschafft 
haben, beißen sie ihnen Stücke der Flossen heraus); die Ver- 
meidung des Gefressenwerdens (Beutetiere ähneln vielfach 
Baumrinden, Zweigen, frischen grünen Blättern, eingerollten 
verwelkten Blättern, Blüten, Rosendornen, Seetangwedeln, 
Steinen, Vogelexkrementen oder anderen Tieren, die bekann- 
termaßen giftig sind); die Ablenkung der Räuber von den 
Jungen (Säbelschnabler und viele andere am Boden nistende 
Vögel ahmen Haltung und Gang eines Vogels mit gebroche- 
nem Flügel nach); das Erlangen von Brutpflege (Kuckuckseier 
ähneln den Eiern der Vögel, denen sie untergeschoben wer- 
den; die Weibchen mancher maulbrütenden Fische tragen an 
den Körperseiten eine ei-ähnliche Zeichnung und ziehen da- 
mit Männchen an, die dann die echten Eier ins Maul nehmen 
und ausbrüten). 

In allen diesen Fällen ist man versucht zu glauben, die 

Mimikry könne nur funktionieren, wenn sie vollkommen ist. 
In dem speziellen Zusammenhang mit der Wespe und der 
Orchidee habe ich besonders die unvollkommene Wahrneh- 

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87 

mung der Wespen und anderer Opfer der Mimikry betont. In 
meinen Augen ähneln Orchideen gar nicht so sehr den Wes- 
pen, Bienen oder Fliegen. Viel größer ist die Ähnlichkeit für 
meine Wahrnehmung zwischen einem blattförmigen Insekt 
und einem Blatt, vielleicht weil mein Blickwinkel eher der 
eines Räubers (vermutlich eines Vogels) ist, gegen den sich 
die Mimikry richtet. 

Aber die Behauptung, Mimikry könne nur funktionieren, 

wenn sie perfekt sei, ist noch in einem allgemeineren Sinne 
falsch. So gut beispielsweise die Augen eines Verfolgers auch 
sein mögen, die Bedingungen für das Sehen sind nicht immer 
optimal. Außerdem existiert zwangsläufig immer das ganze 
Spektrum der Sichtbedingungen von sehr schlecht bis sehr 
gut. Man stelle sich beispielsweise einen Gegenstand vor, den 
man wirklich gut kennt, so daß man ihn wahrscheinlich nie für 
etwas anderes halten würde. Oder eine Person, zum Beispiel 
eine enge Freundin, die einem so lieb und vertraut ist, daß 
man sie nie für jemand anderen hält. Und nun malen wir uns 
einmal aus, sie käme aus großer Entfernung auf uns zu. Es gibt 
einen so großen Abstand, daß man sie überhaupt nicht er- 
kennt, und einen so geringen, daß man alles sieht, jede Wim- 
per, jede Pore. Bei einer mittleren Entfernung gibt es keinen 
plötzlichen Übergang, sondern eine allmähliche Zu- oder Ab- 
nahme der Erkennbarkeit. Sehr deutlich ist das in Armeehand- 
büchern über das Schießen formuliert: »Bei zweihundert Me- 
tern sind alle Körperteile einzeln zu erkennen. Bei dreihun- 
dert Metern zerläuft der Umriß des Gesichtes. Bei vierhundert 
Metern ist kein Gesicht zu erkennen. Bei sechshundert Metern 
ist der Kopf ein Punkt, und der Körper verschwimmt. Noch 
Fragen?« Bei der engen Freundin kommt es zugegebenerma- 
ßen vor, daß man sie plötzlich erkennt, aber dann ändert sich 
mit der Entfernung allmählich die Wahrscheinlichkeit,  daß das 
geschieht. 

Auf die eine oder andere Weise ändert sich mit der Entfer- 

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88 

nung die Erkennbarkeit, und zwar immer ganz allmählich. Bei 
jeder größeren oder geringeren, fast vollkommenen oder 
nahezu nicht vorhandenen Ähnlichkeit zwischen Vorbild und 
Nachahmer muß es eine Entfernung geben, in der die Augen 
des Verfolgers getäuscht werden, und eine geringfügig klei- 
nere, in der die Wahrscheinlichkeit einer solchen Täuschung 
geringer ist. Im Verlauf der Evolution kann die natürliche 
Selektion also eine immer perfektere Ähnlichkeit begünstigen, 
denn dabei wird die Entfernung, in der die Täuschung noch 
besteht, immer geringer. Wenn ich »Augen des Verfolgers« 
sage, meine ich damit die Augen von irgend jemandem, der 
getäuscht werden soll. Manchmal sind das auch die Augen der 
Beute, der Ersatzeltern, des Fischweibchens und so weiter. 

Ich habe diesen Effekt in öffentlichen Vorträgen vor Kindern 

deutlich gemacht. Mein Kollege Dr. George McGavin vom 
Oxford Universitv Museum stellte mir freundlicherweise das 
Modell eines Waldbodens mit Ästen, verwelktem Laub und 
Moos her. Darauf verteilte er kunstvoll Dutzende toter Insek- 
ten. Manche davon, beispielsweise ein metallisch blauer Käfer, 
fielen sofort auf; andere, so Gespenstheuschrecken und blatt- 
ähnliche Schmetterlinge, waren hervorragend getarnt; und 
wieder andere, zum Beispiel eine braune Küchenschabe, be- 
fanden sich dazwischen. Ich forderte einige Kinder aus dem 
Publikum auf, langsam auf das Modell zuzugehen, nach Insek- 
ten Ausschau zu halten und mir laut zuzurufen, wenn sie eines 
entdeckt hatten. Waren sie weit genug entfernt, konnten sie 
auch die auffälligen Insekten nicht erkennen. Wenn sie näher 
kamen, sahen sie zuerst die ins Augen fallenden Tiere, dann 
solche wie die Küchenschabe, die mittelmäßig gut zu erken- 
nen waren, und schließlich die gut getarnten Exemplare. Die 
am besten getarnten Insekten konnten die Kinder selbst dann 
nicht entdecken, wenn sie aus unmittelbarer Nähe auf sie 
starrten, und wenn ich schließlich darauf zeigte, waren sie 
völlig verblüfft. 

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89 

Entfernung ist nicht die einzige stufenlos veränderliche Größe, 

auf die man eine solche Argumentation anwenden kann. Eine 
andere ist das Dämmerlicht. Mitten in der Nacht sieht man 
fast nichts, so daß selbst eine sehr grobe Ähnlichkeit zwi- 
schen Vorbild und Nachahmer ihren Zweck erfüllt. In der 
Mittagssonne dagegen wird nur eine peinlich genaue Nachbil- 
dung der Entdeckung entgehen. Zwischen diesen Zeitpunk- 
ten, bei Tagesanbruch und gegen Abend, in der Dämmerung 
oder schlicht an einem düsteren, bewölkten Tag, in Nebel und 
Regen, gibt es ein ununterbrochenes Spektrum der besseren 
oder schlechteren Erkennbarkeit. Auch hier wird eine immer 
größere Ähnlichkeit von der natürlichen Selektion begünstigt, 
denn zu jedem Grad der Übereinstimmung gibt es einen Grad 
der Erkennbarkeit, bei dem gerade dieses Ausmaß der Ähn- 
lichkeit den entscheidenden Unterschied darstellt. Im Laufe 
der Evolution verschafft die stetige Verbesserung der Ähnlich- 
keit einen Überlebensvorteil, weil die kritische Lichtintensität, 
bei der die Täuschung gerade noch gelingt, immer größer 
wird. 

Ganz ähnliche stufenlose Veränderungen gibt es auch beim 

Gesichtswinkel. Die Tarnung eines Insekts, ob gut oder 
schlecht, wird vom Verfolger manchmal aus dem Augenwinkel 
erkannt, manchmal in gnadenloser Frontalansicht. Es muß 
einen so stark seitlichen Blickwinkel geben, daß auch die 
schlechteste denkbare Nachahmung der Entdeckung entgeht, 
und ebenso muß eine genau ausgerichtete Ansicht existieren, 
bei der selbst die beste Tarnung in Gefahr gerät. Dazwischen 
liegt wiederum ein Kontinuum von Blickwinkeln mit unter- 
schiedlicher Erkennbarkeit. Für jede Vollkommenheitsstufe 
der Mimikry gibt es einen kritischen Blickwinkel, bei dem eine 
geringe Verbesserung oder Verschlechterung entscheidend 
ist. Im Verlauf der Evolution wird die allmählich immer weiter 
verbesserte Ähnlichkeit begünstigt, weil der kritische Blickwin- 
kel für eine Täuschung eine immer wichtigere Rolle spielt. 

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90 

Als ein weiteres derartiges Spektrum, auf das ich in diesem 
Kapitel bereits hingewiesen habe, kann man die Qualität des 
Gehirns und der Augen des Verfolgers betrachten. Für jedes 
Ausmaß der Ähnlichkeit zwischen Vorbild und Nachahmer 
gibt es wahrscheinlich ein Auge, das sich täuschen läßt, und 
ein anderes, bei dem die Täuschung nicht gelingt. Auch hier 
wird die stufenlos immer weiter verbesserte Ähnlichkeit von 
der Evolution begünstigt, weil immer raffinierter gebaute Au- 
gen der Verfolger getäuscht werden. Damit meine ich nicht, 
daß die Verfolger parallel zu der verbesserten Mimikry eben- 
falls verbesserte Augen entwickeln, obwohl auch das gesche- 
hen kann. Ich meine vielmehr, daß es irgendwo Verfolger mit 
besseren und schlechteren Augen gibt. Sie alle stellen eine 
Gefahr dar. Ein schlechter Nachahmer kann nur Verfolger mit 
schlechten Augen täuschen, ein besserer dagegen fast alle. 
Dazwischen liegt wiederum ein bruchloses Kontinuum. 

Mit der Erwähnung von guten und schlechten Augen bin ich 

bei einem Lieblingsargument der Kreationisten. Wozu ist ein 
halbes Auge gut? Wie kann die natürliche Selektion ein Auge 
begünstigen, solange es noch nicht vollkommen ist? Ich habe 
mich schon früher ausführlich mit dieser Frage beschäftigt 
und eine ganze Reihe von Augenzwischenformen vorgeführt, 
wobei ich von Formen ausgegangen bin, die in den verschie- 
denen Stämmen des Tierreiches tatsächlich vorkommen. Hier 
möchte ich die Augen in meine Rubrik theoretischer bruchlo- 
ser Abstufungen aufnehmen. Es gibt ein Spektrum oder Konti- 
nuum von Aufgaben, für die man Augen gebrauchen kann. 
Derzeit benutze ich sie, um die Buchstaben des Alphabets zu 
erkennen, die auf meinem Computerbildschirm erscheinen. 
Dazu braucht man gute Augen, mit denen man scharf sehen 
kann. Ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem ich ohne 
Brille nicht mehr lesen kann - zur Zeit ist es eine mit recht 
schwacher Vergrößerung. Wenn ich noch älter werde, wird 
man mir immer stärkere Gläser verschreiben. Ohne Brille 

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91 

werde ich Einzelheiten aus der Nähe immer schwerer erken- 
nen können. Damit sind wir bei einem weiteren Kontinuum: 
dem Kontinuum des Alters. 

Jeder gesunde Mensch, wie alt er auch sei, sieht besser als 

ein Insekt. Manche Aufgaben sind auch von Menschen mit 
relativ schlechtem Sehvermögen bis hin zur fast völligen 
Blindheit gut zu bewältigen. Auch wenn man nur recht ver- 
schwommen sieht, kann man Tennis spielen, denn ein Tennis- 
ball ist ein großer Gegenstand, dessen Position und Bewegung 
man auch dann wahrnimmt, wenn man ihn nicht scharf er- 
kennt. Die Libelle hat nach unseren Maßstäben schlechte, für 
ein Insekt aber recht gute Augen und kann andere Insekten im 
Flug fangen, was sicher ebenso schwierig ist wie das Treffen 
eines Tennisballs. Noch viel schlechtere Augen kann man 
anwenden, um nicht gegen eine Wand zu rennen oder um 
nicht über den Rand eines Felsens in einen Fluß zu stürzen. 
Wenn das Sehvermögen noch geringer ist, kann man damit 
einen Schatten wahrnehmen, der eine Wolke oder aber auch 
einen in der Höhe lauernden Verfolger verrät. Und mit noch 
einfacheren Augen bemerkt man immer noch den Unter- 
schied zwischen Tag und Nacht, was unter anderem nützlich 
ist, um die Paarungszeiten zu koordinieren und um zur richti- 
gen Zeit zu schlafen. Man kann das Auge für ein Kontinuum 
von Aufgaben benutzen, so daß es für jede Qualität der Augen 
- von hervorragend bis miserabel - eine Aufgabe gibt, bei der 
eine geringfügige Verbesserung entscheidend ist. Deshalb ist 
die allmähliche Evolution des Auges von den primitiven, gro- 
ben Anfängen über eine bruchlose Folge von Zwischenstufen 
bis zu der Vollkommenheit bei einem Falken oder einem 
jungen Menschen ohne weiteres zu verstehen. 

Die Frage der Kreationisten, wozu ein halbes Auge gut sei, 

ist also recht trivial, und läßt sich mit Leichtigkeit beantworten. 
Ein halbes Auge ist genau ein Prozent besser als 49 Prozent 
eines Auges, und das ist wiederum besser als 48 Prozent, und 

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92 

der Unterschied ist von Bedeutung. Den Anschein einer viel 
bedeutungsschwereren Frage erweckt die unvermeidliche Er- 
gänzung: »Als Physiker* kann ich nicht glauben, daß genügend 
Zeit zur Verfügung stand, damit sich ein so kompliziertes 
Organ wie das Auge aus dem Nichts entwickeln konnte. Glau- 
ben Sie wirklich, daß die Zeit lang genug war?« Beide Fragen 
entstammen den Argumenten aus persönlichem Unglauben. 
Dennoch freut sich das Publikum immer über eine Antwort, 
und ich habe mich deshalb in der Regel einfach auf die schiere 
Größe der erdgeschichtlichen Zeiträume berufen. Wenn ein 
Schritt ein Jahrhundert darstellt, schrumpft die gesamte Zeit 
seit Christi Geburt auf die Weite eines Kricketschlages zusam- 
men. Um in dem gleichen Maßstab den Ursprung der vielzelli- 
gen Tiere zu erreichen, müßte man von New York nach San 
Francisco wandern. 

Aber mittlerweile sieht es so aus, als seien die gewaltigen 

Ausmaße der geologischen Zeiträume eine Kanone, mit der 
man auf Spatzen schießt. Die Wanderung von Küste zu Küste 
zeigt deutlich, welche Zeit für die Evolution des Auges zur 
Verfügung  
stand. Eine neuere Untersuchung der beiden 
schwedischen Wissenschaftler Dan Nilsson und Susanne Pel- 
ger läßt jedoch darauf schließen, daß ein lächerlich geringer 
Bruchteil dieser Zeit dafür mehr als genug gewesen wäre. 
Wenn man »das Auge« sagt, meint man damit, nebenbei be- 
merkt, das Wirbeltierauge, aber brauchbare Augen, die ein 
 

* Ich hoffe, das ist keine Beleidigung. Zur Unterstützung meines Arguments 

zitiere ich, was der Geistliche John Polkinghorne, ein angesehene Physiker, in 
Science and Christian Belief (1994, S. 16) geschrieben hat: »Jemand wie Richard 
Dawkins kann ein überzeugendes Bild davon zeichnen, wie sich durch Aussie- 
ben und Ansammlung kleiner Unterschiede große Entwicklungen ergeben, 
aber als Physiker wünscht man sich instinktiv eine Schätzung, und sei sie auch 
noch so grob, in bezug auf die Zahl der Schritte, die uns von einer schwach 
lichtempfindlichen Zelle zum voll ausgebildeten Insektenauge führen, und 
hinsichtlich der Zahl der Generationen, die für die dazu notwendigen Mutatio- 
nen erforderlich sind.« 

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93 

Bild liefern, haben sich in vielen Gruppen der Wirbellosen 
etwa vierzig- bis sechzigmal von Grund auf neu entwickelt. In 
diesen über vierzig unabhängigen Entwicklungslinien wur- 
den mindestens neun unterschiedliche Konstruktionsprinzi- 
pien entdeckt, darunter das der Lochkamerä, zwei Arten von 
Linsenkameras, Hohlspiegelaugen nach dem Prinzip der Sa- 
tellitenschüssel und mehrere Typen von Komplexaugen. Nils- 
son und Pelger konzentrierten sich auf Augen nach dem Prin- 
zip der Linsenkamera, wie sie bei Wirbeltieren und Tintenfi- 
schen gut entwickelt sind. 

Wie schätzt man nun die Zeit ab, die für ein bestimmtes 

Ausmaß entwicklungsgeschichtlicher Veränderung notwen- 
dig ist? Man muß eine Maßeinheit für die Größe der einzelnen 
Evolutionsschritte finden, und vernünftigerweise drückt man 
sie als prozentuale Veränderung des bereits Vorhandenen aus. 
Nilsson und Pelger benutzten die Zahl der aufeinanderfolgen- 
den Veränderungen von jeweils einem Prozent als Einheit zur 
Messung quantitativer anatomischer Veränderungen. Es ist 
schlicht eine bequeme Einheit, ganz ähnlich wie die Kalorie, 
die als die zur Verrichtung einer bestimmten Arbeit erforderli- 
che Energiemenge definiert ist. Am einfachsten läßt sich die 
Einheit von einem Prozent anwenden, wenn die Veränderung 
immer in derselben Richtung verläuft. Nehmen wir beispiels- 
weise den unwahrscheinlichen Fall, daß die natürliche Selek- 
tion bei Paradiesvögeln immer längere Schwänze begünstigt. 
Wie viele Schritte wären dann erforderlich, damit der 
Schwanz sich von einem Meter zu einem Kilometer Länge 
entwickelt? Eine Längenzunahme von einem Prozent würde 
der Freizeitornithologe nicht bemerken. Um die Schwanz- 
länge auf einen Kilometer anwachsen zu lassen, sind dennoch 
nur erstaunlich wenige Schritte erforderlich, nämlich noch 
nicht einmal siebenhundert. 

Die Verlängerung eines Schwanzes von einem Meter auf 

einen Kilometer ist ja schön und gut (und schön absurd), aber 

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94 

wie ordnet man die Evolution des Auges nach diesem Maßstab 
ein? Dabei stellt sich das Problem, daß beim Auge viele Dinge 
in vielen Teilen des Organs parallel geschehen müssen. Nils- 
son und Pelger konstruierten Computermodelle von Augen, 
die sich in der Entwicklung befanden, um damit zwei Fragen 
zu beantworten. Die erste ist im wesentlichen die gleiche, die 
wir auf den letzten Seiten immer und immer wieder gestellt 
haben, aber sie formulierten das Problem systematischer und 
mit Hilfe des Computers: Gibt es eine allmähliche Steigerung 
der Veränderung von der flachen Haut bis zum kameraähnli- 
chen Auge, wobei jede Zwischenstufe eine Verbesserung dar- 
stellt? (Die natürliche Selektion kann sich im Gegensatz zu 
einem menschlichen Designer nicht bergab bewegen, auch 
dann nicht, wenn auf der anderen Seite des Tales ein verlok- 
kender höherer Berg liegt.) Und zweitens stellten sie die 
Frage, mit der wir diesen Abschnitt begonnen haben: Wie 
lange würde die erforderliche Menge entwicklungsgeschicht- 
licher Veränderungen dauern? 

Nilsson und Pelger versuchten in ihren Computermodellen 

nicht, die Abläufe im Inneren der Zellen zu simulieren. Ihre 
Geschichte begann bei der Erfindung einer einzigen licht- 
empfindlichen Zelle - man kann sie ruhig Photozelle nennen. 
Hübsch wäre es, wenn man in Zukunft noch ein anderes 
Computermodell konstruierte, welches das Zellinnere simu- 
liert und zeigt, wie die erste Photozelle durch schrittweise 
Abwandlung einer vorhandenen, allgemeinen Zwecken die- 
nenden Zelle entstand. Aber irgendwo muß man anfangen, 
und Nilsson und Pelger begannen mit der Erfindung der 
ersten Photozelle. Sie arbeiteten auf der Ebene der Gewebe, 
also bei dem Stoff, der aus Zellen besteht, und nicht auf der 
Ebene der einzelnen Zellen. Haut ist ein Gewebe, die Darm- 
schleimhaut ist ein anderes, und wieder andere sind Muskel 
und Leber. Gewebe können sich unter dem Einfluß zufälliger 
Mutationen in vielerlei Weise verändern. Gewebeschichten 

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95 

können in ihrer Fläche wachsen oder schrumpfen, dicker 
oder dünner werden. Im speziellen Fall der durchsichtigen 
Gewebe, zum Beispiel der Augenlinse, kann sich in einzelnen 
Bereichen der Brechungsindex (die Fähigkeit, Licht zu bre- 
chen) verändern. 

Die Simulation eines Auges, beispielsweise im Unterschied 

zum Bein eines laufenden Gepards, ist deshalb so schön, weil 
man die Effizienz anhand der optischen Grundgesetze leicht 
messen kann. Das Auge wird zweidimensional im Querschnitt 
dargestellt, und der Computer kann sehr einfach die Seh- 
schärfe, das heißt das räumliche Auflösungsvermögen, in 
Form einer einzigen Zahl berechnen. Die Effizienz von Bei- 
nen oder Wirbelsäule eines Gepards in ähnlicher Weise mit 
Zahlen wiederzugeben, wäre wesentlich schwieriger. Nilsson 
und Pelger begannen mit einer flachen Netzhaut über einer 
flachen Pigmentschicht, und das Ganze war von einer flachen, 
durchsichtigen Schutzschicht überzogen. In der durchsich- 
tigen Schicht ließen sie Zufallsmutationen ablaufen, die zu 
örtlichen Veränderungen des Brechungsindex führten. An- 
schließend überließen sie es dem Zufall, das Modell zu verfor- 
men; die einzige Einschränkung war die Notwendigkeit, daß 
jede Veränderung klein und im Vergleich zum vorherigen 
Zustand eine Verbesserung sein mußte. 

Sehr rasch ergaben sich eindeutige Ergebnisse. Als das 

Augenmodell auf dem Computerbildschirm seine Form ver- 
änderte, führte ein Weg der ständig zunehmenden Sehschärfe 
ohne Verzögerung von der flachen Anfangsstruktur über eine 
flache Einbeulung zu einem immer tiefer werdenden Becher. 
Die durchsichtige Schicht verdickte sich, füllte den Becher aus 
und wölbte sich außen zu einer leicht gebogenen Oberfläche. 
Und dann, fast wie bei einem Zauberkunststück, verdichtete 
sich plötzlich ein Teil der durchsichtigen Füllung zu einem 
begrenzten, kugelförmigen Bereich mit höherem Brechungs- 
index. Er war nicht einheitlich höher, sondern veränderte sich 

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96 

allmählich, so daß der kugelförmige Bereich eine hervorra- 
gende Gleitindex-Linse bildete. Gleitindex-Linsen sind 
menschlichen Linsenschleifern nicht vertraut, aber sie sind in 
lebenden Augen üblich. Wir stellen Linsen her, indem wir Glas 
in eine bestimmte Form schleifen. In zusammengesetzten 
Linsen, zum Beispiel in den teuren, bläulich vergüteten Kame- 
raobjektiven, werden mehrere Linsen zusammenmontiert, 
aber jede einzelne davon besteht in ihrer ganzen Dicke aus 
einem einheitlichen Glas. Bei der Gleitindex-Linse dagegen 
ändert sich der Brechungsindex innerhalb ihrer eigenen Sub- 
stanz. Am höchsten ist er in der Regel in der Mitte der Linse. 
Solche Linsen findet man zum Beispiel in den Augen der 
Fische. Wie man schon seit langen weiß, ergibt sich bei Gleit- 
index-Linsen die geringste Abbildungsverzerrung, wenn das 
Verhältnis zwischen Brennweite und Linsenradius einen theo- 
retisch zu berechnenden Optimalwert erreicht. Diesen Wert 
nennt man auch Mattiessen-Verhältnis. Und das Computermo- 
dell von Nilsson und Pelger pendelte sich unweigerlich auf 
das Mattiessen-Verhältnis ein. 

Nun zu der Frage, wie lange dieser entwicklungsgeschichtli- 

che Wandel gedauert haben könnte. Um sie zu beantworten, 
mußten Nilsson und Pelger einige Thesen über die Genetik 
natürlicher Populationen aufstellen. Sie mußten in ihr Modell 
plausible Werte für Größen wie die »Erblichkeit« eingeben. 
Erblichkeit ist ein Maß dafür, inwieweit Abweichungen durch 
die Vererbung bestimmt sind. Die beliebteste Methode ihrer 
Messung ist die Untersuchung der Ähnlichkeit eineiiger (das 
heißt »identischer«) Zwillinge im Vergleich zu zweieiigen. In 
einer solchen Studie stellte sich heraus, daß die Beinlänge bei 
Männern zu 77 Prozent erblich ist. Eine Erblichkeit von 100 
Prozent würde bedeuten, daß man nur das Bein eines einei- 
igen Zwillings zu messen braucht, um genau zu wissen, wie 
lang die Beine bei dem anderen sind, und zwar auch dann, 
wenn beide getrennt aufgewachsen sind. Bei einer Erblichkeit 

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97 

von 0 Prozent dagegen wären die Beine eineiiger Zwillinge 
einander nicht ähnlicher als die zweier zufällig ausgewählter 
Angehöriger einer bestimmten Population in einer bestimm- 
ten Umwelt. Als weitere Werte für die Erblichkeit hat man bei 
Menschen zum Beispiel 95 Prozent für die Kopfbreite gemes- 
sen, 85 Prozent für die Größe im Sitzen, 80 Prozent für die 
Armlänge und 79 Prozent für den Körperbau. 

Die Erblichkeit liegt häufig bei über 50 Prozent, und des- 

halb gingen Nilsson und Pelger bei ihrem Augenmodell von 
50 Prozent Erblichkeit aus. Das war eine vorsichtige oder 
»pessimistische« Schätzung. Im Vergleich zu einer realisti- 
scheren Annahme von beispielsweise 70 Prozent führt ein 
solches pessimistisches Postulat zu einem längeren Schätz- 
wert für die Evolutionszeit des Auges. Sie wollten lieber über- 
vorsichtig sein und die Zeit zu lang schätzen, denn intuitiv ist 
jeder von uns skeptisch gegenüber einer Schätzung, nach der 
etwas so Kompliziertes wie das Auge sich in kurzer Zeit ent- 
wickelt haben sollte. 

Aus dem gleichen Grund wählten sie auch pessimistische 

Werte für den Variationskoeffizienten (das heißt für das typi- 
sche Ausmaß der Variation in der Population) und für die Stärke 
der Selektion (das heißt für das Ausmaß des Vorteils, den das 
verbesserte Sehvermögen verschafft). Sie gingen sogar noch 
weiter und unterstellten, daß jede neue Generation sich von 
der vorherigen nur in einer Eigenschaft des Auges auf einmal 
unterschied: Gleichzeitige Veränderungen in mehreren Tei- 
len, welche die Evolution stark beschleunigt hätten, wurden 
ausgeschlossen. Aber selbst unter diesen vorsichtig gewählten 
Voraussetzungen war die Evolutionszeit von der flachen Haut 
bis zum Fischauge extrem kurz: noch nicht einmal vierhundert- 
tausend Generationen. Bei den kleinen Tieren, von denen hier 
die Rede ist, kann man von einer Generation pro Jahr ausgehen; 
es sieht also so aus, als dauerte die Evolution eines guten, 
kameraähnlichen Auges weniger als eine halbe Million Jahre. 

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98 

Im Licht der Befunde von Nilsson und Pelger ist es kein Wun- 
der, daß sich »das« Auge im Tierreich mindestens vierzig- 
mal unabhängig entwickelt hat. Es hätte in der zur Verfügung 
stehenden Zeit in ein und derselben Abstammungslinie fünf- 
zehnhundertmal aus dem Nichts entstehen können. Unter- 
stellt man die für kleine Tiere typischen Generationszeiten, 
erscheint die für die Evolution des Augen benötigte Zeit auf- 
grund ihrer Länge keineswegs unglaubhaft; ganz im Gegen- 
teil. Es stellt sich heraus, daß sie für Geologen zu kurz zum 
Messen ist. Geologisch gesehen, ist sie ein Augenblick. 

Heimlicher Nutzen. Ein entscheidendes Merkmal der Evo- 

lution ist die Allmählichkeit. Das ist weniger eine Tatsache als 
ein Prinzip. Daß es in manchen Phasen der Evolution zu 
plötzlichen Wendungen kommt, mag stimmen oder auch 
nicht. Vielleicht gibt es Unterbrechungen des Gleichgewichts, 
in denen die Evolution sich beschleunigt, oder vielleicht sogar 
plötzliche Makromutationen, größere Veränderungen, durch 
die ein Kind sich von seinen Eltern unterscheidet. Mit Sicher- 
heit gibt es das plötzliche Aussterben, verursacht möglicher- 
weise durch Naturkatastrophen wie den Einschlag eines Ko- 
meten auf der Erde; solche Ereignisse hinterlassen ein Va- 
kuum, das neue Arten mit schnellen Verbesserungen füllen, 
wie die Säugetiere, die an die Stelle der Dinosaurier traten. Es 
ist durchaus möglich, daß die Evolution nicht in jedem Einzel- 
fall allmählich verläuft. Aber sie muß allmählich verlaufen 
sein, wenn man mit ihr die Entstehung komplizierter, schein- 
bar gezielt konstruierter Gebilde wie der Augen erklären will. 
Wäre sie in solchen Fällen nicht allmählich abgelaufen, ver- 
löre sie völlig den Charakter einer Erklärung. Dann wären wir 
wieder beim Wunder, was nichts anderes bedeutet, als daß es 
überhaupt keine Erklärung gibt. 

Augen und von Wespen bestäubte Orchideen beeindruk- 

ken uns vor allem deshalb so stark, weil sie so unwahrschein- 
lich sind. Die Möglichkeit, daß sie von selbst und durch einen 

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99 

glücklichen Zufall entstehen, ist so gering, daß man sie in der 
realen Welt ausschließen kann. Des Rätsels Lösung ist die 
allmähliche Evolution in kleinen Schritten, von denen jeder 
ein glücklicher, aber nicht allzu glücklicher Zufall war. Ver- 
liefe sie nicht allmählich, wäre sie keine Lösung, sondern nur 
eine neue Formulierung des Rätsels. 

In manchen Fällen kann man sich nur schwer ausmalen, wie 

die abgestuften Zwischenformen ausgesehen haben könnten. 
So etwas ist eine Herausforderung an unser Vorstellungsver- 
mögen, und wenn es versagt, um so schlechter für es. Das ist 
aber kein Indiz, daß es die Zwischenstufen nicht gegeben hat. 
Eine der größten Herausforderungen für unsere Phantasie bei 
der Vorstellung von Zwischenstufen ist die berühmte »Tanz- 
sprache« der Bienen, dargelegt in dem klassischen Werk, mit 
dem Karl von Frisch bekannt wurde. Hier erscheint das End- 
produkt der Evolution so kompliziert, so genial und so weit 
entfernt von allen Tätigkeiten, mit denen man bei Insekten 
normalerweise rechnet, daß man sich die Zwischenstufen 
kaum vorstellen kann. 

Honigbienen teilen einander die Lage von Blüten mit einem 

sorgfältig verschlüsselten Tanz mit. Befindet sich die Nah- 
rungsquelle sehr dicht beim Bienenstock, tanzen sie den 
»Rundtanz«: Er regt andere Bienen nur an, auszuschwärmen 
und in der Nachbarschaft des Stockes zu suchen. Das ist noch 
nicht bemerkenswert. Sehr  bemerkenswert ist aber, was ge- 
schieht, wenn das Futter weiter entfernt ist. Der Kundschafter, 
der es gefunden hat, führt den sogenannten Schwänzeltanz 
auf, dessen Form und Ablauf den anderen Bienen sowohl die 
Himmelsrichtung der Futterquelle als auch ihre Entfernung 
vom Stock signalisiert. Der Schwänzeltanz findet im Bienen- 
stock auf der senkrechten Oberfläche der Waben statt. Dort ist 
es dunkel, so daß die anderen Bienen ihn nicht sehen können. 
Sie fühlen ihn und hören ihn auch, denn die tanzende Biene 
begleitet ihre Vorführung mit leisen, rhythmischen Pfeifgeräu- 

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100 

schen. Der Tanz hat die Form einer Acht mit einer geraden 
Laufstrecke in der Mitte. Die Richtung dieser geraden Strecke 
gibt nach einem raffinierten Code die Himmelsrichtung der 
Nahrungsquelle an. 

Die gerade Linie der Tanzfigur zeigt aber nicht direkt in 

Richtung der Nahrung. Das ist gar nicht möglich, weil der Tanz 
auf den senkrechten Waben aufgeführt wird, und die Wabe ist 
unabhängig von der Richtung der Nahrung immer auf die 
gleiche Weise befestigt. Das Futter muß in der horizontalen 
geographischen Richtung geortet werden. Die senkrechte 
Wabe entspricht eher einer Landkarte an der Wand. Eine Linie, 
die man auf einer solchen Karte zeichnet, weist nicht unmittel- 
bar auf einen bestimmten Punkt, aber man kann daraus die 
Richtung mit Hilfe einer willkürlichen Übereinkunft ablesen. 

Um die Übereinkunft der Bienen zu verstehen, muß man als 

erstes wissen, daß diese Tiere sich wie viele Insekten an der 
Sonne orientieren. Auch wir tun das in erster Näherung. Die 
Methode hat aber zwei Nachteile. Erstens ist die Sonne oft 
hinter Wolken versteckt. Dieses Problem lösen die Bienen mit 
einem Sinnesorgan, das wir nicht besitzen. Auch das entdeckte 
von Frisch: Bienen können die Polarisationsebene des Lichtes 
erkennen und damit die Richtung der Sonne auch dann fest- 
stellen, wenn sie nicht zu sehen ist. Das zweite Problem mit 
dem »Sonnenkompaß« besteht darin, daß die Sonne im Laufe 
des Tages über den Himmel »wandert«. Damit werden die 
Bienen mit Hilfe einer inneren Uhr fertig. Von Frisch beobach- 
tete etwas nahezu Unglaubliches: Tanzende Bienen, die nach 
dem Erkundungsflug mehrere Stunden lang im Stock einge- 
sperrt waren, drehten die gerade Strecke des Tanzes allmäh- 
lich in eine andere Richtung wie den Zeiger einer Uhr mit 24- 
Stunden-Einteilung. Sie konnten die Sonne im Stock nicht 
sehen, und doch richteten sie ihren Tanz so aus, daß er mit der 
Bewegung der Sonne übereinstimmte, die sich, wie ihnen die 
innere Uhr sagte, draußen abspielen mußte. Faszinierend ist 

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101 

auch, daß Bienenrassen von der südlichen Erdhalbkugel das 
gleiche in umgekehrter Richtung tun, genau wie man es er- 
wartet. 

Nun zur Bedeutung des Tanzes selbst. Weist die Tanzstrecke 

an der Wabe senkrecht nach oben, befindet sich die Nahrung 
in der gleichen Richtung wie die Sonne. Senkrecht nach unten 
gerichtet, gibt sie genau die entgegengesetzte Richtung an. 
Alle dazwischenliegenden Winkel signalisieren genau das, 
was man erwartet. Fünfzig Grad von der Senkrechten nach 
links bedeutet in der Horizontalen 50 Grad links von der 
Sonne. Der Tanz ist allerdings nicht aufs Grad genau. Warum 
sollte er auch, nur weil wir unseren Kompaß willkürlich in 360 
Grad eingeteilt haben? Bienen unterteilen den Kompaß in 
ungefähr acht Bienengrad. Eigentlich tun wir das gleiche, 
wenn wir keine Berufsseeleute sind: Wir unterscheiden auf 
unserem informellen Kompaß die acht Quadranten N, NO, O, 
SO, S, SW, W und NW. 

Auch die Entfernung der Nahrungsquelle zeigt der Bienen- 

tanz an. Genauer gesagt, haben verschiedene Gesichtspunkte 
des Tanzes - die Drehgeschwindigkeit, die Geschwindigkeit 
des Schwänzelns und die Abstände der Pfeiftöne - mit der 
Entfernung des Futters zu tun, so daß die anderen Bienen an 
jedem davon und an jeder Kombination die Entfernung able- 
sen können. Je näher die Nahrungsquelle, desto schneller der 
Tanz. Das ist zu erwarten, denn eine Biene, die in der Nähe des 
Stockes Futter gefunden hat, ist aufgeregter und weniger er- 
müdet als eine andere, die weiter entfernt eine Nahrungs- 
quelle entdeckt hat. Aber das ist mehr als nur eine Esels- 
brücke; wie wir noch sehen werden, bietet es auch einen 
Hinweis, wie sich der Tanz in der Evolution entwickelt hat. 

Fassen wir noch einmal zusammen: Eine Biene findet auf 

einem Erkundungsflug eine gute Nahrungsquelle. Mit Nektar 
und Pollen beladen, kehrt sie zum Stock zurück und übergibt 
ihre Fracht den Arbeiterinnen. Dann beginnt sie mit dem 

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102 

Tanz: Irgendwo auf der vertikalen Wabe - wo genau, spielt 
keine Rolle - läuft sie immer wieder in einer Achterfigur 
herum. Um sie herum sammeln sich andere Arbeiterinnen, 
die sie spüren und ihr zuhören. Sie erfassen die Häufigkeit der 
Töne und vielleicht auch die Drehgeschwindigkeit. Während 
die Tänzerin mit dem Hinterleib wackelt, messen sie den 
Winkel der geraden Tanzstrecke relativ zur Senkrechten. An- 
schließend eilen sie zum Ausgang des Stockes und schwärmen 
aus der Dunkelheit ins Sonnenlicht. Sie beobachten, wo die 
Sonne steht - nicht die Höhe in der senkrechten, sondern die 
Himmelsrichtung in der horizontalen Ebene. Und dann flie- 
gen sie in gerader Linie weg, wobei der Winkel relativ zur 
Sonne dem Tanzwinkel der Kundschafterin relativ zur Senk- 
rechten auf der Wabe entspricht. In dieser Richtung fliegen sie 
nicht unendlich weit, sondern über eine Entfernung, die (dem 
Logarithmus) der Piepgeschwindigkeit der Tänzerin (umge- 
kehrt) proportional ist. Wenn die Kundschafterin auf dem Weg 
zu der Nahrungsquelle einen Umweg geflogen ist, gibt sie 
verblüffenderweise nicht die Richtung dieses Umweges an, 
sondern die rekonstruierte direkte Himmelsrichtung zu der 
Futterquelle. 

Die Geschichte vom Bienentanz ist eigentlich kaum zu glau- 

ben, und manche Leute glauben sie tatsächlich nicht. Auf diese 
Skeptiker und auf die Experimente, die in jüngster Zeit die 
endgültige Entscheidung brachten, werde ich im nächsten 
Kapitel zurückkommen. Jetzt möchte ich die allmähliche Evo- 
lution des Bienentanzes erörtern. Wie könnten die entwick- 
lungsgeschichtlichen Zwischenstadien ausgesehen haben, 
und wie funktionierten sie, als der Tanz noch nicht vollständig 
ausgebildet war? 

Nebenbei bemerkt, ist die Frage so nicht ganz richtig formu- 

liert. Kein Geschöpf lebt davon, daß es »unvollständig« und 
ein »Zwischenstadium« ist. Die früheren, längst verstorbenen 
Bienen, deren Tänze man rückblickend als Zwischenstufen 

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103 

auf dem Weg zum heutigen Tanz der Honigbienen betrachten 
kann, lebten ganz gut. Sie führten ein erfülltes Bienenleben 
und hatten keine Ahnung, daß sie »auf dem Weg« zu etwas 
»Besserem« waren. Auch der heutige Bienentanz dürfte nicht 
das letzte Wort sein: Er wird sich ebenfalls zu etwas noch 
Sensationellerem entwickeln, wenn wir und unsere Bienen 
längst nicht mehr da sind. Dennoch bleibt das Rätsel, wie sich 
der heutige Bienentanz in aufeinanderfolgenden Stufen ent- 
wickeln konnte. Wie könnten die abgestuften Zwischenfor- 
men ausgesehen habe, und wie funktionierten sie? 

Mit dieser Frage beschäftigte sich schon von Frisch selbst: 

Um sie anzugehen, sah er sich im Stammbaum um, bei den 
heutigen entfernten Vettern der Honigbienen. Sie sind nicht 
die Ahnen der Biene, sondern ihre Zeitgenossen, aber sie 
könnten Eigenschaften der Vorfahren behalten haben. Die 
Honigbiene selbst ist ein Insekt der gemäßigten Klimazonen 
und nistet in schützenden Baumstämmen oder Höhlen. Ihre 
engsten Verwandten sind tropische Bienen, die auch im 
Freien nisten können und ihre Waben an Ästen oder Felsvor- 
sprüngen aufhängen. Sie können also während des Tanzes die 
Sonne sehen und müssen sich nicht mit der Übereinkunft 
behelfen, daß die Senkrechte »für die Richtung der Sonne 
steht«. Bei ihnen steht die Sonne für sich selbst. 

Einer dieser tropischen Verwandten, die Zwergbiene  Apis 

florea, tanzt auf der waagerechten Fläche an der Oberseite der 
Wabe, und die gerade Linie der Tanzfigur zeigt unmittelbar 
zur Nahrungsquelle. Hier ist keine Übereinkunft im Sinne 
einer Landkarte erforderlich: Der unmittelbare Hinweis reicht 
aus. Ein plausibles Übergangsstadium auf dem Weg zur Honig- 
biene, ja, aber immer noch müssen wir nach den anderen 
Zwischenformen fragen, die diesem Stadium vorausgingen 
und nachfolgten. Was könnte der Vorläufer des Tanzes der 
Zwergbienen gewesen sein? Warum sollte eine Biene, die 
gerade Nahrung gefunden hat, immer wieder in einer Achter- 

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104 

figur herumrennen, deren gerade Mittellinie zur Futterquelle 
zeigt? Einem Vorschlag zufolge handelt es sich um eine rituali- 
sierte Form des Anlaufes zum Wegfliegen. Bevor sich der Tanz 
entwickelte, so von Frischs Idee, flog eine Kundschafterin, die 
ihre Fracht abgeliefert hatte, einfach wieder in derselben Rich- 
tung davon, um zur Nahrungsquelle zurückzukehren. Bevor 
sie abhob, drehte sie das Gesicht in die richtige Richtung, und 
gleichzeitig machte sie ein paar Schritte. Wenn dieser Anlauf 
die anderen Bienen zum Hinterherfliegen angeregt hätte, 
hätte die natürliche Selektion alles begünstigt, was zu seiner 
Verlängerung und Übertreibung führte. Vielleicht ist der Tanz 
eine Art rituell wiederholter Anlauf zum Abheben. Das ist 
plausibel, denn Bienen bedienen sich - unabhängig davon, ob 
sie einen Tanz aufführen - häufig einer unmittelbareren Me- 
thode; sie folgen ihren Artgenossen einfach zur Nahrungs- 
quelle. Plausibel wird die Vermutung auch noch durch etwas 
anderes: Während des Tanzes spreizen die Bienen ihre Flügel 
ein wenig ab, als ob sie gleich losfliegen wollten, und lassen 
die Flugmuskeln vibrieren - zwar nicht so stark, daß es zum 
Abheben ausreicht, aber immerhin so, daß das Geräusch ent- 
steht, das einen wichtigen Teil des Tanzsignals darstellt. 

Ein naheliegendes Mittel zur Verlängerung und Übertrei- 

bung des Anlaufes ist seine Wiederholung. Wiederholen heißt, 
daß man zum Ausgangspunkt zurückgeht und dann erneut ein 
paar Schritte in Richtung der Nahrungsquelle  macht. Zurück 
zum Ausgangspunkt kann man auf zwei Wegen gelangen: Man 
wendet sich am Ende des Anlaufes nach rechts oder nach links. 
Wenn man sich immer wieder nur nach rechts oder nach links 
wendet, ist nicht eindeutig klar, in welche Richtung der Anlauf 
zielt und bei welcher Strecke es sich um den Rückweg zum 
Ausgangspunkt handelt. Am besten beseitigt die Biene diese 
Zweideutigkeit, indem sie sich am Ende des Anlaufes abwech- 
selnd nach links und nach rechts dreht. So kam es zur natürli- 
chen Selektion der Achterfigur. 

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105 

Aber wie entwickelte sich die Beziehung zwischen der Ent- 

fernung der Nahrungsquelle und der Tanzgeschwindigkeit? 
Wäre die Geschwindigkeit der Entfernung direkt proportio- 
nal, ließe sich das nur schwer erklären. Aber wie ich bereits 
erwähnt habe, ist es in Wirklichkeit anders herum: je näher das 
Futter, desto schneller der Tanz. Das legt sofort den Gedanken 
an einen plausiblen Evolutionsweg nahe. Bevor sich der 
eigentliche Tanz entwickelte, führten die Kundschafter ihren 
ritualisierten Anlauf ohne festgelegte Geschwindigkeit auf. Er 
war so schnell, wie es der Biene gerade beliebte. Aber wenn 
man, bis zum Stehkragen beladen mit Nektar und Pollen, 
mehrere Kilometer weit nach Hause geflogen ist, verspürt 
man dann wohl noch das Bedürfnis, mit großem Tempo über 
die Wabe zu rennen? Nein, man wäre vermutlich erschöpft. 
Hat man dagegen gerade ziemlich nahe beim Stock eine reich- 
haltige Nahrungsquelle entdeckt, ist man nach dem kurzen 
Rückflug noch frisch und energiegeladen. Man kann sich ohne 
weiteres vorstellen, wie die anfangs zufällige Beziehung zwi- 
schen entfernter Nahrungsquelle und langsamem Tanz zu 
einer formalen, verläßlichen Botschaft ritualisiert wurde. 

Damit sind wir bei dem Übergang mit dem größten Frage- 

zeichen. Wie wurde aus einem Tanz, dessen gerade Linie 
unmittelbar zur Nahrungsquelle zeigte, eine Bewegung, bei 
der ein Winkel zur Senkrechten zum Code für den Winkel 
zwischen Richtung der Nahrung und Sonne wurde? Dieser 
Übergang war aus zwei Gründen notwendig: Erstens ist es im 
Bienenstock dunkel, und man kann die Sonne nicht sehen, 
und zweitens kann man mit dem Tanz auf einer senkrechten 
Wabe nicht unmittelbar in Richtung der Futterquelle zeigen, 
es sei denn, die Tanzfläche ist selbst zufällig in dieser Richtung 
orientiert. Aber nur zu erklären, daß der Übergang notwendig 
gewesen sei, reicht nicht. Man muß auch mit einer plausiblen 
Abfolge von Zwischenschritten darlegen, wie er zustande kam. 

Eine offenbar vertrackte Aufgabe, aber uns kommt dabei 

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106 

eine Besonderheit im Nervensystem der Insekten zu Hilfe. Mit 
verschiedenen Insekten, von Käfern bis zu Ameisen, hat man 
folgendes bemerkenswerte Experiment gemacht: Man läßt 
einen Käfer zunächst bei elektrischem Licht auf einem waage- 
rechten Holzbrett entlanglaufen. Dabei zeigt sich als erstes, 
daß das Insekt sich am Licht orientiert. Bewegt man die Lampe, 
ändert es auch seine Laufrichtung entsprechend. Lag sie bisher 
beispielsweise bei 30 Grad relativ zur Richtung der Licht- 
quelle, so bleibt dieser Winkel auch in der neuen Position der 
Lampe erhalten. Tatsächlich kann man den Käfer mit dem 
Lichtstrahl in jede beliebige Richtung steuern. Das war von 
den Insekten schon seit langem bekannt. Sie benutzen die 
Sonne (auch Mond oder Sterne) als Kompaß, und man kann 
sie mit einer Glühlampe leicht täuschen. So weit, so gut. Jetzt 
kommt das interessante Experiment. Man schaltet das Licht aus 
und kippt das Brett im gleichen Augenblick in die Senkrechte. 
Der Käfer läuft unbeirrt weiter. Aber, siehe da, er ändert die 
Laufrichtung so, daß sie zur Senkrechten jetzt den gleichen 
Winkel bildet wie zuvor zum Licht: in unserem Beispiel 30 
Grad. Warum das so ist, weiß niemand, aber es ist so. Offenbar 
verrät sich hier eine seltsame Eigenschaft des Insektennerven- 
systems: eine Verwirrung der Sinne, eine Überkreuzung der 
Verdrahtung für Gewichts- und Gesichtssinn, vielleicht ein 
wenig so ähnlich wie bei dem Blitz, den wir sehen, wenn man 
uns auf den Kopf schlägt. Jedenfalls war dies vermutlich in der 
Evolution die Brücke für die Botschaft »Senkrechte gleich 
Sonne« im Tanz der Honigbienen. 

Aufschlußreich ist das Verhalten der Honigbienen, wenn 

man in ihrem Stock eine Lampe einschaltet. In diesem Fall 
richten sie sich nicht mehr nach der Schwerkraft, sondern das 
Licht ist ihrem Code unmittelbar gleichbedeutend mit der 
Sonne. Diese seit langem bekannte Tatsache nutzte man in 
einem der genialsten Experimente aller Zeiten aus, und damit 
war endgültig der Nachweis erbracht, daß der Tanz der Honig- 

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107 

bienen seinen Zweck tatsächlich erfüllt. Ich werde im näch- 
sten Kapitel darauf zurückkommen. Einstweilen haben wir 
eine plausible Abfolge abgestufter Zwischenformen gefun- 
den, über die der Tanz der Bienen aus einfachen Anfängen 
hervorgegangen sein könnte. Die Geschichte, wie ich sie er- 
zählt habe, gründet sich auf von Frischs Gedanken und ist 
vielleicht nicht in allen Einzelheiten richtig. Aber etwas Ähnli- 
ches hat sich mit Sicherheit abgespielt. Ich wollte damit auf die 
natürliche Skepsis antworten - die Argumentation aus persön- 
lichem Unglauben -, die sich einstellt, wenn man auf ein 
wirklich geniales oder kompliziertes Naturphänomen stößt. 
Der Skeptiker sagt: »Ich kann mir keine plausible Folge von 
Zwischenformen vorstellen, also gab es sie nicht, sondern das 
Phänomen ist von selbst und durch ein Wunder entstanden.« 
Von Frisch hat die plausible Folge der Zwischenstufen gelie- 
fert. Selbst wenn es nicht die richtige Folge sein sollte, wider- 
legt allein die Tatsache, daß sie plausibel ist, die Argumenta- 
tion aus persönlichem Unglauben. Das gleiche gilt für alle 
anderen Beispiele, die wir betrachtet haben, von den Orchi- 
deen, die eine Wespe nachahmen, bis zum kameraähnlichen 
Auge. 

Wer dem gradualistischen Darwinismus skeptisch gegen- 

übersteht, kann beliebig viele seltsame und verblüffende Tat- 
sachen aus der Natur anführen. Man hat mich beispielsweise 
um eine Erklärung für die allmähliche Evolution jener Lebe- 
wesen gebeten, die in den Tiefseegräben des Pazifiks zu Hause 
sind, wo es kein Licht gibt und ein Wasserdruck von über 
tausend Atmosphären herrscht. Dort haben sich um heiße 
Vulkanquellen am Meeresboden ganze Lebensgemein- 
schaften von Tieren entwickelt. Bakterien nutzen die Wärme 
aus dem Erdinneren, setzen Schwefel statt Sauerstoff um und 
halten völlig andere biochemische Abläufe in Gang. Die Ge- 
meinschaft der größeren Tiere ist letztlich von diesen Bakte- 
rien abhängig, genau wie das Leben an der Oberfläche auf die 

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108 

grünen Pflanzen angewiesen ist, die die Sonnenenergie ein- 
fangen. 

Alle Tiere der auf Schwefel basierenden Lebensgemein- 

schaften sind Verwandte bekannterer Tiere, die anderswo 
leben. Wie und über welche Zwischenformen haben sie sich 
entwickelt? Nun, die Argumentation folgt genau dem gleichen 
Muster. Wir brauchen dazu nur mindestens einen natürlichen, 
stufenlosen Übergang, und solche Übergänge gibt es zur Ge- 
nüge, wenn man im Meer immer weiter hinabsteigt. Tausend 
Atmosphären sind ein entsetzlich hoher Druck, aber er ist nur 
quantitativ größer als 999 Atmosphären, die nur quantitativ 
größer sind als 998 Atmosphären und so weiter. Der Meeres- 
boden bietet Tiefenübergänge von 0 Meter über alle Zwi- 
schenwerte bis 11.000 Meter. Ebenso stufenlos schwankt der 
Druck zwischen einer Atmosphäre und tausend Atmosphären. 
Die Lichtintensität schwankt stufenlos vom hellen Tageslicht 
dicht unter der Oberfläche bis zur völligen Finsternis in grö- 
ßerer Tiefe, die nur gelegentlich von Ansammlungen leuch- 
tender Bakterien in den Leuchtorganen von Fischen erhellt 
wird. Scharfe Abgrenzungen gibt es nicht. Für jedes Ausmaß 
von Druck und Dunkelheit, an das die Anpassung bereits 
vollzogen ist, gibt es einen Bauplan für ein Tier, der sich nur 
geringfügig von dem der vorhandenen Tiere unterscheidet 
und das Überleben einen Meter tiefer oder bei einem Lumen 
weniger Licht ermöglicht. Für jedes... aber dieses Kapitel ist 
schon mehr als lang genug. Sie kennen meine Methoden, 
Watson. Wenden Sie sie an! 

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110 

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111 

Gottes Nutzenfunktion 

Mein geistlicher Briefschreiber aus dem letzten Kapitel hatte 
durch eine Wespe zum Glauben gefunden. Durch eine andere 
verlor Darwin den seinen: »Ich kann einfach nicht überzeugt 
sein«, schrieb er, »daß ein gütiger, allmächtiger Gott planvoll 
die Ichneumonidae geschaffen hat, und das ausdrücklich mit 
der Absicht, daß sie innerhalb des Körpers lebender Raupen 
fressen sollen.« In Wirklichkeit verlor Darwin seinen Glauben 
allmählich und aus komplexeren Gründen, und er spielte es 
herunter, weil er fürchtete, Emma, seine fromme Frau, werde 
sich darüber ärgern. Die Erwähnung der Ichneumonidae 
(Schlupfwespen) war als Aphorismus gemeint. Die makabre 
Lebensweise, von der er sprach, teilen sie mit ihren Vettern, 
den Dolchwespen, denen wir im letzten Kapitel begegnet 
sind. Die weibliche Dolchwespe legt ihre Eier nicht nur in 
einer Raupe (oder einer Heuschrecke oder einer Biene) ab, so 
daß die Larve sich von dieser ernähren kann, sondern nach 
den Beobachtungen von Fabre und anderen zielt sie mit dem 
Stich genau auf die Ganglien im Zentralnervensystem ihrer 
Beute, so daß diese gelähmt, aber nicht getötet wird. So bleibt 
das Fleisch frisch. Ob es sich bei der Lähmung um eine allge- 
meine Betäubung handelt oder ob sie dem Opfer wie Curare

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112 

nur die Bewegungsfähigkeit nimmt, ist nicht bekannt. Sollte 
das zweite zutreffen, bemerkt das Beutetier vielleicht, daß es 
von innen her aufgefressen wird, aber es kann keinen Muskel 
bewegen, um sich dagegen zu wehren. Das klingt entsetzlich 
grausam, aber wie wir noch sehen werden, ist die Natur nicht 
grausam, sondern nur mitleidlos gleichgültig. Das ist eine der 
Lektionen, die für uns Menschen am schwierigsten zu lernen 
sind. Wir können nicht eingestehen, daß etwas weder gut noch 
böse, weder grausam noch freundlich, sondern einfach nur 
gefühllos ist - gleichgültig gegenüber allem Leiden, ohne 
jeden Sinn. 

Wir Menschen sind zweckorientiert. Es fällt uns schwer, 

irgend etwas zu betrachten und nicht zu fragen, »wozu« es 
vorhanden ist, was die Beweggründe sind oder welcher 
Zweck dahintersteckt. Wird die Fixierung auf Absichten krank- 
haft, sprechen wir von Paranoia - man sieht hinter allem, was 
in Wirklichkeit nur zufälliges Pech ist, eine böse Absicht. Aber 
das ist nur die übertriebene Ausprägung einer fast ausnahms- 
los verbreiteten Täuschung. Sobald wir einen Gegenstand 
oder einen Vorgang sehen, können wir der Frage nach dem 
Warum kaum widerstehen - der Frage, »wozu es gut ist«. 

Der Wunsch, überall einen Zweck zu erkennen, ist nur 

natürlich bei einem Lebewesen, das von Maschinen, Kunst- 
werken, Werkzeugen und anderen planvoll gestalteten Din- 
gen umgeben ist und dessen Gedanken außerdem von per- 
sönlichen Zielen beherrscht werden. Ein Auto, ein Dosenöff- 
ner, ein Schraubenzieher oder eine Mistgabel geben berech- 
tigten Anlaß zu der Frage »Wozu ist es gut?«. Unsere bäuerli- 
chen Vorfahren fragten das gleiche bei Donner, Sonnenfin- 
sternis, Steinen und Flüssen. Heute sind wir stolz darauf, daß 
wir diesen primitiven Animismus abgelegt haben. Wenn ein 
Felsen in einem Bach als bequemer Trittstein dient, betrach- 
ten wir seinen Nutzen als zufälligen Vorteil, nicht als echten 
Zweck. Aber die alte Versuchung kehrt mit Macht zurück, 

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113 

wenn das Unglück zuschlägt - schon in dem Wort »zuschla- 
gen« hallt der Animismus nach: »Warum, ach warum nur 
mußte der Krebs/das Erdbeben/der Orkan ausgerechnet mein 
Kind treffen?« Im positiven Sinne finden wir an der gleichen 
Versuchung oftmals Geschmack, wenn es um den Ursprung 
aller Dinge oder und die Grundgesetze der Physik geht, und 
das Ganze gipfelt dann in der müßigen, existentiellen Frage: 
»Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?« 

Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft nach einem 

meiner öffentlichen Vorträge jemand aus dem Publikum auf- 
stand und ungefähr folgendes sagte: »Ihr Wissenschaftler 
könnt die Fragen nach dem Wie gut beantworten, aber ihr 
müßt zugeben, daß ihr hilflos seid, wenn es um die Frage nach 
dem Warum geht.« Genau dieses Argument führte auch Prinz 
Philip an, der Duke of Edinburgh, der einmal bei einem 
Vortrag meines Kollegen Dr. Peter Atkins in Windsor unter 
den Zuhörern saß. Hinter der Frage steht immer die unausge- 
sprochene und niemals gerechtfertigte Annahme, es müsse, 
da die Naturwissenschaft die Frage nach dem Warum nicht 
beantworten kann, eine andere Disziplin geben, die dazu in 
der Lage sei. Diese Vermutung ist natürlich völlig unlogisch. 

Ich fürchte, Dr. Atkins machte mit dem königlichen Warum 

kurzen Prozeß. Nur weil man eine Frage formulieren kann, ist 
sie noch nicht berechtigt oder sinnvoll. Man kann eine Menge 
Dinge fragen, zum Beispiel: »Wie warm ist dieses?« oder 
»Welche Farbe hat jenes?« Aber nach Temperatur oder Farbe 
würde man sich beispielsweise nicht im Zusammenhang mit 
der Eifersucht oder dem Gebet erkundigen. Genauso kann 
man zwar zu Recht bei den Schutzblechen eines Fahrrades 
oder beim Kariba-Staudamm nach dem Warum fragen, aber 
zumindest hat man nicht das Recht zu der Annahme,  die 
gleiche Frage verdiene auch dann eine Antwort, wenn man sie 
im Zusammenhang mit einem Felsblock, einem unglückli- 
chen Zufall, dem Mount Everest oder dem Universum stellt. 

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114 

Fragen können einfach unangemessen sein, so sehr sie auch 
von Herzen kommen mögen. 

Irgendwo zwischen Scheibenwischern und Dosenöffnern 

auf der einen Seite und Steinen oder dem Universum auf der 
anderen stehen die Lebewesen. Lebende Körper und ihre 
Organe sind Gegenstände, die anders als Felsen von einem 
Zweck geprägt zu sein scheinen. Bekannt ist natürlich, daß die 
scheinbare Zweckbestimmung der Lebewesen die klassische 
Argumentation vom großen Plan beherrschte, welche die 
Theologen von Thomas von Aquin über William Paley bis zu 
den heutigen »wissenschaftlichen« Kreationisten immer wie- 
der heraufbeschworen haben. 

Der Vorgang, der in Wirklichkeit Flügel und Augen, Schnä- 

bel, Nistinstinkte und alle anderen Eigenschaften der Lebewe- 
sen mit der starken Illusion gezielter Planung ausstattete, ist 
heute gut bekannt. Es ist die Darwinsche natürliche Selektion. 
Wir haben diese Erkenntnis erst vor erstaunlich kurzer Zeit 
gewonnen, nämlich in den letzten hundertfünfzig Jahren. Vor 
Darwin hielten selbst gebildete Menschen, die Fragen nach 
dem Warum bei Steinen, Flüssen oder Mondfinsternissen auf- 
gegeben hatten, solche Überlegungen weiterhin für berech- 
tigt, wenn es um Lebewesen ging. Heute tun das nur noch die 
wissenschaftlich Unbeleckten. Allerdings verschleiert das 
Wort »nur« die unerträgliche Tatsache, daß es sich dabei um 
die absolute Mehrheit handelt. 

In Wirklichkeit formulieren auch die Darwinisten eine 

Frage nach dem Warum, aber in einem besonderen metapho- 
rischen Sinn. Warum singen die Vögel, und wozu dienen 
Flügel? Solche Fragen würde ein moderner Darwinist als 
Kurzfassung durchaus akzeptieren, und er würde mit Blick auf 
die natürliche Selektion der Vorfahren unserer Vögel eine 
sinnvolle Antwort geben. Die Illusion des Zwecks ist so über- 
mächtig, daß sogar die Biologen die Annahme einer guten 
Planung als Arbeitswerkzeug heranziehen. Karl von Frisch, 

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115 

von dem im vorangegangenen Kapitel schon die Rede war, 
entdeckte lange vor seiner epochemachenden Arbeit über 
den Bienentanz, daß manche Insekten im Gegensatz zu der 
damals herrschenden Lehrmeinung durchaus Farben sehen 
können. Der Auslöser für die Experimente, mit denen er den 
Nachweis führte, war die einfache Beobachtung, daß die von 
Bienen bestäubten Blumen große Energie darauf verwenden, 
farbige Pigmente herzustellen. Warum sollten sie das tun, 
wenn Bienen farbenblind wären? Die Metapher vom Zweck - 
oder genauer gesagt, die Annahme, daß Darwinsche Selektion 
beteiligt ist - dient hier dazu, eine begründete These über 
einen Sachverhalt aufzustellen. Ein Fehler wäre es gewesen, 
wenn von Frisch behauptet hätte: »Blüten sind farbig, also 
müssen Bienen auch Farben erkennen können.« Aber mit 
dem, was er tatsächlich sagte, hatte er recht: »Blüten sind 
farbig, also lohnt es sich zumindest, wenn ich mir eine Zeit- 
lang viel Mühe gebe und mir neue Experimente ausdenke, mit 
denen ich überprüfen kann, ob Bienen tatsächlich Farben 
sehen können.« Als er nun die Angelegenheit im einzelnen 
untersuchte, stellte er fest, daß Bienen über ein gutes Far- 
bensehen verfügen, wobei das Spektrum aber gegenüber un- 
serem eigenen verschoben ist. Rotes Licht können sie nicht 
wahrnehmen (was wir Rot nennen, würden sie vielleicht als 
»Infragelb« bezeichnen). Dafür sind sie aber empfindlich für 
den Bereich, den wir Ultraviolett nennen; Ultraviolett ist für 
sie eine eigene Farbe, die deshalb manchmal auch »Bienen- 
lila« heißt. 

Als von Frisch erkannt hatte, daß Bienen im ultravioletten 

Spektralbereich sehen können, bezog er in seine Über- 
legungen erneut die Metapher vom Zweck ein. Wozu, so fragte 
er sich, nutzen die Bienen ihre Ultraviolettwahrnehmung? 
Seine Gedanken kehrten zum Ausgangspunkt zurück: zu den 
Blumen. Wir Menschen können Ultraviolett zwar nicht sehen, 
aber wir können photographische Filme herstellen, die dafür 

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116 

empfindlich sind, und wir haben Filter, die ultraviolettes Licht 
durchlassen und »sichtbare« Wellenlängen zurückhalten. Aus- 
gehend von seinen Vorahnungen, machte von Frisch ein paar 
UV-Fotos von Blüten. Zu seinem Entzücken erkannte er darauf 
Flecken- und Streifenmuster, die noch kein menschliches 
Auge gesehen hatte. Blüten, die für uns weiß oder gelb aus- 
sehen, sind in Wirklichkeit mit ultravioletten Mustern ge- 
schmückt, die oft als »Landebahnmarkierung« dienen und die 
Bienen zum Nektar dirigieren. Wieder hatte sich die Vorstel- 
lung von einem scheinbaren Zweck ausgezahlt: Gut gestaltete 
Blüten nutzen die Tatsache aus, daß Bienen die ultravioletten 
Wellenlängen wahrnehmen können. 

Als von Frisch schon ein alter Mann war, stellte ein amerika- 

nischer Biologe namens Adrian Wenner sein berühmtestes 
Werk - über den Bienentanz, das wir im vorangegangenen 
Kapitel diskutierten - in Frage. Glücklicherweise erlebte von 
Frisch noch, wie James L. Gould, ein anderer Amerikaner, der 
heute an der Princeton University arbeitet, seine Ergebnisse 
bestätigte, und zwar mit einem der intelligentesten Experi- 
mente der biologischen Forschung insgesamt. Ich möchte es 
kurz darstellen, denn es ist wichtig für meine Ansicht über das 
Gewicht der Voraussetzung »als wäre es geplant«. 

Wenner und seine Kollegen leugneten nicht, daß der Bie- 

nentanz sich abspielt. Sie leugneten noch nicht einmal, daß er 
alle Informationen enthält, die von Frisch gefunden hatte. 
Aber sie bestritten, daß die anderen Bienen den Tanz »inter- 
pretieren«. Ja, sagte Wenner, es stimme, daß im Schwänzeltanz 
die Richtung der geraden Linie relativ zur Senkrechten der 
Richtung der Nahrungsquelle relativ zur Sonne entspreche. 
Aber, so meinte er, die anderen Bienen entnähmen diese 
Information nicht dem Tanz. Ja, es stimme, daß man die Ge- 
schwindigkeit der verschiedenen Tanzbewegungen als Mittei- 
lung über die Entfernung des Futters interpretieren könne. 
Aber es gebe keinen überzeugenden Beleg, daß die anderen 

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117 

Bienen die Nachricht deuteten. Sie könnten den Tanz ignorie- 
ren. Von Frischs Belege waren nach Ansicht der Skeptiker 
fehlerhaft, und als sie seine Experimente mit geeigneten 
»Kontrollen« wiederholten (das heißt, sie bezogen auch an- 
dere Methoden ein, mit denen die Bienen vielleicht Nahrung 
finden konnten), wurde von Frischs Hypothese, daß es eine 
Tanzsprache gibt, von den Ergebnissen nicht mehr gestützt. 

An dieser Stelle hakte Jim Gould mit seinen genial gestalte- 

ten Versuchen ein. Er bediente sich dazu einer seit langem 
bekannten Eigenschaft der Honigbienen, von der im vorigen 
Kapitel bereits die Rede war. Obwohl sie gewöhnlich im 
Dunkeln tanzen und die senkrecht nach oben weisende Linie 
der vertikalen Ebene als Code für die Richtung der Sonne in 
der Horizontalen verwenden, schalten sie mühelos auf die 
entwicklungsgeschichtlich vermutlich ältere Verhaltensweise 
um, wenn man in dem Bienenstock Licht anschaltet. Dann 
vergessen sie sofort die Schwerkraft und benutzen die Licht- 
quelle als Sonnenersatz, an dem sie die Tanzrichtung unmit- 
telbar ausrichten. Wenn die Tänzerin ihre Orientierung von 
der Schwerkraft zur Glühbirne verlegt, ergeben sich daraus 
glücklicherweise keinerlei Mißverständnisse. Die anderen 
Bienen, die den Tanz »interpretieren«, orientieren sich eben- 
falls neu, so daß die Bewegungen ihre Bedeutung behalten: 
Die anderen Bienen schwärmen nach wie vor in der von der 
Tänzerin angegebenen Richtung aus. 

Jetzt kommt Jim Goulds Geniestreich. Er bemalte die Augen 

einer tanzenden Biene mit schwarzem Schellack, so daß sie 
die Glühbirne nicht sehen konnte und sich wie üblich an der 
Schwerkraft orientierte. Die anderen Bienen jedoch, die ihren 
Tanz verfolgten, konnten die Lichtquelle erkennen. Sie inter- 
pretierten den Tanz, als gelte nicht mehr die Schwerkraft als 
Maßstab, sondern die »Sonne«, die durch die Glühbirne ver- 
körpert wurde. Sie maßen den Winkel des Tanzes relativ zum 
Licht, während die Tänzerin ihn an der Schwerkraft ausrich- 

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118 

tete. Eigentlich zwang Gould die Biene dazu, über die Rich- 
tung der Nahrungsquelle zu lügen, und zwar nicht in einem 
allgemeinen Sinn, sondern indem sie genau die von Gould 
gewünschte Richtung angab. Natürlich machte er das Experi- 
ment nicht nur mit einer blinden Biene, sondern mit einer 
geeigneten statistischen Stichprobe von Bienen und mit unter- 
schiedlich eingestellten Winkeln. Und es funktionierte. Von 
Frischs ursprüngliche Hypothese über den Bienentanz war 
glänzend bestätigt. 

Ich erzähle diese Geschichte nicht zum Spaß. Ich wollte 

damit sowohl auf die positiven als auch auf die negativen 
Gesichtspunkte bei der Unterstellung einer guten Planung 
hinweisen. Als ich die skeptischen Aufsätze von Wenner und 
seinen Kollegen las, neigte ich anfangs zu offenem Spott. Das 
war nicht gut, auch wenn sich schließlich herausstellte, daß 
Wenner unrecht hatte. Mein Hohn gründete sich ganz und gar 
auf die Annahme einer »guten Planung«. Wenner leugnete ja 
nicht, daß der Bienentanz stattfand und daß er alle Informatio- 
nen über Richtung und Entfernung der Nahrungsquelle ent- 
hielt, die von Frisch behauptet hatte. Er glaubte nur nicht, daß 
die anderen Bienen diese Informationen aufnehmen. Und das 
konnte ich wie viele andere darwinistische Biologen einfach 
nicht schlucken. Der Tanz war so kompliziert, so reichhaltig 
ausgestattet, so genau auf seinen scheinbaren Zweck abge- 
stimmt, andere Bienen über Richtung und Entfernung der 
Nahrung in Kenntnis zu setzen. Diese Feinabstimmung konnte 
nach unserer Überzeugung nur durch natürliche Selektion 
und durch nichts anderes entstanden sein. In gewisser Weise 
tappten wir in die gleiche Falle wie die Kreationisten, wenn sie 
über die Wunder des Lebens nachgrübeln. Der Tanz mußte 
einfach zu etwas nutze sein, und das bedeutete wahrschein- 
lich, daß er den Bienen half, Nahrung zu finden. Außerdem 
mußten genau die Aspekte des Tanzes, die so fein abgestimmt 
waren - die Beziehung von Winkel und Geschwindigkeit zu 

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119 

Richtung und Entfernung der Futterquelle - eine nützliche 
Funktion erfüllen. Einfach deshalb konnte Wenner in unseren 
Augen nicht recht haben. Davon war ich so völlig überzeugt, 
daß ich, selbst wenn ich genial genug gewesen wäre, um mir 
Goulds Blindekuhexperiment auszudenken (was ich sicher 
nicht war), mir nicht die Mühe gemacht hätte, es auszuführen. 

Gould war nicht nur so scharfsinnig, daß ihm das Experi- 

ment einfiel, sondern er betrieb auch den Aufwand, es wirk- 
lich zu machen, denn er war nicht der Annahme von der guten 
Planung erlegen. Aber wir wandern dabei immer auf einem 
schmalen Grat, denn nach meiner Vermutung hatte Gould - 
wie vor ihm von Frisch bei den Untersuchungen zum Far- 
bensehen - so viel von dieser Annahme im Kopf, daß er 
seinem bemerkenswerten Experiment gute Erfolgsaussichten 
einräumte und ihm deshalb Zeit und Mühe widmete. 

Ich möchte jetzt die beiden Fachbegriffe reverse engineer- 

ing  und »Nutzenfunktion« einführen. Dieser Abschnitt steht 
stark unter dem Einfluß des hervorragenden Buches Darwin 's 
Dangerous Idea 
von Daniel Dennett. Als reverse engineering 
[eine deutsche Entsprechung zu diesem Begriff gibt es nicht] 
ist eine Denkmethode, die ungefähr folgendermaßen funktio- 
niert: Ein Ingenieur hat einen Apparat gefunden, den er nicht 
versteht, und nimmt vorerst einmal an, daß er zu einem be- 
stimmten Zweck konstruiert wurde. Er nimmt das Gebilde 
auseinander und analysiert es im Hinblick darauf, welche 
Aufgabe es vermutlich gut erfüllen könnte: »Wenn ich eine 
Maschine für diesen Zweck bauen wollte, würde ich es dann 
so machen? Oder läßt sich der Gegenstand besser als Ma- 
schine für jenen Zweck erklären?« 

Der Rechenschieber, bis vor einiger Zeit das Wahrzeichen 

der ehrenwerten Zunft der Ingenieure, ist im elektronischen 
Zeitalter ebenso veraltet wie ein Relikt aus der Bronzezeit. Ein 
Archäologe, der in ferner Zukunft einmal einen Rechenschie- 
ber findet, wird vielleicht feststellen, daß er sich gut dazu 

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120 

eignet, gerade Linien zu ziehen oder Butter aufs Brot zu 
streichen. Aber die Annahme, eines davon sei sein ursprüngli- 
cher Zweck gewesen, verletzt das Sparsamkeitsgebot. Ein 
schlichtes Lineal oder ein Buttermesser braucht in der Mitte 
keine bewegliche Zunge. Und wenn man die Abstände der 
kleinen Striche untersucht, findet man logarithmische Skalen, 
die so peinlich genau eingeteilt sind, daß es kein Zufall sein 
kann. Jetzt würde dem Archäologen dämmern, daß dieses 
Muster in einer Zeit ohne elektronische Taschenrechner ein 
genialer technischer Trick zum schnellen Multiplizieren und 
Dividieren war. Damit wäre das Rätsel des Rechenschiebers 
durch  reverse engineering gelöst, und zwar unter der Voraus- 
setzung einer intelligenten, sparsamen Gestaltung. 

Der Fachbegriff »Nutzenfunktion« stammt nicht aus der 

Technik, sondern aus der Wirtschaftswissenschaft. Er bedeutet 
»das Maximierte«. Wirtschafts- und Sozialplaner ähneln Archi- 
tekten und Ingenieuren insofern, als sie ebenfalls bestrebt 
sind, etwas zu maximieren. Im Utilitarismus maximiert man 
»das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl« (eine 
Formulierung, die, nebenbei bemerkt, intelligenter klingt als 
sie ist). Vor diesem Hintergrund räumen die Utilitaristen der 
langfristigen Stabilität vielleicht eine mehr oder weniger hohe 
Priorität gegenüber dem kurzfristigen Glück ein, wobei es 
Meinungsunterschiede gibt, ob sich »Glück« nach materiel- 
lem Wohlstand, beruflicher Erfüllung, kultureller Entfaltung 
oder zwischenmenschlichen Beziehungen bemißt. Andere 
bekannten sich offen dazu, daß sie ihr eigenes Glück auf 
Kosten des Allgemeinwohls maximieren wollen, und rechtfer- 
tigen ihren Egoismus möglicherweise mit der Philosophie, 
das allgemeine Glück werde maximiert, wenn jeder für sich 
selbst sorgt. Wenn man das Verhalten einzelner während ihres 
gesamten Lebens beobachtet, sollte man in der Lage sein, ihre 
Nutzenfunktion durch reverse engineering zu erkennen. 
Durch  reverse engineering des Verhaltens einer Staatsregie- 

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121 

rung könnte man zu dem Schluß gelangen, daß Beschäftigung 
und allgemeiner Wohlstand maximiert werden. In einem an- 
deren Land könnte sich herausstellen, daß die Nutzenfunktion 
in der dauerhaften Herrschaft des Präsidenten, im Reichtum 
der Herrscherfamilie, in der Größe des Harems eines Sultans, 
in der Stabilität des Nahen Ostens oder in der Aufrechterhal- 
tung des Ölpreises besteht. Entscheidend ist, daß man sich 
mehrere Nutzenfunktionen vorstellen kann. Was Einzelperso- 
nen, Firmen oder Regierungen maximieren wollen, ist nicht 
immer ohne weiteres zu erkennen. Aber die Annahme, daß sie 
irgend etwas maximieren, ist höchstwahrscheinlich richtig. Es 
liegt daran, daß der Homo sapiens eine zutiefst von Absichten 
beherrschte Spezies ist. Das Prinzip gilt selbst dann noch, 
wenn sich herausstellt, daß die Nutzenfunktion einer Abwä- 
gung entspringt oder eine andere komplizierte Funktion meh- 
rerer Einzelfaktoren ist. 

Kehren wir zu den Lebewesen zurück, und versuchen wir, 

ihre Nutzenfunktion aufzuspüren. Es könnte viele solche 
Funktionen geben, aber interessanterweise wird sich letztlich 
zeigen, daß sie sich alle auf eine einzige zurückführen lassen. 
Um uns diese Aufgabe drastisch vor Augen zu führen, können 
wir uns vorstellen, die Lebewesen seien von einem göttlichen 
Ingenieur erschaffen worden, und nun versuchen wir durch 
reverse engineering herauszufinden, was dieser Ingenieur ma- 
ximieren wollte: Was war Gottes Nutzenfunktion? 

Ein Gepard ist allen Anzeichen nach hervorragend zu 

einem Zweck gestaltet, und es müßte eigentlich einfach sein, 
ihn mit reverse engineering zu untersuchen und seine Nutzen- 
funktion herauszufinden. Offenbar ist er so gestaltet, daß er 
gut Antilopen töten kann. Zähne, Pranken, Augen, Nase, Bein- 
muskeln, Wirbelsäule und Gehirn eines Gepards sind ge- 
nauso, wie man es erwarten würde, wenn Gott mit der Kon- 
struktion des Gepards die Zahl der getöteten Antilopen maxi- 
mieren wollte. Wendet man aber das reverse engineering auf 

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122 

eine Antilope an, findet man ebenso eindrucksvolle Anzei- 
chen für das genaue Gegenteil: das maximale Überleben der 
Antilopen und Unterernährung bei den Geparden. Es ist, als 
wäre der Gepard von der einen und die Antilope von einer 
anderen, konkurrierenden Gottheit gestaltet worden. Wenn 
es andererseits nur einen Schöpfer gibt, der den Tiger und das 
Lamm, den Gepard und die Gazelle gemacht hat, was für ein 
Spiel spielt Er dann? Ist Er ein Sadist, der Spaß an blutigen 
Wettkämpfen hat? Versucht Er, bei den Säugetieren in Afrika 
die Überbevölkerung zu vermeiden? Greift Er ein, um die 
Einschaltquoten für David Attenboroughs Tierfilme zu maxi- 
mieren? Das alles sind nachvollziehbare Nutzenfunktionen, 
die theoretisch stimmen könnten. In Wirklichkeit stimmen sie 
natürlich nicht. Wir kennen heute die einzige Nutzenfunktion 
des Lebens ziemlich genau, und sie ist nichts derartiges. 

Welches die tatsächliche Nutzenfunktion ist, die in der Na- 

tur maximiert wird, dürfte im ersten Kapitel deutlich gewor- 
den sein: das Überleben der DNA. Aber die DNA schwimmt 
nicht frei herum; sie ist in lebende Körper eingeschlossen und 
muß aus den ihr zur Verfügung stehenden Machtmitteln das 
Beste machen. DNA-Sequenzen, die sich in einem Gepardkör- 
per befinden, maximieren ihre Überlebenschancen, indem 
sie diesen Körper veranlassen, Gazellen zu töten. Sequenzen 
in Gazellenkörpern maximieren ihr Überleben, indem sie das 
entgegengesetzte Ziel verfolgen. Aber in beiden Fällen wer- 
den die Überlebenschancen der DNA maximiert. In diesem 
Kapitel möchte ich an ein paar Beispielen das reverse 
engineering  
praktizieren und zeigen, wie alles zusammen- 
paßt, wenn man von der Annahme ausgeht, daß das Überleben 
der DNA die maximierte Größe ist. 

Das Geschlechterverhältnis - das heißt der Anteil von 

Männchen und Weibchen - liegt in Wildpopulationen in der 
Regel bei 50:50. Bei den vielen Arten, bei denen eine Minder- 
heit der Männchen einen Harem und damit ein Monopol auf 

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123 

die Weibchen besitzt, scheint das ökonomisch nicht sehr sinn- 
voll zu sein. In einer gut untersuchten Population von See- 
Elefanten bestritten 4 Prozent der Männchen 88 Prozent aller 
Begattungsakte. Daß Gottes Nutzenfunktion hier so unfair 
gegenüber der Mehrheit der Jünglinge ist, macht nichts. 
Schlimmer ist etwas anderes: Eine kostenbewußte, auf Effi- 
zienz schielende Gottheit müßte feststellen, daß die zu kurz 
kommenden 96 Prozent die Nahrungsreserven der Population 
zur Hälfte verbrauchen (in Wirklichkeit brauchen sie sogar 
mehr als die Hälfte, denn männliche See-Elefanten sind we- 
sentlich größer als die Weibchen). Die überzähligen Jungge- 
sellen tun nichts anderes als auf eine Gelegenheit zu warten, 
bei der sie einen aus der glücklichen Vier-Prozent-Gruppe der 
Harembesitzer verdrängen können. Wie läßt sich die Existenz 
dieser ungerecht behandelten Herden von Männchen recht- 
fertigen? Jede Nutzenfunktion, die auch nur entfernt die öko- 
nomische Effizienz der Lebensgemeinschaft berücksichtigt, 
würde auf die Junggesellen verzichten. Statt dessen würden 
gerade so viele Männchen geboren, daß die Befruchtung der 
Weibchen gesichert ist. Auch diese scheinbare Anomalie läßt 
sich mit eleganter Einfachheit erklären, wenn man die tatsäch- 
liche darwinistische Nutzenfunktion versteht: die Maximie- 
rung des Überlebens der DNA. 

Ich möchte mich mit dem Beispiel des Geschlechterverhält- 

nisses noch ein wenig näher beschäftigen, denn seine Nutzen- 
funktion eignet sich besonders gut für eine Betrachtung unter 
ökonomischen Gesichtspunkten. Darwin selbst räumte ver- 
blüfft ein: »Früher dachte ich, wenn das Bestreben, zwei Ge- 
schlechter in gleicher Zahl hervorzubringen, für eine Art vor- 
teilhaft ist, müsse das eine Folge der natürlichen Selektion sein, 
aber wie ich jetzt sehe, ist das ganze Problem so verzwickt, daß 
ich seine Lösung lieber der Zukunft überlassen möchte.« Wie 
so oft war es der große Sir Ronald Fisher, der Darwins Zukunft 
verkörperte. Seine Überlegung sah folgendermaßen aus: 

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124 

Jedes Individuum hat genau einen Vater und eine Mutter. 

Der gesamte Fortpflanzungserfolg, gemessen als Zahl der 
entfernten Nachkommen, muß deshalb für alle lebenden 
Männchen zusammen genauso groß sein wie für alle leben- 
den Weibchen. Damit meine ich nicht jedes einzelne männli- 
che und weibliche Tier, denn manche Individuen haben ein- 
deutig einen größeren Fortpflanzungserfolg als andere, und 
das ist auch wichtig. Ich spreche von der Gesamtheit aller 
Männchen, verglichen mit der Gesamtheit aller Weibchen. 
Diese gesamten Nachkommenschaft muß zwischen den ein- 
zelnen Männchen und Weibchen aufgeteilt werden - nicht 
gleichmäßig aufgeteilt, aber aufgeteilt. Der Fortpflanzungsku- 
chen, der zwischen allen Männchen geteilt wird, ist ebenso 
groß wie der Kuchen, der zwischen allen Weibchen zu verge- 
ben ist. Sind also beispielsweise in einer Population mehr 
Männchen als Weibchen vorhanden, erhält jedes einzelne 
Männchen im Durchschnitt ein kleineres Stück von dem Ku- 
chen als ein einzelnes Weibchen. Daraus folgt, daß der durch- 
schnittliche Fortpflanzungserfolg (das heißt, die zu erwar- 
tende Zahl der Nachkommen) eines Männchens im Vergleich 
zu dem eines Weibchens ausschließlich vom Geschlechterver- 
hältnis bestimmt wird. Ein durchschnittliches Tier mit dem 
Geschlecht der Minderheit hat einen größeren Fortpflan- 
zungserfolg als ein Tier, das zum mehrheitlich vorhandenen 
Geschlecht gehört. Nur wenn das Geschlechterverhältnis aus- 
geglichen ist, so daß es keine Minderheit gibt, erfreuen sich 
beide Geschlechter des gleichen Fortpflanzungserfolges. 
Diese bemerkenswert einfache Schlußfolgerung ergibt sich 
aus rein theoretischen Überlegungen. Sie ist von keinerlei 
empirischen Tatsachen abhängig, abgesehen von der grundle- 
genden Erkenntnis, daß jedes Kind einen Vater und eine 
Mutter hat. 

Das Geschlecht wird in der Regel bei der Befruchtung 

festgelegt, und deshalb könnte man annehmen, daß man oder 

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125 

frau (die umständliche Formulierung ist hier kein Ritual, son- 
dern eine Notwendigkeit) darauf keinen Einfluß hat. Unter- 
stellen wir aber nun einmal wie Fisher, ein Elternteil habe die 
Macht, das Geschlecht seiner Nachkommen festzulegen. Mit 
»Macht« meine ich natürlich kein bewußtes oder absichtliches 
Eingreifen. Aber in der Scheide einer Mutter könnten bei- 
spielsweise aufgrund einer genetischen Veranlagung chemi- 
sche Verhältnisse herrschen, die für Samenzellen mit den 
Anlagen für einen Sohn etwas ungünstiger sind als für Zellen, 
aus denen eine Tochter entsteht. Oder ein Vater produziert 
aufgrund einer genetischen Veranlagung etwas mehr Samen- 
zellen, aus denen Töchter entstehen, als solche, aus denen 
Söhne hervorgehen. Wie es in der Praxis auch aussehen mag: 
Stellen wir uns einmal vor, man solle als Elternteil entschei- 
den, ob man einen Sohn oder eine Tochter haben will. Auch 
hier reden wir nicht von bewußten Entscheidungen, sondern 
über die Auswahl von Gengenerationen, die durch ihre Wir- 
kung auf den Körper das Geschlecht der Nachkommen beein- 
flussen. 

Wenn man die Zahl der Enkelkinder maximieren will, soll 

man dann einen Sohn oder eine Tochter bekommen? Wie 
wir bereits gesehen haben, sollte das Kind dem Geschlecht 
angehören, das in der Population in der Minderheit ist, denn 
dann kann es mit einem größeren Anteil an der gesamten 
Fortpflanzungstätigkeit rechnen, und das führt zu einer rela- 
tiv großen Zahl von Enkeln. Ist kein Geschlecht in kleinerer 
Zahl vertreten als das andere - liegt also das Verhältnis bei 
50:50 -, nützt es nichts, eines der beiden Geschlechter zu 
bevorzugen. Ob man einen Sohn oder eine Tochter hat, 
spielt dann keine Rolle. Deshalb bezeichnet man ein Ge- 
schlechterverhältnis von 50:50 als entwicklungsgeschichtlich 
stabil, um einen von dem großen britischen Evolutionsbiolo- 
gen John Maynard Smith geprägten Begriff zu verwenden. 
Nur wenn das bestehende Geschlechterverhältnis nicht 50:50 

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126 

beträgt, zahlt sich eine einseitige Bevorzugung aus. Die 
Frage, warum ein Individuum die Zahl seiner Enkel und 
späteren Nachkommen maximieren soll, braucht man eigent- 
lich kaum zu stellen. Gene, die ihren Körper dazu veranlas- 
sen, die Zahl der Nachkommen zu maximieren, verbreiten 
sich am stärksten. Die Tiere, die wir heute sehen, haben die 
Gene erfolgreicher Vorfahren geerbt. 

Man ist leicht versucht, Fishers Theorie so auszudrücken, 

daß man 50:50 als »optimales« Geschlechterverhältnis be- 
zeichnet, aber das ist eigentlich nicht ganz richtig. Sind Männ- 
chen in der Minderheit, ist es für das Kind optimal, wenn es 
männlich ist, und bei weniger Weibchen ist das weibliche 
Geschlecht optimal. Ist kein Geschlecht in der Minderheit, 
gibt es auch kein Optimum. Dann üben gut gestaltete Eltern 
keinen Einfluß darauf aus, ob ein Sohn oder eine Tochter 
geboren wird. Das Verhältnis von 50:50 bezeichnet man als 
entwicklungsgeschichtlich stabil, weil die natürliche Selek- 
tion keine Abweichungen von diesen Zahlen begünstigt, und 
wenn solche Abweichungen auftreten, wirkt sie darauf hin, 
daß das Gleichgewicht wiederhergestellt wird. 

Wie Fisher außerdem erkannte, hält die natürliche Selek- 

tion die Zahl der Männchen und Weibchen nicht unbedingt 
genau bei 50:50, sondern den von ihm so genannten »Eltern- 
aufwand« für Söhne und Töchter. Der Elternaufwand ist das 
ganze hart erkämpfte Futter, das dem Kind ins Maul gestopft 
wird, die gesamte Zeit und Energie für seine Versorgung, die 
man auch für etwas anderes aufwenden könnte, beispiels- 
weise für die Pflege eines weiteren Kindes. Nehmen wir zum 
Beispiel einmal an, die Eltern wenden bei irgendeiner Rob- 
benart in der Regel für die Aufzucht eines Sohnes doppelt 
soviel Zeit und Energie auf wie für eine Tochter. Robbenbul- 
len sind im Vergleich zu den Weibchen so massig, daß man 
sich so etwas leicht vorstellen kann (auch wenn es in Wirklich- 
keit vermutlich nicht ganz stimmt). Überlegen wir nun, was 

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127 

das bedeutet. Die Eltern stehen nicht vor der Wahl, einen Sohn 
oder eine Tochter zu haben, sondern die Alternative lautet: 
einen Sohn oder zwei Töchter. Der Grund ist, daß man mit der 
zur Aufzucht eines Sohnes notwendigen Nahrung und ande- 
ren Gütern auch zwei Töchter großziehen könnte. Das ent- 
wicklungsgeschichtlich stabile Geschlechterverhältnis, ge- 
messen an der Zahl der Körper, liegt also bei einem Männchen 
zu zwei Weibchen. Mißt man es aber nicht an der Zahl der 
Individuen, sondern am Ausmaß des Elternaufwandes, be- 
trägt das entwicklungsgeschichtlich stabile Geschlechterver- 
hältnis immer noch 50:50. Fishers Theorie postuliert ein 
Gleichgewicht im Elternaufwand für beide Geschlechter, und 
das ist, wie sich herausstellt, oft gleichbedeutend mit einem 
ausgeglichenen Zahlenverhältnis bei den Individuen. 

Wie ich schon erwähnt habe, gibt es offenbar selbst bei 

Robben keinen großen Unterschied im Elternaufwand für 
Söhne und Töchter. Die großen Gewichtsunterschiede entste- 
hen anscheinend erst, wenn die elterliche Fürsorge zu Ende 
ist. Die Frage für die Eltern lautet also immer noch: Soll ich 
einen Sohn oder eine Tochter haben? Auch wenn das Heran- 
reifen bis zum Erwachsenenalter bei einem Sohn mehr Auf- 
wand erfordert als bei einer Tochter, spielt das nach Fishers 
Theorie keine Rolle, solange die zusätzliche Belastung nicht 
von denen getragen wird, bei denen die Entscheidung liegt 
(also von den Eltern). 

Fishers Regel vom ausgewogenen Aufwand gilt auch dann, 

wenn ein Geschlecht eine wesentlich höhere Sterblichkeit hat 
als das andere. Nehmen wir beispielsweise einmal an, daß 
männliche Babys häufiger sterben als weibliche. Dann sind 
Frauen, wenn das Geschlechterverhältnis bei der Befruchtung 
genau 50:50 beträgt, im Erwachsenenalter in der Überzahl. 
Männer sind also die Minderheit, und nun würde man naiver- 
weise erwarten, daß die natürliche Selektion Eltern begün- 
stigt, die sich auf Söhne spezialisieren. Fisher würde ebenfalls 

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128 

damit rechnen, aber nur bis zu einem bestimmten, genau 
festgelegten Punkt. Nach seinen Überlegungen würden die 
Eltern nicht so viele zusätzliche Söhne hervorbringen, daß die 
Säuglingssterblichkeit genau ausgeglichen wäre und im fort- 
pflanzungsfähigen Alter Zahlengleichheit herrscht. Das Ge- 
schlechterverhältnis bei der Befruchtung wäre zwar etwas 
nach der männlichen Seite verschoben, aber nur so weit, daß 
für die Söhne mit einem ebenso großen Aufwand zu rechnen 
ist wie für die Töchter. 

Auch hier macht man sich die Sache am besten klar, wenn 

man sich in die Lage des Elternteils versetzt, der sich entschei- 
den muß. Man fragt: »Soll ich eine Tochter haben, die vermut- 
lich überleben wird, oder einen Sohn, der möglicherweise als 
Säugling stirbt?« Die Entscheidung, Enkel auf dem Weg über 
einen Sohn hervorzubringen, ist mit der Wahrscheinlichkeit 
verbunden, daß man mehr Aufwand in einige zusätzliche 
Söhne investieren muß, welche die verstorbenen ersetzen. 
Man kann sich das so vorstellen, daß jeder überlebende Sohn 
die Geister seiner verstorbenen Brüder mit sich herum- 
schleppt. »Herumschleppen« bedeutet: Die Entscheidung, zu 
den Enkeln den Weg über den Sohn einzuschlagen, belastet 
die Eltern mit zusätzlichem Aufwand, den sie auf tote männli- 
che Säuglinge verschwendet haben. Fishers Grundregel gilt 
auch hier. Die Gesamtmenge an Material und Energie, die in 
Söhne investiert wird (einschließlich der Nahrung, mit der die 
Söhne, die sterben, bis zu ihrem Tod gefüttert werden) ist 
ebenso groß wie die Gesamtmenge, die den Töchtern gewid- 
met ist. 

Wie sieht es aus, wenn die Sterblichkeit unter den männli- 

chen Nachkommen nicht bereits im Säuglingsalter höher ist, 
sondern erst später, wenn die Eltern keinen Aufwand mehr 
treiben müssen? Das ist tatsächlich oft der Fall, denn vielfach 
kämpfen die ausgewachsenen Männchen miteinander und 
verletzen sich dabei. Auch das führt in der fortpflanzungsfähi- 

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129 

gen Generation zu einem Weibchenüberschuß. Vor diesem 
Hintergrund sieht es so aus, als wären Eltern, die sich auf 
Söhne spezialisieren, begünstigt, weil sie den Mangel an 
Männchen in der Population ausnutzen. Bei genauerem Hin- 
sehen stellt man jedoch fest, daß diese Überlegung falsch ist. 
Die Eltern stehen vor folgender Entscheidung: »Soll ich einen 
Sohn haben, der wahrscheinlich im Kampf ums Leben kommt, 
nachdem ich ihn großgezogen habe, der aber andererseits 
mehr Enkel zeugt, falls er überlebt? Oder soll ich lieber eine 
Tochter haben, die mir mit ziemlicher Sicherheit die durch- 
schnittliche Anzahl Enkel verschafft?« Die Zahl der Enkel, mit 
denen man mittels eines Sohnes rechnen kann, ist auch hier 
ebenso groß wie diejenige, die im Durchschnitt mit einer 
Tochter zu erwarten ist. Und der Aufwand für die Zeugung 
eines Sohnes bedeutet auch, ihn zu füttern und zu beschützen, 
bis er das Nest verläßt. Die Tatsache, daß er danach vermutlich 
stirbt, beeinflußt die Rechnung nicht. 

Bei allen diesen Überlegungen ging Fisher von der An- 

nahme aus, daß die »Entscheidung« bei den Eltern liegt. Wird 
sie von einem anderen getroffen, ändert sich die Berechnung. 
Nehmen wir beispielsweise an, ein Individuum könne sein 
eigenes Geschlecht beeinflussen. Auch hier meine ich mit 
»beeinflussen« keine bewußte Absicht, sondern ich unter- 
stelle hypothetisch Gene, welche die Entwicklung eines Indi- 
viduums in die männliche oder weibliche Richtung lenken, je 
nachdem, welche Umwelteinflüsse auf sie wirken. Der bishe- 
rigen Übereinkunft folgend, bediene ich mich auch hier zur 
Vereinfachung der gleichen Ausdrucksweise wie bei der ab- 
sichtlichen Entscheidung eines Individuums, das in diesem 
Fall sein eigenes Geschlecht bestimmt. Hätten Tiere wie die 
See-Elefanten, bei denen das Haremsystem gilt, diese Wahl- 
möglichkeit, wären die Folgen dramatisch. Jedes Individuum 
würde sich darum bemühen, zu einem männlichen Harembe- 
sitzer zu werden. Aber wenn das nicht gelänge, würde es 

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130 

lieber zu einem Weibchen als zu einem männlichen Jungge- 
sellen werden. Das Geschlechterverhältnis in der Population 
würde sich stark zugunsten der Weibchen verschieben. Leider 
wird das Geschlecht der See-Elefanten aber bei der Befruch- 
tung festgelegt, und sie können es sich später nicht anders 
überlegen. Bei manchen Fischen ist das jedoch möglich. Die 
großen, bunten Männchen des Blaukopfes aus der Gruppe der 
Lippfische halten sich einen Harem aus unauffällig gefärbten 
Weibchen. Manche Weibchen sind größer als andere, und 
unter ihnen gibt es eine Dominanzhierarchie. Stirbt das Männ- 
chen, nimmt das größte Weibchen sehr schnell seinen Platz 
ein und verwandelt sich in ein leuchtend gefärbtes männli- 
ches Tier. Diese Fische picken sich auf beiden Seiten die 
Rosinen heraus. Sie vergeuden ihr Leben nicht als Junggesel- 
len, die auf den Tod des Harembesitzers warten, sondern sind 
in dieser Zeit als fruchtbare Weibchen tätig. Die Blauköpfe 
haben ein ausgefallenes System der Geschlechterverhältnisse; 
hier fällt Gottes Nutzenfunktion mit etwas zusammen, das ein 
Wirtschaftswissenschaftler als umsichtig bezeichnen würde. 
Jetzt haben wir uns mit den Eltern und dem Individuum 
selbst als Entscheidungsträger beschäftigt. Wer könnte sonst 
noch die Entscheidung treffen? Bei den staatenbildenden In- 
sekten liegen Investitionsentscheidungen zu einem großen 
Teil bei den sterilen Arbeiterinnen, und die sind normaler- 
weise ältere Schwestern (und bei den Termiten auch Brüder) 
der Jungen, die gerade großgezogen werden. Zu den bekann- 
teren staatenbildenden Insekten gehören die Honigbienen. 
Die Imker unter meinen Lesern werden bereits erkannt ha- 
ben, daß das Geschlechterverhältnis in einem Bienenstock auf 
den ersten Blick nicht Fishers Erwartungen zu entsprechen 
scheint. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, daß man die 
Arbeiterinnen nicht als Weibchen betrachten sollte. Biolo- 
gisch gesehen, sind sie das zwar, aber sie pflanzen sich nicht 
fort; das Geschlechterverhältnis bestimmt sich also nach 

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131 

Fishers Theorie durch die Zahl der Drohnen (Männchen) und 
der neuen Königinnen, die der Stock hervorbringt. Aus beson- 
deren biologischen Gründen, die ich in Das egoistische Gen 
erörtert habe und hier nicht noch einmal wiederholen 
möchte, erwartet man bei Bienen und Ameisen ein Geschlech- 
terverhältnis von 3:1 zugunsten der Weibchen. In Wirklichkeit 
ist es aber weit davon entfernt. Es bevorzugt, wie jeder Imker 
weiß, stark die Männchen. Ein gesunder Stock bringt in einer 
Saison vielleicht ein halbes Dutzend neue Königinnen hervor, 
aber Hunderte oder sogar Tausende von Drohnen. 

Was ist da los? Die Antwort verdanken wir, wie so oft in der 

modernen Evolutionstheorie, dem heute in Oxford tätigen W. 
D. Hamilton. Sie ist höchst aufschlußreich und faßt in gedräng- 
ter Form die gesamte auf Fisher zurückgehende Theorie der 
Geschlechterverhältnisse zusammen. Der Schlüssel zum Rät- 
sel des Geschlechterverhältnisses bei Bienen liegt im Phäno- 
men des Schwärmens. Ein Bienenstock verhält sich in vielerlei 
Hinsicht wie ein einzelnes Tier. Er reift heran, pflanzt sich fort 
und geht schließlich zugrunde. Das Produkt seiner Fortpflan- 
zung ist ein Schwarm. Wenn ein Bienenvolk gut gedeiht, 
bringt es im Hochsommer eine Tochterkolonie hervor: den 
Schwarm. Die Produktion von Schwärmen entspricht beim 
Bienenvolk der Fortpflanzung. Wenn der Stock eine Fabrik ist, 
dann ist der Schwarm ihr Produkt, das die kostbaren Gene der 
Kolonie mitnimmt. Ein Schwarm besteht aus einer Königin 
und mehreren tausend Arbeiterinnen. Sie verlassen den elter- 
lichen Bienenstock und sammeln sich in einer dichten 
Traube, die an einem Ast oder Felsen hängt. Das ist ihr vor- 
übergehendes Lager, während sie nach einer neuen dauerhaf- 
ten Unterkunft Ausschau halten. Innerhalb weniger Tage fin- 
den sie eine Höhle oder einen hohlen Baumstamm (oder sie 
werden, was heute häufiger der Fall ist, von einem Imker - 
vielleicht ihrem ursprünglichen Besitzer - eingefangen und 
in einem neuen Stock untergebracht). 

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132 

Ein gesundes Bienenvolk hat die Aufgabe, Tochterschwärme 

hervorzubringen. Der erste Schritt besteht dabei in der Auf- 
zucht einer neuen Königin. Gewöhnlich wird etwa ein halbes 
Dutzend neue Königinnen produziert, von denen aber nur 
eine überlebt. Diejenige, die als erste schlüpft, sticht alle 
anderen tot. (Die überzähligen Königinnen sind vermutlich 
nur zur Sicherheit vorhanden.) Genetisch sind Königinnen 
und Arbeiterinnen nicht zu unterscheiden; aber die Königin- 
nen werden in speziellen Weiselzellen großgezogen, die un- 
ter den Waben hängen, und erhalten eine besonders reichhal- 
tige Ernährung. Zu ihrer Nahrung gehört auch das Gelée 
royale, jene Substanz, der die Schriftstellerin Dame Barbara 
Cartland romantischerweise ihr langes Leben und ihre könig- 
liche Haltung zu verdanken meint. Die Arbeiterinnen wachsen 
in kleineren Zellen heran, die später auch den Honig aufneh- 
men. Drohnen sind genetisch anders. Sie gehen aus unbe- 
fruchteten Eiern hervor. Bemerkenswerterweise liegt es an 
der Königin, ob ein Ei zu einer Drohne oder einem Weibchen 
(Königin/Arbeiterin)  wird. Die Königin paart sich ausschließ- 
lich auf einem einzigen Hochzeitsflug zu Beginn ihres Er- 
wachsenenalters und speichert den Samen während des gan- 
zen restlichen Lebens in ihrem Körper. Wenn dann die Eizel- 
len durch den Eileiter wandern, entläßt sie zur Befruchtung 
jeweils eine kleine Samenportion aus dem Speicher oder auch 
nicht. Die Königin bestimmt also bei den Eizellen das Ge- 
schlechterverhältnis. Später scheint aber alle Macht bei den 
Arbeiterinnen zu liegen, denn sie sorgen für die Ernährung 
der Larven. Sie könnten beispielsweise männliche Larven ver- 
hungern lassen, wenn die Königin (aus ihrer Sicht) zu viele 
produziert hat. Und ob aus einem weiblichen Ei eine Königin 
oder eine Arbeiterin wird, bestimmen ohnehin die Arbeiterin- 
nen, denn das hängt ausschließlich von den Aufzuchtbedin- 
gungen und insbesondere von der Ernährung ab. 
Kehren wir nun zu der Frage des Geschlechterverhältnisses 

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133 

zurück und sehen wir uns an, welche Entscheidung auf die 
Arbeiterinnen zukommt. Wie wir gesehen haben, bestimmen 
sie im Gegensatz zur Königin nicht darüber, ob sie Söhne oder 
Töchter hervorbringen, sondern ob sie Brüder (Drohnen) 
oder Schwestern (junge Königinnen) produzieren. Und damit 
sind wir wieder bei der Hauptfrage. Das tatsächliche Ge- 
schlechterverhältnis ist offenbar stark zugunsten der Männ- 
chen verschoben, was aus Fishers Sicht keinen Sinn ergibt. 
Sehen wir uns aber die Entscheidung der Arbeiterinnen ein- 
mal ein wenig genauer an. Sie haben, wie gesagt, die Wahl 
zwischen Brüdern und Schwestern. Aber Moment mal! Die 
Entscheidung, einen Bruder großzuziehen, ist genau das: sie 
verpflichtet den Stock, Nahrung und andere Ressourcen zur 
Aufzucht einer Drohne aufzuwenden. Aber die Entscheidung, 
eine neue Königin heranzuziehen, verpflichtet den Stock zu 
viel mehr als nur dazu, den Körper einer einzigen Königin zu 
ernähren. Sie bedeutet die Verpflichtung, einen Schwarm her- 
vorzubringen. Der tatsächliche Aufwand für eine neue Köni- 
gin besteht nur zu einem verschwindend geringen Teil aus 
dem bißchen Gelée royale und den übrigen Nährstoffen, die 
sie zu sich nimmt. Viel entscheidender ist der Aufwand zur 
Produktion der vielen tausend Arbeiterinnen, die dem Bie- 
nenstock verlorengehen, wenn der Schwarm sich von ihm 
trennt. 

Das ist mit ziemlicher Sicherheit die wahre Erklärung für 

das scheinbar anormale Übergewicht der Männchen beim 
Geschlechterverhältnis. Es handelt sich um ein Extrembei- 
spiel für etwas, über das ich schon gesprochen habe. Nach 
Fishers Regel muß der Aufwand für Männchen und Weibchen 
gleich sein, nicht die Kopfzahl der männlichen und weib- 
lichen Tiere. Der Aufwand für eine neue Königin schließt auch 
gewaltige Anstrengungen für Arbeiterinnen ein, die dem Volk 
sonst nicht verlorengehen würden. Es ist das gleiche Prinzip 
wie bei unserer hypothetischen Robbenpopulation, bei der 

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134 

die Aufzucht des einen Geschlechts doppelt soviel »kostet« 
wie die des anderen, so daß dieses Geschlecht nur halb so 
zahlreich ist. Bei den Bienen erfordert eine Königin hundert- 
oder tausendmal soviel Aufwand wie eine Drohne, denn mit 
ihr verbindet sich der Aufwand für alle zusätzlichen Arbeite- 
rinnen, die für den Schwarm gebraucht werden. Deshalb sind 
Königinnen hundertmal weniger zahlreich als Drohnen. Und 
diese seltsame Geschichte hat noch einen weiteren Dreh: In 
dem Schwarm, der den Stock verläßt, befindet sich nicht die 
neue Königin, sondern die alte.  Die Ökonomie bleibt aber die 
gleiche. Die Entscheidung, eine neue Königin heranzufüttern, 
beinhaltet die Entstehung eines Schwarms, der die alte Köni- 
gin zu ihrem neuen Zuhause begleitet. 

Um unsere Erörterung des Geschlechterverhältnisses abzu- 

runden, kehren wir noch einmal zu dem Rätsel des Harems 
zurück, von dem wir ausgegangen waren, jener verschwende- 
rischen Situation, in der eine große Herde männlicher Jungge- 
sellen fast die Hälfte (oder sogar mehr als die Hälfte) der 
Nahrungsressourcen einer Population verbraucht, ohne sich 
jemals fortzupflanzen oder sonst etwas Nützliches zu tun. Das 
ökonomische Wohlergehen der Population ist hier ganz offen- 
sichtlich nicht maximiert. Was ist los? Versetzen wir uns noch 
einmal in die Lage dessen, der die Entscheidung zu treffen hat, 
beispielsweise einer Mutter, die »entscheidet«, ob sie die Zahl 
ihrer Enkel mit einem Sohn oder mit einer Tochter maximie- 
ren kann. Auf den naiven ersten Blick scheint die Lösung 
eindeutig zu sein: »Soll ich einen Sohn haben, der vermutlich 
Junggeselle bleibt und mir überhaupt keine Enkel schenkt, 
oder eine Tochter, die wahrscheinlich in einem Harem endet 
und mir eine beträchtliche Zahl von Enkeln verschafft?« Die 
richtige Antwort für eine solche Mutter in spe lautet: »Aber 
wenn du einen Sohn hast, könnte  er sich einen Harem zule- 
gen, und dann zeugt er dir viel mehr Enkel, als du mit einer 
Tochter jemals bekommen kannst.« Nehmen wir der Einfach- 

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135 

heit halber einmal an, daß alle Weibchen sich mit der gleichen 
Durchschnittshäufigkeit fortpflanzen und daß neun von zehn 
Männchen niemals Nachkommen haben, während jedes 
zehnte Männchen das Monopol über die Weibchen besitzt. 
Wenn man eine Tochter hat, kann man mit der durchschnittli- 
chen Zahl von Enkeln rechnen. Mit einem Sohn besteht eine 
Möglichkeit von neunzig Prozent, daß überhaupt keine Enkel 
entstehen, und eine Chance von zehn Prozent, daß er das 
Zehnfache der Durchschnittszahl von Nachkommen hervor- 
bringt. Die durchschnittliche Zahl von Enkeln, mit der man 
rechnen kann, ist also mit Sohn und Tochter die gleiche. 
Deshalb begünstigt die natürliche Selektion ein Geschlechter- 
verhältnis von 50:50, obwohl ökonomische Überlegungen auf 
der Ebene der Art einen Weibchenüberschuß verlangen. 
Fishers Regel gilt auch hier. 

Ich habe alle diese Überlegungen unter dem Gesichtspunkt 

von »Entscheidungen« einzelner Tiere dargelegt, aber - ich 
wiederhole es nochmals - das ist nur eine verkürzte Aus- 
drucksweise. In Wirklichkeit werden Gene »für« die Maximie- 
rung der Zahl von Enkeln im gesamten Genbestand immer 
häufiger. Die Welt füllt sich mit Genen, die sich über die 
Zeiten hinweg behauptet haben. Und wie soll ein Gen sich 
über die Zeiten hinweg behaupten, wenn es nicht die Ent- 
scheidungen der Individuen so beeinflußt, daß sie die Zahl 
ihrer Nachkommen maximieren? Fishers Theorie von den 
Geschlechterverhältnissen erklärt, wie diese Maximierung zu- 
stande kommt, und das geschieht ganz anders als die Maximie- 
rung des ökonomischen Wohlergehens einer Art oder einer 
Population. Es gibt eine Nutzenfunktion, aber sie sieht ganz 
anders aus als diejenige, die unserem menschlichen, ökono- 
misch orientierten Geist als erstes einfallen würde. 

Die Verschwendung bei der Haremswirtschaft läßt sich fol- 

gendermaßen zusammenfassen: Die Männchen beschäftigen 
sich nicht mit nützlichen Tätigkeiten, sondern vergeuden 

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136 

Energie und Kraft in nutzlosen Konkurrenzkämpfen. Das 
stimmt, auch wenn man die Nützlichkeit im darwinistischen 
Sinne im Zusammenhang mit der Aufzucht von Nachkommen 
definiert. Würden die Männchen die Energie, die sie mit ihren 
Konkurrenzkämpfen vergeuden, in nützliche Kanäle lenken, 
könnte die Spezies insgesamt bei geringerem Kraft- und Nah- 
rungsverbrauch mehr Junge großziehen. 

Ein Rationalisierungsexperte würde die Welt der See-Elefan- 

ten entgeistert anstarren. Man kann sich eine ungefähre Paral- 
lele ausmalen. Eine Werkstatt braucht für ihren Betrieb nicht 
mehr als zehn Leute, denn es gibt dort nur zehn Drehbänke. 
Aber die Firmenleitung stellt nicht zehn, sondern hundert 
Arbeitskräfte ein. Alle hundert kommen jeden Tag und kas- 
sieren ihren Lohn. Dann verbringen sie den Tag damit, um 
die Plätze an den zehn Drehbänken zu kämpfen. Dort werden 
dann auch Waren produziert, aber höchstens so viele, wie man 
auch mit zehn Leuten erzeugen könnte, und vermutlich sogar 
weniger, weil die hundert Angestellten so mit Kämpfen be- 
schäftigt sind, daß sie die Drehbänke nicht mehr effizient 
nutzen können. Der Rationalisierungsexperte würde nicht 
lange zaudern. Da neunzig Prozent der Arbeitskräfte überflüs- 
sig sind, werden sie auch offiziell so bezeichnet und entlassen. 

Die männlichen Tiere verschwenden ihre Mühe nicht nur 

auf körperliche Auseinandersetzungen - wobei »Verschwen- 
dung« auch hier aus der Sicht des menschlichen Betriebswirts 
oder Rationalisierungsexperten definiert ist. In vielen Fällen 
gibt es auch eine Schönheitskonkurrenz. Damit sind wir bei 
einer anderen Nutzenfunktion, die wir Menschen zu würdi- 
gen wissen, obwohl sie wirtschaftlich nicht unmittelbar sinn- 
voll erscheint: beim ästhetischen Wert. Betrachtet man ihn, 
sieht es fast so aus, als wäre Gottes Nutzenfunktion manchmal 
an den Maßstäben der (inzwischen glücklicherweise aus der 
Mode gekommenen) Miss-World-Wettbewerbe ausgerichtet, 
nur daß hier die Männer über den Laufsteg schreiten. Am 

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137 

deutlichsten erkennt man das an den Balzplätzen von Vögeln 
wie Waldhuhn oder Haustaube. Am Balzplatz zeigen sich die 
Männchen traditionell den weiblichen Vögeln. Die Weibchen 
suchen diesen Ort auf und beobachten das Renommierge- 
habe der Männchen, bevor sie sich eines aussuchen und mit 
ihm kopulieren. Die Männchen sind bei solchen Vogelarten 
oft bizarr geschmückt und zeigen das mit Verbeugungen und 
Tänzelbewegungen oder mit ebenso bemerkenswerten, selt- 
samen Geräuschen. Das Wort »bizarr« ist natürlich eine sub- 
jektive Werbung. Wahrscheinlich erscheinen die Männchen 
des nordamerikanischen Steppenhuhns, die sich bei der Balz 
aufplustern und Geräusche wie beim Ziehen eines Korkens 
von sich geben, ihren Weibchen durchaus nicht bizarr, und 
das ist das einzig Entscheidende. In manchen Fällen haben die 
Vogelweibchen offenbar zufällig die gleichen Vorstellungen 
von Schönheit wie wir, und dann ist die Folge ein Pfau oder 
ein Paradiesvogel. 

Der Gesang der Nachtigall, der Schwanz eines Fasans, das 

Aufblitzen der Glühwürmchen und die Regenbogenfarben 
der Fische an tropischen Korallenriffen - all das sind Maximie- 
rungen der Schönheit. Aber die Schönheit dient nicht - oder 
nur zufällig - dazu, die Menschen zu erfreuen. Wenn wir das 
Schauspiel genießen, ist das eine Zugabe, ein Nebeneffekt. 
Gene, die ein Männchen für das Weibchen attraktiver machen, 
werden automatisch mit dem digitalen Fluß in die Zukunft 
getragen. Es gibt nur eine Nutzenfunktion, durch die solche 
Schönheiten sinnvoll werden; es ist die gleiche, die auch das 
Geschlechterverhältnis der See-Elefanten bestimmt, Gepar- 
den und Antilopen scheinbar nutzlos um die Wette laufen läßt 
sowie dem Kuckuck und der Laus, den Augen und Ohren und 
Luftröhren, den sterilen Arbeiterinnen und den äußerst 
fruchtbaren Bienenköniginnen ihre Eigenschaften verleiht. 
Die große universelle Nutzenfunktion, die Größe, die in je- 
dem Winkel der belebten Natur gewissenhaft maximiert wird, 

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138 

ist in allen Fällen das Überleben der DNA, die für die fragli- 
chen Eigenschaften verantwortlich ist. 

Der Pfau ist mit soviel schwerem, sperrigem Schmuck bela- 

den, daß seine Möglichkeiten, etwas Nützliches zu tun, ernst- 
haft behindert wären, selbst wenn er sich zu nützlicher Tätig- 
keit bemüßigt fühlte - was im großen und ganzen nicht der 
Fall ist. Männliche Singvögel verwenden gefährlich viel Zeit 
und Energie auf das Singen. Das setzt sie mit Sicherheit einer 
Bedrohung aus, nicht nur weil es natürliche Feinde anlockt, 
sondern auch weil es Energie verbraucht und Zeit in Anspruch 
nimmt, die der Vogel sonst zum Auffüllen seiner Energiereser- 
ven nutzen könnte. Ein Biologe, der sich mit Zaunkönigen 
beschäftigt hatte, behauptete einmal, eines seiner wilden 
Männchen habe sich buchstäblich zu Tode gesungen. Jede 
Nutzenfunktion, die das langfristige Wohlergehen der Art 
oder auch das dauerhafte Überleben des jeweiligen Männ- 
chens zum Ziel hat, würde das Ausmaß des Gesanges, des 
Imponiergehabes oder der Kämpfe zwischen den männlichen 
Vögeln einschränken. In Wirklichkeit wird aber das Überle- 
ben der DNA maximiert, und deshalb kann nichts die Ausbrei- 
tung von DNA aufhalten, die keinen anderen Nutzeffekt hat als 
dafür zu sorgen, daß die Männchen den Weibchen schön 
erscheinen. Schönheit ist selbst keine absolute Tugend. Aber 
wenn ein paar Gene den Männchen irgendeine Eigenschaft 
verleihen, die für die Weibchen begehrenswert ist, werden 
diese Gene nolens volens überleben. 

Warum sind die Bäume im Wald so groß? Ganz einfach: um 

die konkurrierenden Bäume zu überragen: Eine »sinnvolle« 
Nutzenfunktion würde dafür sorgen, daß sie alle klein blei- 
ben. Dann würden sie genau die gleiche Menge Sonnenlicht 
aufnehmen, und das mit wesentlich weniger Aufwand für 
dicke Stämme und gewaltige Stützstrukturen. Aber wenn sie 
alle kurz wären, müßte die natürliche Selektion zwangsläufig 
eine Variante begünstigen, die ein wenig länger wird. Und 

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139 

wenn der Vorreiter größer ist, müssen die anderen ihm auf 
dem Fuße folgen. Das ganze Spiel der Eskalation setzt sich 
unaufhaltsam fort, bis schließlich alle Bäume lächerlich und 
verschwenderisch groß sind. Aber lächerlich und verschwen- 
derisch ist es nur vom Standpunkt eines rational-wirtschaftlich 
planenden Denkens aus, bei dem es um die Maximierung der 
Effizienz geht. Durchaus sinnvoll ist es dagegen, wenn man die 
wahre Nutzenfunktion der Bäume versteht: Die Gene maxi- 
mieren ihr eigenes Überleben. Vergleiche aus dem Alltags- 
leben gibt es zur Genüge. Auf einer Cocktailparty schreit man 
sich heiser. Warum? Weil alle anderen auch so laut wie mög- 
lich reden. Wenn alle Gäste sich darauf einigen könnten, nur 
noch zu flüstern, würden sie einander genausogut verstehen, 
und das mit wesentlich weniger Stimmanstrengung und Ener- 
gieverbrauch. Aber solche Übereinkünfte funktionieren nur 
dann, wenn sie überwacht werden. Irgend jemand bringt sie 
immer zu Fall, indem er aus Egoismus ein wenig lauter redet, 
und nun müssen die anderen nacheinander mitziehen. Ein 
stabiles Gleichgewicht stellt sich erst dann ein, wenn alle so 
laut reden, wie es ihnen körperlich möglich ist, und dann ist 
die Lautstärke viel größer, als es unter »rationalen« Gesichts- 
punkten notwendig wäre. Immer wieder werden Beschrän- 
kungen, die der Kooperation dienen, Opfer ihrer inneren 
Instabilität. Gottes Nutzenfunktion erweist sich nur selten als 
größtmöglicher Nutzen für die größtmögliche Zahl. Gottes 
Nutzenfunktion verrät immer wieder ihre Herkunft aus einem 
unkoordinierten Durcheinander, in dem es um egoistischen 
Gewinn geht. 

Die Menschen neigen oft zu der liebenswerten Annahme, 

Wohlergehen bedeute Wohlergehen der Gruppe, »Gutes« sei 
gut für die Gesellschaft, für das zukünftige Wohl der Spezies 
oder sogar des Ökosystems. Aber Gottes Nutzenfunktion, die 
sich aus der Untersuchung aller Haken und Ösen der natürli- 
chen Selektion ergibt, erweist sich leider als unvereinbar mit 

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140 

solchen utopischen Vorstellungen. Sicher, in manchen Fällen 
maximieren die Gene das egoistische Wohlergehen auf ihrer 
eigenen Ebene, indem sie dafür sorgen, daß das Lebewesen 
auf seiner Ebene selbstlos kooperiert oder sich sogar opfert. 
Aber das Wohlergehen der Gruppe ist immer eine zufällige 
Folge und kein vorrangiger Antrieb. Das ist die Bedeutung des 
Begriffs vom »egoistischen Gen«. 

Ich möchte noch einen anderen Gesichtspunkt von Gottes 

Nutzenfunktion betrachten und beginne dazu mit einer Analo- 
gie. Der darwinistische Psychologe Nicholas Humphrey be- 
richtete etwas Aufschlußreiches über Henry Ford. Er sagte, 
angeblich habe Ford, der Schutzheilige der Produktionseffi- 
zienz, einmal 

eine Untersuchung über Autopannen in den USA in Auf- 
trag gegeben, um herauszufinden, ob es am Modell T Teile 
gab, die nie versagten. Seine Mitarbeiter lieferten Berichte 
über alle möglichen Pannenursachen: Achsen, Bremsen, 
Kolben - alles konnte kaputtgehen. Aber sie machten auch 
auf eine bemerkenswerte Ausnahme aufmerksam: Die 
Achsschenkelbolzen  der defekten Autos hatten stets noch 
mehrere Lebensjahre vor sich. Mit erbarmungsloser Logik 
zog Ford daraus den Schluß, die Achsschenkelbolzen seien 
für ihre Aufgaben zu gut, und er ordnete an, daß ihre 
Herstellung von nun an geringeren Anforderungen genü- 
gen solle. 

Vielleicht wissen Sie, wie ich, nicht genau, was Achsschenkel- 
bolzen sind, aber das spielt keine Rolle. Sie sind ein unent- 
behrlicher Teil eines Autos, und Fords angebliche Erbar- 
mungslosigkeit war tatsächlich völlig logisch. Die Alternative 
hätte darin bestanden, alle anderen Bauteile zu verbessern, so 
daß sie dem Standard der Achsschenkelbolzen entsprachen. 
Aber dann hätte er kein Modell T hergestellt, sondern einen 

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141 

Rolls-Royce, und das war nicht der Zweck der Übung. Einen 
Rolls-Royce herzustellen, ist eine ansehnliche Aufgabe, und 
das gleiche gilt für ein Modell T, aber der Preis ist ein anderer. 
Man muß dafür sorgen - und das ist der springende Punkt -, 
daß das ganze Auto entweder nach Rolls-Royce- oder nach 
Modell-T-Anforderungen gebaut wird. Produziert man ein 
Mischmodell, bei dem manche Teile die Qualität eines Modell 
T und andere die eines Rolls-Royce haben, bekommt man von 
beiden die schlechteste Seite, denn der Wagen wird verschrot- 
tet, wenn das schwächste Teil seinen Dienst versagt, und das 
Geld für die hochwertigeren Teile, die sich niemals bis zu 
Ende abnutzen, ist schlicht und einfach vergeudet. 

Fords Lehre trifft auf Lebewesen noch stärker zu als auf 

Autos, denn bei einem Auto kann man defekte Teile innerhalb 
gewisser Grenzen ersetzen. Kleinaffen und Gibbons suchen 
sich ihren Lebensunterhalt in den Baumkronen, und dabei 
besteht immer die Gefahr, daß sie herunterfallen und sich die 
Knochen brechen. Angenommen, wir geben eine Untersu- 
chung an Affenleichen in Auftrag, weil wir wissen wollen, wie 
oft die wichtigsten Knochen im Körper gebrochen sind. Neh- 
men wir weiterhin an, es stellt sich dabei heraus, daß jeder 
Knochen irgendwann einmal bricht, mit einer Ausnahme: Das 
Wadenbein (das ist der Knochen im Unterschenkel, der paral- 
lel zum Schienbein verläuft) ist bei keinem der untersuchten 
Affen gebrochen. Henry Ford würde unverzüglich fordern, 
das Wadenbein nach Maßgabe geringerer Anforderungen zu 
konstruieren, und genau das würde auch die natürliche Selek- 
tion tun. Mutierte Individuen mit einem minderwertigen Wa- 
denbein - es könnte entstehen, weil während des Wachstums 
kostbares Calcium aus diesem Knochen abgezogen wird - 
könnten das eingesparte Material zur Verstärkung anderer 
Knochen verwenden und so den Idealzustand erreichen, in 
dem alle Knochen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit bre- 
chen. Oder die mutierten Individuen könnten das eingesparte 

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142 

Calcium einsetzen, um mehr Milch zu produzieren und mehr 
Junge großzuziehen. Dem Wadenbein kann gefahrlos Kno- 
chensubstanz entzogen werden, jedenfalls so lange, bis es 
ebenso leicht bricht wie der zweithaltbarste Knochen. Die 
andere Möglichkeit - das Rolls-Royce-Prinzip, wonach alle 
anderen Teile auf den Qualitätsstandard des Wadenbeins ge- 
bracht werden - ist schwieriger zu verwirklichen. 

Ganz so einfach ist die Rechnung in Wirklichkeit nicht, denn 

manche Knochen sind wichtiger als andere. Ich nehme an, ein 
Klammeraffe kann mit einem gebrochenen Fersenknochen 
eher überleben als mit einem gebrochenen Arm, und deshalb 
sollte man nicht erwarten, daß die natürliche Selektion buch- 
stäblich bei allen Knochen für die gleiche Bruchwahrschein- 
lichkeit sorgt. Aber die wichtigste Lehre, die wir aus der Ge- 
schichte von Henry Ford ziehen können, ist zweifellos richtig. 
Ein Körperteil eines Tiers kann durchaus zu gut sein, und 
dann sollte man erwarten, daß die natürliche Selektion eine 
Qualitätsabnahme begünstigt, allerdings nur bis zum Gleich- 
gewicht mit der Qualität der anderen Teile und nicht darüber 
hinaus. Genauer gesagt, sorgt die natürliche Selektion in bei- 
den Richtungen für einen Qualitätsausgleich, bis sich alle 
Körperteile in einem angemessenen Gleichgewicht befinden. 

Besonders einfach ist dieses Gleichgewicht zu erkennen, 

wenn es sich zwischen zwei recht unterschiedlichen Aspekten 
des Lebens einstellt, zum Beispiel zwischen dem Überleben 
des Pfauenmännchens und seiner Schönheit in den Augen des 
weiblichen Vogels. Nach Darwins Theorie ist das Überleben 
immer nur ein Mittel zum Zweck der Genfortpflanzung, aber 
das hält uns nicht davon ab, am Körper diejenigen Teile, die 
vorwiegend mit dem Überleben zu tun haben (zum Beispiel 
die Beine) von anderen zu unterscheiden, die wie der Penis 
vor allem der Fortpflanzung dienen. Oder wir nehmen Ge- 
weihe und ähnliche Gebilde, die im Konkurrenzkampf zwi- 
schen den Individuen eine Rolle spielen, von anderen, wie 

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143 

Beinen oder Penis, aus, deren Bedeutung nicht davon ab- 
hängt, ob Konkurrenten vorhanden sind. Viele Insekten zei- 
gen eine strenge Trennung zwischen ihren völlig unterschied- 
lichen Entwicklungsstadien. Raupen sind darauf ausgerichtet, 
Nahrung aufzunehmen und zu wachsen. Schmetterlinge wid- 
men sich wie die Blüten, die sie besuchen, der Fortpflanzung. 
Sie wachsen nicht und saugen den Nektar nur, um ihn sofort 
als »Flugbenzin« zu verbrennen. Wenn einem Schmetterling 
die Fortpflanzung gelingt, verbreitet er nicht nur die Gene für 
einen gut fliegenden und sich paarenden Schmetterling, son- 
dern auch die für die wirksam fressende Raupe, die er früher 
war. Eintagsfliegen leben als Larven bis zu drei Jahre lang im 
Wasser. Wenn sie dann als ausgewachsene Fliegen schlüpfen, 
bemißt sich ihr Leben nur noch nach Stunden. Viele von ihnen 
werden von Fischen gefressen, aber selbst wenn das nicht der 
Fall wäre, würden sie ohnehin bald sterben, denn sie können 
keine Nahrung aufnehmen, ja sie besitzen noch nicht einmal 
einen Darm (Henry Ford wäre von ihnen begeistert gewesen). 
Sie haben die Aufgabe, so lange zu fliegen, bis sie auf einen 
Paarungspartner treffen. Nachdem sie dann ihre Gene weiter- 
gegeben haben - einschließlich der Gene für die Larve, die 
unter Wasser sehr gut drei Jahre lang überleben kann -, 
sterben sie. Eine Eintagsfliege ist wie ein Baum, der jahrelang 
wächst, um dann einen einzigen herrlichen Tag lang zu blü- 
hen und anschließend abzusterben. Die erwachsene Eintags- 
fliege ist die Blüte, die am Ende des alten und Anfang des 
neuen Lebens kurze Zeit aufblüht. 

Ein junger Lachs schwimmt den Fluß, in dem er geboren 

wurde, stromabwärts und verbringt den größten Teil seines 
Lebens fressend und wachsend im Meer. Wenn er geschlechts- 
reif ist, sucht er - vermutlich anhand des Geruches - die Mün- 
dung seines Heimatflusses. In einer heldenhaften und oft 
gepriesenen Wanderung schwimmt er stromaufwärts, springt 
über Wasserfälle und Stromschnellen bis nach Hause zu dem 

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144 

Oberlauf, aus dem er einst gekommen ist. Dort laicht er, und 
der Kreislauf beginnt von neuem.  An  dieser  Stelle  gibt  es 
einen charakteristischen Unterschied zwischen Atlantik- und 
Pazifiklachsen. Der Atlantiklachs kann nach dem Laichen ins 
Meer zurückkehren, und es besteht eine gewisse Aussicht, daß 
er den Zyklus noch einmal durchmacht. Pazifiklachse sterben 
erschöpft wenige Tage nach der Eiablage. 

Der typische Pazifiklachs gleicht einer Eintagsfliege, nur 

zeigt er in seinem Lebenslauf nicht die klare anatomische 
Trennung zwischen Larven- und Erwachsenenstadium. Strom- 
aufwärts zu schwimmen, ist so mühsam, daß er es kein zweites 
Mal schafft. Deshalb begünstigt die natürliche Selektion dieje- 
nigen Individuen, die jedes Gramm ihrer Ressourcen in die 
eine große Fortpflanzungsanstrengung stecken. Alle Vorräte, 
die danach noch übrigbleiben, sind verschwendet - ganz 
ähnlich wie Henry Fords zu gut konstruierte Achsschenkelbol- 
zen. Die Evolution hat das Überleben der Pazifiklachse nach 
der Fortpflanzung bis auf Null zurückgeschraubt; ihre Res- 
sourcen werden in Ei- oder Samenzellen umgeleitet. Die At- 
lantiklachse haben den anderen Evolutionsweg eingeschla- 
gen. Bei ihnen können Individuen, die noch Ressourcen für 
einen zweiten Vermehrungszyklus zurückbehalten haben, gut 
zurechtkommen - vielleicht weil sie im allgemeinen kürzere 
Flüsse überwinden müssen, die in weniger hohen Gebirgen 
entspringen. Dafür zahlen die Atlantiklachse aber den Preis, 
daß sie sich nicht so gut um die Brut kümmern können. Es 
besteht eine Balance zwischen Lebensdauer und Fortpflan- 
zung, und bei den einzelnen Lachsarten haben sich unter- 
schiedliche Gleichgewichte eingestellt. Das besondere Kenn- 
zeichen des Lebenszyklus der Lachse ist die grausame Wande- 
rung, die einen Bruch darstellt. Es gibt keinen allmählichen 
Übergang zwischen einer und zwei Paarungszeiten. Wer eine 
zweite auf sich nimmt, vermindert die Effizienz der ersten 
drastisch. Die Pazifiklachse sind durch die Evolution unwider- 

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145 

ruflich auf eine Paarungszeit festgelegt; die Folge ist, daß ein 
Individuum unmittelbar nach seiner einzigen gigantischen 
Laichanstrengung unausweichlich zugrunde geht. 

Eine ähnliche Balance kennzeichnet alle Lebensformen, 

aber meist ist sie nicht so dramatisch. Unser eigener Tod ist 
wahrscheinlich in einem ähnlichen Sinn vorprogrammiert 
wie bei den Lachsen, nur nicht so offenkundig und eindeutig. 
Ein Eugeniker könnte zweifellos eine Rasse übermäßig lang- 
lebiger Menschen züchten. Dazu würde man solche Personen 
kreuzen, die den größten Teil ihrer Ressourcen auf Kosten 
ihrer Nachkommen in den eigenen Körper stecken, beispiels- 
weise Menschen, deren Knochen besonders kräftig sind und 
die deshalb wenig Calcium für die Milchproduktion übrig 
haben. Ein wenig länger zu leben, ist einfach, wenn man sich 
auf Kosten der nächsten Generation hätscheln läßt. Der Euge- 
niker könnte das Hätscheln übernehmen und die Balance 
zugunsten einer höheren Lebensdauer ausnutzen. Die Natur 
hätschelt nicht auf diese Weise, denn Gene für Geiz gegen- 
über den Nachkommen gelangen nicht in die Zukunft. 

Die Nutzenfunktion der Natur wertet die Langlebigkeit 

nicht um ihrer selbst willen, sondern nur im Hinblick auf 
zukünftige Fortpflanzung. Für ein Tier, das sich wie wir, aber 
anders als der Pazifiklachs mehrmals fortpflanzt, besteht die 
Balance zwischen dem jetzigen Kind (oder Wurf) und zu- 
künftigen Kindern. Ein Kaninchen, das seine gesamten Res- 
sourcen seinem ersten Wurf widmet, hätte wahrscheinlich 
beim ersten Mal kräftigere Junge. Aber für das Austragen 
eines zweiten Wurfes wären dann keine Reserven mehr üb- 
rig. Deshalb breiten sich die Gene für eine Reserve im Kör- 
per der Tiere aus zweiten und dritten Würfen in der Kanin- 
chenpopulation aus. In der Population der Pazifiklachse 
konnten sich solche Gene ganz offensichtlich nicht durchset- 
zen, weil zwischen einem und zwei Laichzyklen eine so große 
praktische Hemmschwelle steht. 

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146 

Die Wahrscheinlichkeit, daß wir im kommenden Jahr ster- 

ben, nimmt im Laufe unseres Lebens zunächst ab, bleibt dann 
eine Zeitlang gleich und setzt schließlich zu einem langen 
Anstieg an. Was geschieht in dieser Phase der langsam wach- 
senden Sterblichkeit? Es ist im wesentlichen das gleiche Prin- 
zip wie beim Pazifiklachs, nur ist es hier nicht auf eine kurze, 
überstürzte Sterbeorgie nach der kurzen Laichorgie zusam- 
mengedrängt, sondern über einen längeren Zeitraum verteilt. 
Der erste, der sich genauer mit der Evolution des Alterns 
beschäftigte, war Anfang der fünfziger Jahre der Nobelpreis- 
träger und Medizinwissenschaftler Sir Peter Medawar; seine 
grundlegende Idee wurde später von den angesehenen Dar- 
winisten G. C. Williams und W. D. Hamilton in verschiedenen 
Punkten abgewandelt. 

Im wesentlichen geht es dabei um folgende Überlegung: 

Wie wir im ersten Kapitel erfahren haben, wird jeder geneti- 
sche Einfluß in der Regel zu einem bestimmten Zeitpunkt im 
Leben des Organismus wirksam. Viele Gene werden schon im 
jungen Embryo angeschaltet, aber andere - beispielsweise 
das Gen für Chorea Huntington, die Krankheit, die den Volks- 
dichter und Sänger Woody Guthrie auf so tragische Weise 
dahinraffte - entfalten ihre Aktivität erst im mittleren Alter. 
Und zweitens können die Einzelheiten eines genetischen Ein- 
flusses, einschließlich des Zeitpunkts, zu dem er seine Wir- 
kung entfaltet, von anderen Genen modifiziert werden. Ein 
Mensch, der das Gen für Chorea Huntington trägt, kann damit 
rechnen, an der Krankheit zu sterben, aber ob das mit vierzig 
oder mit fünfundfünfzig geschieht (so alt war Woody Guthrie), 
hängt wahrscheinlich von anderen Genen ab. Durch die Se- 
lektion solcher »Modifikationsgene« kann also die Wirkung 
eines bestimmten Gens in entwicklungsgeschichtlichen Zeit- 
räumen verlangsamt oder beschleunigt werden. 

Ein Gen wie das für Chorea Huntington, das erst zwischen 

dem vierzigsten und fünfundfünfzigsten Lebensjahr ange- 

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147 

schaltet wird, hat eine Menge Gelegenheiten, in die nächste 
Generation zu gelangen, bevor es seinen Besitzer umbringt. 
Würde es dagegen schon mit zwanzig Jahren aktiv, könnte es 
nur von Menschen weitergegeben werden, die sich in sehr 
jungen Jahren fortpflanzen, und deshalb wäre es in der Selek- 
tion stark benachteiligt. Und wenn es seine Tätigkeit bereits im 
zehnten Lebensjahr aufnimmt, wird es praktisch nie weiterge- 
geben. Die natürliche Selektion begünstigt also Modifikations- 
gene, die den Zeitpunkt, zu dem das Gen für Chorea Hunting- 
ton angeschaltet wird, möglichst weit hinausschieben. Nach 
der Theorie von Medawar und Williams ist das der Grund, 
warum die Krankheit erst im mittleren Alter ausbricht. Früher 
war es vielleicht ein Gen, das früh aktiv wurde, aber die 
natürliche Selektion begünstigte den Aufschub seiner tödli- 
chen Wirkung auf ein mittleres Lebensalter. Zweifellos besteht 
ein geringer Selektionsdruck zugunsten der Verschiebung in 
ein noch höheres Alter, aber er ist nur schwach, weil nur 
wenige Betroffene sterben, bevor sie Nachkommen gezeugt 
und das Gen weitervererbt haben. 

Das Gen für Chorea Huntington ist ein besonders eindeuti- 

ges Beispiel für ein tödliches (»letales«) Gen. Viele andere 
Gene wirken selbst nicht tödlich, sorgen aber mit ihren Wir- 
kungen dafür, daß man mit höherer Wahrscheinlichkeit aus 
anderen Ursachen stirbt. Solche Gene nennt man subletal. 
Auch bei ihnen dürften Modifikationsgene den Zeitpunkt der 
Aktivierung beeinflussen, so daß diese von der natürlichen 
Selektion entweder hinausgeschoben oder beschleunigt wird. 
Wie Medawar erkannte, sind die Verfallserscheinungen des 
fortgeschrittenen Lebensalters wahrscheinlich auf eine An- 
häufung letaler und subletaler genetischer Effekte zurückzu- 
führen, die im Lebenszyklus immer weiter nach hinten ge- 
drängt wurden, so daß sie die Fortpflanzungsbarriere über- 
winden und in die nächste Generation gelangen können, 
einfach weil ihre Wirkung erst spät einsetzt. 

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148 

G. C. Williams, der Altmeister der amerikanischen Darwini- 

sten, gab der Geschichte 1957 eine weitere wichtige Wen- 
dung. Sie gründet sich auf die bereits erwähnten Über- 
legungen zur ökonomischen Balance. Um sie zu verstehen, 
brauchen wir ein paar zusätzliche Hintergrundinformationen. 
Ein Gen hat meist mehrere Wirkungen, und zwar oftmals auf 
Körperteile, die bei oberflächlicher Betrachtung sehr unter- 
schiedlich sind. Diese »Pleiotropie« ist nicht nur eine Tat- 
sache, sondern sie ist auch durchaus zu erwarten, denn Gene 
entfalten ihre Wirkung ja schon in der Entwicklung des Em- 
bryos, und die ist ein höchst komplizierter Vorgang. Jede neue 
Mutation wird also wahrscheinlich nicht nur einen Effekt ha- 
ben, sondern mehrere. Einer davon könnte zwar nützlich sein, 
aber daß eine Mutation mehrere nützliche Wirkungen hat, ist 
unwahrscheinlich, einfach deshalb, weil die meisten Auswir- 
kungen von Mutationen schädlich sind. Auch das ist eine 
Tatsache, steht andererseits aber auch zu erwarten: Wenn man 
von einem komplizierten, funktionierenden Mechanismus - 
beispielsweise einem Radio - ausgeht, gibt es viel mehr Mög- 
lichkeiten, ihn schlechter zu machen, als solche, ihn zu verbes- 
sern. 

Wenn die natürliche Selektion ein Gen begünstigt, weil es 

in der Jugend einen nützlichen Effekt hat - beispielsweise 
indem es die sexuelle Anziehungskraft junger Männchen ver- 
stärkt -, dann gibt es meist auch eine Kehrseite. Vielleicht 
erzeugt es zum Beispiel im mittleren oder höheren Alter eine 
Krankheit. Theoretisch könnten die Wirkungen auch anders 
herum verteilt sein, aber nach Medawars Überlegung wird die 
natürliche Selektion eine Krankheit in jungen Jahren kaum 
begünstigen, nur weil dasselbe Gen sich in höherem Alter 
positiv auswirkt. Außerdem kann man auch hier die These von 
den Modifikationsgenen heranziehen. Für jeden Effekt eines 
Gens, gut oder schlecht, kann sich der Zeitpunkt der Aktivie- 
rung in der weiteren Evolution ändern. Nach dem Medawar- 

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149 

Prinzip würde er sich bei nützlichen Wirkungen immer mehr 
in die frühe Lebenszeit verlagern, für schädliche Effekte 
würde er dagegen hinausgeschoben. Außerdem gäbe es in 
manchen Fällen eine unmittelbare Balance zwischen positi- 
ven und negativen Wirkungen. Das ergab sich schon aus der 
Geschichte von den Lachsen: Wenn ein Tier nur eine be- 
grenzte Menge von Ressourcen verbrauchen kann, um bei- 
spielsweise kräftig zu werden, so daß es sich bei Gefahr mit 
einem Sprung retten kann, wird jede Neigung, diese Ressour- 
cen frühzeitig zu verbrauchen, gegenüber ihrer späteren Ver- 
wendung begünstigt. Wer sie erst in höherem Alter einsetzt, 
wird mit größerer Wahrscheinlichkeit aus anderen Ursachen 
sterben, bevor er seine Ressourcen nutzen kann. Medawars 
allgemeine Aussage läßt sich auch in einer Art Umkehrung der 
Begriffe fassen, die wir im ersten Kapitel eingeführt haben: 
Jeder entstammt einer ununterbrochenen Reihe von Vorfah- 
ren, die alle einmal jung waren, aber bei weitem nicht alle ein 
höheres Alter erreicht haben. So erben wir alles, was zum 
Jungsein notwendig ist, aber nicht unbedingt alle Vorausset- 
zungen zum Altwerden. In der Regel erben wir Gene, die uns 
erst lange nach unserer Geburt sterben lassen, aber nicht 
solche, die schon nach kurzer Zeit den Tod herbeiführen. 

Kehren wir noch einmal zum pessimistischen Anfang dieses 

Kapitels zurück: Wenn die Nutzenfunktion - die Größe, die 
maximiert wird - das Überleben der DNA ist, so ist das kein 
Rezept für das Glück. Solange die DNA weitergegeben wird, 
spielt es keine Rolle, wer oder was dabei verletzt wird. Für 
Darwins Dolchwespen ist es besser, daß die Raupe am Leben 
bleibt und frisch ist, wenn sie gefressen wird, gleichgültig wie 
hoch dabei der Tribut des Leidens ist. Gene kümmern sich 
nicht um Leid, denn sie kümmern sich um überhaupt nichts. 

Wäre die Natur freundlich, würde sie zumindest ein kleines 

Zugeständnis machen und die Raupe betäuben, bevor sie bei 
lebendigem Leibe von innen heraus aufgefressen wird. Aber 

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150 

die Natur ist weder freundlich noch unfreundlich. Sie interes- 
siert sich weder auf die eine noch auf die andere Weise für 
Leid, solange das Überleben der DNA nicht beeinträchtigt 
wird. Man könnte sich leicht ein Gen vorstellen, das beispiels- 
weise die Gazelle sediert, wenn sie im Begriff ist, den tödli- 
chen Biß zu erleiden. Würde die natürliche Selektion ein 
solches Gen fördern? Nein, es sei denn, durch die Beruhigung 
der Gazelle steigt die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Gen an 
zukünftige Generationen weitergegeben wird. Warum das ge- 
schehen soll, ist schwer zu erkennen, und deshalb müssen wir 
annehmen, daß Gazellen schreckliche Schmerzen und Ängste 
erdulden, wenn sie zu Tode gejagt werden - und dieses 
Schicksal steht den meisten von ihnen bevor. Das Leiden hat in 
der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstel- 
lungen übersteigt. In der Minute, in der ich diesen Satz nieder- 
schreibe, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe 
gefressen; andere laufen bebend vor Angst um ihr Leben; 
wieder andere werden langsam und von innen heraus durch 
gefräßige Parasiten zugrunde gerichtet; Tausende von Lebe- 
wesen aller Arten sterben an Hunger, Durst und Krankheiten. 
Das muß so sein. Jedesmal, wenn es irgendwo einen Überfluß 
gibt, führt das automatisch zu einem Anstieg der Population, 
bis der natürliche Zustand von Hunger und Elend wiederher- 
gestellt ist. 

Die Theologen quälen sich unaufhörlich mit dem »Problem 

des Bösen« und einem damit zusammenhängenden »Problem 
des Leidens« herum. An dem Tag, als ich diesen Abschnitt 
erstmals zu Papier brachte, stand in den britischen Zeitungen 
ein entsetzlicher Bericht über einen mit Kindern besetzten 
Bus einer römisch-katholischen Schule, der ohne ersichtli- 
chen Grund verunglückt war. Der Unfall hatte viele Menschen- 
leben gekostet. Und wieder einmal schlugen sich die Geistli- 
chen mit der theologischen Frage herum, die der Korrespon- 
dent einer Londoner Zeitung (The Sunday Telegraph) so for- 

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151 

mulierte: »Wie kann man an einen liebenden, allmächtigen 
Gott glauben, wenn Er eine solche Tragödie zuläßt?« In dem 
Artikel wurde auch die Antwort eines Priesters zitiert: »Die 
einfache Antwort ist, daß wir nicht wissen, warum es einen 
Gott geben sollte, der solche entsetzlichen Dinge geschehen 
läßt. Aber der schreckliche Unfall bestätigt für einen Christen 
die Tatsache, daß wir in einer Welt wirklicher Werte leben, 
positiver und negativer. Bestünde das Universum nur aus 
Elektronen, gäbe es kein Problem des Bösen oder des Lei- 
dens.« 

Im Gegenteil: Wenn das Universum nur aus Elektronen und 

egoistischen Genen bestünde, wären sinnlose Tragödien wie 
dieses Busunglück genau das, was wir erwarten würden, zu- 
sammen mit einem ebenso sinnlosen glücklichen  Zufall. Ein 
solches Universum hätte weder gute noch schlechte Absich- 
ten. Es würde überhaupt keine Absichten zeigen. In einem 
Universum mit blinden physikalischen Kräften und geneti- 
scher Verdoppelung werden manche Menschen verletzt, an- 
dere haben Glück, und man wird darin weder Sinn und Ver- 
stand noch irgendeine Gerechtigkeit finden. Das Universum, 
das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen 
man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut 
oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser 
Gleichgültigkeit. Oder, wie der unglückliche Dichter A. E. 
Housman es formulierte: 

Die geist- und herzlose Natur 
Wird weder wissen noch sich sorgen. 

Die DNA weiß nichts und sorgt sich um nichts. Die DNA ist 
einfach da. Und wir tanzen nach ihrer Pfeife. 

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152 

 

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153 

Die Replikationsbombe 

Die meisten Sterne - unsere Sonne ist ein typischer Vertreter - 
scheinen mehrere Milliarden Jahre lang sehr gleichmäßig. In 
sehr seltenen Fällen jedoch flammt ein Stern irgendwo in 
der Milchstraße plötzlich ohne Vorwarnung auf und wird zur 
Supernova. Innerhalb weniger Wochen nimmt seine Hellig- 
keit um das Milliardenfache zu; anschließend verlischt er und 
wird zu einem dunklen Überrest seiner selbst. In den wenigen 
Tagen als Supernova dürfte ein Stern mehr Energie abgeben 
als in den gesamten Hunderten von Jahrmillionen als gewöhn- 
licher Stern. Wenn unsere eigene Sonne zur Supernova 
würde, müßte das gesamte Sonnensystem in wenigen Augen- 
blicken verdampfen. Glücklicherweise ist das sehr unwahr- 
scheinlich. In unserer Galaxis mit ihren rund hundert Milliar- 
den Sternen haben die Astronomen nur drei Supernovae 
beobachtet, und zwar in den Jahren 1054, 1572 und 1604. Der 
Krebs-Nebel ist das Überbleibsel des Ereignisses von 1054, das 
von chinesischen Astronomen aufgezeichnet  wurde. (Wenn 
ich »das Ereignis von 1054« sage, meine ich natürlich das 
Ereignis, das man 1054 auf der Erde sehen konnte. Der Vor- 
gang selbst spielte sich sechstausend Jahre früher ab, aber die 
Lichtwellen von dort erreichten uns in dem genannten Jahr.)

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154 

Seit 1604 hat man Supernovae nur noch in anderen Galaxien 
beobachtet. 

Ein Stern kann aber auch eine Explosion anderer Art durch- 

machen. Statt zur Supernova zu werden, wird er zur Informa- 
tion. Diese Explosion beginnt langsamer als eine Supernova 
und braucht unendlich viel länger, um sich zu entfalten. Man 
kann sie Informationsbombe oder aus Gründen, die im fol- 
genden deutlich werden sollten, Replikationsbombe nennen. 
Während der ersten Jahrmilliarden ihrer Entwicklung be- 
merkt man die Replikationsbombe nur in ihrer unmittelbaren 
Nachbarschaft. Später sickern geringfügige Anzeichen der Ex- 
plosion auch in weiter entfernte Bereiche des Weltraumes, 
und zuletzt ist sie zumindest theoretisch auch in großem 
Abstand auszumachen. Wie eine solche Explosion zu Ende 
geht, wissen wir nicht. 

Vermutlich verlischt sie schließlich wie eine Supernova, 

aber wir haben keine Ahnung, wie weit sie sich zuvor im 
Normalfall aufbaut. Vielleicht bis zu einer gewalttätigen, 
selbstzerstörerischen Katastrophe. Vielleicht bis eher sanft 
und immer wieder Gegenstände ausgesandt werden, die sich 
nicht auf einer einfachen ballistischen Bahn, sondern gelenkt 
von dem Stern wegbewegen und in weiter entfernte Raumbe- 
reiche vordringen, wo sie vielleicht anderen Sternsystemen 
die gleiche Tendenz zur Explosion übertragen. 

Über die Replikationsbomben im Universum wissen wir so 

wenig, weil wir nur ein einziges Beispiel gesehen haben, und 
ein Beispiel reicht niemals aus, um über ein Phänomen allge- 
meine Aussagen zu machen. Und unsere einzige Fallge- 
schichte läuft noch. Sie spielt sich seit drei bis vier Milliarden 
Jahren ab und steht jetzt gerade an der Schwelle, aus der 
unmittelbaren Nachbarschaft des Sterns auszubrechen. Dieser 
Stern ist Sol, ein gelber Zwerg, der sich eher am Rande unse- 
rer Galaxis in einem ihrer Spiralarme befindet. Wir nennen 
ihn Sonne. Die Explosion ging eigentlich von einem der Satel- 

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155 

liten aus, die sie in geringem Abstand umkreisen, aber die 
Energie, welche die Explosion antreibt, stammt ausschließlich 
von der Sonne. Der Satellit ist natürlich die Erde, und die seit 
vier Milliarden Jahren andauernde Explosion, die Replika- 
tionsbombe, bezeichnen wir als Leben. Ein besonders wichti- 
ger Ausdruck der Replikationsbombe sind wir Menschen, 
denn durch uns - unser Gehirn, unsere Kultur der Symbole 
und unsere Technik - kann die Explosion in das nächste 
Stadium eintreten und in den entfernteren Weltraum aus- 
strahlen. 

Wie bereits gesagt, unsere Replikationsbombe ist bisher die 

einzige, die wir im Universum kennen, aber das muß nicht 
bedeuten, daß solche Ereignisse seltener sind als Supernovae. 
Zugegeben, Supernovae wurden im Universum bis heute in 
unserer Galaxis dreimal häufiger entdeckt, aber schließlich 
sind sie wegen der riesigen Energiemengen, die sie abstrah- 
len, auch viel leichter über große Entfernungen hinweg zu 
sehen. Bis vor einigen Jahrzehnten, als die ersten von Men- 
schen erzeugten Radiowellen von der Erde ausgingen, wäre 
unsere Lebensexplosion selbst Beobachtern auf recht nahe 
gelegenen Planeten verborgen geblieben. Ihr einziger auffälli- 
ger Ausdruck wäre bis vor kurzem wahrscheinlich das Große 
Barriereriff gewesen. 

Eine Supernova ist eine riesige und sehr plötzliche Explo- 

sion. Jede Explosion wird dadurch ausgelöst, daß irgendeine 
Größe einen kritischen Wert überschreitet; danach eskaliert 
alles und gerät außer Kontrolle, so daß die Folgen viel größer 
sind als der Auslöser. Das Ereignis, das eine Replikations- 
bombe auslöst, ist die spontane Entstehung sich selbst verdop- 
pelnder (replizierender) und gleichzeitig wandelbarer Entitä- 
ten. Der Grund dafür, daß die Selbstverdoppelung ein poten- 
tiell explosives Phänomen ist, ist derselbe wie für jede andere 
Explosion: exponentielles Wachstum - je mehr vorhanden ist, 
desto mehr kommt hinzu. Aus einem selbstreplizierenden 

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156 

Gegenstand werden schon nach kurzer Zeit zwei. Dann stellt 
jeder der beiden wieder eine Kopie von sich selbst her, und es 
sind vier. Dann acht, sechzehn, zweiunddreißig, vierundsech- 
zig... Nach nur dreißig derartigen Generationen der Verdop- 
pelung hat man schon mehr als eine Milliarde selbstreplizie- 
rende Gebilde... Nach fünfzig Generationen sind es tausend 
Millionen Millionen. Und nach zweihundert Generationen hat 
man eine Million Millionen Millionen Millionen Millionen 
Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen. Jedenfalls 
theoretisch. In der Praxis kann es nicht soweit kommen, denn 
diese Zahl ist größer als die Zahl der Atome im Universum. 
Der explosive Vorgang des Selbstkopierens muß begrenzt 
werden, lange bevor zweihundert Generationen der ungehin- 
derten Verdoppelung abgelaufen sind. 

Für das Replikationsereignis, das die Vorgänge auf diesem 

Planeten in Gang setzte, haben wir keine unmittelbaren Indi- 
zien. Wir können nur schließen, daß es stattgefunden haben 
muß, weil sich die Explosion entfaltet hat, zu der auch wir 
gehören. Wie das entscheidende Anfangsereignis, der Beginn 
der Selbstverdoppelung, im einzelnen ausgesehen hat, wissen 
wir nicht genau, aber wir können schließen, was es für ein 
Vorgang gewesen sein muß. Es begann als ein chemisches 
Ereignis. 

Chemie ist ein Schauspiel, das in allen Sternen und auf allen 

Planeten gespielt wird. Seine Darsteller sind Atome und Mole- 
küle. Selbst die seltensten Atome sind nach den uns geläufigen 
Maßstäben des Zählens äußerst zahlreich. Nach einer Berech- 
nung von Isaac Asimov beträgt die Zahl der Atome des selte- 
nen Elements Astat-215 in Nord- und Südamerika bis in eine 
Tiefe von zehn Meilen »nur eine Billion«. Die chemischen 
Grundbausteine wechseln ständig die Partner und bilden eine 
sich wandelnde, aber immer sehr große Population größerer 
Einheiten - der Moleküle. Trotz ihrer gewaltigen Zahl sind 
Moleküle - anders als beispielsweise Tiere einer bestimmten 

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157 

Art oder Stradivari-Violinen - immer völlig identisch. Die 
atomaren Tanzfiguren der Chemie führen dazu, daß manche 
Moleküle auf der Welt häufiger und andere seltener werden. 
Als Biologe ist man natürlich versucht, die Moleküle, die in der 
Population zahlreicher werden, als »erfolgreicher« zu be- 
zeichnen. Aber es ist nicht hilfreich, wenn man dieser Ver- 
suchung nachgibt. Erfolg im aufschlußreichen Sinn des Wor- 
tes ist eine Eigenschaft, die sich erst in einem späteren Sta- 
dium unserer Geschichte entwickelt. 

Was war also jenes folgenschwere kritische Ereignis, das die 

Explosion des Lebens auslöste? Ich habe schon gesagt, daß es 
in der Entstehung selbstverdoppelnder  Entitäten bestand, 
aber ebensogut könnte man von der Entstehung der Verer- 
bung sprechen, eines Vorganges nach dem Muster »Gleiches 
bringt Gleiches hervor«. Moleküle zeigen ein solches Verhal- 
ten in der Regel nicht. Wassermoleküle bilden zwar riesige 
Populationen, aber nichts an ihnen erinnert auch nur entfernt 
an echte Vererbung. Auf den ersten Blick könnte man so etwas 
annehmen. Die Population der Wassermoleküle (H

2

O) nimmt 

zu, wenn Wasserstoff (H) mit Sauerstoff (O) verbrennt, und sie 
schrumpft, wenn Wasser durch Elektrolyse in Wasserstoff- und 
Sauerstoffbläschen gespalten wird. Aber obwohl es unter den 
Wassermolekülen eine Art Populationsdynamik gibt, findet 
man keine Vererbung. Die Mindestbedingung für eine Art der 
Vererbung wären zwei verschiedene Arten von H

2

O-Molekü- 

len, die jeweils Kopien ihres eigenen Typs hervorbrächten. 

Manche Moleküle kommen in zwei spiegelbildlichen For- 

men vor. Es gibt beispielsweise zwei Arten von Glucosemole- 
külen, in denen die gleichen Atome auf die gleiche Weise 
verknüpft sind, nur mit dem Unterschied, daß die Moleküle 
Spiegelbilder sind. Das gleiche gilt für andere Zuckermole- 
küle sowie für viele weitere Verbindungen einschließlich der 
lebenswichtigen Aminosäuren. Hier läge vielleicht eine Ge- 
legenheit für das Prinzip »Gleiches bringt Gleiches hervor«, 

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158 

also für chemische Vererbung. Könnten rechtshändige Mole- 
küle rechtshändige Tochtermoleküle erzeugen, während 
linkshändige nur linkshändige »Nachkommen« erzeugen? Zu- 
nächst einmal ein paar Hintergrundinformationen über spie- 
gelbildlich gebaute Moleküle. Entdeckt wurde das Phänomen 
im 19. Jahrhundert von dem großen französischen Wissen- 
schaftler Louis Pasteur. Er nahm Kristalle des Tartrats, eines 
Salzes der Weinsteinsäure, die bei der Weinbereitung von 
großer Bedeutung ist. Ein Kristall ist ein festes Gebilde, groß 
genug, daß man es mit bloßem Auge sehen und in manchen 
Fällen als Schmuck am Hals tragen kann. Er entsteht, wenn 
gleichartige Atome oder Moleküle sich übereinandertürmen 
und eine feste Masse bilden. Sie lagern sich dabei nicht in 
einem wilden Durcheinander zusammen, sondern in geome- 
trischer Anordnung wie perfekt gedrillte Wachsoldaten mit 
gleicher Körpergröße. Die Moleküle, die sich bereits im Kri- 
stall befinden, bilden eine Vorlage für die Anlagerung der 
neuen Moleküle, die aus einer wäßrigen Lösung stammen und 
sich genau einpassen. Auf diese Weise wächst der ganze Kri- 
stall als genau geordnetes geometrisches Gitter. Das ist der 
Grund, warum Kochsalzkristalle quadratische Flächen haben 
und Diamanten tetraedrisch (rautenförmig) geformt sind. 
Wenn eine Form als Vorlage zum Aufbau einer neuen, gleich- 
artigen Form dient, haben wir einen Hauch von Selbstverdop- 
pelung. 

Zurück zu den Tartratkristallen. Pasteur löste Tartrat in Was- 

ser und bemerkte dann, daß zwei  verschiedene Typen von 
Kristallen entstanden; sie waren völlig gleich, sahen aber aus 
wie Bild und Spiegelbild. Mühsam sortierte er die Kristalle auf 
zwei Haufen. Als er sie anschließend getrennt wieder auflöste, 
erhielt er zwei unterschiedliche Lösungen, zwei Arten von 
gelöstem Tartrat. Sie waren sich zwar in den meisten Eigen- 
schaften sehr ähnlich, aber wie Pasteur herausfand, drehten 
sie polarisiertes Licht in unterschiedliche Richtungen. Des- 

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159 

halb spricht man von rechts- und linksdrehenden Molekülen, 
die das polarisierte Licht im Gegenuhrzeigersinn (nach links) 
beziehungsweise im Uhrzeigersinn (nach rechts) drehen. Läßt 
man die Lösungen erneut kristallisieren, entstehen erwar- 
tungsgemäß jeweils Kristalle eines Typs, die sich zueinander 
spiegelbildlich verhalten. 

Solche spiegelbildlichen Moleküle sind tatsächlich unter- 

schiedlich: Wie bei einem rechten und einem linken Schuh 
lassen sie sich auch mit noch soviel Mühe nicht so drehen, daß 
das eine an die Stelle des anderen treten könnte. Pasteurs 
ursprüngliche Lösung war eine gemischte Population aus bei- 
den Molekültypen, und beim Kristallisieren lagerten sich je- 
weils nur gleiche Moleküle zusammen. Daß es zwei (oder 
mehr) unterschiedliche Varianten von etwas gibt, ist eine 
notwendige Voraussetzung für Vererbung, aber es reicht al- 
lein nicht aus. Echte Vererbung läge bei den Kristallen nur 
dann vor, wenn rechts- und linkshändige Kristalle sich bei 
einer bestimmten Größe jeweils in der Mitte teilten, so daß 
jede Hälfte als Vorlage dienen und wieder zur vollen Größe 
heranwachsen könnte. Dann hätten wir es wirklich mit einer 
wachsenden Population zweier konkurrierender Kristalltypen 
zu tun, und wir könnten von »Erfolg« sprechen: Beide Typen 
konkurrierten um dieselben Atome, aus denen sie sich auf- 
bauen, und ein Typ könnte auf Kosten des anderen zahlrei- 
cher werden, weil er »besser« Kopien von sich selbst herstel- 
len könnte. Leider haben Moleküle in ihrer überwältigenden 
Mehrzahl nicht diese einzigartige Eigenschaft der Vererbung. 

Ich sage »leider«, weil die Chemiker zu medizinischen 

Zwecken häufig Moleküle herstellen wollen, die beispiels- 
weise ausschließlich linkshändig sind, und dazu würden sie 
die Moleküle sehr gerne »züchten«. Aber wenn Moleküle 
überhaupt als Vorlage für die Bildung neuer Moleküle dienen, 
dann in der Regel für ihr Spiegelbild, und nicht für die eigene 
Form. Das macht die Sache schwierig, denn wenn man von der 

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160 

linkshändigen Form ausgeht, hat man am Ende wieder ein 
Gemisch aus gleichen Teilen links- und rechtshändiger Mole- 
küle. Die auf diesem Gebiet tätigen Chemiker versuchen, die 
Moleküle zu überlisten, so daß sie Tochtermoleküle mit der 
gleichen Rechts-Links-Orientierung entstehen lassen, aber das 
ist nur sehr schwer zu schaffen. 

In einer Form, die allerdings nichts mit Rechts- oder Links- 

händigkeit zu tun hat, dürfte die Natur diesen Trick schon vor 
vier Milliarden Jahren ganz von selbst geschafft haben, zu 
einer Zeit, als die Erde noch jung war, und als die Explosion, 
die zu Leben und Information führte, ihren Anfang nahm. Aber 
damit die Explosion wirklich ihren Lauf nehmen konnte, 
mußte mehr als nur einfache Vererbung stattfinden. Selbst 
wenn Moleküle zu echter Vererbung der rechts- oder links- 
händigen Form in der Lage sind, kommt bei der Konkurrenz 
zwischen ihnen nichts Interessantes heraus, weil es nur zwei 
Molekültypen gibt. Hätte beispielsweise die linkshändige den 
Wettbewerb gewonnen, wäre die Angelegenheit damit zu 
Ende. Weiteren Fortschritt gäbe es nicht. 

Größere Moleküle können an verschiedenen Molekülteil- 

chen eine unterschiedliche Rechts- oder Linksorientierung 
besitzen. Das Antibiotikum Momensin hat beispielsweise sieb- 
zehn solche Asymmetriezentren, und an jedem davon ist eine 
rechts- und eine linkshändige Form möglich. Multipliziert 
man zwei siebzehnmal mit sich selbst, erhält man 131.072, und 
in so vielen verschiedenen Formen kann das Molekül vorlie- 
gen. Besäßen diese 131.072 Versionen die Fähigkeit zu echter 
Vererbung, bei der jede Form nur Moleküle ihres eigenen 
Typs hervorbringt, könnte ein recht komplizierter Konkur- 
renzkampf einsetzen, wobei die erfolgreichsten der 131.072 
Molekültypen im Laufe der Zeit in der Population immer 
zahlreicher würden. Aber auch das wäre nur eine einge- 
schränkte Form von Vererbung, denn 131.072 ist zwar eine 
große, aber doch begrenzte Zahl. In einer Explosion des 

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161 

Lebens, die diesen Namen verdient, ist Vererbung zwar eben- 
falls notwendig, aber in einer unbegrenzten Form, deren 
Ende offen ist. 

Mit dem Momensin haben wir, was die Vererbung der 

spiegelbildlichen Form angeht, das Ende der Fahnenstange 
erreicht. Aber Links- oder Rechtshändigkeit ist nicht der ein- 
zige Unterschied, der sich für das Kopieren im Rahmen der 
Vererbung eignet. Der Chemiker Julius Rebek und seine Kol- 
legen vom Massachusetts Institute of Technology haben sich 
ernsthaft mit der Herstellung selbstverdoppelnder Moleküle 
beschäftigt. Bei den von ihnen benutzten Abwandlungen han- 
delt es sich nicht um spiegelbildliche Formen. Sie nahmen 
zwei kleine Moleküle - die genauen Namen spielen keine 
Rolle, wir wollen sie einfach A und B nennen. Mischt man A 
und B in wäßriger Lösung, entsteht eine dritte Verbindung, die 
- richtig geraten - C heißt. Jedes Molekül von C dient als 
Matrize oder Gußform. Die frei in der Lösung schwimmenden 
A- und B-Moleküle passen in sie hinein. Jeweils ein A und ein B 
gelangen in der Gußform in die richtige Lage, so daß sie sich 
zu einem neuen Molekül von C verbinden, das genau wie das 
vorherige aussieht. Die C-Moleküle haften nicht aneinander - 
sonst würde ein Kristall entstehen -, sondern trennen sich. 
Jetzt stehen beide C-Moleküle wiederum als Gußformen für 
die Bildung neuer C-Moleküle zur Verfügung, so daß ihre Zahl 
exponentiell anwächst. 

Bis hierher zeigt das System noch keine echte Vererbung, 

aber jetzt kommt's. Das Molekül B liegt in mehreren Formen 
vor, die sich alle mit A verbinden können und dabei jeweils 
eine andere Form von C entstehen lassen. Wir haben demnach 
die Verbindungen C1, C2, C3 und so weiter. Jede dieser Ver- 
sionen von C dient als Vorlage für die Bildung weiterer C- 
Moleküle des gleichen Typs. Die Population der C-Moleküle 
ist also uneinheitlich. Außerdem stellen die C-Moleküle ihre 
Tochtermoleküle nicht alle mit der gleichen Effizienz her, 

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162 

sondern in der C-Population gibt es eine Konkurrenz zwi- 
schen den verschiedenen Versionen von C. Und, was noch 
besser ist, mit ultravioletter Strahlung kann man auch »Spon- 
tanmutationen« herbeiführen. Die neuen mutierenden Mole- 
küle erwiesen sich als »reinerbig« und brachten Tochtermole- 
küle hervor, die ihnen genau glichen. Zur großen Zufrieden- 
heit der Wissenschaftler überflügelte die neue Variante ihre 
Ausgangsmoleküle und gewann in der Reagenzglaswelt, in der 
diese Protolebewesen zu Hause waren, schnell die Oberhand. 
Und der Komplex aus A, B und C ist auch nicht die einzige 
Gruppe von Molekülen, die sich so verhält. Es gibt auch D, E 
und F, um ein vergleichbares Dreiersystem zu nennen. Rebeks 
Arbeitsgruppe konnte sogar selbstverdoppelnde Hybride aus 
Elementen der Gruppen A/B/C und D/E/F herstellen. 

Die sich wirklich selbstverdoppelnden Moleküle, die wir in 

der Natur kennen - die Nucleinsäuren DNA und RNA - haben 
weitaus reichhaltigere Variationsmöglichkeiten. Rebeks Repli- 
kator ist eine Kette aus nur zwei Gliedern, aber DNA ist ein 
Kettenmolekül von unbegrenzter Länge; jedes seiner vielen 
hundert Glieder gehört zu einem von vier Typen; und wenn 
ein bestimmter DNA-Abschnitt als Matrize für die Bildung 
eines neuen DNA-Moleküls dient, dient jeder dieser vier Bau- 
steine als Vorlage für einen anderen der vier. Die vier Einhei- 
ten, Basen genannt, sind die Verbindungen Adenin, Thymin, 
Cytosin und Guanin, in der Regel abgekürzt als A, T, C und G. A 
dient immer als Matrize für T und umgekehrt, und das gleiche 
gilt für C und G. Für A, T, C und G ist jede nur denkbare 
Reihenfolge möglich, und immer wieder wird sie originalge- 
treu kopiert. Und da die Länge von DNA-Ketten keinen Be- 
schränkungen unterliegt, gibt es auch unendlich viele Varia- 
tionsmöglichkeiten. Das ist ein möglicher Ausgangspunkt für 
eine Informationsexplosion, deren Auswirkungen schließlich 
über ihren Heimatplaneten hinausgehen und die Sterne errei- 
chen können. 

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163 

Der Widerhall der Replikatorexplosion in unserem Sonnensy- 

stem beschränkte sich während des größten Teils der vier 
Milliarden Jahre, seit sie sich ereignete, auf ihren Heimat- 
planeten. Erst in der letzten Jahrmillion ist ein Nervensystem 
entstanden, das eine Funktechnik erfinden konnte. Und erst in 
den letzten Jahrzehnten hat es diese Technik tatsächlich ent- 
wickelt. Jetzt geht eine immer größer werdende Kugel aus 
informationstragenden Radiowellen mit Lichtgeschwindigkeit 
von dem Planeten aus. 

Ich sage »informationstragend«, weil auch schon vorher 

jede Menge Radiowellen durch den Kosmos vagabundierten. 
Sterne senden nicht nur in dem Frequenzbereich, den wir als 
sichtbares Licht bezeichnen, sondern auch im Bereich der 
Radiowellen Strahlung aus. Ein gewisses Hintergrundrau- 
schen ist sogar vom Urknall übriggeblieben, der die Zeit und 
das Universum entstehen ließ. Aber diese Strahlung hat keine 
sinnvollen Muster. Sie trägt keine Information. Ein Radioastro- 
nom auf einem Planeten des Sterns Proxima Centauri würde 
das gleiche Hintergrundrauschen empfangen wie wir, aber er 
würde außerdem ein viel komplizierteres Muster von Radio- 
wellen messen, das aus der Richtung unseres Sterns namens 
Sol kommt. Er würde darin kein Gemisch von vier Jahre alten 
Fernsehsendungen erkennen, aber er würde bemerken, daß 
es mehr Regelmäßigkeiten enthält und demnach informa- 
tionsreicher ist als das übliche Hintergrundrauschen. Die Ra- 
dioastronomen bei Proxima Centauri würden mit aufgereg- 
tem Trara berichten, der Stern Sol sei in dem informationstra- 
genden Äquivalent einer Supernova explodiert (und sie wür- 
den vermuten, daß die Explosion in Wirklichkeit von einem 
Planeten der Sonne ausgeht, könnten sich in dieser Frage aber 
nicht sicher sein). 

Wie wir gesehen haben, explodieren Replikationsbomben 

langsamer als Supernovae. Bei unserer eigenen hat es ein paar 
Milliarden Jahre gedauert, bis die Schwelle der Funkwellen 

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164 

erreicht war, also der Augenblick, in dem ein Teil der Informa- 
tion den Ausgangsplaneten verläßt und benachbarte Sternsy- 
steme mit Wellen der Bedeutung durchtränkt. Sollte unsere 
Informationsexplosion den typischen Verlauf genommen ha- 
ben, kann man vermuten, daß der Vorgang eine abgestufte 
Reihe von Schwellen überschreitet. Die Schwelle der Funk- 
wellen und davor die Schwelle der Sprachentwicklung wer- 
den während der Entfaltung der Replikationsexplosion erst 
relativ spät erreicht. Zuvor gab es - zumindest auf unserem 
Planeten - das, was man die Schwelle der Nervenzellen nen- 
nen könnte, und noch früher die Schwelle der Vielzeller. Die 
erste Schwelle, sozusagen die Urmutter aller weiteren, war die 
Schwelle des Replikators. Sie war der Auslöser, der die ganze 
Explosion überhaupt erst möglich machte. 

Was ist an Replikatoren so wichtig? Wie kann ein zufällig 

entstandenes Molekül mit der scheinbar harmlosen Eigen- 
schaft, als Vorlage für die Herstellung eines gleichartigen Mo- 
leküls zu dienen, eine Explosion auslösen, deren Auswirkun- 
gen letztlich über den einzelnen Planeten hinausgehen? Wie 
wir gesehen haben, beruht die Durchschlagskraft der Replika- 
toren zum Teil auf dem exponentiellen Wachstum. Es ist an 
den Repikatoren besonders deutlich zu erkennen. Ein einfa- 
ches Beispiel ist der sogenannte Kettenbrief. Man erhält eine 
Postkarte mit folgendem Text: »Machen Sie sechs Kopien von 
dieser Karte und schicken Sie diese innerhalb einer Woche an 
sechs Bekannte. Wenn Sie das nicht tun, wird ein Fluch über 
Sie ausgesprochen, und Sie werden innerhalb eines Monats in 
einem entsetzlichen Todeskampf sterben.« Wer vernünftig ist, 
wirft so etwas in den Papierkorb. Aber ein erheblicher Pro- 
zentsatz der Menschen ist nicht vernünftig: Sie sind ein wenig 
verunsichert oder von der Drohung eingeschüchtert und 
schicken sechs Kopien an andere. Von diesen sechs fühlen 
vielleicht zwei sich wiederum bemüßigt, Kopien weiterzu- 
schicken. Wenn im Durchschnitt ein Drittel der Personen, die 

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165 

eine solche Karte bekommen, den Anweisungen folgen, ver- 
doppelt sich die Zahl der umlaufenden Karten jede Woche. 
Theoretisch bedeutet das, daß nach einem Jahr 2 hoch 52 oder 
viertausend Billionen Karten unterwegs sind, genug, um jeden 
Mann, jede Frau und jedes Kind auf der Welt unter sich zu 
begraben. 

Exponentielles Wachstum, das nicht durch Ressourcenman- 

gel begrenzt wird, führt immer in überraschend kurzer Zeit zu 
verblüffend großen Folgen. In der Praxis sind die Ressourcen 
begrenzt, und auch andere Faktoren tragen dazu bei, das 
exponentielle Wachstum einzuschränken. In unserem hypo- 
thetischen Beispiel werden die Leute wahrscheinlich nicht 
mehr mitmachen, wenn sie den Kettenbrief zum zweitenmal 
bekommen. In der Konkurrenz um die Ressourcen könnten 
Varianten des Replikators auftauchen, die es zufällig besser 
schaffen, sich vermehren zu lassen. Diese effizienteren Repli- 
katoren werden auf die Dauer ihre weniger effizienten Rivalen 
verdrängen. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, daß keines der 
sich vermehrenden Gebilde ein bewußtes Interesse an seiner 
Vervielfältigung hat. Dennoch füllt die Welt sich ganz von 
selbst mit den effizientesten Replikatoren. 

Bei dem Kettenbrief könnte die höhere Effizienz zum Bei- 

spiel darin bestehen, daß eine bessere Formulierung auf dem 
Papier steht. Statt der ein wenig unglaubwürdigen Behaup- 
tung »Sie werden innerhalb eines Monats in einem entsetzli- 
chen Todeskampf sterben« könnte die Botschaft zum Beispiel 
lauten: »Bitte, ich flehe Sie an, retten Sie Ihre und meine Seele 
und gehen Sie das Risiko nicht ein; auch wenn Sie Zweifel 
haben, folgen Sie den Anweisungen und schicken Sie den 
Brief an sechs weitere Personen.« Solche »Mutationen« kön- 
nen immer wieder vorkommen. Das Ergebnis ist eine unein- 
heitliche Population von Briefen, die alle im Umlauf sind, alle 
von dem gleichen gemeinsamen Vorfahren abstammen und 
sich dennoch in der Formulierung sowie in Stärke und Art der 

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166 

jeweils angewandten Überredungskünste unterscheiden. Die 
erfolgreicheren Varianten werden sich auf Kosten ihrer weni- 
ger erfolgreichen Konkurrenten vermehren. Erfolg ist einfach 
gleichbedeutend mit der Zahl der in Umlauf befindlichen 
Kopien. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Erfolg ist der 
»Judasbrief«. Er hat die Welt schon mehrmals umrundet und 
sich dabei vermutlich vermehrt. Während ich dieses Buch 
schrieb, schickte mir Dr. Oliver Goodenough von der Univer- 
sität Vermont die folgende Version (und wir verfaßten ge- 
meinsam für die Fachzeitschrift Nature  einen Artikel darüber, 
in dem wir ihn als »virus of the mind« (»Virus des Geistes«) 
bezeichneten): 

»MIT LIEBE IST ALLES MÖGLICH« 

Dieses Blatt wurde Ihnen um Ihres Glückes willen ge- 

schickt. Das Original befindet sich in Neuengland. Es wurde 
neunmal um die Welt geschickt. Ihnen wurde das Glück ge- 
sandt. Sie werden innerhalb von vier Tagen nach Erhalt dieses 
Briefes großes Glück haben, vorausgesetzt, Sie schicken ihn 
Ihrerseits weiter. Das ist kein Scherz. Das Glück wird mit der 
Post kommen. Schicken Sie kein Geld. Schicken Sie Kopien an 
Menschen, von denen Sie glauben, daß sie Glück brauchen. 
Schicken Sie kein Geld, denn Vertrauen kostet nichts. Behal- 
ten Sie diesen Brief nicht. Er muß Ihre Hände innerhalb von 
96 Stunden verlassen. Ein Offizier der Luftabwehr namens Joe 
Elliott bekam 40 Millionen Dollar. George Welch verlor fünf 
Tage nach Erhalt dieses Briefes seine Frau. Er hatte ihn nicht 
weitergeschickt. Aber bevor sie starb, bekam er 75.000 Dollar. 
Bitte schicken Sie Kopien weiter und warten Sie ab, was in den 
nächsten vier Tagen geschieht. Der Kettenbrief kommt aus 
Venezuela und wurde verfaßt von Saul Anthony Degnas, 
einem Missionar aus Südamerika. Seither müssen Kopien um 
die Welt laufen. Sie müssen 20 Kopien machen und sie an 

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167 

Freunde und Bekannte schicken, dann erleben sie in wenigen 
Tagen eine Überraschung. Das ist Liebe, auch wenn Sie nicht 
abergläubisch sind. Beachten Sie unbedingt folgendes: Canto- 
nare Dias erhielt diesen Brief im Jahr 1903. Er bat seine 
Sekretärin, ihn abzuschreiben und weiterzuschicken. Ein paar 
Tage später gewann er 20 Millionen Dollar in einer Lotterie. 
Carl Dobbit, ein Büroangestellter, erhielt den Brief und ver- 
gaß, ihn innerhalb von 96 Stunden weiterzuschicken. Er verlor 
seine Stellung. Nachdem er den Brief wiedergefunden hatte, 
machte er 20 Kopien und schickte sie weiter. Ein paar Tage 
später erhielt er einen besseren Posten. Dolan Fairchild be- 
kam den Brief, glaubte nicht daran und warf ihn weg. Neun 
Tage später starb er. Im Jahr 1987 kam der Brief zu einer 
jungen Frau in Kalifornien. Er war verblichen und kaum les- 
bar. Sie nahm sich vor, den Brief abzuschreiben und weiterzu- 
schicken, aber sie legte ihn auf die Seite und verschob es auf 
später. Sie wurde von verschiedenen Schwierigkeiten heim- 
gesucht, unter anderem von einem teuren Defekt an ihrem 
Auto. Dieser Brief verließ ihre Hände nicht innerhalb von 96 
Stunden. Schließlich schrieb sie den Brief, wie versprochen, 
ab und bekam ein neues Auto. Denken Sie daran, schicken Sie 
kein Geld. Mißachten Sie es nicht - es funktioniert. 
St. Judas 

Dieses lächerliche Schriftstück trägt alle Kennzeichen dafür, 
daß es mehrere Mutationen durchgemacht hat. Es enthält 
zahlreiche Fehler und ungeschickte Formulierungen, und es 
ist bekannt, daß auch noch andere Versionen kursieren. Nach- 
dem unser Aufsatz in Nature  erschienen war, erhielt ich aus 
der ganzen Welt mehrere Fassungen, die sich deutlich vonein- 
ander unterschieden. In einer stand beispielsweise nicht »Of- 
fizier der Luftabwehr«, sondern »Offizier der britischen Luft- 
waffe«. Der Judasbrief ist bei der amerikanischen Postverwal- 
tung bestens bekannt; nach ihren Berichten geht er auf die Zeit 

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168 

vor Beginn der offiziellen Postaufzeichnungen zurück, und es 
kommt immer wieder zu einer plötzlichen epidemieartigen 
Verbreitung. 

Man beachte, daß die Liste der angeblichen Glücksfälle bei 

Gehorsamen und der Katastrophen bei Verweigerern nicht 
von den Betroffenen selbst in den Brief hineingeschrieben 
worden sein kann, denn das Glück trat erst ein, nachdem der 
Brief ihre Hände verlassen hatte, und die Ungehorsamen ha- 
ben den Brief nicht weitergeschickt. Die Geschichten sind 
vermutlich schlicht erfunden - was man unabhängig davon 
auch wegen ihres wenig plausiblen Inhalts vermuten kann. 
Damit sind wir bei dem wichtigsten Unterschied zwischen 
Kettenbriefen und den natürlichen Replikatoren, von denen 
die Explosion des Lebens ausging. Kettenbriefe werden ur- 
sprünglich von Menschen abgeschickt, und die Veränderun- 
gen ihres Wortlauts werden ebenfalls in menschlichen Gehir- 
nen erdacht. Zu Beginn der Explosion des Lebens gab es 
keinen Geist, keine Kreativität und keine Absichten, sondern 
nur Chemie. Aber nachdem die selbstreplizierenden Mole- 
küle erst einmal durch Zufall entstanden waren, hatten die 
erfolgreicheren Varianten dennoch ganz automatisch das Be- 
streben, sich auf Kosten der weniger erfolgreichen zu vermeh- 
ren. 

Wie bei den Kettenbriefen ist Erfolg auch bei chemischen 

Replikatoren schlicht und einfach gleichbedeutend mit der 
Zahl der im Umlauf befindlichen Exemplare. Aber das ist nur 
eine Definition und fast eine Tautologie. Erfolg bemißt sich 
nach praktischer Kompetenz, und praktische Kompetenz ist 
durchaus nichts Tautologisches, sondern etwas sehr Konkre- 
tes. Ein erfolgreiches Replikatormolekül besitzt alles, was es 
aus Gründen der chemischen Machbarkeit zur Verdoppelung 
braucht. In der Praxis kann das fast unendlich viel bedeuten, 
obwohl die Replikatoren selbst oft erstaunlich einheitlich wir- 
ken. 

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169 

Die DNA ist sehr einheitlich: Sie besteht ausschließlich aus 

allen möglichen Sequenzen derselben vier »Buchstaben«: A, 
T, C und G. Wie wir aber in vorangegangenen Kapiteln gese- 
hen haben, bedienen die DNA-Sequenzen sich einer verwir- 
renden Vielfalt von Mitteln, um sich zu verdoppeln. Sie kon- 
struieren beispielsweise bei Flußpferden ein leistungsfähige- 
res Herz, bei Flöhen sprungkräftigere Beine, bei Mauerseg- 
lern aerodynamisch wirksamere Flügel oder bei Fischen eine 
Schwimmblase, die mehr Auftrieb gibt. Alle Organe und 
Gliedmaßen der Tiere, alle Wurzeln, Blätter und Blüten der 
Pflanzen, alle Augen, Gehirne und geistigen Fähigkeiten, ja 
sogar Ängste und Hoffnungen sind Hilfsmittel, mit denen 
erfolgreiche DNA-Sequenzen sich in die Zukunft befördern. 
Die Hilfsmittel selbst sind fast unendlich wandlungsfähig, aber 
das Rezept zu ihrer Konstruktion ist im Gegensatz dazu fast 
lächerlich eintönig. Nur A, T, C und G in immer neuer Reihen- 
folge. 

Das war vielleicht nicht immer so. Wir haben keine Anhalts- 

punkte, ob der Ursprungscode zu Beginn der Informationsex- 
plosion bereits in DNA-Buchstaben geschrieben war. Tatsäch- 
lich ist die ganze auf DNA und Protein basierende Informa- 
tionstechnologie so raffiniert - der Chemiker Graham Cairns- 
Smith bezeichnete sie als High-Tech -, daß man sich kaum 
vorstellen kann, wie sie durch puren Zufall und ohne ein 
anderes selbstverdoppelndes System als Vorläufer entstanden 
sein kann. Der Vorläufer war vielleicht die RNA; oder er äh- 
nelte Julius Rebeks einfachen selbstreplizierenden Molekü- 
len; vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes. Eine 
faszinierende Möglichkeit, die ich in meinem Buch Der blinde 
Uhrmacher  
genauer erörtert habe, ist der Vorschlag von 
Cairns-Smith selbst (siehe Seven Clues to the Origin of Life), 
anorganische Tonkristalle könnten die ersten Replikatoren 
gewesen sein. Mit Sicherheit werden wir es nie wissen. 

Immerhin können wir aber Vermutungen über den allge- 

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170 

meinen Zeitplan anstellen, nach dem die Explosion des Le- 
bens auf einem beliebigen Planeten im Universum abläuft. 
Welche Mechanismen dabei im einzelnen am Werk sind, 
hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab. Das System aus 
DNA und Protein kann sich in einer Welt aus eiskaltem flüssi- 
gen Ammoniak nicht entfalten, aber vielleicht wäre ein ande- 
res System der Vererbung und Keimesentwicklung dazu in 
der Lage. Genau solche Einzelheiten möchte ich aber jetzt 
beiseite lassen und mich auf die vom einzelnen Planeten 
unabhängigen allgemeinen Prinzipien konzentrieren. Ich 
werde systematisch die Schwellen behandeln, die wahr- 
scheinlich jede Replikationsbombe auf einem Planeten über- 
schreiten wird. Manche davon sind wohl tatsächlich allge- 
meingültig, andere dürften auf unsere Erde beschränkt sein. 
Welche von ihnen universell gültig sind und welche nur lokale 
Bedeutung haben, ist nicht immer leicht zu entscheiden; diese 
Frage ist auch für sich gesehen sehr interessant. 

Schwelle Nummer l ist natürlich die Schwelle des Replika- 

tors selbst: Es muß ein selbstverdoppelndes System entste- 
hen, in dem es zumindest in Ansätzen erbliche Abweichun- 
gen gibt und in dem beim Kopieren gelegentlich Fehler auf- 
treten. Das Überschreiten der Schwelle Nummer l hat zur 
Folge, daß der Planet von einer gemischten Population bevöl- 
kert ist, deren Mitglieder um Ressourcen konkurrieren. Die 
Ressourcen sind knapp oder werden es, wenn sich die Kon- 
kurrenz verschärft. Manche leicht abweichenden Exemplare 
werden sich im Kampf um die knappen Ressourcen als be- 
sonders erfolgreich erweisen, andere dagegen werden wenig 
Erfolg haben. Damit haben wir also eine Grundform der 
natürlichen Selektion. 

Zunächst gründet sich der Erfolg der konkurrierenden Re- 

plikatoren ausschließlich auf die Eigenschaften der Replika- 
toren selbst, beispielsweise darauf, wie gut ihre Form sich als 
Vorlage für die Verdoppelung eignet. Aber jetzt, nach vielen 

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171 

Generationen der Evolution, erreichen wir die Schwelle 
Nummer 2, die Phänotypschwelle. Die Replikatoren überle- 
ben nicht mehr aufgrund ihrer eigenen Eigenschaften, son- 
dern mit Hilfe von Wirkungen, die sie auf etwas anderes 
ausüben. Dieses andere nennen wir Phänotyp. Auf der Erde 
erkennt man den Phänotyp leicht: Er besteht aus denjenigen 
Teilen der Tiere und Pflanzen, die von den Genen beeinflußt 
werden, und das sind praktisch alle Körperteile. Man kann 
sich den Phänotyp als Machtmittel vorstellen, mit der erfolg- 
reiche Replikatoren sich Zugang zur nächsten Generation 
verschaffen. Allgemeiner kann man den Phänotyp als Auswir- 
kung eines Replikators definieren, die zum Erfolg des Repli- 
kators beiträgt, selbst aber nicht repliziert wird. So entschei- 
det zum Beispiel ein bestimmtes Gen bei einer auf den pazi- 
fischen Inseln beheimateten Schneckenart darüber, ob das 
Gehäuse links- oder rechtsherum gewunden ist. Das DNA- 
Molekül selbst ist nicht links- oder rechtshändig, aber seine 
phänotypischen Wirkungen sind das sehr wohl. 

Möglicherweise erfüllen links- und rechtsgedrehte Schnek- 

kenhäuser ihre Aufgabe, den Körper der Schnecke zu schüt- 
zen, unterschiedlich gut. Da die Schneckengene in den Ge- 
häusen liegen, deren Form sie beeinflussen, werden Gene, 
die erfolgreichere Gehäuse hervorbringen, zahlreicher wer- 
den als solche, die für die Konstruktion weniger wirksamer 
Gehäuse sorgen. Das Schneckenhaus ist ein Phänotyp und läßt 
selbst keine neuen Schneckenhäuser entstehen. Jedes Ge- 
häuse wird von der DNA aufgebaut, und diese läßt neue DNA 
entstehen. 

DNA-Sequenzen beeinflussen ihren Phänotyp (zum Bei- 

spiel die Windungsrichtung von Schneckenhäusern) über 
eine mehr oder weniger komplizierte Reihe zwischengeschal- 
teter Vorgänge, die man unter der allgemeinen Überschrift 
»Embryologie« zusammenfaßt. Auf der Erde ist der erste 
Schritt in diesem Ablauf immer die Synthese eines Proteinmo- 

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172 

leküls, dessen Aufbau mit Hilfe des berühmten genetischen 
Codes in allen Einzelheiten durch die Anordnung der vier 
DNA-Buchstaben festgelegt ist. Aber solche Einzelheiten sind 
höchstwahrscheinlich nur von lokaler Bedeutung. Allgemei- 
ner gesagt, wird es auf einem Planeten irgendwann Replikato- 
ren geben, deren Auswirkungen (Phänotypen) den Vermeh- 
rungserfolg der Replikatoren verbessern, mit welchen Mitteln 
auch immer. Ist die Phänotypschwelle überschritten, überle- 
ben die Replikatoren mit Hilfe ihrer Stellvertreter, das heißt 
ihrer Folgen auf die Welt. Auf der Erde beschränken sich diese 
Folgen meist auf den Körper, in dem sich das Gen befindet. 
Aber das muß nicht so sein. Nach der Theorie vom erweiterten 
Phänotyp (der ich ein ganzes Buch mit diesem Titel gewidmet 
habe) müssen die phänotypischen Machtmittel, mit denen die 
Replikatoren für ihr langfristiges Überleben sorgen, nicht auf 
den »eigenen« Körper des Replikators beschränkt sein. Gene 
können auch über den einzelnen Körper hinaus die Welt als 
Ganzes, einschließlich anderer Körper, beeinflussen. 

Wie allgemeingültig die Phänotypschwelle ist, weiß ich 

nicht. Nach meiner Vermutung wurde sie auf allen Planeten 
überschritten, auf denen die Explosion des Lebens über ein 
sehr rudimentäres Stadium hinausgekommen ist. Und ich 
nehme an, daß das gleiche auch für die nächste Schwelle auf 
meiner Liste gilt. Schwelle Nummer 3 ist die Schwelle der 
Replikatorengruppen, die auf manchen Planeten vermutlich 
vor der Phänotypschwelle oder gleichzeitig mit ihr überschrit- 
ten wurde. In der Anfangszeit sind die Replikatoren vermut- 
lich selbständige Entitäten, die zusammen mit konkurrieren- 
den einfachen Replikatoren im Oberlauf des genetisches Flus- 
ses treiben. Unser heutiges System der DNA-Protein-Informa- 
tionstechnologie hat dagegen die charakteristische Eigen- 
schaft, daß kein Gen allein etwas ausrichten kann. Das chemi- 
sche Umfeld, in dem Gene wirken, besteht nicht aus den 
Stoffumsetzungen der Außenwelt, die ohne Hilfe ablaufen. Sie 

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173 

bilden zwar den Hintergrund, aber der ist sehr weit entfernt. 
Der unmittelbare, lebensnotwendige chemische Zusammen- 
hang, in dem der DNA-Replikator steht, ist ein viel kleinerer 
Beutel voller konzentrierter Substanzen: die Zelle. Eine Zelle 
als Beutel voller Chemikalien zu bezeichnen, ist eigentlich 
irreführend, denn viele Zellen haben in ihrem Inneren raffi- 
nierte Strukturen aus gefalteten Membranen, und in, an und 
zwischen diesen Membranen laufen lebenswichtige chemi- 
sche Reaktionen ab. Der chemische Mikrokosmos der Zelle 
wird durch das Zusammenwirken von Hunderten - und in 
höher entwickelten Zellen Hunderttausenden - von Genen 
aufgebaut. Jedes Gen trägt zu diesem Umfeld bei, und alle 
nutzen es zum Überleben. Die Gene funktionieren in Grup- 
pen. Das gleiche haben wir aus einem etwas anderen Blick- 
winkel auch im ersten Kapitel erfahren. 

Die einfachsten Systeme, die selbständig die DNA verdop- 

peln können, sind auf der Erde die Bakterienzellen. Sie brau- 
chen mindestens ein paar hundert Gene, um die Bausteine 
herzustellen, die sie brauchen. Zellen, die keine Bakterien 
sind, bezeichnet man als eukaryontisch. Zu ihnen gehören 
unsere eigenen Zellen ebenso wie die aller Tiere, Pflanzen, 
Pilze und Protozoen. 

Eukaryontenzellen besitzen in der Regel Hunderte oder 

Tausende von Genen, die alle zusammenarbeiten. Wie wir im 
zweiten Kapitel gesehen haben, erscheint es heute durchaus 
möglich, daß die Eukaryontenzelle selbst ursprünglich eine 
Gruppe von vielleicht einem halben Dutzend zusammenge- 
ballter Bakterienzellen war. Aber das ist Teamwork höherer 
Ordnung, und darum geht es mir hier nicht. Ich spreche 
vielmehr von der Tatsache, daß alle Gene ihre Wirkungen in 
einem chemischen Umfeld entfalten, das durch die Gesamt- 
heit der Gene in einer Zelle geschaffen wird. 

Wenn man begriffen hat, daß Gene im Team arbeiten, ist 

man natürlich versucht, einen Gedankensprung zu machen 

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174 

und anzunehmen, die Selektion wähle heute unter konkurrie- 
renden Gengruppen aus. Demnach hätte auch die Selektion 
sich auf eine höhere Organisationsebene begeben. Der Ge- 
danke ist verlockend, aber nach meiner Überzeugung völlig 
falsch. Viel aufschlußreicher ist es, zu sagen: Die Darwinsche 
Selektion wählt nach wie vor unter konkurrierenden Genen 
aus, aber dabei haben diejenigen Gene einen Vorteil, die in 
Gegenwart der anderen Gene 
gut gedeihen, welche sich 
gleichzeitig gegenseitig nützen. Diese Aussage ist uns schon 
im ersten Kapitel begegnet. Dort war davon die Rede, wie 
Gene in demselben Arm des digitalen Flusses zu »guten Ka- 
meraden« werden. 

Die nächste wichtige Schwelle, die bei der weiteren Entfal- 

tung der Replikationsbombe überschritten wird, ist die der 
Vielzeller, die ich als Schwelle Nummer 4 bezeichnen möchte. 
Wie wir gesehen haben, ist in unserer Lebenswelt jede Zelle 
eine kleine, räumlich begrenzte Ansammlung chemischer 
Verbindungen, in denen eine Gruppe von Genen eingebettet 
ist. Die Zelle enthält zwar die gesamte Gruppe, wird aber nur 
von einer Untergruppe hergestellt. Nun teilen sich die Zellen: 
Sie halbieren sich, und die Tochterzellen wachsen wieder zur 
vollen Größe heran. Gleichzeitig verdoppeln sich alle in der 
Zelle befindlichen Gene. Wenn die Tochterzellen sich nicht 
vollständig trennen, sondern aneinandergeheftet bleiben, 
können große Zellverbände aus vielen Einzelzellen entste- 
hen. Die Fähigkeit, solche vielzelligen Gebilde hervorzubrin- 
gen, dürfte in anderen Welten ebenso wichtig sein wie in 
unserer eigenen. Wenn die Vielzellerschwelle überschritten 
ist, können Phänotypen auftauchen, deren Formen und Funk- 
tionen in einem wesentlich größeren Maßstab von Bedeutung 
sind als bei Einzelzellen. Ein Geweih oder ein Blatt, die Linse 
des Auges oder das Gehäuse einer Schnecke - alle diese 
Formen werden von Zellen gebildet, aber die Zellen sind 
keine verkleinerten Ausgaben der großen Form. Mit anderen 

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175 

Worten: Vielzellige Organe wachsen nicht nach Art der Kri- 
stalle. Zumindest auf unserem Planeten entstehen sie eher wie 
Gebäude, die ja auch nicht wie überdimensionale Backsteine 
aussehen. Eine Hand hat eine charakteristische Form, aber sie 
besteht nicht aus bandförmigen Zellen - das wäre nur dann 
der Fall, wenn Phänotypen wie Kristalle heranwüchsen. Viel- 
zellige Organismen nehmen aber, wiederum wie Häuser, ihre 
charakteristische Form und Größe an, weil Schichten aus 
Einzelzellen (den Bausteinen) nach bestimmten Regeln im 
richtigen Augenblick das Wachstum einstellen. Die Zellen 
müssen also sozusagen »wissen«, wo sie sich im Verhältnis zu 
anderen Zellen befinden. Leberzellen verhalten sich, als ob sie 
wüßten, daß sie Leberzellen sind, ja, sie scheinen sogar zu 
wissen, ob sie am Rand oder in der Mitte eines Leberlappens 
liegen. Die Frage, wie ihnen das gelingt, ist schwer zu beant- 
worten und wird intensiv untersucht. Die Antworten sind 
wahrscheinlich für unseren Planeten charakterististisch, und 
ich möchte mich hier nicht weiter damit befassen. Wir haben 
das Thema im ersten Kapitel bereits angerissen. Wie die Me- 
chanismen auch im einzelnen aussehen mögen - sie wurden 
auf demselben allgemeinen Weg vervollkommnet wie alle 
anderen Verbesserungen des Lebendigen: durch das nicht 
zufällige Überleben erfolgreicher Gene, die aufgrund ihrer 
Wirkungen ausgewählt wurden - in diesem Fall aufgrund der 
Wirkungen, die sie auf das Verhalten der Zellen im Verhältnis 
zu den Nachbarzellen ausüben. 

Die nächste wichtige Schwelle möchte ich erörtern, weil 

ich annehme, daß sie ebenfalls nicht nur räumlich begrenzt 
für unseren Planeten von Bedeutung ist. Es ist die Schwelle 
der Hochgeschwindigkeits-Informationsverarbeitung. Diese 
Schwelle Nummer 5 wurde auf der Erde durch eine beson- 
dere Klasse von Zellen erreicht, die Neuronen oder Nerven- 
zellen, und deshalb können wir sie für unseren lokalen Be- 
reich auch als Nervensystemschwelle bezeichnen. Unabhän- 

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176 

gig davon, wie sie auf einem Planeten erreicht wird, ist sie 
wichtig, denn nun können Tätigkeiten nach ganz anderen, viel 
schnelleren Zeitplänen ablaufen als bei der Aktivität der Gene 
mit ihrer chemischen Kraftübertragung. Raubtiere können auf 
ihr Abendessen springen, und die Beute kann um ihr Leben 
laufen. Der Muskel- und Nervenapparat, der das ermöglicht, 
agiert und reagiert weitaus schneller als das embryologische 
Origami, mit dem die Gene den ganzen Apparat erst einmal 
schaffen. Absolut gesehen, können Geschwindigkeit und Re- 
aktionszeiten auf anderen Planeten sich stark von den unseren 
unterscheiden, aber immer wird eine wichtige Grenze über- 
schritten, wenn die von den Replikatoren gebildeten Vorrich- 
tungen zum erstenmal Reaktionszeiten haben, die um Grö- 
ßenordnungen unter den embryologischen Entwicklungszei- 
ten der Replikatoren selbst liegen. Ob die dazu notwendigen 
Hilfsmittel unbedingt den Gebilden ähneln müssen, die wir 
auf der Erde Neuronen und Muskelzellen nennen, ist nicht so 
sicher. Aber wenn eine Grenze überschritten wird, die der 
Nervensystemschwelle entspricht, treten höchstwahrschein- 
lich weitere Folgen ein, und die Wirkungen der Replikations- 
bombe weiten sich aus. 

Eine dieser Folgen dürfte darin bestehen, daß Ansammlun- 

gen datenverarbeitender Einheiten entstehen, »Gehirne«, die 
komplizierte, von »Sinnesorganen« aufgenommene Daten- 
muster umsetzen und in einem »Gedächtnis« speichern kön- 
nen. Eine verwickeitere und rätselhaftere Folge nach dem 
Überschreiten der Neuronenschwelle ist die bewußte Wahr- 
nehmung, und diese Bewußtseinsschwelle bezeichne ich als 
Schwelle Nummer 6. Wie oft sie auf der Erde überschritten 
wurde, wissen wir nicht. Nach Ansicht mancher Philosophen 
ist sie untrennbar an die Sprache geknüpft, die sich offenbar 
nur einmal entwickelte: bei der zweibeinigen Affenart Homo 
sapiens.  
Ob Bewußtsein nun Sprache erfordert oder nicht: Ich 
unterstelle, daß die Sprachschwelle wichtig ist, und nenne sie 

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177 

Schwelle Nummer 7. Sie kann auf einem Planeten überschrit- 
ten werden oder auch nicht. Die Einzelheiten, beispielsweise 
ob Sprache durch Schall oder andere physikalische Vorgänge 
übertragen wird, müssen lokalen Gegebenheiten vorbehalten 
bleiben. 

So betrachtet, ist die Sprache das System der Vernetzung, 

durch das die Gehirne (wie sie auf der Erde genannt werden) 
einen so intensiven Informationsaustausch pflegen, daß sie 
gemeinsam eine Technologie entwickeln können. Eine solche 
gemeinsame Technologie - vom Nachahmen bei der Entwick- 
lung von Steinwerkzeug über die Erfindung des Metall- 
schmelzens und des Rades bis zu Dampfkraft und Elektronik - 
hat selbst viele Eigenschaften einer weiteren Explosion, und 
deshalb kann man ihren Beginn mit Fug und Recht als Techno- 
logieschwelle oder Schwelle Nummer 8 bezeichnen. Mög- 
licherweise hat die menschliche Kultur sogar eine ganz ei- 
gene, neue Replikationsbombe gezündet, die von selbstver- 
doppelnden Entitäten eines ganz neuen Typs angetrieben 
wird. Diese Entitäten, die ich in Das egoistische Gen als Meme 
bezeichnet habe, vermehren sich in einem Strom der Kultur 
und unterliegen ebenfalls den darwinistischen Prinzipien. 
Vielleicht detoniert mittlerweile auch eine Membombe paral- 
lel zu der Genbombe, die zuvor mit Gehirn und Kultur die 
Voraussetzungen für die neue Explosion geschaffen hat. Aber 
auch das ist eine zu umfangreiche Frage für dieses Kapitel. Ich 
muß zu dem Hauptthema der planetaren Explosion zurück- 
kehren und feststellen, daß nach Erreichen der Technologie- 
schwelle höchstwahrscheinlich irgendwann auch die Fähig- 
keit entsteht, sich über den Heimatplaneten hinaus bemerkbar 
zu machen. Schwelle Nummer 9, die Schwelle der Radiowel- 
len, wird überschritten, und nun können Beobachter von 
außen bemerken, daß die Replikationsbombe in einem weite- 
ren Sonnensystem explodiert ist. 

Das erste Anzeichen, das ein äußerer Beobachter bemerken 

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178 

wird, sind, wie wir gesehen haben, wahrscheinlich die Radio- 
wellen, die als Nebenprodukt der internen Kommunikation 
auf dem Planeten nach außen dringen. Später werden dann 
die technologischen Erben der Replikationsbombe ihre Auf- 
merksamkeit wahrscheinlich selbst nach außen und zu den 
Sternen richten. Im Zuge unserer eigenen zögernden Schritte 
in dieser Richtung haben wir Botschaften in den Weltraum 
gesendet, die sich gezielt an fremde Intelligenzen richteten. 
Wie kann man eine Nachricht an eine fremde Intelligenz 
gestalten, von der man keine genaue Vorstellung hat? Das ist 
begreiflicherweise schwierig, und es wäre durchaus möglich, 
daß unsere Bemühungen einfach nicht verstanden wurden. 
Bisher hat man sich vor allem darauf konzentriert, fremde 
Beobachter überhaupt auf unsere Existenz aufmerksam zu 
machen, ohne daß die Botschaften einen wesentlichen Inhalt 
haben. Es ist die gleiche Aufgabe, der auch mein hypotheti- 
scher Professor Crickson im ersten Kapitel gegenüberstand. 
Er baute in den DNA-Code die Primzahlen ein, und ein ent- 
sprechendes Verfahren ist auch ein sinnvoller Weg, anderen 
Welten unser Vorhandensein anzuzeigen. Musik mag als bes- 
sere Werbung für unsere Spezies erscheinen, und selbst wenn 
die Zuhörer keine Ohren haben, können sie vielleicht auf 
ihre Weise etwas daraus entnehmen. Der berühmte Wissen- 
schaftler und Schriftsteller Lewis Thomas hat vorgeschlagen, 
wir sollten Bach senden, alles von Bach und nichts als Bach; 
allerdings fürchtete er, das könne wie Prahlerei wirken. Aber 
ein fremdartiger Geist könnte Musik auch fälschlicherweise 
für die rhythmischen Signale eines Pulsars halten. Pulsare 
sind Sterne, die in Abständen von einigen Sekunden oder 
weniger rhythmische Stöße von Radiowellen aussenden. Als 
eine Gruppe von Radioastronomen in Cambridge sie 1967 
entdeckte, gab es vorübergehend große Aufregung, weil man 
sich fragte, ob die Signale eine Botschaft aus dem Weltraum 
sein könnten. Bald erkannte man aber, daß es eine nüchter- 

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179 

nere Erklärung gab: Ein kleiner Stern rotiert sehr schnell und 
läßt einen Strahl von Radiowellen kreisen wie ein Leuchtturm 
das Licht. Bis heute haben wir noch keine eindeutigen Nach- 
richten von außerhalb der Erde empfangen. 

Nach den Radiowellen können wir uns bisher bei der weite- 

ren Ausbreitung unserer eigenen Explosion nur noch eine 
weitere Schwelle vorstellen: Schwelle Nummer 10 ist die 
Schwelle der Weltraumfahrt, der tatsächlichen Reise ins All. 
Science-fiction-Autoren träumen von interstellar verbreiteten 
Kolonien der Menschheit oder der von ihr erschaffenen Robo- 
ter. Solche Tochterkolonien kann man als Keime oder Infek- 
tionen betrachten, neue Zentren der sich selbst vermehren- 
den Information; sie können sich später selbst wieder explo- 
sionsartig ausweiten und zu neuen Replikationsbomben wer- 
den, die Gene und Meme aussäen. Wenn diese Vision jemals 
Wirklichkeit wird, ist es vielleicht nicht vermessen, sich einen 
zukünftigen Christopher Marlowe vorzustellen, der zu dem 
Bild des digitalen Flusses zurückkehrt: »Sieh nur, sieh, wie die 
Flut des Lebens durch die Himmel strömt!« 

Bisher haben wir kaum den ersten Schritt nach draußen 

getan. Wir waren auf dem Mond, aber so großartig diese 
Leistung auch ist - der Mond ist zwar keine Kalebasse, aber er 
liegt uns so nahe, daß wir kaum von einer Weltraumreise 
sprechen können, jedenfalls aus der Sicht fremder Wesen, mit 
denen wir vielleicht irgendwann kommunizieren. Wir haben 
ein paar unbemannte Sonden in den weiter entfernten Welt- 
raum geschickt, auf Flugbahnen, die kein vorstellbares Ende 
haben. Eine davon hat, inspiriert von dem phantasievollen 
amerikanischen Astronomen Carl Sagan, eine Botschaft an 
Bord, die so gestaltet ist, daß sie möglicherweise von jeder 
fremden Intelligenz entziffert werden kann. Sie ist ge- 
schmückt mit einem Bild der Spezies, die sie geschaffen hat, 
den Zeichnungen eines nackten Mannes und einer nackten 
Frau. 

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180 

Damit, so mag es scheinen, schließt sich der Kreis, und wir 

sind wieder bei den Schöpfungsmythen, von denen wir ausge- 
gangen waren. Aber dieses Paar ist nicht Adam und Eva, und 
die Botschaft, die unter den anmutigen Gestalten eingraviert 
ist, legt von unserem Leben ein würdigeres Zeugnis ab als 
alles, was in der Genesis steht. In einer Bildersprache, die so 
gestaltet ist, daß sie im ganzen Universum verständlich sein 
soll, gibt die Metallplatte ihren eigenen Schöpfungsbericht 
über den dritten Planeten eines Sterns, dessen Koordinaten in 
der Galaxis genau angegeben sind. Als weitere Zeugnisse 
enthält sie einige bildliche Darstellungen grundlegender Prin- 
zipien aus Chemie und Mathematik. Sollten intelligente We- 
sen jemals die Kapsel finden, werden sie der Zivilisation, die 
sie geschaffen hat, zumindest ein wenig mehr als nur primiti- 
ven Stammesaberglauben zuschreiben. Über die gewaltige 
Kluft des Raumes hinweg werden sie wissen, daß vor langer 
Zeit eine andere Explosion des Lebens stattgefunden hat und 
daß an ihrem Ende eine Zivilisation stand, mit der zu reden 
sich gelohnt hätte. 

Nun ja, die Aussichten, daß diese Sonde auch nur in die 

Nähe einer anderen Replikationsbombe gerät, sind ver- 
schwindend gering. Manche Kommentatoren sehen ihren 
Wert in der Inspiration für die Daheimgebliebenen. Die Abbil- 
dung eines nackten Paares, die Hände in einer Geste des 
Friedens gehoben, absichtlich auf eine endlose Reise zu den 
Sternen geschickt, die erste exportierte Frucht der Erkenntnis 
unserer eigenen Lebensexplosion - sicher wirkt sich das 
Nachdenken darüber positiv auf unseren normalerweise recht 
beschränkten kleinen Geist aus; ein Echo der poetischen Wir- 
kung, die Newtons Standbild im Trinity College in Cambridge 
auf den zugegebenermaßen gewaltigen Geist von William 
Wordsworth ausgeübt hat: 

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181 

Von meinem Kissen in der Nacht 
im Licht des Mondes und geneigter Sterne 
erkannte ich die steinerne Gestalt 
des großen Newton, schweigend, mit dem Prisma in der 
Hand, 
marmorner Mahner eines ew'gen Geistes, 
einsamer Wanderer durch seltsame Gedankenwelten. 

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183 

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