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„Die Leiden des jungen Werther“, eine Interpretation von M. Leis

© Reclam Verlag, Stuttgart

1. Biografische Impulse

Der junge Anwalt Johann Wolfgang Goethe folgt dem Rat seines Vaters und

reist im Mai 1772 nach Wetzlar, um dort am Reichskammergericht als Prak-

tikant   seine   Kenntnisse   zu   erweitern.   Ohne   dieses   Intermezzo   wären   die

Leiden des jungen Werther nie entstanden, denn in der hessischen Kleinstadt

erlebt Goethe Entscheidendes. Am 9. Juni 1772 lernt er auf einem Ball im nahe

gelegenen Volpertshausen Charlotte Buff kennen. 

Schon am nächsten Tag besucht der junge Jurist Buff in Wetzlar im Deutschen

Haus (22) und verliebt sich in sie. Das ist problematisch, zumal Fräulein Buff

mit dem bremischen Gesandtschaftssekretär Johann Christian Kestner verlobt

ist. Zunächst verstehen sich die drei recht gut, man unterhält sich, geht gemein-

sam spazieren und feiert Feste. Doch im August 1772 bekommt das Freund-

schaftsverhältnis die ersten Risse. Charlotte Buff gesteht ihrem Verlobten, dass

der Freund ihr einen Kuss gegeben habe, Kestner ist zunächst erbost. Doch

dank seiner noblen Haltung kann die Krise beigelegt werden. Inzwischen weiß

Goethe jedoch, dass er chancenlos bleiben wird, deshalb flüchtet er am 11.

September 1772 aus Wetzlar, ohne sich von seinen Freunden zu verabschie-

den. 

Seine Reise führt ihn zunächst nach Ehrenbreitstein, dort besucht er die Dich-

terin Sophie von La Roche. Zu ihrer Tochter Maximiliane fühlt er sich hingezo-

gen, doch eine Verbindung mit der jungen Dame ist unmöglich. Schließlich reist

er ab und begibt sich wieder nach Frankfurt.

Im Herbst 1772 wird er noch einmal an seine Erlebnisse in Wetzlar erinnert. Am

30. Oktober erschießt sich dort der Legationssekretär Carl Wilhelm Jerusalem,

weil er unglücklich in die verheiratete Elisabeth Held verliebt war. Das letzte

Motiv zur Niederschrift des Werthers gibt im Januar 1774 die Vermählung Ma-

ximilianes von La Roche mit Peter Anton Brentano. Es kommt zum Streit zwi-

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schen den beiden Männern, weil Goethe sich immer noch mit der jungen Dame

trifft, anschließend zieht sich Goethe für vier Wochen zurück und schreibt im

Februar und März 1774 den Werther

Lehrer und Schüler sollten sich trotz des biografischen Hintergrundes des Wer-

thers vor Augen halten, dass der Roman nicht das reale Intermezzo zwischen

Goethe und Charlotte Buff wiedergibt, es handelt sich vielmehr um eine fiktio-

nale Darstellung, in deren Mittelpunkt Werther und Lotte stehen. Goethe selbst

hat im dreizehnten Buch seiner Biografie  Dichtung und Wahrheit  darauf auf-

merksam gemacht, dass er „Wirklichkeit in Poesie verwandelt“

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 habe.

2. Sturm und Drang

Entscheidend für das Verständnis des Romans sind die Zeit und die literarische

Strömung, in der er geschrieben wurde. Die künstlerische Bewegung, in der

Goethe den Werther verfasste, ist der Sturm und Drang.

Die Künstler des Sturm und Drang nehmen eine antisystematische Haltung ein.

Wurde Dichtung bisher von ausgeklügelten Regelpoetiken bestimmt, so igno-

rieren die Stürmer und Dränger diese Vorschriften. Im Mittelpunkt steht viel-

mehr die Forderung nach uneingeschränkter Freiheit; diese wird vor allem vom

Genie verwirklicht. Das Genie ignoriert die Regelpoetiken, es wird zum „Origi-

nal“, weil es ursprünglich nur aus sich selbst heraus eine neue Welt erdichtet;

sein Schaffen stellt so die unmittelbar sinnlich-individuellen Empfindungen dar. 

Die Stürmer und Dränger kritisieren auch die Gesellschaftsordnung mit ihren

Ständeschranken und ihren veralteten Konventionen. Im Mittelpunkt ihres Pro-

gramms stehen die individuelle Selbsterfahrung und die Befreiung des Individu-

ums   aus   der   spießbürgerlichen   und   zweckrationalen   Ständegesellschaft.

Gegenüber der Vernunft wird vor allem der Wert des Gefühls, der Sinnlichkeit

und   der   Spontaneität   betont.   Auch   die   Natur   wird   aufgewertet,   sie   ist   das

Fundament alles Schöpferischen. Im Genie erscheint die Natur als Gipfelpunkt

des Individuellen, in ihm offenbart sich die schöpferische Natur einmalig und

unmittelbar. Wie nun erkennt das Genie den Gang der Natur? Das Herz ist der

Ort,   wo   die   wahren,   d.h.   hier   die   natürlichen,   Gefühle   und   die   ästhetisch-

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genialischen Fähigkeiten ihren Ursprung haben. Das unverstellte Fühlen wird

höher  bewertet  als  Rationalität.   Werther,  der  sich  für  ein Genie  hält,   betont

nicht umsonst ständig die unvergleichliche Erkenntniskraft des Herzens; gleich-

zeitig wertet er vernunftbestimmte Personen wie Albert ab.

3. Außergewöhnliches Werk

Selten hat ein Buch unmittelbar nach seiner Veröffentlichung so viel Ablehnung

und   gleichzeitig   euphorische   Zustimmung   erfahren   wie   der  Werther.   Man

kleidete   sich   bald   wie   Werther   mit   einem   blauen   Frack,   gelber   Weste   und

braunen Stulpenstiefeln. Die Identifikation mit ihm ging so weit, dass sich meh-

rere Leser nach der Lektüre umbrachten. So ist überliefert, dass Christine von

Laßbergs Leichnam am 16. Januar 1778 in der Ilm in Weimar gefunden wurde;

in ihrer Kleidung entdeckte man ein Exemplar des Werther

Der   literarische   Selbstmord   Werthers   und   der   reale   Freitod   einiger   Enthu-

siasten riefen die Kritiker auf den Plan, und so wurde das Buch zum Beispiel

1775 in Leipzig verboten: immerhin galt es, so ein Zeitgenosse, als „Lockspeise

des Satans“.

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4. Werkaufbau

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Den Leiden des jungen Werther ist eine knappe Notiz des Herausgebers voran

gestellt, dann beginnt der eigentliche Briefroman, der sich in zwei Bücher glie-

dert.  Im Folgenden wird die Struktur des  Werthers  anhand des Schaubildes

dargestellt:

5. Interpretationsansätze

Egozentrischer Werther und Briefform

Der  Briefroman  schildert  bis zur letzten  Konsequenz  die  Leiden  des  jungen

Werther. Sein Leid ist vielgestaltig: Er leidet an der Gesellschaft, an der un-

erfüllten Liebe zu Lotte, an sich selbst und seiner Melancholie. Werther ist, und

das ist zentral für das Verständnis des Romans, zu intensiv auf sich selbst fi-

xiert.

„Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“ (5), so lautet der erste Satz des Romans.

Er   verdeutlicht   durch   die   doppelte   Hervorhebung   des   „ich“   Werthers   ego-

zentrische Fixierung. Auch der Name Werther, der sich von Wert

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 (Flussinsel)

ableiten   lässt,   zeigt,   dass   er   eine   isolierte,   inselähnliche   Existenz   führt.

Außerdem besteht Werther ausdrücklich auf die Verwirklichung seiner Identität,

und zwar aus sich selbst heraus: „Ich kehre in mich selbst zurück, und finde

eine Welt!“ (12). 

Weil Werther seine Subjektivität radikal in den Vordergrund stellt, distanziert er

sich   zwangsläufig   von   der   regelkonformen   Gesellschaft.   Werthers

egomanischer Zentrierung kommt die Form des Briefromans entgegen. Zwar

knüpft Goethe an die Tradition des europäischen Briefromans an, doch wäh-

rend dort verschiedene Personen erfolgreich miteinander kommunizieren, steht

hier nur Werther im Mittelpunkt. Bis auf zwei Briefe richtet er alle Briefe an sei-

nen Freund Wilhelm, dessen Antworten werden jedoch nicht abgedruckt, Wil-

helm dient ihm lediglich als zuverlässiger Zuhörer. Es handelt sich deshalb hier,

und das ist das Neue an Goethes Briefroman, um einen monologischen Text.

Werthers   spontane   nur   von   seinen   Empfindungen   gelenkte   Äußerungen

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spiegeln sich auch formal in der Diskontinuität des Briefromans wider: Werther

schreibt manchmal wochenlang keinen Brief, dann gleich zwei an einem Tag.

Die Natur als Rettung?

Werther versucht, sein genialisches Gefühlsleben auf unterschiedliche Weise

auszudrücken, so auch über die Natur.

Werther ist glücklich, weil er die Stadt verlassen hat: „Die Stadt selbst ist un-

angenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur“

(6). Die Stadt ist ihm Sinnbild der verhassten Gesellschaft, denn dort müssen

Gesetze und Konventionen eingehalten werden. Die Natur dagegen verspricht

das Gegenteil, denn sie diktiert keine Regeln, das bestärkt  ihn, sich „künftig

allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich und sie allein bildet

den großen Künstler“ (15). Er benutzt die Natur als Projektionsfläche für seine

Stimmungsschwankungen. Er beseelt sie aus seinem Inneren heraus, sie wird

zum Spiegelbild seiner jeweils aktuellen Gefühlslage. Exemplarisch für diese

höchst subjektive Naturbeschreibung ist der Brief vom 10. Mai 1771. Werthers

„ganz   Seele“   (7)   ist   von   einer   „wunderbare[n]   Heiterkeit“   (7)   eingenommen.

Emphatisch beschreibt er in dem Brief die Natur auf pantheistische Weise; er

fühlt in der Natur „die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde

schuf, das  Wehen  des Alliebenden“ (7). Werther möchte eins mit der Natur

werden, er legt sich deshalb in das Gras, um jede Regung der Natur sinnlich zu

erfahren, und er hofft,  dass „die Welt“  (7) und „der Himmel ganz in [seiner]

Seele“ (7) ruhen könnten. Aber schon hier wird deutlich, dass Werther nicht in

der Lage ist, den Überreichtum dieser Eindrücke sinnstiftend zu kanalisieren:

„Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit

dieser Erscheinungen“ (8).

Neben   Werthers   emphatisch-göttlichem   Naturerlebnis   tritt   ein   idyllisches.   Im

Brief vom 12. Mai 1771 beschreibt er einen typischen  locus amoenus: Mäd-

chen, die Wasser holen, Bäume, ein Brunnen und eine Quelle. Aber diese Idyl-

le erweist sich als Phantasiegebilde Werthers, denn es ist „die warme himm-

lische   Phantasie   in   [seinem]   Herzen“,   die   ihm   „alles   rings   umher   so   pa-

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radiesisch   macht“   (8).   Er   übersieht,   dass   der   normale   Alltag   des   gemeinen

Volkes alles andere als einfach ist.

Es dauert nur wenige Monate und Werther erlebt, nachdem Albert aufgetaucht

ist,   die   Natur   als   Bedrohung,   sie   wird   ihm   „jetzt   zu   einem   unerträglichen

Peiniger“ (60) und „Ungeheuer“ (62). Als Werther erkennt, dass seine Liebe un-

erfüllt bleiben wird, wächst seine Verzweiflung, die sich auch an der tristen Jah-

reszeit ablesen lässt, zunehmend: „Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird

es Herbst in mir und um mich her“ (93). Am 12. Dezember 1772 irrt der sichtlich

Verstörte hinaus in die Natur, der Fluss ist über die Ufer getreten, er verliert wie

Werther seine ursprüngliche Fassung. Die Natur wird nun zur Bedrohung: „Ein

fürchterliches Schauspiel“ (122). Wenige Tage später bringt sich Werther um.

Literatur als Hilfestellung?

Auch Werthers Lektüre drückt seine aktuelle Stimmung aus: Homer, Klopstock,

Ossian und Lessing sind seine bevorzugten Autoren. Wenn er gut gelaunt ist,

liest   er   in   Homers  Odyssee.   Ihn   verehrt   er   als   Dichter   des   idyllischen   und

ursprünglichen Lebens: „ich brauche Wiegengesang und den habe ich in seiner

Fülle gefunden in meinem Homer“ (9). Homers Dichtung hilft ihm über einen

gewissen Zeitraum, reale Mängel zu kompensieren. Als Werther am 15. März

1772 aus der Adelsgesellschaft des Grafen verstoßen wird, liest er „den herrli-

chen Gesang [...] wie Ulyß von dem trefflichen Schweinehirten bewirtet wird.

Das war alles gut“ (83). 

Am 16. Juni 1771 verliebt sich Werther auf dem Ball in Lotte, Klopstocks Ode

Die   Frühlingsfeier  dient   beiden   als   Mittel,   um   ihren   leidenschaftlichen   Ge-

fühlshaushalt platonisch zu artikulieren. Zwischen beide schiebt sich die Litera-

tur, um die körperliche Leidenschaft zu sublimieren. Noch ist Lotte für Werther

unantastbar: „Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart“ (45). 

Doch diese literarisch-sinnliche Kommunikation verkehrt ihre Vorzeichen. Als

Werther ahnt, dass Lotte für ihn unerreichbar bleiben wird, liest er die schwer-

mütigen   Gesänge   Ossians,   die   Werthers   Todessehnsucht   und   Melancholie

widerspiegeln. Als sich Lotte und Werther zum letzten Mal sehen, liest er ihr

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aus den Gesängen Ossians vor. Beide sind zutiefst gerührt von dem Vorge-

tragenen, sie weinen und sind innerlich sehr erregt: „Die Welt verging ihnen“

(142). Es ist bedeutsam, dass die Literatur hier nicht mehr – wie in der Klop-

stock-Sequenz auf dem Ball – als Schutzschild funktioniert, um die Sinnlichkeit

zu bannen, vielmehr bricht dieser Damm nun endgültig, deshalb ist es konse-

quent, dass Lotte sich mit aller Bestimmtheit von Werther distanziert und ihn in

die Schranken weist. Werthers Selbstmord ist damit besiegelt. 

Die Lektüre, in die Werther unmittelbar vor seinem Tod hineinschaut, ist ein

Trauerspiel   von   Lessing:  „Emilia   Galotti“  lag   auf   dem   Pulte   aufgeschlagen“

(153). Emilia, eine tugendhafte junge Dame, geht freiwillig in den Tod, um ihre

Ehre zu retten, - Werther folgt ihr. 

Werther ein Künstler?

Werther erfüllt das Programm des Sturm und Drang nur unvollkommen: Die

schöpferische Potenz, die Kreativität, die ein Genie auszeichnet, tritt bei ihm in

den   Hintergrund.   Er   teilt   Wilhelm   mit,   dass   er   seine   Empfindungen   nicht   in

einem Kunstwerk bündeln kann: „alles schwimmt und schwankt so vor meiner

Seele,   dass   ich   keinen   Umriß   packen   kann“   (47).   Der   Überreichtum   seiner

seelischen Eindrücke verhindert die künstlerische Umsetzung seiner Phantasi-

en. Er ist hilflos: „Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll“ (47). Er glaubt,

und das grenzt schon an ironische Verzweiflung, dass er, wenn er „Ton hätte

oder Wachs“ (47), vielleicht etwas zustande bringen würde. Werther ist ohne

Zweifel ein Dilettant. Das wird besonders deutlich, als er Wilhelm berichtet, er

habe dreimal Lottes Porträt angefangen zu zeichnen, sei aber jedes Mal ge-

scheitert. Schließlich gelingt ihm nur ein „Schattenriss“ (47) von ihr, danach gibt

er das Zeichnen und Malen auf. 

Aber Werther ist bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Herausgeber seine letzten

Wochen dokumentiert, ohne Zweifel ein begnadeter, genialer Briefeschreiber.

Hier   trifft   Werther   den   Ton   und   die   Sprache,   die   von   den   Stürmern   und

Drängern emphatisch gelobt wurden. Neu an dem Stil ist, dass es ihm gelingt,

die Intensität seines Gefühlshaushaltes authentisch zu artikulieren. Werthers

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leidenschaftliche Sprache erreicht ihren Höhepunkt in seinem Abschiedsbrief:

„Nein, Lotte, nein – Wie kann ich Vergehen! – Was heißt das? Das ist wieder

ein Wort! ein leerer Schall! ohne Gefühl für mein Herz. – – Tot, Lotte!“ (143). 

Doch seine literarische Tätigkeit kommt ins Stocken. Am 3. November 1772,

einen guten Monat bevor der Herausgeber Werthers Ende dokumentiert, weil

er  kaum   noch   fähig  ist,  zusammenhängend  zu  schreiben,   stellt  Werther   mit

Verbitterung fest: „ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war,

die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin!"

(103) 

Werther und die Gesellschaft

Werther gehört zu den bürgerlichen Personen im 18. Jahrhundert, die, mehr

oder weniger unabhängig von den höfischen und klerikalen Institutionen, trotz-

dem um eine sehr eigenwillige Identität kämpfen. Er kann sich diesen vermeint-

lichen Luxus leisten, weil er ökonomisch unabhängig ist. 

Werther ist betrübt, wenn er daran denkt, dass der Mensch arbeiten muss, um

sich am Dasein zu erhalten: „Das alles, Wilhelm, macht mich stumm“ (12). In

dieser Arbeiter- und Bürgerwelt kann und will sich Werther niemals einordnen.

Auch die Welt des Adels bleibt ihm verschlossen, als er beim Gesandten als

Sekretär arbeitet, scheitert  der Integrationsversuch radikal, er kündigt seinen

Dienst nach wenigen Monaten auf. Er kritisiert den Adel zwar emotional: „Hole

sie der  Teufel!“  (83)– aber  seine  Kritik stellt  die  Hierarchie  der Gesellschaft

nicht in Frage, er kritisiert sie lediglich dann, wenn sie seinem Freiheitsdrang im

Weg   steht:   „Zwar   weiß   ich   so   gut   als   einer,   wie   nötig   der   Unterschied   der

Stände ist, wie viel Vorteile er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben

gerade im Wege stehen“ (76). 

Nur mit Widerwillen richtet er seine Existenz nach den Regeln des Hofes aus;

er ist für ihn ein „Raritätenkasten“ (78), in dem Absonderlichkeiten ausgestellt

werden. Manchmal fragt er sich, ob dies „nicht optischer Betrug ist.“ (78) Es ist

kein „Betrug“, wie Werther im Verlauf des Romans immer wieder schmerzhaft

erfahren muss. 

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Gescheiterte Liebe

Werthers Liebe zu Lotte ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Werthers

Egozentrik, die ihn immer tiefer in die Einsamkeit, in die Isolation drängt, ist

auch verantwortlich für sein Liebesdesaster. 

Schon bei ihrer ersten Begegnung wird die Polarität zwischen beiden deutlich.

Lotte bestätigt Werther, dass sie mit Albert verlobt sei, daraufhin verliert er auf

dem Tanzboden die Orientierung: „ich verwirrte mich, vergaß mich, und kam

zwischen das unrechte Paar hinein, dass alles drunter und drüber ging“ (28).

Lotte stellt die „Ordnung“ (28) sofort wieder her. Werther verstrickt sich immer

weiter in seine chaotischen Gefühlseskapaden hinein, Lotte dagegen bleibt –

bis auf eine Ausnahme - stets eine Vertreterin der „Ordnung“.

Werther   schätzt  sein   Verhältnis   zu  Lotte   permanent   falsch   ein.   Am   13.  Juli

1771 fühlt er, dass sie ihn liebt: „Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen

trauen, dass sie [...], dass sie mich liebt!“ (44). Im selben Brief wird ein ent-

scheidender Punkt von Werthers Egozentrik in Bezug auf seine Liebe zu Lotte

deutlich, er ist durch und durch narzisstisch: „Und wie wert ich mir selbst werde,

[...] wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!“ (44). Lotte besitzt hier

lediglich   die   Funktion,   Werthers   Selbstwertgefühl   zu   stärken.   Seine

Verwunderung ist nicht gering, als Lotte ihn mit der folgenden Vermutung kon-

frontiert: „Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit, mich zu besitzen,

die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht“ (126f.). Werther zieht sofort nach

Lottes Einschätzung seine Hand aus ihrer zurück, vielleicht weil er ahnt, dass

Lotte Recht haben könnte.

Lediglich in seiner Phantasie kann er sich Lotte problemlos nähern: „Sie meine

Frau!   Wenn   ich   das   liebste   Geschöpf   unter   der   Sonne   in   meine   Arme   ge-

schlossen hätte“ (91). Zu diesem Zeitpunkt kann Werther zweifellos noch zwi-

schen Realität und Traum unterscheiden, als aber seine Gefühlsverwirrung ih-

ren Höhepunkt erreicht, gelingt ihm das nicht mehr, die Grenzen zwischen rea-

ler Lebenswelt und Phantasie verschwimmen am 14. Dezember 1772: „Diese

Nacht! ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen

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Busen   gedrückt,   und   deckte   ihren   liebelispelnden   Mund   mit   unendlichen

Küssen“   (123).   Diese   Fehlinterpretation   kommt   einer   Bankrotterklärung   von

Werthers   pathologischer   Selbstzentrierung   gleich.   Als   er   wenig   später   Lotte

nach   seiner   Ossian-Lesung   leidenschaftlich   –   und   real   –   küsst,   bleibt   ihm,

nachdem sie ihm kategorisch klar macht, dass es der letzte Kuss gewesen sei,

nur noch der Freitod als Ausweg. 

6. Didaktisch-methodische Hinweise

Goethes Werther gehört schon immer zum Schul-Kanon. Der Lehrplan Deutsch

des Landes NRW  z.B. empfiehlt  den Roman für die 12/1, selbstverständlich

kann der Text auch in den Jahrgangsstufen 10, 11 und 13 gelesen werden.

Die Schüler erleben den Schreibstil des  Werther  in der Regel als ‚altmodisch’

und schwer lesbar, aber gerade deswegen ist eine sorgfältige Textlektüre und

Interpretation wichtig, über diesen anstrengenden Weg wird den Schülern im

Idealfall bewusst, dass dieser Briefroman nach wie vor aktuell ist, zumal er sich

unter anderem auf die Lebenswelt der Schüler bezieht, vor allem in Bezug auf

die Liebesthematik, welche die genannten Altersgruppen ganz besonders inter-

essiert.

Die   Schüler   können   neben   der   interpretatorischen   Lektüre   des   Textes   die

Möglichkeit   nutzen,   den   Roman   mit   Hilfe   von   Internetrecherchen   zu

erschließen.   Gerade   Schüler,   die   mit   der   analytischen   Auseinandersetzung

Probleme haben, können mit der Internetarbeit, motiviert werden. Dieser Um-

gang mit Literatur ist auch konstruktiv für die analytische Textarbeit; über die

selbstständige Arbeit mit dem Computer können die Schüler eine neue Sensi-

bilität   gegenüber   der   Machart   eines   Textes   entwickeln,   weil   sie   erkennen

können, dass Texte durchkomponierte Strukturen besitzen. Dabei sollte das li-

terarische Werk nicht aus dem Blickfeld verloren gehen, zwar erleichtern die

moderen Medien durchaus das Textverständnis, aber sie verzerren zuweilen

auch seinen Sinngehalt, diese Problematik sollte ständig reflektiert werden.

Die   Schüler   können   per   Internet   Informationen   über   den   biografischen   Hin-

tergrund des  Werthers  ermitteln, außerdem kann die literarische Epoche des

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Sturm und Drang differenziert erforscht werden. Neben dem zeitgenössischen

historisch-literarischen   Kontext   sollte   auch   die   Rezeptionsgeschichte   ansatz-

weise   thematisiert   werden.   Die   folgenden   Internetadressen   bieten   ein   paar

Orientierungsmarken für Schüler und Lehrer an:

Zu Goethes Biografie

http://www.xlibris.de/Autoren/Goethe/GoeBio/Goethe1.htm

Informative Goethe-Biografie, hier findet man außerdem einen Kommentar zu

den  Leiden des jungen Werther  und eine ausführliche Bibliografie zu seinen

Werken.

Goethe-Galerie

http://www.biblint.de/goethe_galerie.html

Mit vielen Goethe-Links zu Datenbanken, Bildarchiven usw. 

Sturm und Drang

http://www.xlibris.de/Epochen/Sturm/Sturm1.htm

Komprimiert dargestellte Informationen zum Sturm und Drang.

Die Leiden des jungen Werther online

http://www.die-leiden-des-jungen-werther.de/

Wenn man sich auf dieser Homepage anmeldet, bekommt man Briefe aus dem

Werther  per Mail:  „Tragen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse ein, und Werther

wird   Ihnen   schreiben   –   täglich,   werktags,   oder   zu   den   Originalterminen,   zu

denen er auch an Wilhelm schrieb.“

http://www.sondershaus.de

Sehr informative Homepage mit vielen Links rund um die Germanistik.

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7. Fragen

Anhand der folgenden Fragen können Unterrichtsstunden erstellt werden.

1. An welche Tradition knüpft Goethe mit seinem Roman an? 

2. Lesen Sie in einem Literatur-Lexikon  einen Artikel über den „Briefroman“

und geben Sie den Inhalt mit eigenen Worten schriftlich wieder.

3. Werther   erwidert   Leonores   (5,8-16)   Zuneigung   nicht.   Wie   beurteilen   Sie

diese Tatsache im Zusammenhang des Romans?

4. In welchem Verhältnis steht Werther zum gemeinen Volk? Beurteilen Sie

diese Beziehung kritisch.

5. Wie reagiert Werther, als er von Lottes Heirat erfährt?

6. Wieso schaltet sich nach dem 6. Dezember 1772 der fiktive Herausgeber

ein?

7. Beschreiben Sie Werthers Charakter in einem Brief an einen Freund/Freun-

din.

8. Charakterisieren Sie das Verhältnis zwischen Lotte und Albert in einem Auf-

satz.

9. In welcher Weise unterscheidet sich Albert von Werther?

10. Welche Bedeutung besitzen die Jahreszeiten im Roman?

11. Vergleichen Sie die Briefe vom 3. September 1771 und 1772 und vom 21.

August 1771 und 1772.

12. Wie   interpretieren   Sie   Goethes   Bemerkung,   dass   Werther   „schon   von

vornherein   als   vom   tödlichen   Wurm   gestochen“   erscheine?   Welchen

Stellenwert erhält unter diesem Blickwinkel Werthers Liebe zu Lotte?

13. Interpretieren Sie Werthers Verhältnis zur Natur anhand des Briefes vom

10. Mai 1771.

14. Wieso kann man behaupten, dass Werther seine Leidenschaft zu Lotte zu-

nächst literarisch sublimieren kann?

15. Lotte glaubt, dass Werther sie nur deshalb liebe, weil ihn die „Unmöglich-

keit“ (vgl. 124, 26-28) der Erfüllung reize. Wie schätzen Sie diese Vermu-

tung ein?

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16. Arbeiten   Sie   die   biografischen   Parallelen   zwischen   Werther   und   Goethe

heraus, beurteilen Sie diese kritisch.

17.Erstellen Sie einen Hypertext zum  Werther. Als Beispiel könnte folgende

Homepage (

http://www.vib-bw.de/tp8/ws_98_99/hebel/framehebel.htm

) her-

angezogen   werden.   Hier   finden   Sie   einen   Hypertext   zu   Johann   Peter

Hebels Unverhofftes Wiedersehen.

8. Lektüretipps/Filmempfehlungen

Wer sich einen Überblick über die umfangreiche Forschungsliteratur zum Wer-

ther verschaffen möchte, dem sei die folgende Bibliografie empfohlen:

Seifert, Siegfried: Goethe Bibliographie 1950-1990. 3 Bde. Hier: Bd. 2. Mün-

chen 2000. S. 838-872.

Sekundärliteratur

Buhr, Gerhard: Über die Daten der Briefe in Goethes Roman  Die Leiden des

jungen Werthers. In: Text 2 (1996) S. 19-45.

Gille, Klaus F.: Die Leiden und Freuden des jungen Werthers. In: Weimarer

Beiträge 39 (1993) H. 1. S. 122-134.

Müller-Salget, Klaus: Zur Struktur von Goethes Werther. In: Zeitschrift für deut-

sche Philologie 100 (1981) S. 527-544.

Rothmann,   Kurt   (Hrsg.):   Erläuterungen   und   Dokumente.   Johann   Wolfgang

Goethe:  Die Leiden des jungen Werther. Stuttgart 1998. (Reclams Univer-

sal-Bibliothek. Nr. 8113.)

Vaget, Hans R.:  Die Leiden des jungen  Werthers. In: Paul Michael Lützeler

(Hrsg.): Goethes Erzählwerk. Stuttgart 1985. (Reclams Universal-Bibliothek.

Nr. 8113.) S. 37-72.

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Filmtipps

Werther (Frankreich, 1938): Regie: Max Ophüls. Drehbuch: Hans Wilhelm und

Max Ophüls.

Begegnung   mit   Werther  (BRD,   1949).   Regie:   Karl   Heinz   Stroux.   Drehbuch:

Hermann Gressieker und Karl Heinz Stroux.

Leiden des jungen Werthers“ (DDR, 1976). Regie: Egon Günther. Drehbuch:

Helga Schütz.

Werthers unglückliche Liebe (Spanien, 1986). Regie: Pilar Mir. Drehbuch: Mario

Camus und Pilar Miró.

14

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1

 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hrsg. von Walter Hettche, 2 Bde.,

Bd. 1, Stuttgart 1991 (Reclams Universal-Bibliothek, 8719), S. 631.

2

  Zitiert   nach:   Johann   Wolfgang   Goethe,  Die   Leiden   des   jungen   Werthers.  Paralleldruck   der   beiden

Fassungen von 1774 und 1784,  hrsg. von Matthias Luserke, Stuttgart 1999 (Reclams Universal-Bibliothek,

9762), S. 301.

3

 Max Gottschald, Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen nach ihrer Entstehung und Bedeutung,

Berlin 1971, S. 606. Den Hinweis auf die Namensableitung verdanke ich folgendem Aufsatz: Klaus Müller-

Salget, „Zur Struktur von Goethes Werther“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981) S. 531 f.