Die Erotik des Mannes

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Wilfried Wieck

Die Erotik des

Mannes

Zwischen Sehnsucht und

Erstarrung

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Das vorliegende Buch lässt keinen Stein der patriarchalen Sex-Ordnung auf
dem anderen. Gegen Konventionen, Gewalt und Gefühllosigkeit setzt der
Autor das Abenteuer lebendiger Erotik und gibt konkrete Hinweise, wie
Mann und Frau sich Schritt für Schritt an ein spannendes, erfülltes
Miteinander heranwagen können.

ISBN 3 7831 2116 7

© 2002 Kreuz Verlag GmbH & Co.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Umschlagbild: Auguste Rodin, Das Eherne Zeitalter, Ausschnitt, Gips, 1887

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Buch

»Es macht Sinn, wenn ein Mann jenseits von Trends und

sexuellen Moden über lange Zeit und unter Einbeziehung der
eigenen Person Fragen nachgeht, wie zum Beispiel: Wie haben
Männer die Entwicklung ihrer Sexualität erlebt? Was hat sie
beeinflusst? Wie entwickelt sich ihr sexuelles Leben und
Erleben, wenn nicht die gängigen Klischees bedient werden?
Wenn nicht Imponiergehabe und Demonstration von Potenz
notwendig sind, sondern auch über Unsicherheiten, Ängste,
Scham und Sehnsüchte gesprochen werden darf? Wenn der
Mann nicht immer nur das Eine will, sondern mehr?«

Aus dem Vorwort von Irmgard Hülsemann

Autor

Wilfried Wieck, geboren 1938, gestorben 2000, war

Psychologe und Schriftsteller. Er lebte und arbeitete in Berlin.
Seine Bücher »Männer lassen lieben« und »Wenn Männer
lieben lernen« waren monatelang auf den Bestsellerlisten und
machten ihn einem breiten Publikum bekannt.

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Inhalt

Vorwort ..................................................................................5
Zum Verständnis....................................................................11

Teil I: Die lebendige Gestaltung männlicher Erotik ......................13

Erotische Wunschvorstellungen eines Mannes - und die Reaktion
einer Frau..............................................................................14
Was ist Erotik, was belebt und was verhindert sie?...................23
Was Erotik verhindert ............................................................27
Was Frauen wünschen............................................................38
Wenn Männer mit Frauen sprechen.........................................43
Männer brauchen Männer.......................................................46
Beeinflussung durch die Medien .............................................49
Vorurteile und Verdrängungen................................................54
Was Männer sich in der Sexualität wünschen und was sie
verschweigen.........................................................................59
Worüber Männer dann sprechen..............................................63
Die wirklichen Probleme der Männer......................................66
Gesprächsthemen erotisch erfahrener Männer..........................71
Pornographie ist Kampf und Gewalt ........................................76
Was ist Pornographie?............................................................77
Was ist lustvolle Sexualität? ...................................................82
Pornokonsum und Gewalt .......................................................84
Gewinn beim Pornokonsum....................................................88
Das Pornobedürfnis ist anerzogen ...........................................91
Gegen Pornographie hilft nur Aufklärung................................94
Romantik, Psychoanalyse und Sehnsuchtsgefühle der Männer..97
Joseph von Eichendorff ..........................................................99
Novalis ............................................................................... 103
Probleme der Männer: Gefühle und Sehn-Sucht ..................... 107
Echte Gefühle entwickeln und verstehen ............................... 108
Das produktive Sehnen......................................................... 111
Die Sucht, in der Ferne zu sein.............................................. 114
Arten der Sehn-Sucht ........................................................... 118
Wie Sehn-Sucht entsteht....................................................... 121
Wie Männer Sehn-Sucht aushallen........................................ 123

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Von der Sehn-Sucht zur Entwicklung .................................... 129
Die Mutter - erste Quelle erotischer Erfahrungen.
Und was ist mit dem Vater?.................................................. 131
Selbstbefriedigung als Teil der eigenen Erotik ....................... 147
Selbstbefriedigung ist normal............................................... 150
Stärke aus dem Selbstgespräch.............................................. 154
Mut zur Selbstbefriedigung................................................... 156
Die Entfaltung erotischer Qualitäten...................................... 162
Verantwortung für die nackte Frau........................................ 168
Mut zum Risiko ................................................................... 173
Nähe und Distanz................................................................. 177
Hingabe erfordert Selbstachtung ........................................... 179
Erotik braucht Zärtlichkeit .................................................... 184
Zärtlichkeit braucht zarte Stimmung...................................... 186
Erotik braucht Empfindsamkeit ............................................. 193
Empfindsamkeit braucht Ruhe .............................................. 198
Die erotische Begegnung mit der Frau................................... 204
Werbung heißt Kennenlernen ............................................... 205
Die immer wieder neue Liebeserklärung................................ 211
Verführer brauchen Menschenkenntnis .................................. 220
Sexuelle Fantasien ............................................................... 231
Die Berührung der Haut ....................................................... 236
Streicheln ist lebensnotwendig .............................................. 241
Die unglückliche Haut.......................................................... 245

Teil II: Keine Furcht vor unvermeidlichen Komplikationen........ 250

Eifersucht ist keine Krankheit ............................................... 251
Arten der Eifersucht............................................................. 253
Eifersucht erfordert Arbeit .................................................... 258
Das Prinzip Treue ................................................................ 262
Das Prinzip Untreue ............................................................. 266
Verantwortung für drei......................................................... 269
Trennung: Flucht oder Rettung?............................................ 278
War die Partnerwahl falsch? ................................................. 285
Trennungsarten.................................................................... 291
Das Altern des Mannes......................................................... 296
Die Erotik altert nicht ........................................................... 299
30 Schritte zur erotischen Intimität........................................ 308

Statt eines Schlusswortes: Ein Gedicht von Wilfried Wieck ....... 329

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Vorwort

Macht es Sinn, ein weiteres Buch über Sexualität zu

schreiben? Über männliche Sexualität? Obwohl sämtliche
Medien voll damit sind, Bedürfnisse von Männern, sexuelle
Wünsche und Neigungen in jeder erdenklichen Weise
befriedigen zu wollen?

Sinn kann es machen, wenn ein Mann jenseits von Trends und

sexuellen Moden über lange Zeit und unter Einbeziehung der
eigenen Person Fragen nachgeht wie zum Beispiel: Wie haben
Männer die Entwicklung ihrer Sexualität erlebt? Was hat sie
beeinflusst? Wie entwickelt sich ihr sexuelles Leben und
Erleben, wenn nicht die gängigen Klischees bedient werden?
Wenn nicht Imponiergehabe und Demonstration von Potenz
notwendig sind, sondern auch über Unsicherheiten, Ängste,
Scham und Sehnsüchte gesprochen werden darf? Wenn der
Mann nicht »immer nur das Eine will«, sondern mehr?

Ich bin mir sicher, dass mein Mann Wilfried Wieck ein

solches Buch im Sinn hatte.

Die Idee dazu liegt schon lange zurück. Erste Gespräche über

ein solches Projekt fanden 1985 zwischen uns statt. Seither trug
Wilfried Material zusammen, aus Therapiegesprächen, seinen
Männergruppen, Büchern, Artikeln, Fernsehsendungen, eben
allem, was ihm zugänglich war - auch aus der eigenen sexuellen
Entwicklungsgeschichte. Mehrfach hielt er Vortragsreihen zu
diesem Themenkomplex an der Lessing-Hochschule in Berlin.
Im Jahr 2000 war alles zusammengetragen und bereits nach
seinem Konzept geordnet, sodass der Fertigstellung des Buches
nichts mehr im Wege stand.

Wilfried und ich ahnten nicht, dass er das Buch nicht mehr

selbst veröffentlichen könnte. Er starb. Ganz plötzlich, am
9.6.2000, einem heiteren, schönen ersten Ferientag. Abends um
20.30 Uhr endete ein Spaziergang, barfuß, durch seinen

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geliebten »blauen Garten« mit dem Tod. Ich sah diesen großen,
schönen Mann in die Knie sinken. Er starb, den Kopf in meinen
Schoß gebettet. Sein letzter Blick ging durch Bambus und
Kiefernzweige in einen Himmel, der an diesem Abend von
südlichem tiefem Blau - seine Lieblingsfarbe - war.

Es war ein Tag, der mich eine ungeheure Lektion lehrte: Lust

und Schmerz, Nähe und unüberbrückbare Entfernung, Leben
und Tod innerhalb von Sekunden. Sexualität ist Sinnlichkeit, ist
Sehen, Begehren, Schmecken, Riechen, ist Spüren, Berühren,
Verschmelzen, ist Leben. Der Tod ist mir so unbegreiflich, weil
er so unsinnlich ist.

Wilfried hat gewollt, dass sein Buch erscheint. Und so soll es

sein! Es ist ein Lebenszeichen nach seinem Tod. Sein letztes
Vermächtnis, was seine Arbeit mit den Männern anbelangt, die
ihm so sehr am Herzen lag.

Nun fällt mir die Aufgabe zu, das Buch mit einem Vorwort zu

begleiten. Immer haben wir uns gegenseitig bei Buchprojekten
geholfen. Dieses Mal fällt es mir schwer. Dabei begeisterte mich
die Idee zu einem solchen Buch von Anfang an. Mich
interessiert, was Männer bereit sind, von ihren sexuellen
Wünschen, Empfindungen und Phantasien zu erzählen. Wie sie
ihren Körper wahrnehmen, ihr Geschlecht. Wie sie mit
Pornographie und Prostitution umgehen. Welche Rolle ihr
Frauenbild in der Art, wie sie Sexualität leben, spielt.

Unsere Annahme, dass auch die Männer begeistert sein

würden, stellte sich als Irrtum heraus. Wilfried erzählte mir, wie
reserviert das Thema in den Gruppen aufgenommen wurde und
wie stockend die Gespräche in Gang kamen. Natürlich ließ er
sich davon nicht abhalten, aber es irritierte ihn ganz
offensichtlich. Er selbst war ein Mann, der an Sexualität, an
Erotik sehr interessiert war. Es machte ihm Freude, Lust zu
bereiten. Ihm war wichtig, auf Bedürfnisse und Wünsche seiner
Partnerin einzugehen. Seine enorme Lernfähigkeit erstreckte
sich auch auf diesen Bereich.

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Als ich mich in ihn verliebte, war ich 22 Jahre alt. Mehr als 31

Jahre waren wir Gefährten in Liebe und Auseinandersetzung, in
Spiel und Arbeit, in bewegten, wechselvollen Zeiten. Unsere
Lernprozesse bezogen sich auch sehr auf die Gestaltung und
Entfaltung sexueller Bedürfnisse, Phantasien und Eigenheiten.
Mir war es völlig neu, dass ein Mann, mit dem ich zusammen
war, mich aufforderte: »Wollen wir nicht einmal über unsere
Sexualität sprechen?« Anfangs fürchtete ich diesen Satz, weil
ich annahm, nun würden Gefühle von Unzufriedenheit oder
überhaupt Kritisches in Bezug auf diesen sensiblen Bereich
ausgedrückt werden. Aber ich lernte bald, dass diese
»Trockenübungen« zum besseren Verständnis beitrugen, dass
sie die Offenheit, das gegenseitige Vertrauen und damit die
Schamlosigkeit förderten. Und nicht zuletzt, dass Gespräche
eine Überleitung oder Einstimmung zum konkreten Tun sein
konnten, dass sie Lust aufeinander machen konnten.

Durch die Auseinandersetzung mit dem Feminismus war es

nahe liegend, sich mit den unterschiedlichen Erregungsmustern
von Frauen und Männern zu befassen und das vorhandene
Verständnis zu erweitern. Dabei wurde deutlich, dass die
biologischen Unterschiede keineswegs so gravierend sind, wie
lange angenommen wurde, und insofern tatsächlich von einem
»kleinen Unterschied« gesprochen werden kann. Der »große
Unterschied« liegt in der psychosexuellen Natur der
Geschlechter, die von äußeren Einflüssen geformt wird wie
Erziehung, gesellschaftliche Werte, Religion, Wissenschaft.
Was die konkreten Geschlechtsorgane betrifft, besteht, wie Eva
Lowndes Sevely in ihrem Buch »Evas Geheimnisse« feststellt,
eine weitgehende Symmetrie und bei beiden ist dasselbe
Gewebe zu finden.

Allerdings wird die Tatsache, dass Frauen ebenso wie Männer

ejakulieren, von männlichen Forschern bestritten, obwohl die
Autorin eine Fülle von kulturellen und medizinischen
Nachweisen bringt. Sie schreibt: »Die Entdeckung, wie sehr sich

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die ›Geschlechtsapparate‹ von Männern und Frauen bis in
kleinste Einzelheiten gleichen, dürfte beiden Geschlechtern
helfen, sich selbst als auch einander besser zu verstehen.«

Aus vielen Therapiegesprächen mit Frauen und Männern weiß

ich, dass die Entstehung von Erregung und Lust bei den meisten
Frauen und Männern tatsächlich verschieden ist. Während
Männer sich oft durch bloße Augenreize stimulieren lassen,
genügt Frauen häufig der äußere Reiz nicht, auch nicht die
flüchtige Berührung, der Brust etwa oder des Hinterns. Frauen
entwickeln Lust auf komplexere Weise: durch emotionale
Aufmerksamkeit, Unterstützung bei ihren Tätigkeiten,
Gespräche, die mit ihrer Person zu tun haben, Zärtlichkeiten
zwischendurch, spielerisch, zweckfrei. Es stimuliert sie in der
Regel auch nicht, zu erleben, wie der Partner sich mit
Pornographie beschäftigt oder Sexmagazine konsumiert. Und
zwar nicht aus moralischen Gründen, sondern weil viele Frauen
sich ganz einfach im Vergleich mit den scheinbar perfekten
Körpern der dargestellten Frauen und deren Verfügbarkeit
gehemmt, nicht richtig und entwertet fühlen. Es verunsichert sie
und raubt ihnen ihre Lustmöglichkeit.

Ein Film wie »Intimacy«, in dem ein Mann und eine Frau sich

wöchentlich zum »Fick« treffen und ansonsten ihrer Wege
gehen, legt nahe, dass es jetzt die Frauen sind, die diese
zielgerichtete unpersönliche Sexualität wollen. Ich halte das für
eine Männerphantasie, aber auch eine mögliche sexuelle
Phantasie von Frauen. Aber Sex auf diese Weise über lange Zeit
zu leben, das werden in der Realität sicher nur wenige Frauen
wollen.

Zwar ist das Spektrum des sexuellen Lebens vielfältiger und

weiter geworden, aber paradoxerweise scheint die wirkliche
Lustfähigkeit nicht im gleichen Maß mitgewachsen zu sein.

In einem Tagesspiegel-Interview vom 29.03.2001 sagte die

Schauspielerin Carol Campell (34) auf die Frage nach Sex: »Es
wird unglaublich viel darüber geredet und geschrieben und

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gemacht - und wissen Sie was, ich glaube, es wird viel weniger
getan. Vielleicht müssen wir deshalb so ein Getue veranstalten.
Man benutzt Sex als Schmuck, man schmückt sich damit. Was
soll das? Mit dem hatte ich was, mit der auch - so mache ich
mich wichtig, egal ob es stimmt. Das geht ganz weit weg von
dem, was Sex eigentlich ist, nämlich das Natürlichste der
Welt...«

An dieser Stelle irrt die so genau beobachtende Frau. Der

Umgang mit Sexualität ist schon sehr lange nicht mehr
»natürlich«, sondern längst kultürlich ge- und verformt. Da es
für alles einen Markt gibt und Modetrends, die diesen Markt
bedienen, ist auch die Sexualität ein Teil davon geworden.
Verweigerung und Lustlosigkeit können die Folgen sein. Ich
habe in der letzten Zeit verschiedene attraktive junge Männer
sagen hören: »Sex wird maßlos überschätzt.« Es wäre
wünschens wert, würden Männer auf Grund eines veränderten
Rollenverständnisses nicht mehr so unter sexuellem
Leistungsdruck, Erektionszwang und Potenzbeweispflicht
stehen, sondern sich auch mehr spüren, mehr genießen und
spielen wollen.

Wilfried selbst hat eine Entwicklung in diesem Sinne

vollzogen. Davon wird hier auch die Rede sein. Wir haben die
Inhalte keineswegs immer in Übereinstimmung, sondern oftmals
kontrovers diskutiert. Er hat gerne provoziert und damit polari-
siert. Aber in seinem Wesenskern war er nicht nur eine romanti-
sche Seele, sondern auch ein zarter Mensch, der sehr verletzbar
war.

In den letzten Jahren standen wir vor der neuen Situation, dass

eine Diabetes-Erkrankung und das Älterwerden seine sexuellen
Möglichkeiten veränderten. Die se »Schwächesitua tion« kränkte
und verunsicherte ihn verständlicherweise. Mit seinem Tod ist
der Lernprozess abgeschnitten worden, auch für diese neue
Lebenssituation und das näher rückende Alter
Lustmöglichkeiten nicht aufzugeben, sondern anders und neu zu

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entdecken.

Ich wünsche mir für dieses Buch, dass das Wissen um den

Tod des Autors die Leser, und hoffentlich auch Leserinnen, zu
besonderer Aufmerksamkeit stimuliert. Und zwar in Bezug auf
das eigene Leben, indem das Wissen um unsere Endlichkeit
nicht nur Abwehr und Angst, sondern auch Klarheit bewirkt,
sodass Augenblicke des Glücks, des Genusses und der sexuellen
Lust als die Kostbarkeit wahrgenommen werden, die sie sind.

Berlin, im Juli 2001

Irmgard Hülsemann

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Zum Verständnis

Dieses Buch wurde nach dem Tod von Dr. Dr. Wilfried

Wieck auf der Basis von Konzepten, Stoffsammlungen und vor
allem von über zwanzig Vorträgen zu Themen rund um die
Erotik des Mannes erstellt. Die Vorträge hielt Wilfried Wieck
von 1996 bis 1999 in mehreren Zyklen an der Lessing-
Hochschule in Berlin. Drei Dinge hat er in diesen Vorträgen
immer wieder betont:

- Seine Verallgemeinerungen gelten nie für jeden einzelnen

Menschen, für jede einzelne Beziehung. Es ist bei persönlichen
Fragen immer die individuelle Situation zu betrachten. Doch
Wilfried Wieck hat sich wiederholt dagegen gewehrt, seine
Erkenntnisse als persönliche Privatmeinung abzutun. Der
promovierte Psychologe baut nicht nur auf ein umfangreiches
Literaturstudium, sondern auch auf seine jahrzehntelange
psychotherapeutische Arbeit mit Männern, sowohl in
Einzeltherapien als auch in Männergruppen.

- Auf vielen Gebieten betritt Wilfried Wieck absolutes

Neuland, für das es keine durch Forschung abgesicherten
wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt. Er war sich immer
bewusst, dass seine Erkenntnisse des ständigen kritischen
Überprüfens bedurften. So stark er die patriarchale Befehls- und
Gehorsams-Systematik kritisierte, so sehr bemühte er sich,
Männer zum eigenständigen Fühlen, Denken und Handeln zu
motivieren: »Ich vertrete hier keine Dogmen, ich gebe
Denkanstöße.«

- Die Aussagen in diesem Buch wurden von einem Mann für

Männer gemacht. Sie behandeln zum Teil männerspezifische
Probleme, zum Teil Themen, die für Frauen ebenso gelten.
Wilfried Wieck hat die Frauen nicht jedes Mal mit erwähnt in
seinen Vorträgen allerdings viel öfter, als dies im Buch dann
übernommen wurde. Seine generelle Haltung war diese: »Ich

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mache Männerarbeit, und deshalb beschreibe ich das hier aus
unserer Sicht. Wenn Frauen sich aus ihrer Perspektive damit
beschäftigen, so begrüße ich das, aber mir geht es in erster Linie
um die Männer.«

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Teil I:

Die lebendige Gestaltung

männlicher Erotik

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Erotische Wunschvorstellungen eines

Mannes - und die Reaktion einer Frau

»Der erste schöne Augenblick nach zärtlichem, feuchtem und

ausgiebigem Küssen ist das Berühren der Haut der Frau, die so
anders ist als Männerhaut, weich und glatt. Ich muss sie
streicheln, drücken, fange am Rücken und an den Schultern an,
dann der Po, die Hüfte, der Bauch und die Brüste. Diese
wünsche ich mir sehr gut ausgeprägt, wohlig und groß. Dann
möchte ich die Frau ausziehen, in Unterwäsche sehen, den Slip,
den BH ausziehen. Dann soll sie sich so nackt, wie sie ist, mir
zeigen. Wenn wir beide nackt sind, gleiten meine Lippen über
ihren Körper. Ich verweile lange an ihren Brüsten, dann
hinunter zu ihrem Bauch, dann komme ich zu ihrem
Liebesdreieck, spiele ein wenig mit der Zunge. Jetzt der Po, ich
fasse und küsse ihn lange und ausgiebig. Nun die Beine hinab zu
den Zehen, mit meinen Lippen, meiner Zunge, meinen Wangen.
Das Gleiche wünsche ich mir von ihr. Ich wünsche mir, dass sie
meinen ganzen Körper küsst und liebkost. Mir gefällt es, wenn
sie feucht wird. Ich kann mir vorstellen, dass sie mit ihrer
nassen Scheide über meinen Körper gleitet und mich mit ihrer
Feuchtigkeit am ganzen Körper benetzt. Ich gleite mit meinem
Schwanz an ihren Beinen, Füßen, über ihren Bauch, ihre Brüste,
Gesicht und den Rücken entlang. Schließlich lege ich mich auf
sie, mein Glied zwischen ihren Pobacken. Jetzt ein spielerischer
Ringkampf, zärtlich beißen, küssen, lecken, drücken, bis ich in
sie hineingleite, erst einmal ruhig und entspannt, diesen Kontakt
tief genüsslich atmend zu erleben. Der Koitus muss ruhig und
langsam beginnen. Danach überlasse ich es gerne ihr,
Rhythmus und Stärke der Penetration zu bestimmen. Auch darf
die Stellung von ihr bestimmt werden. Mir ist wichtig, dass ich
sie sehen kann, alles an ihr, aus verschiedenen Blickwinkeln. Es
gefällt mir auch, wenn sie mich gern betrachtet und es mir sagt.

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Ich möchte ihre Wünsche hören und meine äußern dürfen.«

Diese Wünsche hat ein Mann in einer größeren Gruppe

vorgetragen. Ich würde das zum Beispiel ganz anders
ausdrücken, aber seine anschauliche, direkte und konkrete
Stellungnahme ist bei den Frauen gut angekommen. Nun die
Antwort einer Frau darauf:

»Was mir sehr gut an seinem Beitrag gefällt, ist, dass er seine

Wünsche sehr zart formuliert. Es ist nichts Forderndes in dem,
was er vorgetragen hat. Es steht keine Haltung›Ich habe ein
Recht auf dich‹dahinter. Es ist einfach die Äußerung seiner
Wünsche. Ich höre einen Mann, der seine sexuellen Wünsche an
eine Frau beschreibt. Und es sind starke Gefühle von
Bedrohung in mir und sehr große Angst. Ich will fühlen: Ein
Mann schildert seine sexuellen Wünsche. Und das ist nur das, es
ist keine Bedrohung für mich, ich bin nicht real bedroht. Es sind
die alten Gefühle von Bedrohung zum Beispiel durch meinen
Bruder, die in mir aufsteigen. Ich empfinde auch Lustgefühle bei
den Schilderungen von diesem Mann, und Bilder von ähnlichen
Begegnungen mit meinem Partner steigen in mir auf. Ich fühle
in Gedanken an meinen Partner und diese Situation Lust und
Wärme in meinem Unterleib. Ich finde es gut, dass Männer sich
äußern. Wenn mein Partner mir seine sexuellen Wünsche nicht
sagt, fehlt mir etwas in der Sexualität. Ich brauche sie für meine
Lust. Denn seine Wünsche machen mir Lust. Aber es kommt vor,
früher öfter als heute, dass mir seine Wünsche Angstgefühle
machen. Es kommen dann wieder Gefühle von Bedrohung oder
Bilder aus den bedrohlichen Situationen aus der Kindheit,
manchmal Ekelgefühle und Abscheu oder große Schamgefühle.
Ich wünsche mir dann von meinem Partner, dass ich während
der sexuellen Begegnung mit ihm darüber sprechen kann, dass
ich ihm diese Angstgefühle zeigen kann, dass er mich schützt,
tröstet und beruhigt. Wenn mir mein Partner seine sexuellen
Wünsche mitteilt, muss ich Zeit und Ruhe haben, genau

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hinspüren zu können: Was fühle ich? Was macht dieser Wunsch
in mir für Gefühle? Macht er mir Angst, Ekel, Abscheu,
Schamgefühle? Warum? Woher kommen diese Gefühle? Was für
Bilder, vielleicht aus der Kindheit, entstehen in mir? Ich
brauche während der sexuellen Begegnung Raum für meine
Gefühle dieser Art. Wenn ich über sie sprechen kann und mein
Partner sie versteht und annimmt, wenn er mich tröstet, falls
eine Kindheitserinnerung aufsteigt, die mich traurig oder
ängstlich macht, verschwinden diese unangenehmen Gefühle,
lösen sich auf, und es ist Platz für Lustgefühle. Dies alles sage
ich hier und bringe die Worte nur mit Mühe und unter starkem
inneren Zittern hervor. Ich empfinde Stolz darauf, Lustgefühle
zu haben und dazu zu stehen. Ich möchte noch viel mehr sagen,
aber ich habe Schamgefühle, schon zu viel gesagt zu haben. Ich
bin eine missbrauchte Frau und fühle mich beschädigt und habe
Angst, keine vollwertige, richtige Frau zu sein, und darf mir
deshalb keinen Raum nehmen. Ich fühle mich ausgeschlossen,
weil ich mich so beschädigt fühle und viel mehr Raum brauche,
als ich glaube, dass für mich zur Verfügung steht. Während ich
dies spüre, wallen immer wieder Panikgefühle in mir auf. Ich
will weglaufen, weil ich glaube, die Situation nicht aushaken zu
können. Mir fehlt der Schutz, den ich brauche, wenn solche alten
Gefühle von Bedrohung, Angst und Trauer in mir sind. Ich
möchte auch Raum für meine Tränen, die jetzt fließen, Raum für
meine Trauer, die mich nun schüttelt und zu ersticken droht,
wenn ich sie nicht zeigen kann. Ich möchte gehalten,
gestreichelt, beruhigt, getröstet, besänftigt werden. Ich möchte
gesehen werden als das kleine Mädchen, als das ich im Moment
weine, das Angst hat, sich bedroht fühlt, Angst hat, die Kontrolle
über die Situation, über ihre Gefühle zu verlieren. Ich möchte
aber auch gesehen werden als die Frau, die als Kind sexuell
missbraucht worden ist, mit meinem Stolz und einer
unglaublichen Freude darüber, so hart um mein Überleben
gekämpft zu haben und so weit gekommen zu sein, wie ich es mir

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vor wenigen Jahren nie hätte träumen lassen. Ich kann meine
Sexualität so lustvoll gestalten und so viel Lust erleben, wie ich
es in keinem Roman gelesen und in keinem Film je gesehen
habe.«

Diese beiden Stellungnahmen zeigen deutlich: Die Erotik von

Männern ist eine andere als die von Frauen. Eines will ich hier
deutlich sagen, es betrifft das ganze Buch und ganz besonders
die Unterschiede, die ich im Folgenden mache: Wenn ich über
Mann und Frau spreche, dann ist das nicht für jeden Mann und
für jede Frau verbindlich. Es sind Anhaltspunkte, ich versuche,
das Typische zu benennen. Ich kann selbstverständlich nicht
jedem Einzelfall gerecht werden, aber ich fordere jeden dazu
auf, die nachfolgende Aufzählung nicht allzu leichtfertig
wegzuwischen mit einem »Betrifft mich nicht«. Gerade im
Unbewussten liegt die große Gefahr für Beziehungen.

1. Verstehen

Wer seine Sexualpartnerin nicht versteht, wird kaum je eine

erotische Situation erleben. Für mich ist es neurotisch, wenn ein
Mann kein Bedürfnis hat, die Frau zu verstehen, aber das ist ein
verbreiteter Mangel in dieser Kultur. Die Männer denken, sie
wissen schon Bescheid. Auch die Frauen haben zu wenig
Motivation und Antrieb, die Männer zu verstehen. Allerdings
verstehen die Frauen sich selbst und zum Teil auch die Männer
meist besser als umgekehrt.

Um die Partnerin zu verstehen, muss man erst einmal sich

selbst verstehen. Der Mann, der auf der Suche ist, sollte damit
beginnen, seine Person und seine Entwicklung zu verstehen. Es
ist für mich ein neurotisches Verhalten, wenn einer sich ein
Leben lang nicht darum bemüht zu verstehen, warum er so und
so reagiert, fühlt oder mit Menschen umgeht.

2. Subjekt-Objekt

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Das vermeintliche »Bescheid wissen« der Männer ist oft

Ausdruck davon, dass Männer die Frau nur als erotisches Objekt
sehen, mit dem sie etwas machen, nicht als handelndes Subjekt.
Frauen wollen dagegen als Subjekt wahrgenommen und
respektiert werden. Die Frau verlangt auch vom Mann, dass er
erotisches Subjekt ist: aktiv, konkret, greifbar. Die gegenseitige
Wahrnehmung als Subjekt verlangt natürlich, dass jeder so viel
Selbstbewusstsein hat, dass er sich als Subjekt vertreten kann.

3.Vorher und nachher?

Den Mann erregt die weibliche Nacktheit, aber natürlich nicht

jede nackte Frau, meist erträumt er sich sein Idealbild. Er
phantasiert sich nackte Frauenkörper, sexuelle Situationen mit
nackten Frauen und häufig eine ständige Abfolge sexueller
Handlungen - ohne dabei die Geschichte berücksichtigen zu
wollen. Den Mann interessiert nicht die Vorgeschichte, die
Entstehung der Begegnung, und auch nicht, was zwischen ihm
und dieser Frau nachher passiert.

Die Frau wünscht im Gegensatz dazu eine langsame

Entstehung der erotischen Begegnung. Sie kann der puren
»Bettgeschichte« nur wenig abgewinnen, braucht Zeit, um in
Stimmung zu kommen, und genießt auch die Erinnerung an
erotische Begegnungen.

4. Werbung und Entwicklung

Am liebsten wäre es dem Mann, wenn die Werbung um die

Frau nicht nötig wäre. Er will einfach eine lüsterne Frau, die da
ist, die sich attraktiv macht für ihn, die sich auszieht, die sich
dem Mann anbietet und die er nicht groß verführen muss.
Frauen wünschen sich eher den »schüchternen« Mann, der
»geweckt« wird durch die ihn erotisierende Frau. Oder sie
wünschen sich den »väterlichen« Mann, der die Frau beschützt,
ihre Ängste beruhigt.

Wenn Männer von einer Frau mit ihrer Werbung

zurückgewiesen werden, machen sie meist keinen zweiten

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Versuch. Das ist ihnen zu anstrengend. Frauen sind geduldiger,
investieren mehr Zeit, Ideen und Energie in das Kennenlernen
eines Mannes, der sie interessiert.

5. Arbeit oder Verwöhnung

Der Mann will verwöhnt werden, und er will nicht, dass seine

Begierde bei der Frau auf irgendwelche Widerstände trifft. Die
Frau soll die Bereitschaft und die Lust auf ihn schon mitbringen.
Wenn sie erst einmal reden will, verschwindet beim Mann
häufig die Lust. Schon das Einstimmen wäre Arbeit.

Er will nicht nur die immer geile Frau; am liebsten ist es ihm,

wenn sie ihm auch noch nachläuft, sich um ihn bemüht und ihn
verwöhnt. Ungehemmt soll sie sein, deshalb will er sie auch
nicht näher kennen lernen, denn da würde er ja vielleicht
Hemmungen entwickeln.

Die Frau wünscht sich ihre eigene und die Entwicklung des

Mannes. Doch der Mann will nicht sehen, dass zu einer erfüllten
Sexualität auch eine persönliche Reifung erforderlich ist, dass
eine Beziehung sich nur erotisch entwickelt, wenn sich auch die
Personen entwickeln.

6. Das Unbekannte kennen lernen?

Der Mann will die Frau nicht näher kennen lernen und will

selbst anonym bleiben. Er versteckt sich, tritt als Typ auf,
handelt klischeemäßig. Diese Typen kennen wir alle: der Coole,
der Verführer, der Harte, der Softie. Die Frau dagegen will als
einzigartig gesehen werden und wünscht sich einen Mann, der
als Person unverwechselbar ist.

7. Die Frau ist wie der Mann

Das größte Handicap des Mannes in der Erotik ist: Er stellt

sich die Frau so vor, wie er selbst fühlt. Sie muss genauso Lust
und Begierde entwickeln wie er. Tiefenpsychologisch gesehen
ist das der Mechanismus der Projektion. Um festzustellen, dass
die Frau tatsächlich ganz anders fühlt, müsste er hinhören und
das ernst nehmen, was die Frau sagt. Der Mann, der die Frau so

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projektiv betrachtet, verkennt natürlich ihre Bedürfnisse. Die
Frau dagegen weiß, dass der Mann anders fühlt, und stellt sich
darauf ein. Manchmal übernimmt sie sogar seine Phantasien.

8. Lüsternheit wollen und abwerten

Der Mann will die lü sterne Frau, aber gleichzeitig wertet er

sie wegen ihrer Lüsternheit ab und verurteilt sie. Diese
paradoxen Gefühle sind dem Mann aber nicht bewusst. Die Frau
genießt seine und ihre Lüsternheit und erkennt beide an.

9. Sexualität - Erotik

Der Mann begehrt Sexualität, die Frau Erotik. Der Mann

interessiert sich nur für den Koitus und die dafür notwendigen
Geschlechtsorgane der Frau, vielleicht noch den Busen, er kennt
meist nur Sextechnik. Frauen sind dagegen viel fähiger,
kreativer und erfahrener, erotische Stimmungen herzustellen.

Für den Mann ist das »Vorspiel« oft nur eine lästige Station

auf dem Weg zum Ziel, er hat kein Verständnis für prägenitale
Verzögerungen wie Schaulust, Sich-Zeigen, Küssen, Streicheln,
Tätscheln, Lecken, Lutschen. Allerdings finden manche Frauen
den Penis hässlich und abstoßend. Oder Erfahrungen von
Übergriffen flößten Angst ein.

10. Raub - Werbung

Der Mann will nicht um die Frau als Person werben, sondern

er will sie erobern, rauben, besitzen. Die Frau wirbt um den
Mann als Person und leidet darunter, dass er es nicht merkt und
sich nicht zeigt.

11. Schweigen - Sprechen

Der Mann hat kein Interesse am Gespräch, will der Frau nicht

zuhören und fragt deshalb auch nicht: »Was macht dir Lust?«,
»Was willst du?«, »Was phantasierst du?«, »Wie erlebst du?«
Die Frau jedoch will gefragt werden und erzählen dürfen, sie
wünscht sich sein Interesse. Dieser Wunsch entspringt ihrer
Lebendigkeit, deshalb fragt sie den Mann vieles und wird oft

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durch oberflächliche Antworten enttäuscht.

Erotikfeindlich ist auch die Sprache des Mannes. Sein

Wortschatz beschränkt sich auf prosaische, wenn nicht
abwertende Ausdrücke für die Geschlechtsorgane der Frau. Sie
verfügt zwar über die notwendige phantasievolle, poetische
Sprache, sie weiß, dass Sprache ein erotisches Elixier ist und
will über Erotik und Sexualität sprechen, aber am liebsten ist es
dem Mann, wenn er überhaupt nicht sprechen muss. Durch diese
Abwehr verharrt er auch in seinen Vorurteilen und
Verhaltensweisen. Doch die Frau wünscht sich das intensive
Gespräch, das letztlich auch die Voraussetzung für Tabubrüche
ist.

12. Angst voreinander

Der Mann hat Angst vor den Wünschen und Forderungen der

Frau, auch vor ihrer Hingabe, doch er verdrängt dies. Die Frau
hat Angst vor dem Desinteresse, der Coolness, der Härte und
Versperrtheit des Mannes. Diese Angst ist ihr immer bewusst.

13. Pausen?

Viele Männer konsumieren die Frau: zu oft, zu schnell, zu

gefühllos, zu rastlos. Dabei vergessen, ignorieren, übersehen sie
die Erotik der Frau. Die Frau dagegen macht Pausen, verzögert
den Fortgang der erotischen Begegnung: Das erzeugt Spannung
und Kraft, deshalb bleibt ihr die erotische Attraktivität des
Mannes im Bewusstsein.

14. Erotisch wach?

Männer haben oft keinen Zugang zu ihrer Erotik, haben

wirkliche Erotik noch nie erlebt, weil sie - meist von der Mutter
erotisch »eingeschläfert« wurden. Sie erwecken sich selbst nicht
zum erotischen Leben und lassen sich auch von der Frau nicht
erwecken. Sie würde das gerne tun, denn sie vermisst diese
Wachheit, die sie von sich selbst im erotischen Akt kennt.

15. Ver-Stimmung

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Deshalb wissen Männer auch nicht, wie sie erotische

Stimmung herstellen können. Sie hören der Frau zwar zu, doch
das Gehörte dringt nicht bis zu den Gefühlen durch, im
Gegenteil: Wenn Frauen mit Worten erotische Stimmung
erzeugen wollen, verstimmt das den Mann eher.

16. Zerstörung

Der Mann zerstört erotische Stimmungen oft durch seine

Egozentrik, durch zu schnelles Vorangehen, durch Nicht-
Fühlen, was die Frau braucht. Frauen können zwar erotische
Stimmungen herstellen, doch sie wissen, dass der Mann sie oft
zerstört, und haben Angst vor solcher Zerstörung.

Männer und Frauen werden in dieser Kultur grundsätzlich

verschieden erzogen und haben verschiedene Bedürfnisse und
Gefühle. Wir müssen damit rechnen, dass wir uns wechselseitig
nicht gut verstehen. Doch die Unterschiede im erotischen
Empfinden bei Mann und Frau sind nicht angeboren, sie sind
durch die Erziehung entstanden und erlernt und somit auch
veränderbar. Wer bereit ist, sich und seine Partnerin besser
kennen zu lernen, wird mehr Erotik erleben.

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Was ist Erotik, was belebt und was

verhindert sie?

Phantasie und Einfühlungsvermögen sind nichts anderes als

Formen der Liebe.

Hermann Hesse

Die Erotik des Mannes ist ein schwieriges Thema, das bisher

in keiner Weise befriedigend behandelt wurde, weder in der
Psychologie noch in der Psychoanalyse, weder in der
Philosophie noch in der Literatur. Die erste Frage muss lauten:
»Was ist überhaupt Erotik?« Zunächst glaubt jeder, das zu
wissen, doch viele merken auf Nachfrage, dass sie es doch nicht
wissen. Ich weiß es auch nicht genau. Die Antworten, die ich
gebe, die dieses Buch gibt, sind vorläufige Antworten.

Lebendige Begegnung

Erotik entsteht bei der Begegnung von Menschen, bei der

Begegnung nicht einfach irgendwo, an der Haltestelle, wo man
zufällig auf den selben Bus wartet. Erotik entsteht aus einer
lebendigen Begegnung.

Innere Bewegung

Eine lebendige Begegnung hat etwas mit innerer Bewegung

zu tun. Es sind Gefühle und Gedanken im Spiel, der Wille, dem
anderen zu begegnen und ihn zu bewegen.

Entwicklung zu zweit

Diese innere Bewegung verursacht eine gemeinsame

Entwicklung, und das bringt Freude hervor: Freude über die

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gemeinsame Bewegung und Entwicklung. Erotik ist ein
Kontakt, der glücklich macht, und dieses Glück kann sehr
vielfältig sein.

Leidenschaft

Erotik braucht Leidenschaft. Aber »Leidenschaft« wird oft

leichtfertig in einem Sinn gebraucht, wie ich sie nicht verstehe.

Leidenschaft besteht aus zwei Worten: Leiden und Schaffen.

Leiden empfindet ein Mensch, wenn es ihm an etwas mangelt.
Das kann der Mangel an Geld sein, Mangel an Kontakten,
Mangel an Gesprächen. Den Mangel kann er beheben, wenn er
zu schaffen beginnt. Schaffen heißt: Kraft aufwenden, nach
Neuem streben, sich nicht mit dem Leiden begnügen, Fragen
stellen, zweifeln, ob das jetzt alles so sein muss, sich mit dem
Problem auseinandersetzen.

Gegen das Leiden schaffen - ohne diese so verstandene

Leidenschaft kann Erotik nicht wachsen. Wer sich hinsetzt und
wartet, bis der Schaffensdrang zu ihm kommt, wird
Leidenschaft wahrscheinlich nie erleben.

Zärtlichkeit

Zur Erotik gehört Zärtlichkeit, Zartheit im Umgang

miteinander, in der Sprache, in der Berührung. Der sexuelle Akt
ist selten erotisch, weil ihm die Zärtlichkeit fehlt.

Nie gegen den Willen der Frau

Echte Erotik kann nur so organisiert und gestaltet werden,

dass nichts gegen den Willen der Frau geschieht. Bei der
Sexualität fühlen sich manche Frauen wie Prostituierte: Sie
wollen eigentlich nicht mitmachen, fühlen sich elend.

Über alles sprechen

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Daraus folgt notwendig, dass bei einer Begegnung zwischen

Mann und Frau besprochen werden müsste, was die beiden
wollen. Nun soll es Frauen geben, die Gewalt wollen. Aber dann
muss der Mann auch entscheiden, ob er das mitmachen will.

Phantasie und Sprache

Der Kern der Erotik ist Sprache. Erotisch ist nicht nur das

Gespräch über alles, was geschieht, sondern auch über alle
Aspekte der Phantasie: Gedanken, Bilder, Bedürfnisse,
Geständnisse. Erotik ist das ernste Ringen um den Tabu-Bruch,
denn nicht jede Phantasie kann in die Tat umgesetzt werden,
aber viele doch.

Verantwortung

Bei der Gestaltung körperlicher und seelischer Begegnung ist

Verantwortung wichtig. Der Mann sollte auch in der Lage sein,
für das gegebenenfalls Unbewusste in der Frau mit die
Verantwortung zu übernehmen. Das ist ein sehr hoher
Anspruch. Gefragt ist der verstehende, der einfühlsame Mann.

Gefühl

Zur Erotik gehört Gefühl. Gefühle werden in dieser

patriarchalen Kultur total abgelehnt, Männer wollen sich nicht
mit Gefühlen befassen.

Sehnen

Das Erotischste im Leben wäre, wenn immer wieder ein

Sehnen entsteht. »Sehnen« halte ich für einen außerordentlich
wichtigen Begriff. Ich wünsche mir ein immer wieder
entstehendes und vergehendes Sehnen, unterbrochen von
wirklichen, befriedigenden Begegnungen, ein Auf und Ab. Denn
wenn ich mich sehne, dann mache ich mich auf den Weg, ich

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suche, ich wünsche, ich bemühe mich, um mir das, was ich
ersehne, zu verschaffen.

Erotik könnte also etwas ganz Besonderes sein, und es könnte

sein, dass besondere Menschen andere Menschen zu erotischen
Gefühlen stimulieren können. Erotisch könnte sein, wenn man
eine Kraft erlebt, wenn man einen vitalen Menschen erlebt, der
einen anzieht, weil er interessiert ist, weil er sich in einer
Entwicklung befindet, weil er uns anspricht, uns heranzieht in
seiner ganzen vitalen Lebensäußerung. Das kann erotisch sein.

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Was Erotik verhindert

Dass ein vollsinniger, lebenskräftiger Mensch all seine Gaben

und Kräfte auf das Geld verdienen richtet oder nur auf den
Dienst an einer politischen Partei, das scheint heute jedem nicht
nur möglich, sondern auch richtig und normal. Dass er diese
Gaben und Kräfte den Frauen und der Liebe zuwenden könnte,
das kommt heute niemandem in den Sinn. In keiner wahrhaft
modernen Weltanschauung spielt die Liehe eine andere Rolle
als die unbedeutende eines nebensächlichen Lustfaktors im
Leben, zu dessen Regelung einige hygienische Rezepte genügen.

Hermann Hesse

Schon diese ersten Überlegungen zeigen: Erotik hat nicht

unbedingt etwas mit Sexualität zu tun. Natürlich kann eine
sexuelle Begegnung erotisch sein, aber das ist in unserer Kultur
meist nicht der Fall.

Erotik ist nicht Sexualität

Das Problem ist: Wir Männer suchen überwiegend nach

Sexualität, nicht nach Erotik. Sexualität ist für mich nur die
körperliche Begegnung zwischen zwei Menschen. Wenn zur
Sexualität nicht die Erotik dazukommt, wird es eine banalisierte
Begegnung, unter Umständen auch eine brutalisierte.

Flucht vor Erotik

Erotik wird nicht nur oft mit Sexualität verwechselt, Männer

fliehe n sogar die Erotik, denn hier gibt es viele Unsicherheiten.
Hiervon geht eine Gefahr aus, das macht Angst, und um die
Angst zu bearbeiten, müssten Männer Kraft aufwenden. Aber
sie vermeiden die Angst, vermeiden die intensive Beziehung,
die anstrengende Aus einandersetzung. Und verdrängen die

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Angst mit Sexualität.

Es gibt auch andere Fluchten: in die Arbeit, in eine

technischlogische Welt: Wer den ganzen Tag vor dem Computer
sitzt, erspart sich die intensive Auseinandersetzung mit
Menschen und erspart sich Gefühle. Die Flucht vor der Erotik,
vor der intensiven Auseinandersetzung mit Menschen scheint
mir Zeitgeist zu sein. Heutzutage stehen Menschen an jeder
Ecke und telefonieren mit dem Handy. Unter einer lebendigen,
intensiven Kommunikation verstehe ich mehr als das von vorbei
sausenden Autos gestörte Gespräch, bei dem man beinahe nichts
versteht. Wie aber kann man einfühlsam sein, wenn die
Zwischentöne schon rein akustisch nicht mehr hörbar sind?

Uns Fliehenden kann also durchaus passieren, dass wir der

Traumfrau zwar begegnen, sie aber fliehen. Ein richtig
lebendiger Mensch verunsichert uns, denn die Frau fordert
etwas, sie macht uns Angst, sie verwöhnt uns nicht. Deshalb
meiden wir sie. Wenn wir sie aber finden, bei ihr bleiben, mit ihr
in Austausch treten, dann kann unser Leben intensiver werden.
Wir haben Kontakt, entwickeln Leidenschaft, werden lebendiger
aber nur, wenn der Kontakt nicht zur völligen Distanzlosigkeit
führt.

Dauerndes Zusammensein

Es gibt viele Paare, die andauernd zusammen sind. Dieses

dauernde Zusammensein ist ein Feind der Erotik. Heirat bedroht
die Erotik ebenso wie das Zusammenleben in einer Wohnung.
Deshalb lehne ich Heirat und Zusammenwohnen ab. Es ist ein
großes Problem, wenn man nicht immer wieder weggehen und
ein Sehnen entwickeln kann. Erotik braucht nicht zuletzt
Entfernung.

Distanzlosigkeit

Dauerndes Zusammensein schafft Enge, Überhitzung,

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Distanzlosigkeit, Stagnation und drängt explosiv nach
Auseinandergehen. Man macht sich gegenseitig kaputt, es wird
langweilig, brutal, Gewalt kommt auf.

Viele Menschen sind so verängstigt oder verwöhnt, dass sie

sich nicht entfernen können. Ältere Ehepaare zum Beispiel leben
und sind ständig zusammen, und ich möchte das nicht einmal als
Symbiose bezeichnen - das wäre ja noch positiv, wenn da eine
Lebensgemeinschaft entstünde. Doch viele Ehen stellen ein
Gefängnis dar, ein ständiges Zusammenhocken, das durch gar
nichts Angenehmes und Interessantes mehr unterbrochen wird.
Ein sich räumlich voneinander Entfernen wird als Gefahr
betrachtet, doch erst in der Entfernung entsteht die Kraft des
Sehnens.

Zur Distanzlosigkeit gehört auch der die Erotik tötende

Zwang, miteinander im selben Bett liegen zu müssen. Wenn
Frau und Mann in getrennten Betten schlafen, wird gleich
interpretiert: Die Beziehung ist kaputt.

Sehn-Sucht

Im Deutschen wird meist nicht von Sehnen gesprochen,

sondern von Sehnsucht - doch die »Sehnsucht« wird oft falsch
gebraucht. Das Sehnen ist nicht unbedingt suchtmäßig, es kann
aber suchtmäßig werden. Es gibt Menschen, die niemals ans Ziel
gelangen, die sich immer nur sehnen: »Ich wollte immer schon
mal...« Sie halten sich ein Leben lang mit Sehn-Süchten auf und
kommen dem Ziel keinen Zentimeter näher, weil sie nicht
schaffen. Sie begeben sich nicht hinein in den Zustand des
Sehnens, sond ern sie sind süchtig nach dem Zustand des
Unbefriedigtseins.

Entfernung

Zeitweise Entfernung fördert das Sehnen, doch die meisten

Männer haben das Lebensprinzip, immer entfernt zu sein. Der

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Mann ist abwesend, ist häufig nicht drin in der Situation, in der
Begegnung. Er lässt sich auf Situationen und Menschen nicht
richtig ein. Männer müssen lernen, sich zu sehnen, um sich auch
nähern zu können und nicht dauernd in der Entfernung zu leben.

Angst

Aus Angst vor Nähe verhindern viele Männer erotische

Situationen. Da hat auch die so genannte sexuelle »Aufklärung«
nichts verbessert. Es gibt eine Unmenge sexueller
Aufklärungsbücher, doch die meisten sind öde und beschränken
sich auf rein sexualtechnische Aspekte. Verhütungsmittel sind
verfügbar, erleichtern aber nicht die Erotik. Auch das Gespräch
über Sexualität findet trotz der angeblichen Aufklärung
zwischen Mann und Frau nur selten statt, denn vor dem
wirklichen Gespräch haben viele Angst.

Ich halte Angst für etwas Positives! Angst ist Bewegung,

Angst ist der Hinweis, wo man an sich arbeiten muss, um sich
zu entwickeln. Vor allem sensiblere Männer haben Angst, dass
die Frau sie verlässt, mit anderen Männern Kontakt hat oder
nicht die Therapeutin spielen will. Ein Mann ohne Angst ist
nicht sensibel. In den Männergruppen erzählen Männer, dass sie
so viele Ängste vor den Ansprüchen der Frauen haben, dass sie
alle Ansprüche der Frauen komplett negieren. Die größte Angst
haben Männer vor Impotenz. Impotent heißt, dass die Erektion
nicht mehr so schön stramm funktioniert wie früher, und damit
haben sie Angst vor dem Verlust ihrer Sexualität. Denn die
meisten Männer sind nicht erotisch, sondern nur sexuell potent.
Grund ist dieser Riesenirrtum, Erotik mit Sexualität und Koitus
gleichzusetzen.

PEKOS-Zwang

Die meisten Männer in unserer Kultur finden ihren Penis

enorm wichtig; ebenso wichtig ist, dass er erigiert ist, damit es

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zum Koitus kommt. Dann braucht der Mann seinen Orgasmus,
und dann will er nur noch eins: seine Ruhe und schlafen. Penis -
Erektion - Koitus - Orgasmus - Schlafen = PEKOS. Ich
beobachte bei den Männern einen richtigen PEKOS-Zwang,
doch das ist nicht erotisch, das kann völlig maschinell, technisch
und entfremdet vollzogen werden, und das wird es auch von
vielen Männern.

Schneller Sex

Wenn ein Mann eine Frau kennen lernt, hat er meist das

Gefühl: »Ich muss der möglichst bald beweisen, dass ich sexuell
potent bin.« Also muss er mit ihr ins Bett. Davor hat er zwar ein
bisschen Angst, aber meist ringt er sich dazu durch, es möglichst
schnell zu erreichen, anstatt zu warten, bis vielleicht die Frau
das Thema anschneidet. Das wäre wahrscheinlich erotischer, als
zwanghaft die Bett-Situation herbeizuführen. Durch das
Zwanghafte geht das Spielerische verloren, die Leichtigkeit. Es
ist keine Leidenschaft vorhanden, die Phantasie wird nicht tätig.

Gewalt

Männer tun sich Gewalt an, wenn sie unbedingt mit einer Frau

ins Bett müssen. Sie sind vielleicht psychisch überhaupt nicht
engagiert, sie sind nicht verliebt, aber ins Bett, das muss sein,
und dabei tun sie nicht nur sich selbst, sondern auch der Frau
Gewalt an.

Ich möchte einem Missverständnis vorbeugen: Ich bin nicht

gegen Sexualität, nicht gegen Koitus, nicht gegen Orgasmus.
Mir ist mein Orgasmus und auch der meiner Partnerin enorm
wichtig. Aber ich will weg von einer Fixierung auf den Koitus.
Diese Fixierung ist der Feind jeder Erotik, denn da muss immer
alles schnell gehen, und danach ist alles vorbei.

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Regelmäßig ins Bett

Zwei Menschen tun sich Gewalt an, wenn sie meinen, dass sie

regelmäßig miteinander ins Bett gehen müssen: »Jetzt waren wir
diese Woche nicht, jetzt muss es aber am Wochenende
passieren.« Wenn man zwei oder drei Wochen keinen Koitus
hatte, wird es schon heikel, nach einem Monat ist schon beinahe
die Beziehung kaputt. Das ist Gewalt gegen sich selbst.

Männer verstecken sich

Männer tun sich Gewalt an, wenn sie sich geistig und seelisch

nicht zeigen. Sie verstecken sich, schirmen sich ab, schweigen,
funktionieren wie ein Apparat und gehen mit der Frau ins Bett.
Es gibt keine interessante, erotische Kommunikation, aber der
Sexualakt muss sein.

Der Mann tut sich also vielerlei Gewalt an und hat so keine

Chance, seine eigene unverwechselbare Erlebnisweise im Leben
zu finden. Er funktioniert wie ein Apparat und wird nie zur
Person. Er macht immer alles so, wie »man« es eben in unserer
Kultur macht, um »richtig« zu sein. Er fühlt nicht wirklich.
Irgendwann kommt es dann zum Samenerguss, den der

Mann für einen Orgasmus hält, weil er nicht weiß, dass ein

Orgasmus mehr sein kann als ein bloßer Samenerguss. Er kennt
keine erotischen Gefühle.

Gefühlsblockaden

Das vermutlich schlimmste Problem ist, dass Männer nicht

die richtigen Gefühle in den richtigen Situationen entwickeln.
Sie können nicht die hilfreichen Gefühle entwickeln, die sie zur
Bewältigung eines normalen Lebens brauchten. Auf diesen
Aspekt männlicher Psyche, die Gefühlsblockaden, muss man
immer wieder aufmerksam machen, sonst kann man nicht
verstehen, was mit den Männern eigentlich los ist. Männer

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wehren sich auch gegen bestimmtes Unrecht nicht, weil sie das
Unrecht nicht fühlen.

An dieser Stelle kommen von Männern nicht selten

Bemerkungen wie: »Wieso? Da brauche ich doch keine Gefühle
dazu. Da geht man eben ins Bett, zieht sich aus, hat eine
Erektion, und dann rein in die Frau, und nach einer Zeit ist die
Sache vorbei und in Ordnung. Was soll ich dabei noch fühlen?«

Man kann eine Menge dabei fühlen. Etwa Unsicherheit

darüber, was einem wirklich gut tun würde. Unsicherheit, ob
man die Frau richtig behandelt. Ob man mit sich selbst
gewalttätig umgeht. Davor könnte man richtig Angst
entwickeln: »Bin ich jetzt schon wieder gewalttätig? Gegen
mich? Gegen die Frau?« Man könnte Gefühle der Zuneigung
oder Sympathie entwickeln, oder auch Heiterkeit. Erotik kann
eine lustige, humorvolle Sache sein. Man kann miteinander
lachen, spielen und zufrieden sein. Man kann die Neuheit der
Situation spüren, der neuen Situation nachspüren. Man kann
versuchen, das Geheimnis zu entschlüsseln, auch die Frage
stellen: Wer ist denn nun eigentlich meine Partnerin?

Solche Gefühle bahnen den Weg zur Erotik, ermöglichen die

Erotik überhaupt erst.

Wenn Männer über Sexualität sprechen wollen

»In den Gesprächen über Sexualität habe ich das Gefühl,

mich irgendwie herausziehen zu wollen. Mir ist einfach unwohl.
Ich kann das schwer begründen, was in mir vorgeht. Ich habe
zum Beispiel beobachtet, dass die Gespräche sehr schleppend in
Gang kommen, dass wir Schwierigkeiten haben, die richtigen
Worte zu finden. Ich merke jedenfalls bei mir enorme
Schwierigkeiten und ein gewisses Unwohlsein bei diesen
Gesprächen. Ich bin mir dabei sehr unsicher.«

Das Selbstgespräch ist wichtig für die Selbsterkenntnis, aber

es ist nichts wert, wenn man nicht auch das Gespräch mit
anderen sucht. Wenn Männer sich mit ihrer Erotik und

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Sexualität auseinandersetzen wollen, sollen sie dies natürlich
mit der Partnerin tun. Viel wichtiger ist aber zuerst das Gespräch
mit Männern, denn wir können uns dem Gespräch mit Frauen
erst stellen, wenn wir Männer als Männer uns unsere Position
bewusst gemacht haben. Sonst kommt es zu erheblichen
Problemen im Austausch zwischen Mann und Frau.

Eine Frauengruppe, die sich mit dem Thema Sexualität und

Erotik auseinandersetzte, wollte nicht nur unter Frauen bleiben
und hatte eine Männergruppe zum Gespräch eingeladen. Zur
Vorbereitung auf dieses Gespräch haben wir Männer uns
zusammengesetzt, und da kamen dann Äußerungen wie: »Ich
kann mir vorstellen, bei dieser Gelegenheit auch über Sexualität
zu sprechen.« Oder: »Ich bin interessiert an solchen Gesprächen,
kann aber noch nicht sagen, ob ich darüber auch öffentlich
sprechen kann.« Auch Angst vor dem heiklen Thema Sexualität
wurde geäußert: Sie würden zwar gern über Sexualität sprechen,
befürchteten aber, dass sie die Stimmung nicht herstellen
könnten, um über so intime Dinge wie Erotik in einer größeren
Gruppe von Menschen, in der auch Frauen seien, überhaupt zu
sprechen.

Diese Ängste drücken auch Abwehr aus. Damit muss man

immer in der Männerarbeit rechnen, schwierig wird es jedoch,
wenn diese Abwehr nur versteckt geäußert wird. Eine so
genannte larvierte Abwehr ist nur schwer zu erkennen:

»Mittlerweile könnte ich mir vorstellen, dass ich selber im

Lauf der Zeit etwas zu meiner Sexualität sage.«

Das war 1991. Bis 1996, 5 Jahre lang, hat dieser Mann auch

in der Männergruppe nie über seine Sexualität gesprochen,
obwohl er problematische Situationen mit verschiedenen Frauen
erlebte. Woher kommt diese übergroße Angst, über Sexualität
zu sprechen?

Widerstände gegen das Gespräch über Sexualität gibt es

übrigens auch bei den Frauen. Viele haben eine ungeheure

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Mühe, ihr frauliches Bedürfnis zu formulieren und das
Unbewusste zu erforschen. Die Mühen, die Frauen damit haben,
sind auf charakteristische Weise andere als bei den Männern,
doch darauf will ich in diesem Männerbuch nicht weiter
eingehen.

In Gesprächen über Sexualität geht es oft auch um Angst und

Gewalt, um Angst vor der Angst, um Angst vor der Gewalt, um
Angst vor der Frau. Es gibt nur wenige Männer, die sich
prägnant und ehrlich dazu äußern können und die Unsicherheit
ausdrücken, die sie zum Beispiel befällt, wenn Frauen über ihre
Gewalterlebnisse berichten. Es ist wichtig, sich in die Angst
hineinzubegeben und zu fragen: Warum habe ich Angst vor der
Frau? Warum wissen Frauen nicht, dass Männer Angst vor
ihnen haben?

Viele Männer gehen über ihre Angst hinweg: Sie verdrängen

die Angst und tun möglichst so, als hätten sie keine. Ein Mann
hatte zum Beispiel vor dem Gespräch Magenschmerzen,
registrierte die auch, konnte sich aber nicht erklären, woher sie
kamen. Ich habe es im Nachhinein so interpretiert, dass er Angst
vor den Frauen hatte und Angst vor der Kritik. Frauen können
nämlich sehr gut kritisieren, und die Männer finden dann keine
Argumente mehr, sind überfordert von der Kritik der Frauen.

In der Männergruppe wäre es besser, die Angst zu

kommunizieren und bewusst in die Angstsituation
hineinzugehen: Wir können uns in der Männergruppe stützen,
auch wenn einer einen Angstanfall bekommt. Einige Männer in
unserer Gruppe sind inzwischen auf längeren Reisen durch ihre
Angst hindurchgegangen: Sie sind nicht mehr so angstanfällig,
können mit der Angst besser umgehen und können auch anderen
Männern in der Gruppe helfen, die Angst vor der Angst haben.

Es kam dann tatsächlich zu einem ersten Treffen zwischen

Männern und Frauen. Wir Männer hatten uns entsprechend
vorbereitet und waren uns unserer Hemmungen und
Beklemmungen bewusst.

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Wichtig für ein solches Gespräch ist, dass eine gute

Stimmung aufgebaut wird. Unruhe wäre einem solchen
Gespräch abträglich. Die Frauen hatten auch bedrückende
Stimmungen erlebt, als es um Sexualität ging. Das verständliche
Anliegen, sich einem Lust- Thema mit Lustempfinden und einer
gewissen Freude zu nähern, ist nicht leicht einzulösen. Zu
achten ist auf jeden Fall auf eine gewisse Zartheit in der
Stimmung. Ein Mann aus diesem Gespräch zu seiner
Stimmungslage:

»Ich habe seit einem Dreivierteljahr eine neue Beziehung mit

einer Frau und erlebe sie sehr aktiv in unserer Sexualität.
Einerseits finde ich das toll, andererseits kann ich es aber
manchmal auch gar nicht zulassen. Mich holt dann immer eine
Art Trauer ein, dass ich das so lange entbehrt habe, dass die
Frau auf mich zugegangen ist, zum Beispiel. Über Sexualität zu
sprechen fällt mir sehr schwer. Ich habe dann einfach auch
Ängste. Ich könnte ja jetzt darüber reden, was mir gefällt und
dass es mir gefällt. Aber hier im Zusammensein mit Männern
und Frauen erlebe ich den Ort auch als schwierig. Dann habe
ich aber versucht, mich anders einzustimmen: Es wird bestimmt
ganz nett und lustig. Aber ich habe eine Schwere in mir, die ich
immer hier in diesem großen Kreis erlebe, eine gewisse
Schwere, die sich auf mich herablässt, die viel mit Hemmungen
zu tun hat. Ich bin noch stark gehemmt, über Sexualität zu
sprechen, und kriege dann einfach Ängste. Wenn ich mich jetzt
hinsetzen und über die Beziehung zu meiner Partnerin sprechen
würde, dann wäre das vielleicht gar nicht so schwierig, denke
ich. Ich bekäme auch gleichzeitig Angst, exhibitionistisch
zu
wirken, habe eine ungeheuer große Hemmung, offen über
Sexualität zu sprechen. Ich habe ja auch selten gehört, dass
Menschen mit ihrer Sexualität zufrieden sind. Und wenn ich
zufrieden bin, habe ich die Angst, dass ich falsche
Empfindungen habe, dass irgendetwas mit mir und meiner
Partnerin tatsächlich nicht stimmt, was ich gar nicht merke.«

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Das ist recht kompliziert, was dieser Mann ausdrückt, aber es

ist wohl eine realistische Darstellung. Mir gefallen
Stellungnahmen von Männern in diesem Stadium der
Unsicherheit und Angst, denn das ist der Anfang von
Bewegung.

Wenn wir nun beginnen, in Gesprächen mit Frauen unsere

männlichen Bedürfnisse zu formulieren, können wir nicht damit
rechnen, dass sie unsere Bedürfnisse sofort verstehen oder gar
bereit sind, diese auf Anhieb zu erfüllen. Notwendig ist ein
langsames, ernsthaftes Bemühen um gegenseitiges Verstehen,
auch und gerade wenn es um Erotik und Sexualität geht. Männer
und Frauen werden in dieser Kultur grundsätzlich und ganz
entschieden anders erzogen und haben verschiedene Bedürfnisse
und Gefühle.

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Was Frauen wünschen

»Sexualität empfinde ich als Ausdruck großer Nähe und

Intimität. Dazu brauche ich viel an Verständigung und
Annäherung im Gespräch. Ich wünsche mir Gespräche darüber,
was als lustvoll, sinnlich, erotisch, verführend, werbend,
überhaupt attraktiv empfunden wird, dabei eine große
Lebendigkeit, Sensibilität und auch Erkennen der Einmaligkeit
in der sexuellen Begegnung. Ich brauche, um meine Lust leben
zu können, das Gefühl einer ganzkörperlichen Sexualität, die
von Worten und Gefühlen begleitet ist, viel Raum für meine
sexuelle Aktivität und ein Einlassen auf meine Lust. Ich brauche
das Gefühl, begehrenswert zu sein, und dass der Partner das
ausdrückt, was er an mir begehrenswert findet.«

Aus den Stellungnahmen der Frauen im gemeinsamen

Gespräch erscheinen mir die folgenden fünf Punkte als wichtig.
Sie sind zum Teil bereits am Anfang des Kapitels angeklungen,
als es um Unterschiede zwischen Mann und Frau ging.

1. Frauen wünschen Offenheit für das Gespräch

»Ich möchte gern mit euch Männern ins Gespräch kommen,

einen Austausch erleben, von meinen Erfahrungen erzählen.
Und ich möchte auch von eurer, der männlichen
Empfindungswelt hören. Ich wünsche mir dazu eine weiche,
offene Atmosphäre, in der ehrliche Antworten ohne
Beschönigungen oder Aussparungen möglich sind. Ich wünsche
mir das deshalb, weil ich hoffe zu erfahren, was die wirklichen
Bedürfnisse und Ängste auch der Männer sind.«

Diesen Wunsch nach Offenheit haben viele Frauen. Das

Problem ist, dass in Gesprächen über Sexualität und Erotik
häufig nur Klischees abgehandelt werden, die die wirkliche
Situation zwischen Mann und Frau nicht treffen. Auch
Zeitschriften, Fernsehen und Romane schildern selten wirkliche

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Situationen und Probleme.

Frauen wollen Gespräche, Männer wehren Gespräche ab:

»Nur Gespräche! Das ist mir zu anstrengend. Ich will schnell zur
Sache kommen.« Das sagen manche Männer direkt, und manche
Frau macht dann Kompromisse: »Wir können das ja später noch
einmal aufgreifen.« Dann wird erst einmal Sexualität erlebt, und
sie hofft, dass sie das Gespräch später aufgreifen kann. Im
Grunde hat es diese Frau schon aufgegeben, überhaupt
verstanden zu werden, in ihren Bedürfnissen und Wünschen
ernst genommen zu werden.

2. Frauen wollen in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen

werden

»Ich habe herausgefunden, dass ich von meinem Partner

brauche, dass er mich als Frau in meiner Einzigartigkeit
anziehend und begehrlich findet, dass er mir dies sagt und zeigt.
Ich weiß von mir, dass ich mir meines Frauseins, meiner
Weiblichkeit häufig nicht sicher bin und dass vieles vom Mann
häufiger gesagt werden müsste. Manchmal kommen Hinweise
des Mannes bei mir auch nicht an. Dennoch wünsche ich mir
einen Partner, der nicht wartet, bis ich mir in der Angelegenheit
sicher bin, sondern der mich in meiner Unsicherheit sieht und
mir Sicherheit beharrlich vermittelt.«

Diesen Wunsch äußern Frauen immer wieder: in ihrer

Einzigartigkeit wahrgenommen zu werden. Das setzt aber bei
den Frauen erst einmal eine große persönliche Leistung voraus.
Ich glaube nicht, dass jede Frau eine Margret Thatcher ist. Oder
dass jede mit körperlicher Einzigartigkeit aufwarten kann wie
Claudia Schiffer, Marilyn Monroe oder Madonna. Unter den
Stars gibt es viele Frauen, die fühlen sich einzigartig und von
allen Männern begehrt. Das muss aber noch nicht heißen, dass
sie auch als Person einzigartig sind. Viele Männer sprechen aber
gerade auf diese körperlich attraktiven Frauen an und projizieren

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in sie ihre Vorstellungen vom Sexualakt. Dem Mann ist völlig
gleichgültig, mit welcher Frauenpersönlichkeit er diesen Akt
vollzieht, ihm geht es um die gesellschaftlich anerkannte
Attraktivität. Das ist im Übrigen auch das Ergebnis vieler
Umfragen: Die Traumfrau ist blond und willig, ein wenig
erwachsenes Frauenbild, an dem Männer die Frauen messen.

Doch Frauen wollen in ihrer individuellen Einzigartigkeit

wahrgenommen werden und nicht das Gefühl haben, dass er
eigentlich lieber Marilyn Monroe neben sich liegen hätte. Damit
der Mann die Frau wirklich wahrnimmt, braucht er sehr viele
Kontakte, muss viel Persönliches über sie erfahren. Über Jahre
kann er dann die Einzigartigkeit der Frau vielleicht erfassen. Ich
denke zudem, dass das umgekehrt nicht anders ist. Es ist auch
sehr schwierig, einen Mann in seiner Einzigartigkeit zu erfassen
und zu verstehen.

Prinzipiell erfordert Einzigartigkeit eine ungeheure Arbeit an

sich, denn wir alle tragen Klischees in uns. Man muss also
erstens etwas dafür tun, einzigartig zu sein, und zweitens muss
der andere viel Zeit, Kontakte und Gelegenheit zum Austausch
haben, um solche Einzigartigkeit wahrnehmen zu können.

3. Frauen wünschen sich Männer, die mit ihren Gefühlen

umgehen können

Männer, die mit ihren Gefühlen umgehen können - das ist ein

verständlicher Wunsch. Doch er ist nur schwer zu erfüllen, denn
dafür müsste der Mann schon eine Riesenarbeit an sich selbst
vollzogen haben, um sich zu verstehen. Einer, der sich selbst
nicht versteht, wird auch die Frau nicht verstehen, und genau
hier liegt das Problem: Bei vielen Männern ist die Bereitschaft
nicht vorhanden, sich mit sich selbst zu beschäftigen, um sich
selbst zu verstehen. Damit fehlt die Voraussetzung, sich in die
Frau einfühlen zu können.

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4. Die Frau wünscht, dass der Mann die Stimmung nicht

zerstört

Bei diesem Wunsch muss sich doch jeder Mann sofort fragen:

Warum fürchtet die Frau, dass der Mann die Stimmung zerstört?
Das kann eine Frau nur befürchten, wenn sie es schon öfter
erlebt hat. Aber warum zerstört der Mann Gefühlsstimmungen?
Als Psychologe frage ich: Was hat der Mann in der Kindheit
erlebt, dass er immer wieder »gezwungen« ist, aufkommende
Stimmungen von Intimität, Offenheit, Zartheit und Lust zu
zerstören? Vor welchen unangenehmen Erfahrungen mit
Zärtlichkeit und Nähe in seiner Kindheit will er sich schützen?
Was will er erst gar nicht aufkommen lassen?

De facto ist es auch oft so, dass sich der Mann

stimmungsmäßig in einer anderen Welt befindet als die Frau,
etwa wenn er aus der Berufswelt kommt: Er hatte Stress,
reagiert gereizt und macht dann eben die zarte Stimmung kaputt.

Auch viele Fragen, die die Frau ihm stellt, versteht er nicht,

oder er missversteht sie. Er weiß nicht, dass die Frau damit Nähe
herstellen will - oder er weiß nur allzu gut, dass sie Nähe will,
und genau diese Nähe fürchtet er.

5. Die Frau möchte als Subjekt wahrgenommen werden, nicht

nur als Sexualobjekt

»Wenn ich mich als Objekt fühle, weil der Mann mich so

sieht, habe ich nicht das Gefühl, dass ich persönlich gemeint
bin. In
der Sexualität wirkt sich dieses Gefühl besonders störend
aus. Zärtlichkeit und körperliche Nähe werden dann so gut wie
unmöglich. Nicht ich fühle mich gemeint, meinen Körper,
meinen Busen, meine Sinnlichkeit. Ich spüre etwas in der
Atmosphäre zwischen uns, was nicht durch uns beide entstanden
ist, zum Beispiel durch Fernsehkonsum, Pornokonsum oder so
etwas.«

Der Mann ist häufig mit dem Objekt Frau zufrieden, sie aber

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nicht. Das erschwert natürlich die Situation. Der Mann holt sich
seinen Appetit anderswo, lebt in der Vorstellung mit einer
anderen Frau, mit dem Bild einer Frau, und das will die Frau
nicht. Sie will als Person, eben mit ihrer individuellen
Körperlichkeit wahrgenommen werden.

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Wenn Männer mit Frauen sprechen

In der konkreten Begegnung zwischen dieser Männer- und

Frauengruppe entstand eine gute Gesprächsstimmung, doch die
Männer konnten nur charakteristisch auf die Beiträge der Frauen
reagieren.

Ganz typisch war zum Beispiel, dass sie die Frauen ungeheuer

lobten für ihre Beiträge, ja sie geradezu idealisierten. Eine
solche Idealisierung der Frau durch den Mann ist immer schon
der erste Schritt zum Nichternst-Nehmen. Denn die
Idealisierung weist darauf hin, dass der Mann der Frau vorher
vielleicht nicht zugetraut hat, etwas so Imponierendes,
Tiefgehendes, Wichtiges von sich zu geben. Anstatt zu
idealisieren, wäre vielmehr gefragt, alle Kräfte
zusammenzunehmen und mit den Frauen zu streiten. Streiten
nicht in gewalttätiger, kämpferischer Weise, aber mit einer
intensiven Kraftanstrengung, um den Dingen auf den Grund zu
gehen.

Typisch war auch, dass die Männer nicht solidarisch waren.

Kaum sind Frauen da, beginnen sie untereinander zu
konkurrieren, werben um die Frauen, kommen sich dabei ins
Gehege und vergessen ihre freundschaftlichen Beziehungen. Die
Männer merken dabei nicht, dass die Frauen in dem Moment gar
nicht umworben sein wollen, sondern dass sie ein konstruktives,
sachliches Gespräch suc hen. Doch die Männer spielen den
Gockel und kommen dann auch von ihrer Angst nicht mehr weg.
Ein Mann sagte später:

»Das Thema der Konkurrenz scheint mir sehr wichtig. Ich

habe letztens beim Besuch der Frauen einen enormen
Konkurrenzdruck gespürt. Wenn die Frauen weg sind, ist der
nicht so stark. Wir haben in unseren Männergruppen einen
kleinen frischen Keimling von Verbundenheitsgefühl
untereinander und Solidarität... Wenn aber die Frauen kommen,

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dann wird die Stimmung ganz anders. Das hört sich dann auf
einmal wieder so spaßig und flapsig an. Dann werden Witze
gemacht. Und mich hat das eigentlich traurig gemacht, das habe
ich allerdings erst später bemerkt. Die Männergruppe unterliegt
sofort dem Vorgang der Vereinzelung. Die Frauen allerdings
treten als Gemeinschaft auf.«

Dieses mangelnde Gemeinschaftsgefühl, die Vereinzelung,

führt zu Regressionen: Männer entwickeln Kleinheitsgefühle,
fallen zurück in die Rolle des kleinen Jungen, machen ihre
Spaße und wollen dafür belobigt werden. Festgestellt wurde von
den Männern auch, dass sich Frauen untereinander mehr
Anerkennung geben. Auch Männer bekommen ihre
Anerkennung überwiegend von Frauen.

Ein weiteres Handicap der Männer in den Gesprächen mit der

Frauengruppe war, dass sie häufig Signale von Schwierigkeiten
bei den Frauen nicht wahrnahmen. Das liegt daran, dass Männer
und Frauen tatsächlich eine verschiedene Sprache sprechen.
Frauen haben oft nicht nur eine andere Wortwahl, sondern auch
eine andere Stimmung in ihren Gesprächen.

Das müssen wir Männer lernen, denn in der Schule wird zwar

Deutsch und Englisch unterrichtet, aber nicht Mannsprache und
Frausprache. Dabei könnte man das in der Schule ganz gut
lernen. Senta Trömel-Plötz hat dazu ein interessantes Buch
verfasst: »Frauensprache - Sprache der Veränderung«.

Männer nehmen Signale von Frauen, die den Wunsch nach

Distanz ausdrücken, oft nicht wahr. Wenn es später dann zum
sexuellen Kontakt kommt, wundern sie sich, warum die
Begegnung nicht erfreulich und lustvoll ist. Weil Männer nur ihr
eigenes sexuelles Interesse sehen, nicht die ablehnenden
Signale, gehen sie einen sehr masochistischen Weg, einen
Schmerz-Lust-Weg: Sie kommen zwar ans Ziel ihrer sexuellen
Wünsche, fühlen sich aber nicht wohl dabei.

Frei nach Alfred Adler kann man also sagen: Männer laufen

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ihren Ohrfeigen nach. Adler sagte genau: »Neurotiker laufen
ihren Ohrfeigen nach« - was jetzt nicht heißen soll, dass alle
Männer Neurotiker sind.

Als die Frauen tatsächlich ihre Bedürfnisse geäußert hatten,

reagierten die Männer mit Überforderungsgefühlen. Sie
merkten, sie konnten kein Gegenüber sein. Doch Männer sollten
dem Gespräch gewachsen sein. Aus den Begegnungen zwischen
dieser Frauen- und Männergruppe kann man auf die
Zweierbeziehung rückschließen. Dort ergeben sich dieselben
Situationen und Gefühle, nur werden sie nicht so deutlich
analysiert. Auch Paare verstehen ihre Gefühle oft nicht und
sollten sich daher hinterher hinsetzen und fragen: Was war da
los?

Ein solches ernsthaftes Gespräch über Probleme in der

Sexualität und überhaupt über Probleme zwischen zwei
Liebespartnern ist mit das Schwierigste, was im Leben zu leisten
ist, und es ist lebenslang immer wieder zu führen. Bei diesen
schwierigen Gesprächen kommt man nur schrittweise voran und
gelangt millimeterweise zum Verständnis. Manchmal ist es
sogar unmöglich, einen Konflikt im Gespräch darüber
aufzulösen. Meine eigene Art und Weise in den letzten Jahren
war, dass ich mich erst einmal trennte und unbedingt allein sein
musste. Wenn wir dann nach einer Weile wieder darauf
zurückkamen, konnten wir bisweilen auch etwas klären. Aber es
ist oft völlig unmöglich, in einer Konfliktsituation am selben
Tag oder auch am nächsten eine Beruhigung, eine Versöhnung
oder überhaupt irgendetwas zu erreichen. Da scheint mir auch
die Flucht erst einmal ein vernünftiger Weg zu sein.

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Männer brauchen Männer

Bevor Männer wirklich mit Frauen ins Gespräch kommen

können, müssten sie sich also erst einmal an andere Männer
wenden. Aber das ist unbequem, sie warten ab, fühlen sich
überfordert oder lassen es gar nicht richtig in ihr Bewusstsein
dringen, dass sie das Gespräch mit Männern brauchen.
Beziehungen unter Männern aber sind notwendig: Damit wir
einander verstehen und uns gegenseitig stützen. Damit wir
lernen, unsere Gefühle zuzulassen und unsere Gefühle zu
äußern. Wir müssen das Gefühl entwickeln, dass wir den Frauen
gewachsen sind. Dafür brauchen wir ein Gemeinschaftsgefühl -
und auch das kann man aufbauen, lernen und üben.

»Gemeinschaftsgefühl« ist heute ein viel diskreditiertes Wort:

Es stammt von Alfred Adler. Ihm wird unterstellt, dass er damit
der Naziideologie Vorschub leistete. Ich glaube, dass er da
bewusst missverstanden und missgedeutet wird.

Zu einem Gemeinschaftsgefühl, wie ich das Wort verstehe,

gehört für uns Männer erst einmal, dass wir uns mit unserer
Kind heit auseinandersetzen. Dazu gehört auch die Aufarbeitung
der Sexualgeschichte unserer Kindheit. Etwa die Hälfte der
Mütter waren eben nicht überwiegend lieb - und heute begegnen
wir Frauen mit unerklärlichen Gefühlen von Sehnsucht,
Schmerz und Rache. Die Mutter steht uns oft nicht mehr zur
Verfügung, und wir reagieren uns an der Frau ab. Das ist ein
unbewusster Vorgang - und damit er bewusst wird, müssen wir
Kindheitsforschung betreiben. Dabei sollten wir Männer uns
gegenseitig unterstützen, denn Frauen haben in der Kindheit
ganz andere Dinge erlebt.

Zum Gemeinschaftsgefühl gehören auch freundschaftliche

Beziehungen unter Männern, ein erwachseneres Umgehen mit
Frauen und ein Verantwortungsgefühl für die Situation. Es
genügt nicht, dieses Verantwortungsgefühl zu haben, man muss

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auch über die Fähigkeit verfügen, die Verantwortung in
geeigneter Weise zu übernehmen, man muss es praktizieren,
man muss es üben. Der Wunsch allein verändert nichts. Dieses
Gemeinschaftsgefühl ist unbedingte Voraussetzung für ein
offenes Gespräch unter Männern. Ein Gespräch, welches nicht
nur Gedanken, sondern auch Gefühle beinhaltet.

Der Mann hat ein großes Interesse an der Sexualität, aber

darüber reden will er nicht. Warum diese Zurückhaltung, die er
doch im Beruf auch nicht hat? Ich habe dafür vier Gründe
gefunden:

1. Wenig wissen

Die Menschen wissen zu wenig über Sexualität und sind nie

richtig aufgeklärt worden. Die Aufklärer waren meist selbst
nicht aufgeklärt, haben irgendetwas erzählt, und etwas ist haften
geblieben. Viele Menschen leben ihr Leben lang mit diesem
Bruchstück-Wissen und denken, sie wüssten alles. Oder sie
spüren, dass sie zu wenig wissen, und trauen sich aus
Unwissenheit nicht, darüber zu sprechen.

2. Vermeintlich wissen

Viele Menschen meinen, etwas zu wissen, und leben mit

fatalen Irrtümern. Vor allem das falsche Männer- und das
falsche Frauenbild spielen beim vermeintlichen Wissen eine
große Rolle.

3. Verdrängen

Wir sind auch deshalb so wenig an Gesprächen interessiert,

weil wir unsere Bedürfnisse verdrängen. Es dauert meiner
Erfahrung nach 2 bis 3 Jahre, bis Männer überhaupt an ihre
Bedürfnisse herankommen und sich über sie und auch über
Probleme äußern können. Vorurteile, Klischees und Angst
verdrängen die wirklichen Bedürfnisse. Das Problem in
Männergruppen ist, dass die Männer in ihrer Entwicklung nicht
gleich weit sind: Wenn ein Mann beginnt, konkret über

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Sexualität zu sprechen, fragt der nächste: »Warum sprichst du
denn so detailliert darüber? Das muss ja nun wirklich nicht
sein.« Es ist ihm peinlich, zu intim. Die Männergruppe ist ein
geschützter, vertrauter Raum, aber das kann auch zum Problem
werden und das Gespräch verhindern. Die Männer kennen sich,
man wird sich in der nächsten Woche wieder sehen, deshalb
treten Gefühle von Scham, Schuld und Peinlichkeit überhaupt
auf.

4. Nicht können

Wir haben in der Regel nicht gelernt, über Sexualität und

Erotik zusprechen. Da könnte die Schule eine Rolle spielen, aber
da müssten erst die Lehrer sich selbst aufklären. Und im
Elternhaus müssten die Eltern vorleben, dass Sexualität ein
Thema ist, über das man spricht.

Wenn nun aber Männer versuchen, das Gespräch über Erotik

und Sexualität zu beginnen, haben sie das Sprechen nicht nur
nicht gelernt. Sie sind darüber hinaus auch geprägt von dem,
was sie bis dahin darüber gehört haben. So ein Gespräch findet
ja nicht im luftleeren Raum statt: Alle Gesprächsteilnehmer
kommen mit Erwartungen und Prägungen. Hier möchte ich
zuerst auf die Beeinflussung durch die Medien eingehen.

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Beeinflussung durch die Medien

Journalismus per definitionem ist die Übermittlung von

Informationen und Meinungen, wohlgemerkt: nicht nur
Information, sondern auch Meinung.

Im letzten Jahrhundert, als der Journalismus sich entwickelte,

behinderte die Zensur durch die Staatsmacht die freie
Meinungsäußerung. Heute sind die »Herrscher« weiter: Sie
wissen, dass die freie Meinungsäußerung harmlos ist, weil
Journalisten nicht wirklich aufklären wollen. Denn die
Medienleute können nur das weitergeben, was in ihnen steckt,
und tatsächlich stecken auch sie voller Fehlmeinungen und
Irrtümer. Presse, Rundfunk, Fernsehen und neuerdings auch das
Internetbilden die vierte Macht im Staat, und ihre Aufgabe ist
die politische Meinungs- und Willensbildung. Sie sollen die
Menschen beeinflussen, deren Willen, Handlungen und
Unterlassungen bestimmen, und diese Aufgabe nehmen sie
häufig so wahr, dass sie sehr eng an den politischen
Machthabern dran sind. Eine Kontroverse zwischen Staatsmacht
und Journalismus besteht heute praktisch nicht mehr.

Im Vordergrund stehen wirtschaftliche Interessen. Bild oder

Spiegel schreiben heute so, dass sie gekauft werden. Im

Fernsehen zählen nur noch die Quoten, nicht die Qualität einer
Sendung. Die Journalisten müssen sich also nach der allgemein
verbreiteten Unaufgeklärtheit, Blindheit, Arroganz und
Dummheit richten. Fortschritt und Aufklärung sind da nicht
drin.

Die journalistischen Gestaltungsmittel sind vielfältig, man

arbeitet nicht nur mit Wort und Bild. Es gibt auch psychische
Mittel. Die Medien arbeiten viel mit Suggestion. Suggestion ist
die Beeinflussung von Menschen in Bezug auf ihr Denken,
Fühlen und Wollen. Das hat man früher bewusst eingesetzt, um
so genannte Heilungen von so genannten Kranken

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vorzunehmen. Suggestion gehörte in die psychiatrische Klinik.

Heute bestimmt Suggestion das gesamte politische Leben und

die journalistische Tätigkeit. Die Medien wollen den Leser,
Hörer und Zuschauer in seinen Gedanken, Gefühlen und
Handlungen beeinflussen, aber er soll es nicht merken und
meinen, er habe sich sein eigenes Urteil gebildet.

Warum gehe ich so kritisch auf den Journalismus ein? Weil

wir tagtäglich Medien konsumieren und weil wir uns bewusst
machen müssen, welchen Manipulationen wir ausgesetzt sind.

Ein verbreiteter Vorgang etwa ist die Banalisierung. Sie lenkt

vom eigentlich Wesentlichen ab, indem der Artikel oder die
Sendung an kindliche Traumata anknüpft. Das ist psychologisch
möglich: Da wird zum Beispiel an eine kindliche Phantasie eine
Information angeknüpft, wir fühlen uns angesprochen und
erkennen nicht mehr, dass das nicht die Realität ist, über die wir
eigentlich informiert sein wollen. Oder die Sündenbockjagd: Es
wird in den Medien immer gesagt, wer wirklich schuld ist, aber
oft nicht direkt, sondern suggestiv, indem der Journalist an
verdrängte Feindbilder aus der Kindheit anknüpft: der Jude, der
Schwarze. So wird Richtiges als falsch suggeriert und Falsches
als richtig. Journalistisch genutzt wird auch die
Rationalisierung: Eine vordergründig logischsachliche
Argumentation verschleiert die eigentlich ursächlichen Gefühle,
Irrationalitäten und Gedanken, die oft recht komplex sind.

Sinn machen diese Techniken nur, weil sie im Leser, Hörer

oder Zuschauer tiefere Schichten ansprechen. Dann wird Angst
aufgebaut, und wenn die Angst dann da ist, bietet der Journalist
die Lösung, die man bereitwillig akzeptiert, weil man wieder
raus will aus seiner Angst. Danach haben wir zwar weniger
Angst, aber eben auch die falsche Information.

Bei diesen Botschaften geht es nicht immer nur um aktuelle

Informationen, sondern um Lebensformen ganz allgemein: »Der
moderne Mensch tut dies«, »der Deutsche tut das«. Die gezeigte

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Lebensform wird als selbstverständlich dargestellt wer das nicht
akzeptiert, ist entweder blöd oder ein Versager oder ein Outlaw
oder verrückt. Das Feindbild wird gleich mitgeliefert.

Eine immer wieder bestätigte Lebensform in den Medien ist

das herrschende Männer- und Frauenbild. Die Medien bestärken
das Patriarchat auf der einen und die Sklavenmoral auf der
anderen Seite. Kritisiert wird nicht, niemand soll sich empören.

Was vermitteln nun die Medien konkret? Was wollen die

Journalisten, dass wir über Mann und Frau, über Erotik und
Sexualität denken? Ich zitiere gerne die Bild. Die kann man mit
großem Gewinn studieren, wenn man sehen will, wie Lügen und
Verdummung lanciert werden und wie Unwahrheiten in die
Gefühle der Menschen hinein platziert werden.

1993 stand in Bild, dass viele Frauen Pech in der Liebe haben.

Das kommt an: »Genau, mein Mann ist auch nicht der
Richtige.« Bestandsaufnahme: Die Frauen lernen die falschen
Männer kennen, und deswegen gehen sie gewissenlosen
Verführern auf den Leim. Erklärung: Männer und Frauen
sprechen in Gefühlsdingen verschiedene Sprachen. - Das hört
sich fortschrittlich an, das beruhigt. Und es folgt das
Problemlösungsangebot: Jeder Mensch sendet unbewusst
erotische Signale - auf diese Liebesbotschaften sollten Frauen
achten: große Pupillen = bei ihm hat es gefunkt. Der Mann lässt
seinen Blick in die Ferne schweifen = sein Interesse an dieser
Frau ist riesengroß. Er kratzt sich ständig am Nacken und
streicht sanft über seinen Bauch = Liebessignal. Wenn er
unbewusst seine Lippen berührt = er hat Angst, dass ihn die
Frau zurückweist. Und so weiter. Auf die Rezepte folgen Tipps,
wie Frau den Mann »rumkriegt«:

Sie soll den Mann ermutigen, indem sie sich körperlich

kleiner macht. Sie soll »aufrichtig« sein, das heißt: Nach dem
ersten

KUSS

soll sie Hüften und Schultern rausschieben. Sie soll

Vertrauen signalisieren, indem sie ihren Kopf auf seine Brust
legt. Und wenn man sich nach einem Streit versöhnen will, soll

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man sich tief in die Augen schauen und sich eventuell umarmen.

Vielleicht stimmt ja tatsächlich ein Teil dieser Dinge, aber die

Leute lesen das und tragen das in sich, wenn sie jemanden
kennen lernen. So etwas wird ja nicht umsonst geschrieben.

Andere Meldungen, die regelmäßig kommen, lauten:

»Machos haben wieder Konjunktur.« Oder: »Männer wollen
keine arbeitenden Frauen, sondern liebevolle, zärtliche, die
zuhören und hübsch sind.« Ich bin davon überzeugt, dass
Männer das überwiegend wollen, aber das wird dann in der
Presse nicht hinterfragt und ausgelotet, sondern einfach nur
zitiert. Oder Männer behaupten: Frauen terrorisieren die
Männer, knechten die Männer. Emanzipation ist
»Diskriminierungsgeschwätz«, und Problembewusstsein ist
»Beziehungsquatsch«. Die Männerbewegung muss sich
angeblich wehren gegen die Frauenbewegung. Und
Frauenbewegung ist überhaupt ein überflüssiger Luxus oder
einfach nur eine Neurose.

Immer wieder werden Frauen in Zeitungen gefragt, ob sie

sexuell erfüllt seien oder ob ihr Partner einfühlsam genug sei. In
der TAZ stand 1995: 76 Prozent der Frauen sind sexuell
unzufrieden, sind enttäuscht und haben kein Interesse mehr an
diesem Partner, mit dem sie trotzdem zusammen sind und auch
zusammen bleiben werden. Das geht durch alle Schichten. Der
Grund ist, dass Männer sich nicht genug um die sexuelle
Zufriedenheit der Frauen kümmern.

Da steckt ja nun ein Teil Wahrheit drin, aber es geht nicht nur

darum, dass die Männer sich um die Frauen kümmern, sondern
auch, dass die Frauen ihre Bedürfnisse äußern sollen.

Die Zeitungen sind voll von Meldungen weiblichen

Unbefriedigtseins. Es fehlen jedoch die Meldungen männlichen
Unbefriedigtseins.

Der Spiegel meldete 1996, dass die Männer nur noch halbe

Männer sind, weil die Spermien so stark abnehmen. Pro Jahr um

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2 Prozent, da kann man sich ausrechnen, wann der Mann keine
mehr hat. Der Grund seien vor allem enge Hosen, aber auch
Umweltgifte, Zigaretten, Alkohol und Autoabgase. Auf
Versagensängste der Männer wird auch hingewiesen, die daraus
entstehen, dass sie Angst haben, kein Kind mehr zeugen zu
können. Ich weiß nicht, ob das stimmt, jedenfalls ist es wieder
nur eine Teilwahrheit. Da gibt es noch ganz andere Ängste. Aus
all diesen Dingen schließe ich, dass es mit der Aufklärung über
die wahren Probleme und Lösungen noch nicht weit her ist, dass
wir uns vielmehr in einem Rückschritt befinden.

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Vorurteile und Verdrängungen

Ich will nun männliche - und auch weibliche - Irrtümer über

die Sexualität auflisten, um bewusst zu machen, mit welchen
Vorurteilen wir ins Gespräch einsteigen. Oft beherrschen uns
diese Vorurteile unbewusst und verstellen deshalb das offene
Gespräch. Denn wenn zwei Menschen, die sich ineinander
verliebt haben, von zwei völlig verschiedenen Annahmen
ausgehen, werden sie nie zu einem richtigen Gespräch kommen
und auch nicht zu einer wirklich lustvollen Begegnung. Wir
müssen also an unserem Unterbewussten arbeiten, um vom
Phantasierten in die Realität zu gelangen.

1. Vorurteil: Der Mann will immer nur das Eine

»Immer nur das Eine« unterstellt, dass der Mann immer nur

Sexualität will, die Frau aber nicht. Dahinter versteckt sich auch,
dass die Frau aktiv gewünscht wird, es aber nicht ist. Nancy
Fridays Buch »Die Sexualität der Frauen« widerlegt das. Viele
Männer beklagen, dass die Frauen eine passive Haltung haben.
Vielleicht ist das aber so, weil die Frauen glauben, dass der
Mann sowieso immer will, dann müssen sie sich ja nicht mehr
bemühen. Für den Mann kann das dann dazu führen, dass er sich
unter Druck fühlt, immer Lust haben zu müssen.

2. Vorurteil: Frauen müssen zur Sexualität verführt werden

Was heißt eigentlich »verführen«? Es bedeutet: vom rechten
Weg abführen. Wenn also ein Mann sich aufmacht, eine Frau zu
verführen, dann denkt er, er müsste die Frau irgendwohin
locken, wo sie gar nicht hin will. Und damit liegt er schon
falsch. Es ist Unsinn, nur daran zu denken, mit welchen Tricks
er ihren Widerstand brechen kann. Wenn zwischen Mann und
Frau vorher ein Gespräch stattfinden würde, würde er merken,
dass auch sie Interesse an Sexualität und Zärtlichkeiten hat.

3. Vorurteil: Der Mann muss die Frau erobern

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Erobern - wie eine Burg im Krieg? Die Frau verbarrikadiert

sich und denkt vielleicht sogar, sie müsse sich zurückziehen und
einmauern, und nur der Mann, der alle ihre Widerstände
überwindet, ist ein richtiger Mann. Der Mann ist so auf
Eroberung programmiert, dass er an der Frau, die ihm offen und
interessiert entgegentritt, keinen Gefallen findet und sich immer
nur um Frauen bemüht, die sich ihm verweigern. Das Erobern-
Vorurteil enthält für manche sogar die Erlaubnis zur Gewalt:
Die Frau will erobert werden, Widerstände sind zu brechen
anstatt Widerstände ernst zu nehmen und darüber zu reden.

4. Vorurteil: Der Mann muss die Führung übernehmen Viele

Männer denken: »Ich muss die Führung übernehmen in der
Sexualität.« Damit setzen sie sich einerseits unter Druck,
andererseits bekommen sie einen Riesenschreck, wenn sie an
eine Frau geraten, die die Führung übernimmt, und können sich
dann überhaupt nicht mehr auf Sexualität einlassen. Neue Wege
und Erlebnisse bleiben ihnen so versagt, sie führen die Frau
immer nur auf den gleichen Pfad.

5. Vorurteil: Ich muss alles über Sexualität wissen Männer

meinen oft, so tun zu müssen, als wüssten sie alles über die
Sexualität und über die Frau. Sie trauen sich nicht, sich im
Kontakt mit der Frau unwissend zu zeigen, und wagen es nicht,
Fragen zu stellen. Manche Männer meinen auch, schon alles zu
wissen über sich und die Frau, und fragen deshalb nicht.

6. Vorurteil: Ich muss »die Richtige« finden

Männer befinden sich häufig auf der Suche nach der

»richtigen« Frau und wissen nicht, dass es die Richtige nicht
gibt. Die richtige Frau ist höchstens die, die bereit ist, mit dem
Mann zusammen in die Gesprächsarbeit einzusteigen, und die
sich zum Beispie l nicht sträubt, wenn er sagt, er ist in einer
Männergruppe. Wir wünschen uns sogar, dass die Frau die
Männer in der Gruppe auch einmal kennen lernt - aber das
macht nicht jede Frau.

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7. Vorurteil: Recht auf Sexualität

Männer meinen, ein Recht auf Sexualität zu haben -

mindestens zwei Mal pro Woche. Ein solches Anspruchsdenken
wurzelt im Besitzdenken des Mannes: Er hat ein Recht auf den
Körper der Frau. Er respektiert die Frau nicht und auch nicht
seine eigene Stimmung.

8. Vorurteil: Phantasien müssen realisiert werden

Männer denken, dass sie ihre erotischen Phantasien auch in

die Tat umsetzen müssen und dürfen. Wenn die Frau nicht
mitspielt, ist diese eben unlustig oder gar frigide. Das ist falsch:
Man kann alle möglichen Phantasien haben, aber man kann
nicht davon ausgehen, dass alle in die Tat umgesetzt werden
können, denn in der gemeinsamen Sexualität soll nur das
geschehen, was beide wollen. Deshalb muss man über
Phantasien reden und dann - vielleicht - einen Weg finden, sie
umzusetzen.

9. Vorurteil: Männer brauchen weniger Zärtlichkeit

Das ist ein Vorurteil, das vor allem Frauen haben und das

Männer von ihnen lernen: Männer brauchen weniger
Zärtlichkeit als Frauen. Das stimmt ganz entschieden nicht. Im
Lauf der Jahre haben wir immer wieder festgestellt, dass
Männer ein starkes Interesse an Zärtlichkeiten haben.

10. Vorurteil: Zärtlichkeit ist nicht so wichtig

Viele Männer meinen, das eigentlich Wichtige in der

Sexualität sei der Koitus, Zärtlichkeit sei nicht so wichtig.
Dieses Vorurteil kommt oft von den Erfahrungen mit der
Mutter, in deren Nähe die Jungen unangenehme Dinge erlebt
haben. Sie wollen die zärtliche Nähe nicht, weil sie in Ängste
und Beklemmungen hineingeraten. Es gelingt ihnen höchstens,
den Koitus möglichst schnell zu vollziehen, die körperliche
Aktivität lenkt dabei von den feineren, tieferen Gefühlen ab und
überdeckt die Angst vor Zärtlichkeit und Nähe.

11. Vorurteil: Der Penis ist das wichtigste Sexualorgan

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Der Penis ist das zentrale Sexualorgan, für manche Männer

sogar das einzige. Männer wissen dabei nicht, dass Erotik und
Erregung auch über andere Organe zu erreichen ist, zum
Beispiel über die Haut: von den Lippen über die Brustwarzen
bis zu den Fußsohlen.

12. Vorurteil: Erektion = Lust

Wenn ein Mann eine Erektion hat, hat er Lust. Oder

umgekehrt: Wenn er keine Erektion hat, hat er keine Lust. Das
stimmt genauso wenig wie die Annahme: Wenn eine Frau keine
feuchte Vagina hat, hat sie keine Lust. Aber Männer meinen,
wenn sie keine Erektion haben, können sie nicht lustvoll und
zärtlich sein. Darüber muss man sprechen. Ich bin der
Überzeugung, dass eine Erektion für eine lustvolle Sexualität
nicht unbedingt notwendig ist. Sie ist auch nicht nötig für einen
Orgasmus.

13. Vorurteil: Der Koitus ist die eigentlich richtige Sexualität

Mit diesem Zwang zum Koitus begibt man sich in eine
Sackgasse oder fährt ständig auf der selben Einbahnstraße.
Gerade die Selbstbefriedigung ist, wie bereits ausgeführt, eine
höchst zufrieden stellende Form der Sexualität. Auch für Mann
und Frau gibt es unzählige Forme n des erotischen und sexuellen
Umgangs miteinander, eine Reduktion auf den Koitus führt
zwangsweise in die Langeweile.

14. Vorurteil: Kondome stören den Koitus Dieses Vorurteil ist

angesichts der Aidsgefahr geradezu lebensgefährlich. Kondome
stören vermeintlich deshalb, weil sie verschämt, versteckt und
notgedrungen benutzt werden. Es gibt eine unübersehbare
Vielfalt von Kondomen, man muss nur gemeinsam besprechen
und ausprobieren, welches beiden gefällt und gut tut.

15. Vorurteil: Ohne Orgasmus keine Erfüllung Der Zwang

zum Orgasmus nimmt der Sexualität das Spielerische, Leichte.
Es ist wie die Fahrt auf der Autobahn: Man will nur auf dem
kürzesten Weg ans Ziel, für die landschaftlichen Reize hat man

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keine Zeit und keinen Blick. Der selbst auferlegte Orgasmus-
Leistungsdruck verhindert echte Erotik. Dabei kann es höchst
spannend und zufrieden stellend sein, den Orgasmus sogar zu
vermeiden und auf Entdeckungsreise zu gehen.

16. Vorurteil: Der gleichzeitige Orgasmus Uralt und weit

verbreitet ist das Vorurteil, dass der gleichzeitige Orgasmus der
schönste und dass er ein Zeichen für gelungene Sexualität ist.
Ich habe das immer als eine enorme Reduzierung der Lust
empfunden, wenn er zugleich stattfindet, denn wenn ich einen
Orgasmus habe, bekomme ich nicht mehr so gut mit, was die
Frau erlebt und fühlt. Und wenn ich mich auf die Frau
konzentriere, erlebe ich nicht jede Faser an mir.

17. Vorurteil: Sexualität ist ein organisch (biologisch)

bestimmter Trieb

Trieb heißt, ein Verlangen ist einfach da und muss befriedigt

werden. Doch die Sexualität ist nicht nur natürlich, sie ist auch
kultürlich. Gefühle, Klischees, Vorurteile und der Umgang
miteinander bestimmen sie zu mindestens 50 Prozent. Jeder
findet Sex auf seine Art schön. Ich spreche auch gern von einem
Kunstwerk, das von zwei Menschen kreiert werden muss, wenn
sie eine glückliche, lustvolle Sexualität haben wollen. Der
Orgasmus soll auch nicht nur ein körperlicher, sondern ein
seelischer Höhepunkt sein.

18. Vorurteil: Die Frau ist sexuell triebhafter ah der Mann

Dies Vorurteil gibt es auch umgekehrt: Der Mann sei triebhafter
als die Frau. Die Triebhaftigkeit - bei aller soeben erläuterten
Problematik des Wortes - hängt ausschließlich von der einzelnen
Person ab, nicht vom Geschlecht.

All diese oder auch nur ein Teil von diesen Vorurteilen

stecken zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst in uns. Mit
diesem Ballast steigen wir also ins Gespräch über Erotik und
Sexualität ein.

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Was Männer sich in der Sexualität

wünschen und was sie verschweigen

»Ich möchte mich spüren dürfen und nicht verstellen müssen.

Ich will nicht in der Sexualität immer in einem aufgeregten
Zustand des Rennens mich befinden, sondern ich will zur Ruhe
kommen. Ich will meine Stimmungen wahrnehmen dürfen, auch
wenn die Frau dabei ist, auch Trauer, Schmerz und Angst, mich
trauen, das zu zeigen, mir das nicht zu verbieten, um dann zum
eigentlichen Sexualakt schnell hinzukommen.«

Im Rahmen eines therapeutischen Aufenthalts habe ich

Männer aufgefordert aufzuschreiben, was sie sich in der
Sexualität wünschen.

Der oben zitierte Mann will auch nicht immer das Bild des

guten Liebhabers aufrecht erhalten müssen. Er wünscht sich
Genussfähigkeit, möchte lernen, Komplimente anzunehmen. Er
wünscht sich, dass er seine Partnerin als Person im Gefühl haben
kann und nicht als brave Frau, die in der Sexualität einfach alles
mitmacht, damit sie den Mann nicht verliert.

Der zweite Mann wünscht sich viel Zärtlichkeit, Hautkontakt,

Streicheln, eine Partnerin, die ihn nicht fragt, was sie tun soll,
sondern das selber weiß. Er wü nscht sich Entspannung, Lust,
Gelassenheit, Lachen und außerdem, keine Angst in der
Sexualität zu haben. Übrigens haben fast alle Männer Angst vor
der Kritik der Frau, vor ihrer Zurückweisung.

Der dritte Mann wünscht sich Ruhe, Ausgeruhtsein, Zeit,

umworben werden, Lebenslust, Geborgenheit. Er will keine
Angst vor Verletzungen haben müssen. Er wünscht sich das
kontinuierliche Gespräch. Er will kein abruptes Ende der
Sexualität, er will, dass die Frau nach dem Orgasmus nicht
aufsteht und weggeht, sondern dass sie noch eine Weile bei ihm
bleibt.

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Der vierte Mann wünscht sich mehr Mut im Gespräch,

überhaupt der Frau gegenüber ein größeres Selbstbewusstsein.
Er will lernen, mit sich zufrieden zu sein, weiß, dass er da für
Entwicklung sorgen muss, dass er lernen muss, sich zu
vertreten. Er will akzeptiert werden als Mensch, will aber auch
die Frau richtig sehen, an seinen Projektionen und
Übertragungen arbeiten. Er wünscht sich Zärtlichkeit,
Weichheit.

Das sind typische Wünsche von Männern, die sie nach einiger

Zeit in der Männergruppe oder in Einzelgesprächen
aufschreiben können. Was aufgeschrieben wurde, ist natürlich
alles richtig. Aber hier hat der Verstand gesprochen, die Spitze
des Eisbergs wurde sichtbar. Die eigentlichen Probleme liegen
viel tiefer, und die Verdrängungen waren noch massiv wirksam.

Als ich in einer Männergruppe die Frage stellte: »Seid ihr mit

eurer Sexualität in der Partnerschaft zufrieden?«, hatten die
Männer ungeheure Mühe, deutlich zu sagen, was los war. Sie
gaben zwar zu, dass sie sich wü nschten, weniger Angst zu haben
und darüber reden zu dürfen, dass sie noch nicht befriedigt
waren und Wünsche offen hatten. Aber zur Frau sagten sie das
nicht. Hier wird klar, wie ängstlich Männer eigentlich gegenüber
Frauen sind. Selbst in der Männergruppe trauen sich manche
Männer nicht, über ihre Frauen zu sprechen.

Wenn ich frage: »Seid ihr mit eurer Sexualität in der

Partnerschaft zufrieden?«, sagt erst einmal keiner etwas, und es
ist auffällig, wie viele Männer auf diese Frage hin gähnen. Das
ist für mich ein Zeichen, dass sie beim Nachdenken über diese
Frage sofort viel Kraft verlieren, dass sie einen enormen
Kraftaufwand leisten müssen, um alles Mögliche
zurückzudrängen, um nichts zu sagen, um nicht das Risiko
einzugehen, dass die Partnerin etwas erfährt.

Hinzu kommt die Konkurrenz. Der Mann möchte seinen

»kleinen Schatz« für sich behalten, hat Angst, dass er ihm
weggenommen wird, wenn er darüber spricht. Das geben

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manche Männer auch zu. Andere Männer schieben auch Gründe
vor:

»Ich hab mir das überlegt und mich gefragt, was ich

eigentlich zu dem Thema beitragen kann. Und da fiel mir nach
längerem Nachdenken ein, dass mich das
Wort›Sexualität‹unglaublich stört.›Ich habe mit jemandem Sex
gehabt' - das ist für mich ein Unding. Ich habe auf jemanden
Lust. Oder: Ich habe mit jemandem geschlafen. Oder: Ich will
mit jemandem schlafen. Aber dieses Wort›ich habe mit
jemandem Sex gehabt‹- das ist für mich etwas unglaublich
Aseptisches und etwas ganz Steriles. Ich habe da sprachlich
einen richtigen Widerstand, über dieses Thema›Sexualität‹zu
reden. Ich habe Lust, darüber, was mir Lust macht und was ich
als lustvoll empfinde, zu sprechen. In meiner Partnerschaft ist
das Thema›Sexualität‹eigentlich ein ganz heißes Thema, hat es
auch schon zu Krisen zwischen uns gebracht. Jedenfalls ist es
ein pikantes Thema.«

Dieser Mann hat eine Wortphobie vor »Sexualität«. Das ist

eine Rationalisierung, denn es geht nicht um dieses Wort, es
geht um seine Mühe, über dieses Thema zu sprechen. Das
Bedürfnis, etwas zu äußern, scheint da zu sein. Wir müssen also
die Abwehr untersuchen, die da erkennbar ist.

Hier die Stellungnahme eines Mannes, der seine Probleme

schon relativ offen ausdrücken kann:

»Ich wollte darüber sprechen, warum es uns so schwer fällt,

über das Thema›Sexualität‹ins Gespräch zu kommen. Mir
persönlich geht es zum Beispiel so, dass ich manchmal
wochenlang keine Sexualität mit meiner Partnerin erlebe und
dass es mir dann immer so geht, dass ich denke: Ach, es ist doch
eigentlich in Ordnung. Was soll ich noch darüber reden? Ich
habe mich also ein Stück weit eingerichtet, mit diesem
Mangelzustand. Ich habe zwar noch keinen Notzustand, aber es
fällt mir einfach nicht mehr ein, was ich eigentlich brauche. Ich
habe mich damit abgefunden. Im Nachhinein bedaure ich das

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dann. Denn immer, wenn wir hier in der Männergruppe über
Sexualität sprechen, finde ich das sehr anregend. Danach habe
ich dann häufiger Sexualität... Und ich merke dann, dass mir
eigentlich im Alltag etwas entgeht. Ich bin in meiner Beziehung
nicht so hinterher, dass ich diese lebendige Lebensstimmung
beibehalten kann. Außerdem verspüre ich eine Schamhaftigkeit
bei mir. Wenn das Gespräch in der Männergruppe ansteht,
denke ich: Ich kann doch hier nicht schon wieder ah Lüstling
auftreten. Neulich hat ein anderer Mann erzählt, wie seine
Freundin ihm den Schwanz streichelt. Da wurde ich richtig
neidisch. Ich habe das auch schon einmal an meine Partnerin
herangetragen, bin der Sache dann aber nicht weiter
nachgegangen. Ich habe es sozusagen liegen lassen. Ich muss
mit ihr wieder darüber sprechen. Ich wünsche mir, dass sie mir
in einer bestimmten Weise meinen Schwanz streichelt. Und
diesen Wunsch offen auszusprechen, das mobilisiert meine
Scham. Ich denke dann rationalisierend: Ach, sei doch etwas
geduldiger. Allmählich wird aber der Wunsch stärker, und ich
trage ihn an meine Partnerin heran, habe zwar auch Angst
davor, dass sie auf meine Wünsche dann nicht eingeht, dass sie
sich darauf nicht einlassen kann, aber ihr anderen Männer in
der Gruppe spielt auch eine Rolle dabei. Euch gegenüber ist es
mir unangenehm, als Lüstling zu gelten, obwohl ich eigentlich
gern ein Lustmolch sein möchte. In der Sexualität mit meiner
Partnerin habe ich das Gefühl, dass ich mehr gebe, mich mehr
um die Stimmung bemühe, als ich zurückbekomme von ihr. Ich
habe den Wunsch, noch mehr zu kriegen. Aber meine Partnerin
arbeitet sehr viel.«

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Worüber Männer dann sprechen

Wenn Männer tatsächlich beginnen, unter Männern über

Sexualität zu sprechen, sagen einige, dass es ihnen sehr schwer
fällt, einzuschätze n, ob sie in der Sexualität zu kurz kommen
und ob es vielleicht ein Problem der Frau ist. Sie zögern sofort,
es als Problem der Frau zu bezeichnen, dass es so selten zur
Sexualität kommt.

Manche Männer sind neidisch, dass sie »höchstens ein Mal«

zum Orgasmus kommen, die Frau aber zwei bis fünf Mal. Sie
wünschen sich, dass es auch bei ihnen öfter wäre.

Manche geben zu, dass der Koitus schmerzhaft wird, wenn er

zu lange dauert, dass sie dann auch keinen Orgasmus mehr
erreichen. Aber sie trauen sich nicht aufzuhören, weil sie von
sich selbst fordern, die Frau unbedingt zum Orgasmus zu
bringen. Sie erzählen der Frau nicht, dass das lange Durchhalten
für sie auch schmerzhaft sein kann. Männer freuen sich zwar,
wenn die Frau zum Höhepunkt kommt. Es fällt ihnen aber
schwer, die Frau zu fragen: »Wie willst du es?«

Wenn Männer schon länger in der Gruppe sind, finden sie

eine solche Orgasmus-Fixierung nicht mehr so gut und
beginnen, sich darüber auszutauschen. Männer, die kürzer in der
Gruppe sind, stören sich an dieser Offenheit. Nur allmählich
entwickeln Männer den Mut, andere Männer zu fragen, wie es
ihnen ergeht, was sie erleben.

Gesprochen haben wir in den Männergruppen immer wieder

über die Frage: Was wollen wir eigentlich im Orgasmus? Lust
oder Entspannung? Das ist nicht so einfach zu beantworten,
denn dahinter stehen viele andere Fragen und zuallererst: Was
will ich eigentlich? Entspannung, Eroberung, Angst-Lust,
Abenteuer, Verwöhnung, Innigkeit, Glück, Sinn im Leben,
Ausgefülltheit als Entschädigung für Leere im außersexuellen
Bereich, als Kompensation für meine

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Minderwertigkeitsgefühle? Will ich die befriedigte Frau?
Welche Gefühle will ich? Welche empfinde ich? Wie kann ich
mich hingeben, wie erlebe ich die Hingabe der Frau? Will ich
kontrollieren?

Männer mache n sich die problematischen Bereiche allmählich

bewusst, wissen aber nicht, wie sie sich verhalten (sollen).
Empfinde ich einen »Sieg« über die Frau? Ist die Sexualität
Belohnung der Frau für gutes Verhalten? Ist die Sexualität
gleichberechtigt? Ist die Frau im Bett Person oder nur Objekt?

Entgegen gängigen Klischees wollen viele Männer mehr

Zärtlichkeit und mehr Zeit für Zärtlichkeit. Sie sprechen
darüber, dass sie zu wenig Zeit haben und dadurch in Unruhe
und Eile kommen.

Sie sprechen über die Ritualisierung in der Sexualität und die

Langeweile, die sich aus dem immer gleichen Ablauf ergibt.
Männer wünschen sich auch das Gespräch mit der Frau und
fragen die anderen Männer: Wie sprecht ihr das an?

Sie formulieren bisweilen auch, was sie nicht wollen: Die

Frau, die ihnen etwas vorspielt, die nur aus Pflichtgefühl
mitmacht, um dann ihre Ruhe zu haben, die nur erobern und
siegen will. Männer wollen nicht die Lückenbüßer für eine
langweilige Ehe sein. Sie wollen keine Frau, die Sexualität
ansteuert, obwohl sie eigentlich Verständnis, Wärme, Sicherheit,
Geborgenheit, Zärtlichkeit will. Und sie wollen keine Frau, die
wie eine Prostituierte alles schnell erledigen möchte.

Im Lauf meiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema

habe ich festgestellt, dass die Männer Sexualität viel höher
bewerten als Frauen. Männer verbinden Sexualität mit dem
Selbstwertgefühl. Wenn Sexualität selten stattfindet oder für die
Frau nicht befriedigend verläuft, entwickeln Männer enorme
Minderwertigkeitsgefühle, obwohl sie sogar sexbesessen sein
können.

Manche Männer wollen in der Beziehung zur Frau und in der

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Sexualität überhaupt alle Wünsche befriedigt haben, die sie im
Leben haben. Das geht natürlich nicht, aber wenn Männer sich
das nicht bewusst machen, wissen sie nicht, dass ihre Wünsche
manchmal unerfüllbar sind.

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Die wirklichen Probleme der Männer

»Ich bin unglücklich in der Sexualität. Ich habe immer

gedacht, bei diesem Punkt›Sexualität‹brauche ich gar keine
Hilfe von anderen. Ich bin nicht einmal auf die Idee gekommen,
ich hätte Hilfe gebrauchen können oder dass da überhaupt
irgendetwas im Argen liegt. Ich wusste nicht einmal, dass es so
etwas wie Hilfe unter Männern geben kann. Ich habe unerhört
viel Lust. Ich bin oversexed.«

Ich komme zurück auf die vier erwähnten Männer, die ihre

Probleme aufgeschrieben hatten, und stelle sie jetzt mit ihren
wirklichen Problemen vor. Die tatsächlichen Probleme der
Männer sind oberflächlich gesehen Ängste, Hemmungen,
Unsicherheit und Schüchternheit. Diese Oberfläche ist immer
da, sie ist auch ernst zu nehmen. Doch woher die Ängste
kommen, das erfährt man nur durch eine intensive
Psychotherapie, in der die Männer allmählich Vertrauen
gewinnen und wirklich darüber sprechen.

Der erste Mann wollte sich vor allem spüren dürfen und

mitteilen, sich nicht verstellen müssen und die Frau als Person
erleben. Erwünschte, in der Gruppe darüber zu sprechen, dass er
sich unfähig fühlt, eine Beziehung aufzunehmen und diese dann
in Gang zu halten. Er sagt:

»Ich kann nicht aktiv auf Frauen zugehen. Da habe ich eine

Bremse, erlebe mich immer als reaktiv. Ich vermute auch bei
Frauen erst einmal die Haltung, dass sie von Männern Gewalt
erwarten, ziehe mich in meine Einsamkeit zurück. Außerdem ist
meine Art zu reden knallhart. Ich kann nicht freundlich und
weich werben, sondern bin immer knallhart.... Dass ich jetzt
Probleme habe, mir eine Partnerin zu suchen, ist vielleicht
wichtig, weil meine Mutter die erste Frau war, mit der ich
geschlafen habe.«

Ein solcher Missbrauch ist natürlich eine traumatische

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Erfahrung. Selbst ich als Therapeut, als der Mann 1984 erstmals
davon erzählte, hatte mich mit dem Missbrauch von Frauen
gegenüber Männern damals noch nicht befasst und hielt das im
Grunde auch für unmöglich. Ich schreibe das hier so offen, weil
ich davon ausgehe, dass das vielen Menschen, auch
Therapeuten, ebenso geht. Ich als Therapeut habe mich durch
Verdrängung geschützt. Wie massiv muss dieser Mann sich im
Kontakt mit Frauen schützen? Im Kontakt mit der Frau erlebt er
immer wieder Panik, weil er die Angst vor der Mutter wie der
erlebt. Er kann einer Frau das alles ja auch nicht gleich erzählen,
damit sie seine Reaktionen versteht. Es tut ihm weh, dass er sich
verstellen muss, dass er die harte Schale vorzeigen muss, die
ihm eigentlich nicht entspricht. Außerdem war seine Mutter sehr
gewalttätig: So wurde er eingeschüchtert, vielleicht sogar, damit
er nichts erzählt.

Der zweite Mann hatte sich »Zärtlichkeit, Hautkontakt,

Streicheln« gewünscht. Nach langer Vorbereitungszeit kam
dann der »Durchbruch«, das Gespräch, in dem er über das, was
er immer verschwiegen hatte, erzählen konnte: Er litt unter
starker Unruhe, unter großem Zärtlichkeitsbedürfnis, aber auch
unter masochistischen Anwandlungen, sich Frauen zu
unterwerfen. In der Kindheit hatte er Neurodermitis, deswegen
hatte er zu wenig Zärtlichkeit von der Mutter bekommen.
Vielleicht hatte er auch Neurodermitis, weil er zu wenig
Zärtlichkeit bekommen hatte. Die Haut als Organ hat immer
etwas mit Gefühlen zu tun. Hautprobleme sind immer
Zärtlichkeitsprobleme. Die Haut schreit, weil der Junge sich
keine Zärtlichkeit verschaffen kann. Dafür wird er mit immer
weniger Zärtlichkeit bestraft, und die Neurodermitis wird
schlimmer.

Er hatte sich immer sehr um seine Mutter bemüht, und jetzt

bemüht er sich um Frauen. Er lässt sich leicht von ihnen
beeinflussen und will ihnen jeden Wunsch erfüllen. Dafür
nimmt er sogar Quälereien in Kauf: Eine Frau hat ihm sogar

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erzählt, wie sie mit einem anderen Mann geschlafen hat. Die
Partnerinnen dieses Mannes waren immer wie seine Mutter: viel
Härte, wenig Zärtlichkeit. Daher diese schmerzhafte Unruhe in
ihm. Dabei hat er immer Angst, dass seine Partnerin ihn verlässt.
Als sie einmal von einer Reise zurückkam, fragte er sie: »Hast
du Lust auf mich?« Sie verneinte. Da fragte er gleich nach, ob
das jetzt für immer sei, und entwickelte Panikgefühle. Mit der
Nachfrage lief er seiner seelischen Verletzung förmlich nach. Er
sagt: »Ich habe Angst, ich bastle mir irgendetwas zurecht, suche
mir irgendetwas. Ich denke zum Beispiel daran, dass sie jetzt
jemand anderen gefunden hat. Ich habe einen immensen Drang,
sie zu sehen, fühle mich außerordentlich unruhig, kann mich
nicht konzentrieren, werde erst dann ruhig, wenn ich wieder mit
ihr zusammen bin.«

Das ist die definierte Frauensucht: Sie befriedigt nur, wenn er

mit ihr zusammen ist.

Der dritte Mann hatte sich Ruhe und Angenommensein von

der Frau gewünscht. Dieser Mann war von Anfang an in der
Gruppe dadurch hervorgetreten, dass er viel Mitgefühl für

Frauen hatte. Er hinterfragte sogar, ob er seine Männerrolle

behalten dürfe. Er fragte immer wieder: »Was bewegt Frauen?
Wie kann ich dafür sorgen, dass es der Frau gut geht?« Vor
Männern hatte er eine Riesenangst, fürchtete, von ihnen
belächelt zu werden. Er machte sich immer große Sorgen um
seine Mutter: Wenn sie krank war, ging es ihm schlecht.

Dieser Mann hat sich vasektomieren lassen (= Durchtrennung

des Samenleiters, Sterilisation des Mannes). Eines Tages
erzählte er uns, dass die Frau sich wünschte, dass er länger eine
Erektion habe, und er sagte in der Männergruppe: »Vor der
Vasektomie habe ich länger durchgehalten.« Wir Männer hatten
dann den Verdacht, dass er einen vorzeitigen Samenerguss habe.
Diese »Diagnose«, die sich später tatsächlich als falsch
herausstellte, hat ihn sehr geschmerzt und geärgert, aber er
konnte sich nicht dagegen wehren. Ja, er fragte sich sogar, ob er

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überhaupt Ärger äußern dürfe. In der Kindheit gab es für ihn ein
strenges Streitverbot. Und alles Männliche war ihm von der
Mutter als eklig, verfault, stinkend hingestellt worden, deshalb
wollte er kein Mann sein. Deshalb hatte er auch so empfindlich
auf »vorzeitiger Samenerguss« reagiert, weil das angeblich
typisch männlich ist, und männlich wollte er eben nicht sein.

Nach meinem Verständnis ist auch dieser Mann von seiner

Mutter missbraucht worden. Zwar nicht direkt sexuell, aber ich
nenne das symbiotischen Missbrauch: Die Mutter bindet den
Sohn stark an sich und lässt ihn nicht aus dieser Symbiose
heraus.

Der vierte Mann hatte sich mehr Mut und Selbstbewusstsein

gewünscht, wollte aber auch die Frau richtig sehen und seine
Projektionen und Übertragungen abbauen. Dieser Mann kam
erst nach langer Zeit an den wirklichen Kern seiner Probleme.
Er hatte starke Onaniephantasien und auch masochistische
Haltungen gegenüber Frauen, enorme Selbstzweifel. Er erlebte
merkwürdigerweise, dass er zunächst in eine Frau verliebt ist
und nach einer gewissen Zeit, drei Wochen oder auch ein oder
zwei Jahre, überfallsartig das Gefühl hat, mit dieser Frau nicht
mehr zusammenbleiben zu können. Er fühlt Panik, merkt, dass
seine Freundin an ihm herumnörgelt, dass er in der Beziehung
nicht so sein kann, wie er wirklich ist, dass er sich verstellen
muss. Er leidet unter diesem plötzlichen Gefühlswandel, fürchtet
die Trennung, hat aber in der Männergruppe immer wieder
darüber gesprochen, dass er so etwas wie eine vorauseilende
Selbstkritik hat, dass sein Gespräch immer mit vernichtender
Selbstkritik einhergeht:

»80 Prozent meines Denkens und Fühlens dreht sich um

Sexualität. Das bedrückt mich und raubt mir Kraft. Der
Hauptteil meiner Sexualität ist aber nicht die reale Praxis,
indem ich mit Frauen schlafe oder mit meiner Partnerin schlafe,
sondern sie spielt sich überwiegend im Kopf ab, in meiner
Phantasie. Die Phantasie kommt häufig. Wenn ich zum Beispiel

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auf der Straße eine Frau sehe, die ich nicht kenne, oder eine
Kollegin, die mich irgendwie anmacht, die ich attraktiv finde,
werde ich angeregt, kriege ich Lust, mit der zu schlafen. Ich
sehe diese Frau, sehe, dass sie mir gefällt. Meistens geht es um
Äußerlichkeiten. Ich bin dann aber lange mit ihr beschäftigt,
gehe überhaupt nicht auf sie zu. Aber es kommen Wünsche auf.
Ich will etwas von der Frau. Ich stelle mir dann vor, wie sie
aussehen könnte. Das bringt mich jeweils in arge Konflikte, zum
Beispiel mit meiner jeweiligen Partnerin. Sie reizt mich dann
eventuell nicht mehr in der gleichen Weise. Am Anfang war das
so, jetzt ist es nicht mehr so da. Ich habe nun Interesse am
Körper meiner Partnerin. Das heißt noch nicht, dass, wenn ich
auch Interesse an Körpern anderer Frauen habe, ich dann
untreu werde, sondern dass ich mich eben in der Phantasie mit
dieser Frau befasse. In meiner Beziehung werde ich dann
unglücklich, werde auch lustloser unter Umständen, habe keine
Lust mehr, mit der Freundin zu schlafen, und stelle mir andere
Frauen vor. Meine Phantasie ist in Bewegung. Ich sage mir
dann, dass das an meiner Beziehungslosigkeit liegt.«

In jahrelanger Arbeit an der Beziehung haben wir festgestellt,

dass er sich seiner damaligen Partnerin gegenüber überhaupt
nicht vertreten kann, dass er sich ihr gegenüber absolut
masochistisch verhält und dass er die Härte, die diese Frau
gelebt hat, überhaupt nicht bemerkt hat.

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Gesprächsthemen erotisch erfahrener

Männer

Erst wenn Männer zum Kern ihrer Probleme vorgedrungen

sind, können sie beginnen, sich zu entwickeln, daran zu arbeiten,
und allmählich ihre eingeübten Verhaltensmuster verändern.
Das ist kein einfacher Weg. Gespräche mit erfahrenen,
entwickelten Männern helfen über Klippen hinweg, geben
Hinweise auf Blockaden, Vorurteile und Verhaltensmuster und
eröffnen neue Möglichkeiten.

Ich will hier nur kurz zusammenstellen, worüber erotisch

erfahrene Männer sprechen. Viele dieser Themen sind in den
Beispielen eben angeklungen, auf manche werde ich im Verlauf
des Buches intensiver eingehen. Die Themenliste soll auch
Anregung sein für das Gespräch mit sich selbst und mit
Freunden.

1. Ängste, Hemmungen, Unsicherheit und Schüchternheit

Woher kommen sie? Wovor in unserer Lebensgeschichte haben
wir Angst? Was wollen wir nicht anrühren? Was verunsichert
uns?

2. Beschämungen und Demütigungen

Beschämen und demütigen wir andere? Was beschämt uns?

Wer demütigt uns? Das Gespräch soll vor allem auch
beinhalten, wie wir uns dagegen wehren und uns davor schützen
können.

3. Passivität

Der passive Mann entspricht nicht dem Klischee und wird

deshalb von vielen Männern nicht erkannt und erst recht nicht
thematisiert. Aber nur wer aktiv Verantwortung übernimmt,
wird zu einer erotischlebendigen Beziehung finden.

4. Hautkontakt und Streicheln

Das Bild vom »harten Kerl« verstellt vielen Männern den

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Zugang zu ihren weichen Seiten. Männer sollten sich über ihre
Bedürfnisse nach Zärtlichkeit und Streicheln austauschen, auch
um das Klischee »weiche Frau - harter Mann« aufzubrechen.

5. Sadomasochismus

Masochistische und sadistische Impulse werden von vielen

Männern verdrängt oder nur unter großen Schuldgefühlen
phantasiert. Das Gespräch unter Männern muss immer wieder
zurück in die Kindheit führen: Warum lasse ich mir Quälereien
gefallen? Warum quäle ich mich? Warum quäle ich meine
Partnerin? Ähnliches gilt für das Thema Lust auf Unterwerfung.

6. Untreue

Was suchen wir im Seitensprung, was die Partnerin nicht

bietet? Treiben uns Flucht, Sehn-Sucht oder Abenteuerlust?
Männer unter Männern sollten nach den wahren Ursachen
fragen: Prahlerei mit Eroberungen ist dabei ebenso wenig
angebracht wie quälende Selbstvorwürfe, notwendig ist der
fühlende Blick auf sich selbst. Das Gespräch unter Männern ist
hier deshalb notwendig, weil ich der Meinung bin, dass man
nicht jeden Kontakt mit Dritten der Partnerin erzählen sollte.

7. Partnerinnen nach dem Mutter-Muster

Viele Männer wiederholen mit der Frau die Mutter-

Beziehung. Das ändert sich erst, wenn sie sich mit dem kleinen
Jungen auseinander setzen, der sie einmal waren.

8. Trennungsangst

Angst vor dem Verlust der Partnerin ist die häufigste und

verdrängteste Angst der Männer. Doch wer von der
Partnerschaft abhängig ist, wird nie den Mut aufbringen, sich zu
einer gleichberechtigten Partnerschaft aufzumachen und auf
diesem Weg auch eine (zeitweise) Trennung in Kauf zu nehmen.
Männer können sich gegenseitig stärken und die Angst
gemeinsam bearbeiten.

9. Trennung

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Männer sollten über ihre Trennungserlebnisse sprechen.

Trennungen geben Hinweise auf Konflikte, sie ermöglichen die
Selbstkritik. Manche Trennung ist notwendig, wenn ein Mann
zu sich selbst finden möchte. Wie geht es mir jetzt? Geht es mir
besser? Was fehlt mir? Was habe ich gewonnen?

10. Eifersucht

Ein vollkommen natürliches Gefühl, das mit vielen Tabus

belegt ist. Nur das Gespräch bricht Tabus auf und lässt uns
entspannter mit unserer Eifersucht umgehen. Tabus und Zwänge
lassen die Eifersucht so omnipräsent werden, dass jede leichte,
lebendige, frivole, phantasievolle Erotik unmöglich wird. Und
sie verleitet uns dazu, die Frau einsperren zu wollen.

11. Phantasien

Männer sollten sich über alle sexuellen Phantasien

austauschen. Das heißt nicht, dass sie auch realisiert werden
müssen, aber wer sich die Phantasien verbietet, verbietet sich
den Zugang zu Gefühlen und Erotik.

12. Kontakt mit Männern

Habe ich Kontakt mit Männern? Dies ist eine zentrale Frage,

die sich Männer üblicherweise erst einmal nicht stellen, wenn es
um ihre Kontakte zu Frauen geht. Aber nur selbstbewusste
Männer, die sich in einer Gemeinschaft von Männern geborgen
fühlen, können Frauen ein vollwertiger, interessanter Partner
sein.

13. Vasektomie

Über die männliche Sterilisation muss zunächst einmal

sachlich informiert werden. Der Austausch mit Männern, die
Bescheid wissen oder sich selbst vielleicht vasektomieren
ließen, macht erst die Entscheidung möglich, ob der Eingriff für
den Mann wichtig oder notwendig ist.

14. Vorzeitiger Samenerguss

»Ich komme zu früh, die Frau hat keinen Orgasmus.«

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Leistungsdruck und Schuldgefühle entstehen aus einer Fixierung
auf den Orgasmus. Der Austausch mit erfahrenen Männern
eröffnet erotische Alternativen und einen neuen Blick auf das
»Problem«.

15. Selbstzweifel

Das Gespräch unter Männern ist nicht nur dazu da, Probleme

zu wälzen. Männer sollten sich gegenseitig stärken und
männliches Selbstbewusstsein aufbauen.

16. Verliebtbeitswahn

Die wahnhafte Verliebtheit ist meist auf ein bis zwei Monate

begrenzt. Manche Männer wollen nur diesen Wahn, fallen von
einer Verliebtheit in die andere, gehen von einer Frau zur
nächsten. Männer können diese »Don Juans« aus solchem Wahn
herausholen, ihnen helfen, sich von Frauen fern zu halten oder
auch mit einer Frau, die es wert ist, eine Beziehungsarbeit
aufzunehmen.

17. Nähe

Wie empfinde ich Nähe? Halte ich Nähe aus? Habe ich zu viel

Nähe? Bemühe ich mich um Nähe? Kann ich mich wieder
entfernen? Männergespräche geben Mut zur Nähe und zur
notwendigen Entfernung.

18. Kritik durch die Partnerin

Männer können mit Kritik ihrer Partnerin schlecht umgehen:

Entweder nehmen sie alles an, oder sie wehren alles ab. Das
Männergespräch ist der Weg, verständnisvolle Rückmeldungen
von außen zu bekommen: Kann meine Partnerin Recht haben?
Ist es völlig überzogen, was sie verlangt? Im Männergespräch
kann man üben, seine Position zu festigen und sicher zu
vertreten.

19. Die Frau wird unattraktiv

Wenn Attraktivität plötzlich verschwindet, stehen meist

andere Gefühle dahinter. Im Gespräch mit Männern können sie

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genauso erforscht werden wie das Problem, ständig Lust
(Sexaholic) auf Sex zu haben. Vorhandensein von Lust ebenso
wie Lustlosigkeit, das Beschreiben der Anziehungskraft des
weiblichen Körpers, das Sprechen über sein Interesse am Körper
der Frau - das alles gehört zum Gespräch unter Männern und hat
nichts mit dem zu tun, was am Stammtisch geprahlt wird.

20. Selbstbefriedigung

Fast alle tun es, Schuldgefühle sind nicht angebracht,

genießen sollte man es. Und da hilft der Kontakt mit Männern:
Wie machst du es? Was fühlst du dabei? Was denkst du dabei?

Bei allen Gesprächen ist wichtig, dass man auch über die

»Probleme« lachen kann. Erotik und Sexualität sind Bereiche,
die nur mit einer Portion Leichtigkeit und Humor gelingen.
Dieses miteinander Lachen im Männerkreis, Fröhlichkeit bis hin
zur Albernheit, kann der erste Schritt zu einer befreiteren
Sexualität sein.

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Pornographie ist Kampf und Gewalt

Ob politisch links oder rechts, alle wollen sich am

Frauenkörper delektieren. Pornographie ist nicht Anregung zur
Sexualität, sondern Pornographie ist Anstiftung zum Benutzen,
zum Demütigen und zum Lächerlich-Machen, zum Quälen und
zum Töten von Frauen durch Männer.

Volker Pilgrim

Ich will der Pornographie hier ein eigenes Kapitel widmen,

weil vor allem Männer glauben, dass Pornographie etwas mit
Erotik zu tun hat. Meiner Meinung nach ist Pornographie das
Gegenteil von Erotik. Pornographie ist Gewalt.

Mein erklärtes Ziel ist Gewaltlosigkeit. Ich bin nicht nur im

gesellschaftlichen Maßstab gegen Gewalt, zum Beispiel gegen
Kriege. Ich will auch im privaten Maßstab etwas gegen Gewalt
unternehmen, zum Beispiel dagegen, dass Männer Frauen und
Kinder gewalttätig behandeln, sie schlagen, ihnen Angst machen
oder nicht mit ihnen reden. Gewaltlosigkeit, Humanität und
Anständigkeit sind meine Ziele als Psychotherapeut und
Männerforscher. Anständigkeit und Anstand sind zwei
altmodische Worte geworden. Ich benutze die Begriffe bewusst,
weil ich es für wichtig halte, sich in Beziehungen anständig zu
benehmen.

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Was ist Pornographie?

Das Problem in der Porno-Debatte beginnt bei der Definition.

Wer sich nicht die Mühe macht, Pornographie zu definieren,
leistet einer Verschleierung und Diffusität Vorschub, die im
besten Fall unbewusst ist. Man kann aber auch unterstellen, dass
die Verschleierung Taktik ist, um nicht weiterdenken zu
müssen.

Ein generelles Problem der Porno-Debatte ist, dass es nur um

Porno-Verbot oder Porno-Begeisterung geht, nicht aber um
Alternativen. Wir müssten uns eigentlich dafür interessieren,
welche zärtlichen und sexuellen Bedürfnisse Kinder haben und
wie sie erzogen werden können, damit der Porno-Konsum nicht
nötig wird. Diese meiner Meinung nach entscheidende Frage
wird überhaupt nicht diskutiert.

Matthias Frings, der im Fernsehen die Sendung »Liebe

Sünde« moderierte, gesteht: »Das Definitionsproblem des
Begriffes›Pornographie‹ist bekannt und nicht gelöst... Ich
glaube, dass es nicht lösbar ist... Wer will Pornographie von
Kunst trennen?« Diese Aussage ist für einen Mann, der sich
angeblich mit dem Thema befasst hat, ein Armutszeugnis. Er
schreibt: »Es kann nicht darum gehen, die Darstellung von
sexuellen Inhalten zu verhindern.« Da stimme ich ihm zu.
Sexualität ist ein wichtiger Teil unserer Existenz. Frings meint,
dass man Sexualität ohne Verantwortung praktizieren können
muss, und hier widerspreche ich heftig: Sexualität ohne
Verantwortung ist etwas Furchtbares. Gerade in der Sexualität
müssen wir Verantwortung übernehmen.

Ein Mann aus der Männergruppe erzählte, seine Freundin

wolle keine Präservative und sie beanspruche freie Sexualität für
sich, wolle ihm nicht treu sein. Das ist Sexualität ohne
Verantwortung: Beide haben keinen Aids-Test gemacht,
riskieren also eine Infektion mit Aids und muten sich den Tod

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zu.

Frings tritt ein »für das Recht eines jeden, anzuschauen, was

er will«. Wenn also im Film ein Mann eine Frau quält, und ein
Mann schaut begeistert zu, dann will Frings das Recht
durchsetzen, dass er das darf. Ich weiß, ich kann das nicht
verhindern. Die Porno-Industrie ist enorm stark. Aber ich frage
nach der Erziehung: Was ist mit dem Mann in der Kindheit
geschehen, dass er mit Lust und Befriedigung zuschaut, wenn
eine Frau vo n einem Mann gequält wird? Das ist nicht natürlich,
das ist von der Kultur anerzogen worden.

Ganz anders äußert sich der Autor Volker Pilgrim zur

Pornographie: »Ich kenne den Unterschied zwischen Kunst und
Pornographie. Rembrandt, Rubens, Raffael, Tizian, Tintoretto,
Watteau, die etwa zeigen Mann und Frau in sexueller Brunst.
Leda mit dem Schwan, Europa mit dem Stier, Frauen im
Wollen, in Vorbereitung, in der Bewegung, im Rausch. Daran
habe ich meine Freude gefunden.« Zur Pornographie sagt
Pilgrim: »Die Frau wird als wollendes Subjekt in der
Pornographie gänzlich ausgeschaltet. Sie ist nicht einmal mehr
erkennbar als Wesen, das sich aus eigenem Willen als Objekt
darstellt.« In der Pornographie wird die Frau also erkennbar als
dem Willen des Mannes unterworfen dargestellt, als willenloses
Objekt. Nach Pilgrim ist sie nicht einmal mehr Gegenstand der
Lust, sondern nur noch Gegenstand der Demütigung, der Qual
und des Sterbens unter Folter. Für ihn ist Pornographie
»Hexenverfolgung per Celluloid. Pornographie ist die Theorie,
Vergewaltigung die Praxis.«

Nicht die nackte Darstellung einer Frau ist Pornographie,

nicht die Darstellung eines Sexualaktes ist Pornographie. In der
Pornographie werden die Frauen benutzt, voyeuristisch
ausgeforscht, erniedrigt und gequält. Frauen werden als
gefährliche Wesen dargestellt.

Nach drei Männern will ich nun Andrea Dworkin zitieren aus

ihrem Buch »Pornographie - Männer beherrschen Frauen«. Das

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ist mir deshalb wichtig, weil Männer im Allgemeinen bei
diesem Thema nicht leiden. Dworkin schreibt anders, sie spricht
auch über Gefühle: »Beim Schreiben dieses Buches habe ich die
extremste Isolation erfahren, die ich je als Autorin kannte. Ich
lebte in einer Welt der gefesselten und zerschnittenen
Frauenkörper, der Gruppenvergewaltigungen, der Folter von
Frauen durch Männer, aber auch lesbische Vergewaltigungen,
Herausreißen von Eingeweiden, Exkrementen, Urin.« Das Lesen
und Betrachten der Belege, die Andrea Dworkin für ihr Buch
brauchte, machte sie körperlich krank, ängstlich, leicht
irritierbar. Sie hatte das Gefühl, sich niemandem verständlich
machen zu können, wurde von niemandem ernst genommen:
»Frauen wussten nicht Bescheid über das Thema, Männer
klopften die üblichen Sprüche.« Andrea Dworkin definiert
Pornographie als das, was Männer Frauen antun. »Porne« heißt
Hure, und »graphos« heißt schreiben, also: über Huren
schreiben; mittlerweile sind natürlich optische Darstellungen
dazugekommen. Pornographie heißt nicht - das grenzt Dworkin
deutlich ab - über Sexualität schreiben, heißt nicht Darstellung
von Erotik, nicht Darstellung sexueller Handlungen, nicht
Darstellung nackter Körper, nicht Wiedergabe sexueller Dinge.
Ich füge hinzu: Pornographie heißt auch nicht Beschreibung von
Zärtlichkeit. Das hat nichts mit Pornographie zu tun.

Pornographie heißt laut Dworkin Darstellung von Frauen als

wertlose Huren. Huren sind die niedrigste Art der Prostituierten.
Pornographie ist die Darstellung von Gewalt im Zusammenhang
mit der Herabsetzung von Frauen. Andrea Dworkin: »Die
Tatsache, dass man unter Pornographie die Wiedergabe
sexueller Dinge versteht, belegt, wieweit die Bewertung von
Frauen als niedrige Huren verbreitet ist und dass weibliche
Sexualität als niedrig angesehen wird, dass der wirkliche Spaß
bei der Sexualität in der Herabsetzung von Frauen liegt, dass der
weibliche Körper, besonders die Genitalien, schmutzig und
bedrohlich sind.«

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Man muss natürlich auch sehen: Es gibt eine Menge Frauen,

die das mitmachen, die an solchen Darstellungen teilnehmen.
Die sind mitverantwortlich und mitschuldig, und wir müssen uns
fragen: Warum tun Frauen das und übernehmen nicht die
Verantwortung für ihre Befreiung und für ihre Menschenwürde?

Die Zeitschrift EMMA definiert Pornographie als: »Sexuelle

Darstellung von Frauen oder Mädchen, die verharmlosende oder
verherrlichende, deutlich erniedrigende Tendenz enthalten.«

Die staatliche Definition findet sich im so genannten

Literaturgesetz, dem § 184 des Strafgesetzbuches:
»Darstellungen in Wort und Bild, die auf Erregung eines
sexuellen Reizes beim Betrachter abzielen und dabei die im
Einklang mit allgemeiner gesellschaftlicher Wertvorstellung
gezogenen Grenzen sexuellen Anstands eindeutig
überschreiten.« Diese Definition im Literaturgesetz ist laut Alice
Schwarzer eine eindeutig männliche, denn: »Es gibt keine für
Frau und Mann gleichermaßen gültige Grenze des sexuellen
Anstandes.« Was für Männer meist noch in Ordnung ist,
erniedrigt Frauen meistens schon.

Wenn der Gesetzgeber das nicht berücksichtigt, geht er in die

Irre.

Ich möchte hinzufügen, dass das nicht nur frauen-, sondern

auch in höchstem Maße männerfeindlich ist. Es gibt auch
sensible und liebesfähige Männer, die unter solchen
Darstellungen leiden.

Irmgard Hülsemann schreibt in ihrem Buch »Mit Lust und

Eigensinn«, dass Pornographie Frauen in ihrer Sexualität
drosselt. Sie fühlen sich von den Männern gekränkt, fühlen sich
mit den Porno-Models verglichen, fürchten, im sexuellen
Beisammensein nicht mehr selbst als Person gemeint zu sein:
»Pornographie ist die Aufforderung zur männlichen Herrschaft
über die Frau, Frauenhass, abwertender Blick, Aufforderung zur
Machtausübung und Gewaltanwendung gegen die Frau.«

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Zusammenfassend: Pornographie ist vor allem Männersache,

es geht hier um Männerphantasien, und Männerphantasien sind
häufig Gewaltäußerungen. Pornographie ist keine Kunstform,
sondern ein Kommerzgeschehen. Es wird enorm viel Geld
dadurch verdient, dass Frauen nicht mehr als Subjekte
dargestellt werden, die von sich aus handeln können, sondern als
ein Objekt, das erniedrigt wird. Nicht jede Darstellung nackter
Körper und sexueller Inhalte ist pornographisch, aber wenn die
Frau als erniedrigtes Objekt und Gegenstand von
Männerphantasien dargestellt wird, dann ist das Pornographie.

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Was ist lustvolle Sexualität?

Wer sich mit der Definition von Pornographie auseinander

setzt, muss sich die alternative Frage stellen: Was ist lustvolle
Sexualität? Denn die Aufforderung zu Lust, zum Werben um
Lust ist keine Pornographie. Pornographie steigert die sexuelle
Lust nicht.

Eine Mindestbedingung für die Sexualität zwischen Mann und

Frau ist, dass nichts ohne den ausdrücklich geäußerten Willen
der Frau geschieht. Alles sollte vorher besprochen werden, und
das ist nicht einfach.

Männer halten mir immer wieder entgegen: »Da wird ja alles

lustlos, wenn man da vorher drüber spricht.« Sie behaupten,
dann werde alles langweilig und unspontan. Diese
Gegenargumente beweisen mir nur, dass diese Männer mit
Frauen noch nie über Sexualität gesprochen haben. Sonst
wüssten sie, dass nichts lustlos wird, nur weil man darüber
spricht und sich darüber im Klaren ist, was man gegenseitig
will. Wenn man sich intensiv und ernsthaft gegenseitig die
sexuellen und zärtlichen Wünsche mitgeteilt und geschildert hat,
dann wird auch im spontanen Akt alles wieder spontan sein,
angereichert mit dem Wissen, welche Lust die Frau dabei
empfindet. Wobei ich nicht meine, dass man das vor jedem
Sexualakt wieder durchsprechen muss.

Der nächste Einwand ist: »Und wenn die Frau Gewalt will?«

Meiner Meinung nach sind Frauen, die Schläge und andere
Gewalt als erotisch und lustvoll erleben, patriarchal und
frauenfeindlich infiziert. Meinetwegen soll die Frau das halten,
wie sie will. Aber die Frage ist, ob der Mann so etwas
mitmacht? Das sollte bei ihm eher Unlust und Ekel auslösen,
und er sollte das ablehnen. Meiner Meinung nach sind das
ohnehin Männermärchen, dass Frauen Gewalt wollen und
gequält werden wollen. Die meisten Frauen wollen das nicht.

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Es kann ja auch sein - und das ist die nächste Klippe -, dass

die Frau auf die Frage: »Was willst du, was wünschst du dir?«
nur Dinge will, von denen sie weiß, dass der Mann sie auch will,
weil sie Angst hat, ihn zu verlieren. Sie weiß nicht, dass sie ihre
Gefühle nicht kennt, ist sich nicht bewusst, dass sie nicht Nein
sagen kann, selbst die Angst, den Mann zu verlieren, is t
womöglich unbewusst. Wir Männer müssen uns bewusst
machen, dass die Zustimmung der Frau zu irgendwelchen von
uns gewünschten Perversitäten noch nicht ausreicht, um zu
wissen, was sie wirklich will. Das kompliziert die Sache.

Hier ist der Punkt, wo auch die Frauen mit ihrer Arbeit gegen

das Patriarchat beginnen müssten: Sie müssten sich ihrer
eigenen verdrängten Wehrhaftigkeit bewusst werden, müssten
das Nein-Sagen lernen und lernen, ihre wirklichen Bedürfnisse
zu benennen.

Irmgard Hülsemann beschreibt in »Mit Lust und Eigensinn«

einiges, was Frauen wollen. Sie wünschen sich einen ruhigen,
geduldigen Mann, der viel Zeit für sie hat. »Sie wollen geküsst
und gestreichelt werden. Sie wollen richtige Gespräche, auch
über Sexualität, nicht immer nur Alltagsgespräche und dann die
Forderung nach Sex.« Doch die meisten Männer wollen nicht
über Sexualität sprechen, weil sie das dazu notwendige
Einfühlungsvermögen und Taktgefühl nicht haben und auch
nicht entwickeln wollen. Frauen wollen auch nicht immer das
Gleiche im Bett, allerdings wünsche ich mir dann von den
Frauen, dass sie den Mut aufbringen und ihren Männern einmal
sagen, was sie langweilt.

Lustvolle Sexualität ist nur möglich, wenn wirklich Erotik da

ist. Und die Voraussetzung für Erotik ist, dass die Mensche n, die
miteinander zu tun haben, sich wechselseitig respektieren und
achten und nicht verletzen. Wodurch eine Frau sich verletzt
fühlt, das ist individuell sehr verschieden. Wer nicht bereit ist,
nachzufragen und zuzuhören, übt schon Gewalt aus.

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Pornokonsum und Gewalt

Steigert Pornographie die Gewalt gegen die Frau? Ich meine:

Ja.

Matthias Frings dagegen sagt, man dürfe durchaus

pornographische Phantasien ausleben: »Sexuelle Phantasie ist
nicht die Realität.« Er kritisiert an den Anti-Porno-Schriften,
dass die Filmszenen so beschrieben werden, als wären sie
Wirklichkeit. Er meint, man könne die Filmszenen ruhig
genießen, ohne frauenentwertend zu sein. Er behauptet: »Es gibt
keine direkte Verbindung zwischen Pornokonsum und Gewalt.«

Aber Pornographie suggerie rt, dass dem Mann Gewalt gegen

die Frau erlaubt ist. Man weiß mittlerweile, dass Filme und
pornographische Darstellungen zur Imitation und Weiterführung
geradezu auffordern. Das Anschauen stumpft gegen Gewalt ab,
Konsum ist passives Dulden der Gewalt. Sarah Haffner zitiert in
ihrem Buch über Gewalt die Antwort eines Mannes auf die
Frage, warum er nicht eingeschritten sei, als auf der Straße eine

Frau von einem Mann attackiert wurde: »Ich dachte, es sei

seine Frau.« Das ist Abstumpfung gegen Gewalt.

Pilgrim schreibt: »Mit zunehmender Pornographie steigt auch

die Gewalt gegen Frauen... Pornographie entzügelt die
männliche Gewalt nicht nur, sie stößt auch auf eine latent
vorhandene Bereitschaft der Männer, sich sadistisch gegenüber
Frauen zu benehmen. Das Gewaltpotenzial ist in den Männern
schon angelegt und bekommt mit Hilfe von Porno-Erzeugnissen
einen der ganz vorzüglichsten Wege seiner Freilegung geebnet.«
Hier muss man natürlich fragen: Was meint Pilgrim mit
»angelegt«? Die Gefahr besteht, dass das so interpretiert wird,
als sei Gewaltbereitschaft den Männern angeboren. Ich meine,
dass das Gewaltpotenzial der Männer gegen Frauen in der
Kindheit entstanden ist, weil meist nur die Mütter die Söhne
erziehen und auch missbrauchen. Die Männer rächen sich bei

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der Frau für das, was sie bei ihrer Mutter erlitten haben. Die
Pornographie ist Distanz zur Frau: Lustausübung, ohne der Frau
Lust zu gönnen.

Der Mann stumpft nicht nur ab, er wird sogar zu Gewalt

stimuliert. Alice Schwarzer zitiert in ihrem Buch »Von Liebe
und Hass« aus einem Artikel in der Zeit: »Die neuere
psychologische Wirkungsforschung beweist eindeutig direkte
Zusammenhänge zwischen dem Konsum von Pornographie und
der Zunahme sexueller Aggressionen von Männern...
Pornovideos mindern das Unrechtsbewusstsein, lassen das
Horrende als normal erscheinen, bauen also Hemmungen ab. Sie
verbreiten das Verbrechen.« Das wird als Stimulationstheorie
bezeichnet.

Eingebracht in die Diskussion wird dann immer auch die

Katharsis- Theorie, etwa dass Fußball-Anschauen Gewalt
abbaue. Für Fußball ist längst das Gegenteil bewiesen, denn die
Gewalt beginnt immer erst nach dem Spiel.

Als Tiefenpsychologe meine ich, dass die Frage, ob einer

kathartisch oder zu Gewalt stimuliert auf Porno-Konsum
reagiert, sehr stark von der Persönlichkeit abhängt.
Verschiedene Männer reagieren verschieden. Wenn ein Mann in
der Kindheit viel Gewalt erlebt hat, ist die Wahrscheinlichkeit,
dass er Gewalt an Schwächere weitergibt, erheblich höher, als
wenn er wenig Gewalt erlebt hat.

»Männer, die Pornographie konsumieren, leben Distanz zu

Männern.« Das ist eine Aussage von Helmut Ziegler, die mir
sehr wichtig erscheint. Männer konsumieren Pornos ja nicht
offen, gemeinsam und lustvoll, sondern gesenkten Blicks, allein
und mit großer Unsicherheit. Sie sprechen nicht darüber, sie
wissen nicht voneinander und schämen sich, ihre Gefühle
konkret zuzugeben. Pornographie führt laut Ziegler nicht zum
Kennenlernen neuer Menschen, sondern in die Isolation - und
das ist Gewalt gegen sich selbst.

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Haben Männer Angst vo r der Sexualität? Meine Antwort

vorneweg: Nein, wir haben keine Angst vor der Sexualität. Vor
allem Männer haben keine Angst vor der Sexualität. Wenn sie
Angst hätten, würden sie nicht zu Prostituierten gehen und
Pornos konsumieren.

Aber sie haben Angst vor der Erotik, weil Erotik eine gewisse

Nähe und ein In-Beziehung-Setzen voraussetzt, was ja bei der
heute überwiegend praktizierten, so genannten Sexualität
beinahe gar nicht geschieht. Männer haben Angst vor einem
sensiblen Miteinander-Umgehen, vor Nähe, vor Bindung, vor
Dauer in der Beziehung.

Erotik ist für mich einfach Lebendigkeit. Ein lebendiger

Mensch wirkt schon erotisch, auch wenn er gerade nichts
Körperliches oder Sexuelles macht, denkt oder fühlt. Ein
erotischer Mensch ist begeisterungsfähig, nicht nur für den
anderen Menschen, auch für ein Buch, eine Pflanze, die Natur.
Zur Erotik gehört Zärtlichkeit; das ist das Geschehen zwischen
zwei Menschen, das Nähe stiftet und Verbindlichkeit erfordert.
Sexualität dagegen läuft meist nur technisch ab, und dann wird
häufig noch behauptet, dass der Mensch nichts anderes will.

Frings sagt, Pornographie sei ein Kampf gegen Sexualität,

und er verwechselt dabei Erotik mit Sexualität. Er meint auch,
dass es falsch sei, Angst, Unsicherheit und Zweifel zu wecken.
Da bin ich ganz anderer Meinung: Ich halte es für wichtig, dass
jemand seine Angst, seine Unsicherheit und seine Selbstzweifel
wahrnimmt. Das Problem ist nur: Wie kann man sie wecken?

Denn ich kann mir ja nicht einfach vornehmen: »Ich habe

jetzt Angst.« Das haben wir alles sehr gut verdrängt, und ich
habe auch keine einfache Antwort darauf, wie man die
Menschen zum Selbstzweifeln bringt.

Noch einmal zu Matthias Frings, und er steht da wohl für die

Mehrheit in unserer Kultur: Das Hauptproblem ist, dass er
Pornographie als sexuelles Thema interpretiert. Pornographie ist

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aber ein Gewaltthema, und das Problem ist, dass Männer zu
wenig Angst davor haben und ihre Angst vor Gewalt
verdrängen.

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Gewinn beim Pornokonsum

Welche Bedürfnisse befriedigt nun die Pornographie? Volker

Pilgrim: »Pornographie ist die Anstiftung zum Benutzen, zum
Demütigen von Frauen, zum Lächerlich-Machen, zum Quälen
und zum Töten von Frauen.«

Alice Schwarzer meint, die Männer »haben ein Bedürfnis,

ihre Verachtung der Frau auszuleben, die Frau zu erniedrigen.
Und die Männerphantasien, die in der Pornographie ja Gestalt
annehmen sollen, sind Phantasien von Macht über die
unterlegene Frau.« Die angebliche »männliche Überlegenheit«
ist ein uralter Bestandteil männlicher Weltorientierung. Wer als
Mann ehrlich mit sich umgeht, entdeckt das in sich: Körperlich
ist man sowieso stärker, man denkt auch, man ist klüger und
tüchtiger, geduldiger, ausdauernder, sportlicher. Ich fürchte, das
sind alles Irrtümer, entstanden aus der Angst, die Frau könnte
uns ebenbürtig sein. In der Pornographie zelebrieren Männer
ihre Macht, beim Porno-Konsum haben sie
Allmachtsphantasien.

Adler interpretiert den Wunsch nach Macht als ein

anerzogenes Motiv: Macht will nur ein Mensch ausüben, der
von klein auf stark unterdrückt worden ist. Ein Mensch, der frei
aufwächst und mit seiner Person von klein auf geachtet wird,
wird kein Bedürfnis nach Macht über andere entwickeln.

Die Frau ist für die meisten Männer in unserer Kultur ein

verfügbares Wesen, sie steht zur Verfügung: Ich muss mich
nicht um sie bemühen, sie ist da, wenn ich sie brauche, ich kann
sie entwerten, sie ist wertloser als ein Mann, ich muss sie nicht
ernst nehmen. Dazu gehört auch der Impuls: »Die Frau darf
mich nicht bestimmen. Sie darf nicht Recht haben, gegen die
muss ich mich durchsetzen, sonst bin ich ein Waschlappen.«
Also muss er die Frau beherrschen, und das geht am besten,
indem man sie in Armut hält und erniedrigt.

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In der Pornographie ist die Frau vollkommen entpersönlicht,

entmenschlicht und auf bloße Benutzbarkeit reduziert. Viele
Männer haben eine Geliebte: Das Wort müsste man ändern auf
»Benutzte«: Wenn er Zeit hat zwischen Arbeit und Familie,
kommt er zu ihr, und sie ist dann benutzbar, steht zur
Verfügung. Andrea Dworkin beschreibt: »Der wirkliche Spaß
bei der sexuellen Betätigung liegt in der Herabsetzung der
Frau... Mutter bedeutet gefickt werden. Vater bedeutet selbst
ficken.«

Joachim Parpat hat einmal Pornographie analysiert und dabei

verschiedene Motive herausgearbeitet. Als erstes Motiv nennt er
die Angst vor der Frau: Im Porno unterdrückt der Mann die
Frau, von der er eigentlich abhängig ist und gegen die er sich
dauernd abgrenzen will. Im Porno fühlt er sich groß und befreit
und wird dann sogar süchtig danach.

Viele Männer befriedigen mit der Porno graphie ihre

Verwöhnungswünsche. Das bezieht Parpat nicht nur auf
sexuelle Verwöhnungswünsche. Männer sind auch im Beruf
ständigem Druck ausgesetzt, haben Vorgesetzte und
Zielvorgaben und schwierige Kunden. Sie kompensieren dies in
der Verwöhnung: Im Porno darf der Mann herrschen, das
entlastet vom Druck.

Im Porno werden auch oft Machtbeweise für den Mann

inszeniert. Die Frau ist das naive Dummchen, das geil auf den
Mann ist, und der Mann spielt den Lehrer: Er der Chef, sie die
Sekretärin, er der Handwerker, sie die Hausfrau. Der Mann, der
ja im realen Leben häufig in der Rolle des Nicht-Herrschenden
ist, identifiziert sich mit dem herrschenden Mann im Porno.

Pornographie befriedigt das Bedürfnis nach Sadismus: In

pornographischen Inszenierungen kommt es häufig vor, dass die
Frau fremdgeht und dafür bestraft wird. Prinzipiell gilt: Die Frau
ist immer schuld, sie ist ein Wesen, das unterworfen werden
muss von einem starken Mann. Die Emanzipation war nur ein
Irrtum, die Frau muss wieder vernünftig werden und sich vom

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Mann vergewaltigen lassen.

Gestützt wird die Fiktion, dass die Frau sexuelle Gewalt will,

durch die Veröffentlichung von sexuellen Phantasien von
Frauen. Aber es wird nicht nachgefragt, woher solche
Gewaltphantasien kommen und inwieweit sie in die Realität
umgesetzt werden. Pornographie verbreitet das Märchen von der
immer geilen Frau, die dauernd Sexualität will. Das ist eine
reine Projektion des technisch orientierten Mannes, der
überhaupt nicht mehr erotisch sein kann.

Ein weiteres Porno-Motiv: Die untreue Frau kehrt reumütig

zu ihrem Mann zurück und muss ihm nun Gunstbeweise
abliefern. Oder die lesbische Frau wendet sich schließlich doch
dem Mann zu.

In der Realität ist es so, dass sich viele Porno-Darstellerinnen

enorm ekeln und nur unter Drogen in der Lage sind, diese
Szenen darzustellen.

Pornographie befriedigt also nicht die Bedürfnisse nach

sexueller Begegnung und Erotik. Befriedigt wird vielmehr das
Bedürfnis der Männer nach Verwöhnung. Er muss sich nicht
entwickeln, er muss sich nicht in Frage stellen, er braucht nicht
an sich zu arbeiten, er braucht keine Verantwortung zu
übernehmen. Er kann den Porno konsumieren und es sich
bequem einrichten. Pornokonsum ist vielleicht sogar eine
Reaktion auf die Frauenemanzipation, die Intensivierung des
Kampfes gegen die Frauen. Ich sehe darin auch deutlich
reaktionäre Tendenzen. Rechtsextreme Persönlichkeiten zeigen
genau diese Strukturen: gewalttätig und verantwortungslos.

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Das Pornobedürfnis ist anerzogen

Wie entsteht dieses Bedürfnis nach Macht und

Gewaltausübung? Männer sind nicht von Natur aus Monster,
aber sie sind hilflos. Pornographie ist der Ersatz für
Gleichberechtigung, Nähe und verantwortungsvollen Austausch
mit der Frau, weil die meisten Männer nicht gelernt haben, mit
Frauen umzugehen.

Die Gewaltphantasien kommen aus der Kindheit, und deshalb

ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, was man in
der Kindheit erlebt hat. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass
Mutter und Vater sich bekämpft haben und dass meine Mutter
mich geschlagen und gleich hinterher wieder gestreichelt hat. So
kam eine Kopplung von Zärtlichkeit und Gewalt zustande. Es
lohnt sich für jeden, in seiner Kindheit nachzuforschen, was er
da erlebt hat, um zu verstehen, warum er nun gerade diese
Praxis, diese Vorliebe oder diese Phantasie entwickelt.

Auch Volker Pilgrim beschreibt das ähnlich: Der Hass auf

Frauen, der in der Pornographie seine Ausbildung erfährt,
stammt aus der Beziehung des Mannes zu seiner Mutter. Die
Mutter ist bei Pilgrim steril, weil entweder keine Sexualität
zwischen den Eltern stattfindet, zumindest wird nicht darüber
gesprochen, oder sie ist eine Madonna, die auf den Sockel
gehoben wird und zu der man auch keine richtige Beziehung
mehr entwickeln kann.

Was Pilgrim. nicht sagt: Auch der Vater ist sexuell stillgelegt,

aber die Mutter-Sohn-Beziehung, die ist nicht stillgelegt. Etwa
die Hälfte der Söhne wird von ihren Müttern sexuell
ausgebeutet. Das wird von vielen Seiten vehement bestritten und
ist auch für die Betroffenen nur schwer zugänglich. Es erfordert
meist jahrelange Arbeit, bis die Männer sich das bewusst
machen können.

Alice Schwarzer sagt: »In der traditionellen patriarchalen

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Familie, die heute zwar angeknackst, aber keineswegs in ihren
Grundfesten erschüttert ist, üben Männer und Frauen tagtäglich
die Achtung und Verachtung, das Geben und Nehmen, das Oben
und Unten. Und hier steht das Fundament für die Ungleichheit
in der Welt.« Das wird sich erst verändern, wenn der Mann
tatsächlich genauso viel Zeit in die Beschäftigung mit den
Kindern und die Beziehung zu ihnen investiert wie die Frau.

Immer wieder wird behauptet, die Sexualität sei ein Trieb, ein

angeborener, natürlicher Trieb. Aber unser »Trieb« ist kulturell
so stark beeinflusst, dass wenig Natur bleibt. Wir praktizieren
Kultur, und unsere Kultur ist doch eine Gewaltkultur, eine
Kultur der Herrschaft der Männer. Zugleich wird das männliche
Kind in der Familie gewalttätig behandelt, angeschwiegen,
geschlagen, gedemütigt, verraten, ausgebeutet, im Stich gelassen
und überfordert. Die Söhne waren also als Kinder die Opfer und
haben gleichzeitig gesehen, wie man es als Großer »richtig«
macht.

Ein wichtiger Autor in diesem Zusammenhang ist Arno

Gruen. Wir müssen davon ausgehen, dass nicht die so genannten
psychisch Kranken die gefährlichen in unserer Kultur sind,
gefährlich sind oftmals die normal Erscheinenden. Arno Gruen
schreibt in seinem Buch »Wahnsinn der Normalität«: »Mütter
übernehmen die Sichtweise der Männer, akzeptieren den
Mythos der Macht und verraten sich dadurch selbst. Viel zu
viele Frauen glauben an die männliche Überlegenheit, glauben
daran, dass der Mann überlegen ist, und verneinen auch
zuweilen mütterliche Fürsorge. Es beginnen Frauen, weibliche
Werte zu verachten, und machen ihre eigenen Kinder zu
Objekten von Missbrauch, aber auch vo n einer unechten
Zuneigung.« Viele Mütter bewundern ihre Söhne, himmeln sie
an, stellen sie auf einen Sockel und verpäppeln sie. Das ist der
Ursprung männlichen Größenwahns. Die Mutter beabsichtigt
damit eigentlich etwas anderes: Sie will im Sohn einen
Verbündeten, der sie am Vater rächt. Doch der Sohn will sich

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nicht mit dem schwachen Weiblichen identifizieren, er ist lieber
so stark und frei wie der Vater und behandelt Frauen ebenso wie
er.

Die Aufgabe für uns Männer lautet, unsere Kindheit zu

erforschen, damit wir verstehen, woher unsere Bedürfnisse nach
Allmachtserlebnissen, Macht, Verwöhnung oder Gewalt
kommen, die dem Pornokonsum zugrunde liegen. Es gilt die
Wurzeln von Ohnmachtsgefühlen verstehen zu lernen.

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Gegen Pornographie hilft nur Aufklärung

Verbote, das habe ich bereits erwähnt, erscheinen mir sinnlos.

Pornographie kann man sowieso nicht verbieten; solange dieses
starke Bedürfnis danach da ist, findet es auch seine Wege.

Die Pornographie ist außerdem ein blühender Geschäftszweig,

an dem der Staat enorm viel verdient.

Pilgrim sagt: »Männer sollten einfach darauf verzichten, auf

diese grauenhaft ausbeuterischen Anregungspunkte.« Das ist
aber leider sehr schwierig für Männer, sie sind ja dazu erzogen
worden. Man muss also die Erziehung verändern. Das wiederum
heißt: Man muss die Sexualität der Eltern verändern, ihren
Umgang damit, man muss den Menschen Erotik beibringen,
man muss die patriarchalen Machtverhältnisse verändern.
Überhaupt müsste die Macht raus und an ihre Stelle die
Gleichberechtigung treten.

Das kann man nicht verordnen, das ist ein langer Prozess, an

dessen Anfang die Aufklärung stehen muss. Elmar Kraushaar
zitiert einen Mann zum Porno-Konsum: »Vielleicht kriege ich
hier schöne Frauen, die dauernd bereit sind, die keinen stehen
lassen. Porno ist meine alltägliche Kost, das hat doch mit Sucht
nichts zu tun.« Das ist die typische Aussage eines Mannes. Er
weiß nicht, was Sucht ist, und schon gar nicht, dass Porno-
Konsum auch Suchttendenzen beinhaltet. Der Mann muss
zuallererst aufgeklärt werden, was Sucht überhaupt ist.

Kraushaar zitiert einen weiteren Porno-Konsumenten, 31

Jahre alt, Germanistik-Student: »Mir geht es nicht gut dabei,
doch passiert es immer wieder. Die Geschichte des jungen
Mannes, der nach dem Konsum harter Pornos eine Frau
vergewaltigte und dann tötete, ging mir noch lange durch den
Kopf. Ich fühlte mich beschissen und hilflos. Ich bin kein
Vergewaltiger. Und dann hatte ich Angst, dass mir so etwas
auch mal passiert, wie bei Drogen: Du fängst an mit einem

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neuen Joint und la ndest bei härteren Sachen. Und dann weißt du
nicht mehr, ob du nicht auch einmal ausrastest dabei.«

Eine wichtige Stellungnahme, weil dieser Mann auch

ausdrückt, dass er nicht genau weiß, wozu er fähig ist. Helfen,
aus dieser Unsicherheit zu entkommen, aus den Schuldgefühlen
und Ängsten, kann der Mann sich nur, indem er sich selbst
kennen lernt, in intensiver Männerarbeit, in Selbsterforschung
zusammen mit anderen Männern.

Solche Männerarbeit ist immer noch die Ausnahme. Männer

müssten Männerkenntnis erwerben. Männerkenntnis ist eine
Form von Menschenkenntnis. Wir erwerben sie nur über die
Erforschung der eigenen Kindheit. Wir müssen die Macht, die
erlittene Machtausübung in der Familie, die Demütigungen
aufarbeiten. Das ist Angstarbeit, denn wir müssen in die Angst
hineingehen, wenn wir uns mit diesen Themen beschäftigen.

Wichtig in der Männerarbeit ist auch, die Frauensucht zu

bearbeiten, nicht mehr abhängig von den weiblichen Stärken zu
sein, sondern sich selbst weibliche Werte zu erarbeiten,
weibliche Werte für Männer nutzbar zu machen, etwa aus
Schwäche Kraft zu ziehen oder aus Unsicherheit Erkenntnisse.
Das wäre der Weg, und dieser Weg ist auch beschreitbar. Der
Mann hätte mehr Unsicherheit zu ertragen und mehr Angst.
Aber er hätte auch einen Gewinn dabei: interessante
Begegnungen.

Es gibt tatsächlich Gewinne beim Pornoverzicht. Aber diese

Arbeit zu leisten ist schwer. Trotzdem möchte ich Männern
gerne sagen: Es ist möglich, daran zu arbeiten. Es ist möglich,
mit Frauen bessere, stabilere und menschenwürdigere
Beziehungen herzustellen. Es lohnt sich, auf Pornographie zu
verzichten.

Alfred Adler sagte über seine Lehre: »Die

Individualpsychologie fordert weder die Unterdrückung
berechtigter noch unberechtigter Wünsche.« Dieses Zitat halte

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ich für sehr wichtig. Unterdrückung des Wunsches nach
Pornographie ist also nicht Sinn der Sache. Adler weiter: »Aber
sie [die Individualpsychologie] lehrt, dass unberechtigte
Wünsche als gegen das Gemeinschaftsgefühl verstoßend
anerkannt werden müssen und durch ein Plus an sozialem
Interesse zum Verschwinden, nicht zur Unterdrückung gebracht
werden können.« Dieses »Plus an sozialem Interesse« bedeutet
den Weg aus der Pornographie hin zur Gewaltlosigkeit.

Es gibt viele Wege, seinem Leben einen Sinn zu geben. Nur

leider sind diese Wege in unserer Kultur nicht sehr verbreitet.
Das erfordert von jedem Einzelnen, sich dieser individuellen
Lebensaufgabe zu stellen.

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Romantik, Psychoanalyse und

Sehnsuchtsgefühle der Männer

Ich empfinde die Männerarbeit als meine Lebensaufgabe: zu

verstehen, wie der Mann geworden ist. Deshalb möchte ich auf
alles zurückgreifen, was überhaupt je zu diesem Problem
geschaffen worden ist, und dazu gehört auch einiges aus der
Epoche der Romantik. Schon als Kind hatte ich ein Faible für
Romantik. Heute ist das noch drängender, da ich der Auffassung
bin, dass man zurück in die Romantik muss, um den Mann zu
verstehen.

Gefühle und das Bemühen, sich selbst zu verstehen und zu

entwickeln -, das sind Motive der Tiefenpsychologie und ebenso
der Romantik. Die Epoche der Romantik war nicht lang, etwa
von 1800 bis 1850. Bekannte Autoren sind Novalis, Joseph von
Eichendorff, Ludwig Tieck, Clemens Brentano.

Die Romantik ist meiner Meinung nach total missverstanden

worden. Es ist auch heute in bestimmten Kreisen Mode, so
etwas wie Einfühlsamkeit zu belächeln oder gar zu bekämpfen;
»romantisch« wird beinahe wie ein Schimpfwort verwendet, auf
jeden Fall ist es abwertend, etwas, das man nicht ernst nehmen
muss. Warum war die Romantik nur so kurz? Warum wurde sie
so stark bekämpft?

Die Romantik war eine Gegenreaktion auf die Aufklärung.

Die Aufklärung war sehr sozial und auf Brüderlichkeit
ausgerichtet, drohte aber auszuarten in Rationales, in
Vernünfteleien. Das haben die Romantiker schmerzlich gespürt.
Die Aufklärung wurde zwar als absolut notwendig anerkannt,
auch weil sie sich zum ersten Mal nach 1700 Jahren gegen die
seelische und geistige Vorherrschaft der Kirche richtete. Aber
die Aufklärung hat nicht über Gefühle aufgeklärt.

Die Romantiker nun haben versucht, diesen Mange l

auszudrücken, und haben die Gefühle mit ins Spiel gebracht.

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Dabei kam es auch zu Verlautbarungen, die zu viel Gefühl,
Gefühligkeit, bedeutet haben, die von Gefühlsüberschwang
angekränkelt waren. Aber es gibt auch Schriften der
Romantiker, die das deutliche Bemühen zeigen, sich selbst zu
verstehen - doch das gelang ihnen meist nicht. Dazu hätten sie
wahrscheinlich die Psychoanalyse gebraucht, aber die stand
damals noch nicht zur Verfügung.

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Joseph von Eichendorff

In der Romantik hat vor allem Joseph von Eichendorff

Wichtiges geschaffen. Er trägt dazu bei, Männer besser zu
verstehen. Eichendorff hat vieles erlebt und auch zum Ausdruck
gebracht, auf zum Teil sehr berührende Weise, obwohl er vieles
nicht verstanden hat, weil er den Zugang zum Unbewussten
nicht hatte. Seine Geschichte »Das Marmorbild« enthält
typische romantische Elemente:

Florio, ein junger Edelmann, reitet in eine Stadt hinein und

trifft dort viele Menschen, unter anderem Bianka, ein Mädchen,
das ihm sehr gut gefällt.

Interessant ist hier das positive Frauenbild Eichendorffs:

Zierlich ist sie, fast von kindlicher Gestalt, sie ist sittlich,
anständig, anmutig, bietet den Männern einen angenehmen
Anblick. Das Mädchen bewegt sich frisch und heiter, sie hat
schöne, große Augen, sie errötet - vermutlich, weil ihr Florio
gefällt. Das ist uns Männern natürlich angenehm, wenn die Frau
errötet, denn dann wissen wir, dass wir Eindruck hinterlassen
haben.

Als holdselig wird das Mädchen beschrieben, das heißt: dem

Manne geneigt, dem Manne günstig gesinnt, dem Manne
zugetan, außerdem treu ihm ergeben und ihm dienstbar.
Holdselig wird als Wort heute nicht mehr benutzt, der moderne
Mann wünscht sich eine starke, gleichberechtigte Frau. Aber ich
bin mir nicht sicher, ob das »holdselige« Frauenbild nicht noch
in den Köpfen der Männer steckt.

Die junge Frau strahlt eine stille Freude aus, ist lieblich,

ermutigend, erquicklich und »niedlich«. Niedlich heißt:
angenehm anzusehen, eifrig, wünschenswert, dem Manne
wünschenswert. Außerdem ist sie still und schüchtern, auc h
furchtsam, also in keinster Weise dem Mann gegenüber
aggressiv. Sie wirft ihm zwar dunkle, glühende Blicke zu, aber

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ansonsten ist sie heiter und vergnügt. Florio reagiert
träumerisch, still. Sie schaut ihn schelmisch an, senkt schnell
wieder das Köpfchen. Als er herzbewegend singt, schaut sie ihn
mit schönen, bittenden Augen an und lässt es schließlich
geschehen, dass er sie auf die roten, heißen Lippen küsst.

Nachts träumt Florio von seiner jungen Schönen, doch da

erscheint ihm im Park die Marmorstatue einer Venus:
Überirdisch schön erinnert sie Florio an eine langgesuchte, nun
plötzlich erkannte Geliebte und erscheint ihm lebendig. Doch
plötzlich verändert sich das Marmorbild, es wird weiß und
regungslos, sieht ihn schrecklich aus steinernen Augenhöhlen
an. Am Morgen hat Florio das Grauen vergessen und begegnet
kurz darauf einer großen Frau, die mit ihrer wunderbaren
Schönheit der Marmorstatue gleicht. Sie singt:

»Die schöne Mutter grüßen tausend Lieder, die, wie der Jung,

im Brautkranz süß zu sehen; der Wald will sprechen, rauschend
Ströme gehen, Najaden tauchen singend auf und nieder.«

Hier taucht das Muttermotiv auf, Florio ist, als hätte er die

Dame schon in früherer Jugend irgendwo gesehen.

Florio sieht zwar auch das zierliche Mädchen wieder, doch

die große Dame fesselt ihn mit ihrer Schönheit. Sie lädt ihn in
ihr Schloss ein, verführt und verwöhnt ihn. Dabei flicht
Eichendorff auch Erinnerungen an die Kindheit mit ein - ohne
sie deuten zu können. Heute wissen wir, dass die Beziehung zur
Mutter die Be ziehung zur Frau stark beeinflusst.

Auf einmal verwandelt sich die schöne Frau in ein Horrorbild.

Davor bekommt er große Angst und flieht in den Park zur
Statue. Eichendorff deutet die grauenvolle Verwandlung als eine
ehemalige Göttin, die keine Ruhe gefunden hat und nun ihr
teuflisches Verführungs-Blendwerk an jungen, sorglosen
Gemütern erprobt, schwankend zwischen wilder Lust und
schrecklicher Reue. Nach heftigen Gemütsbewegungen hat die

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Geschichte ein gutes Ende: Florio findet zu Bianka zurück.

Die naive Deutung, dass da eine Göttin ihr Unwesen treibt,

kann uns heute, wo wir Zugang zur Psychoanalyse haben und
vom Unbewussten wissen, nicht zufrieden stellen. Meine
Vermutung ist, dass Eichendorff hier etwas Schlimmes andeutet,
das er in der Kindheit erlebt hat.

Eichendorffs Biograph Paul Stöcklein behauptet, er wäre ein

»ländlichfröhliches Kind« gewesen. Das scheint mir falsch zu
sein, denn wer ländlichfröhlich ist, kann sich nicht so
grauenvolle Geschichten ausdenken. Das Werk eines Menschen
lässt doch immer Rückschlüsse auf seine Gefühle und seinen
Charakter zu. Die meisten schreiben in verschlüsselter Form
über das, was sie erlebt haben.

Aus der Biographie erfahren wir nur wenig, aber als

Jugendlicher hatte Joseph in der Nacht, wohl aus einem Traum
heraus, einen schrecklichen Anfall; das ganze Schloss war in
Aufregung, und erst seinem Erzieher gelang es, ihn mit
Klaviermusik zu beruhigen. Damals glaubte man, ein Mensch
könne von einem auf den anderen Tag irrsinnig werden. Ich
glaube, dass da mehr vorgefallen sein muss, sich vielleicht
aufgestaut hat, zum Ausbruch gekommen ist. Es heißt zudem, er
sei als Kind »nicht frei von Schwermut« gewesen, und an
anderer Stelle steht, dass die Kinder - er hatte einen Bruder und
eine Schwester - den Vater mehr geliebt haben als die Mutter.
Es muss also Tragödien zwischen Kind und Mutter gegeben
haben, denn die Mutter ist ja die Erste, die mit den Kindern zu
tun hat. Es ist auch bekannt, dass die Mutter seinen Roman
»Ahnung und Gegenwart« abgelehnt hat. In dem Roman kommt
eine Frau vor, die die Züge der Mutter trägt, und das war ihr
offenbar unangenehm. Sie hat nicht nur diesen Roman
abgelehnt, sondern ihrem Sohn auch sonst viel übel genommen,
zum Beispiel, dass er sich mit Frauen einließ, die kein Geld
hatten.

In einem Werk schreibt Eichendorff: »Ich möcht' mich gern

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einmal bei Nacht verirren recht im tiefsten Wald.« Da stellt sich
die Frage: Wie schrecklich muss es zu Hause ausgesehen haben,
dass sich jemand wünscht, er möge sich bei Nacht im Wald
verirren? Die Nacht war im Übrigen für Eichendorff immer
voller Schrecken, und er hatte viele Angstträume. Heute wissen
wir, dass in den Träumen meist das Verdrängte hochkommt.
Was musste er also verdrängen?

Eichendorff gibt dem Eros oft auch etwas Zerstörerisches,

dargestellt wie beim Marmorbild, bleich und tot. Die eheliche
Liebe stellt er oft sehr spießig dar, vertritt auch die Ansicht, dass
die Ehe etwas Zerstörerisches an sich habe.

Ich deute die Motive in Eichendorffs Werk so: Die Kindheit

bedeutete eine große Nähe zur Mutter, die aber auch Grauen
beinhaltete. Davor ist er geflohen: in die Ferne, in den Wald.
Sicher war er oft einsam, hatte dann auch Heimweh, aber diese
Sehnsucht nach der Heimat war zwiespältig. Einerseits das
Sehnen nach Wärme und Geborgenheit, nach seinen männlichen
Bezugspersonen, zu denen er immer ein gutes Verhältnis hatte.
Andererseits beinhaltete das Heimatmotiv auch Angst,
Bedrohtheit von Wahn. »Hüte dich«, heißt es in seinem Werk
immer wieder, aber wovor, das wird nie eindeutig klar.

Ich schätze Eichendorff sehr und glaube, dass er zu seiner Zeit

und auch heute noch verkannt wird. Er wird als zurückgezogen,
introvertiert geschildert. Doch er hatte ein leidenschaftliches
erzieherisches Ethos. Auch das deutet darauf hin, dass er in
seiner Kindheit gelitten hat.

Ein weiteres Motiv bei Eichendorff ist das Gefühl, draußen zu

stehen und über die Mauer zu schauen. Er ist also nicht drin im
Geschehen. Dieses sich in der Entfernung aufhalten ist auch ein
typisches Problem heutiger Männer.

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Novalis

Auf der Suche nach weiteren Parallelen zwischen der

Psychoanalyse und der Romantik bringt Novalis' Werk
interessante Erkenntnisse. Friedrich von Hardenberg alias
Novalis lebte nur von 1772 bis 1801, starb schon mit 29 Jahren.
Bilder zeigen ihn mit langen Haaren, hoher Stirn, mädchenhaft,
Güte und Weichheit ausstrahlend, aber auch Klugheit, Ernst,
manchmal Spuren eines Lächelns, stets aber Heiterkeit und
Wohlwollen. Novalis' Vater war tiefreligiös, konservativ und
asketisch.

Die Mutter gebar elf Kinder und wird beschrieben als kluge,

verständnisvolle, fein empfindende Frau, die aber auch
verschüchtert und unterwürfig war und sich zum Teil gequält
fühlte.

Novalis, der älteste Sohn, war seiner Mutter innigst zugeneigt,

diese Liebe war aber stark mit Mitleid, Mitleiden verbunden.
Das kennen wir auch heute von Männern: Die Gefühle des
Sohnes sind die Gefühle der Mutter, und er hat ungeheure
Probleme, seine eigenen Gefühle überhaupt wahrzunehmen.
Novalis schwärmte stark für seine Mutter, sie scheint sehr lieb
zu ihm gewesen zu sein, bis hin zum Inzestuösen. Die
vorbildlichen Frauenfiguren in seinem Werk haben alle die Züge
der Mutter: besonnen, nicht leichtfertig, herzensgut, mild, froh,
eine Frau des schlichten Landlebens, treu, herzensinnig.
Verstand und Witz wünschte er sich von einer Frau, und schön
sollte sie sein, geschmückt wie die Natur, nicht wie ein
Püppchen.

Novalis hat einen einzigen Roman geschrieben: Heinrich von

Ofterdingen. Das ist ein recht merkwürdiges Buch: Heinrich
geht mit seiner Mutter auf Reisen, kommt zu viele n klugen
Männern, und dort werden schöne Gespräche geführt. Auf diese
Weise bringt Novalis viele Stilformen - Märchen, Gedichte,

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Träume - und Motive ein: Kindheit, Mutter, Vater, Liebe, Lehre,
Lernen, Trennungen. Dieser Heinrich von Ofterdingen sucht
milde Menschen, bescheidene, ungezwungene, zarte,
interessierte, liebevolle Menschen. Mit dieser Suche, bei der es
natürlich auch zu Enttäuschungen kommt, drückt Novalis die
Sehnsucht nach Geborgenheit und Verständnis aus. Das
romantische Symbol dafür ist die Suche nach der blauen Blume.
Sie drückt all das aus, was man sich damals wünschte:
Menschen, die so sprechen, dass man ergriffen ist, dass man
ruhig wird, wenn man ihnen zuhört, dass man das normale
Gehetzte und Schnelle ablegen kann. Menschen, die Geist
haben, die einem wohlgesonnen sind, die ein wenig das Motiv
der Unvergänglichkeit verkörpern, Menschen, bei denen man
sich so wohl fühlt, dass man den Tod vergisst, und die einem
eine bleibende, schöne Welt, eine tröstende Begegnung
vermitteln. Das alles hat Novalis wundervoll zum Ausdruck
gebracht. Es ist ein Buch über das Ich und die Welt.

Novalis hat ein positives Männerbild. Der Mann, vor allem

der Dichter, ist für Novalis liebevoll, er hat ein lauteres Herz
und ein empfängliches Gemüt, kann trauliche Gespräche führen,
ist genügsam und strahlt eine innere Herzlichkeit aus.

Besonders interessant im Hinblick auf den Vergleich

Romantik - Psychoanalyse ist eine Sammlung von Novalis-
Texten mit dem Titel »Blütenstaub«. In diesen Texten hat
Novalis viele tiefenpsychologische Erkenntnisse
vorweggenommen. Das war lange vor Freud, und die Wortwahl
ist eine andere, aber Novalis hat sich eindeutig mit dem
Unbewussten beschäftigt und auseinander gesetzt. Freud trat
Forschungsreisen in das Innere des Menschen an, die Maximen
aber, die er für dieses Erforschen des Inneren aufstellte, die hat
Novalis schon beherzigt:

»Wir träumen von Reisen durch das Weltall. Ist denn das

Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir
nicht. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, die Außenwelt

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ist die Schattenwelt. Jetzt scheint es uns fraglich, innerlich so
dunkel, einsam, gestaltlos. Aber wie ganz anders wird es uns
dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei, wir werden mehr
genießen als je. Denn unser Geist hat entbehrt.«

Die »Verfinsterung vorbei« bedeutet, dass Licht ins Dunkel

gebracht wurde, Aufschlüsse gewonnen wurden über das
Unbewusste: erinnern, durchleben, wiederholen - das sind die
Worte, die die heutige Psychologie dafür verwendet.

»Der Mensch vermag ein übersinnliches Wesen zu sein.«

Mit »übersinnlich« meint Novalis nicht die fünf geläufigen

Sinne, die nach außen gerichtet sind, sondern eine übersinnliche
Fähigkeit, die zur Erforschung des Inneren dient.
»Übersinnlich« wird schnell in eine verrückte, versponnene
Ecke gestellt, aber ich glaube, dass Novalis etwas sehr
Ernsthaftes gemeint hat:

»Freilich ist die Besonnenheit, Sich-Selbst-Findung sehr

schwer. Unaufhörlich echte Offenbarungen des Geistes, es ist
kein Schauen, kein Hören, kein Fühlen, sondern eine
Empfindung unmittelbarer Gewissheit, eine Ansicht meines
wahrhaftesten eigensten Lebens.«

Novalis bleibt nicht bei der Selbsterforschung stehen, sondern

beschreibt auch die Beobachtung der Außenwelt und nennt
Elemente, die Menschenkenner auch heute noch einsetzen: die
Beobachtung von Augen, Mimik und Bewegung. Er kommt zu
dem Schluss:

»Der erste Schritt wird Blick nach innen, absondere

Beschauung unseres Selbst. Wer hier stehen bleibt, gerät aber
nur halb. Der zweite Schritt muss ein wirksamer Blick nach
außen sein. Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines
Selbst zu bemächtigen. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird
man nie andere wahrhaft verstehen lernen.«

Das hat Novalis als relativ junger Mann schon gewusst, und

das ist dasselbe, was wir in der Therapie versuchen,

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Selbsterkenntnis sagen wir heute dazu. Eine zweite interessante
Schrift von Novalis ist »Hymnen an die Nacht«.

Die Nacht ist bevorzugt die Zeit, in der wir mit unserem

Unterbewussten konfrontiert werden, zum Beispiel im Traum.
Deshalb kann man jedem nur raten, sich mit seinen Träumen zu
beschäftigen, und zwar nicht nur mit dem eigentlichen Traum,
sondern vor allem mit der Einschlaf- und Aufwachphase. Dabei
hat man häufig Visionen und Bilder vor sich, die
außerordentlich aufschlussreich für die eigene Lebensplanung
und die Lebensgefühle sind.

»Was quillt auf einmal so ahnungsvoll unterm Herzen?

Dunkle Nacht, was hältst du unter deinem Mantel, das mir
unsichtbar kräftig an die Seele geht? Dunkel, unaussprechlich
fühlen wir uns bewegt.«

Was sagt Novalis hier anderes, als dass im Traum das

Unbewusste hochkommt? Das, was uns bestimmt, was wir aber
nicht bewusst wahrnehmen.

»Himmlischer als jene blitzenden Sterne, dunklen um die

unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet, weiter sehen
wir.«

Damit meint er die Traumdeutung, die Ängste und Visionen

beim Einschlafen und Aufwachen.

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Probleme der Männer: Gefühle und

Sehn-Sucht

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Echte Gefühle entwickeln und verstehen

Gefühl gehört wohl unbestritten zur Erotik, und natürlich

denkt jeder, er wisse, was Gefühl ist. Doch ich habe festgestellt,
dass zwar viel über Gefühle geschrieben wird, dass aber ein
tiefergehendes Verständnis für die Gefühle und vor allem für die
Nicht-Gefühle der Männer total fehlt.

Ich frage, und jeder Mann kann sich diese Fragen stellen:

Warum weinen Männer so wenig? Viele Männer können nur im
Kino weinen. Das zeigt eine auffällige Gefühlsverhaltenheit der
Männer. Die nächste Frage: Worüber muss ich lachen? Oder:
Warum lache ich so wenig? Es gibt in unseren Männergruppen
Männer, die sitzen im Kreis, wir lachen zusammen, und sie
können nicht mitlachen. Männer sollten sich auch fragen:
Warum schlägt mein Herz für jemanden? Warum mag ich
jemanden? Oder: Warum mag ich niemanden?

Auf diese Fragen kann man keine schnellen Antworten

finden. Schnelle Antworten auf solche Fragen sind meist
suspekt. Denn bei diesen Fragen müssen wir wirklich hinhören,
was in uns vorgeht. Da ist Einfühlungsvermögen für sich selbst
gefragt, und das muss man lernen. Politische Menschen sagen
oft: »Die Welt muss verändert werden.« Ich glaube, es ist
sinnlos, die Welt verändern zu wollen, wenn man sich selbst
nicht verstanden hat.

Um sich selbst zu verstehen, reicht die reine

Naturwissenschaft nicht aus. Die rein rationale, ökonomische
Ausrichtung bewirkt heute ein Machertum, das überall
verändert, ohne etwas zu verstehen. Selbst in der Psychotherapie
und Psychiatrie sollen Menschen verändert, »gesund« gemacht
werden, symptomlos, ohne sie zu verstehen. Das kann nicht zum
Ziel führen. Wer verstehen will, warum bestimmte Gefühle
entstehen, und - was in der Männerarbeit viel häufiger
aufkommt - warum bestimmte Gefühle nicht entstehen, muss

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das Unbewusste erforschen. Das Unbewusste wiederum sind die
Motive, die in uns wirken, sehr kraftvoll wirken, von denen wir
aber nichts wissen. Wenn ich Aufschlüsse über dieses
Unbewusste habe, dann kann ich auch mit bestimmten Gefühlen
in bestimmten Situationen besser umgehen.

Das Problem vieler Männer sind fehlende Gefühle, etwa die

Angst. Viele Männer haben überhaupt keine Angst, auch nicht
in gefährlichen Situationen. Oder Trauer: Viele Männer, die eine
wichtige Person oder etwas anderes sehr Wichtiges verlieren,
können nicht trauern. Warum nicht?

Dass Männer keine Gefühle haben, keine haben sollen oder

sie zumindest nicht äußern dürfen, ist in dieser Gesellschaft weit
verbreitet. Eine solche Geheimhaltung ist für mich ein wichtiges
Problem dieser Kultur, deshalb kommt es auch zu einem
eklatanten Mangel an Gemeinschaftsgefühl. Denn um ein
Gemeinschaftsgefühl entwickeln zu können, Gemeinschaft zu
stiften und menschliche Begegnungen zu ermöglichen, müssen
Gefühle da sein und auch kommuniziert werden. Fehlende
Gefühle sind ungesund und unproduktiv.

Folge dieser Gefühllosigkeit der Männer ist eine

Entpersönlichung, das zeigt sich auch in der Sprache: »Der
Typ« sagt man heute, man könnte auch sagen »der
Klischeemensch«. »Der Typ da gefällt mir nicht«, so drücken
wir uns aus, als ob wir es mit Maschinentypen und Technik zu
tun hätten. Das ist anonym, öde und langweilig - da entsteht
keine Erotik.

Männer müssen als Erstes lernen, Gefühle zu entwickeln, die

zur Situation passen. Wir brauchen sie, um die Situation zu
bewältigen. Bestimmte Gefühle nicht entwickeln zu können,
bedeutet, in bestimmten Situationen hilflos zu sein. Das heißt
auch, Frauen gegenüber hilflos und ausgeliefert zu sein. Ich
kenne viele Männer, die Frauen überhaupt nicht gewachsen sind
und sich ihnen entziehen: durch Flucht in den Beruf, zu einer
anderen Frau oder gar durch Flucht in den Krieg. Es gelingt

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wenigen Männern, auch kritischen Situationen in der Beziehung
standzuhalten, sie durchzusprechen, vielleicht auch manchmal in
lautstarker Form. Ich möchte, dass Männer Gefühle entwickeln,
um sich besser behaupten zu können.

Zweitens müssen Männer lernen, Gefühle zu verstehen.

Gefühle fallen nicht vom Himmel, sie entstehen in der Kindheit,
und zwar in den Beziehungen zu den wesentlichen Personen
unserer Kindheit. Von dort kommt auch die Gefühlsblockade
des typisch patriarchalen Mannes. Er hat keine Gefühle, weil
ihm niemand zuhörte. Der Vater nicht, weil er abwesend war
und sich nicht um den Sohn kümmerte. Und die Mutter ist
ebenfalls kritisch zu sehen, weil sie dem Sohn oft nicht die
Chance gab, seine eigenen Gefühle zu entwickeln.

Um Gefühle zu verstehen, ist ein dritter Schritt nötig: sich

erinnern. Sich erinnern ist in der tiefenpsychologischen Arbeit
wichtig: »Erinnern, wiederholen, durcharbeiten«, hat Freud
propagiert, und so heißt auch eine Schrift von ihm. Durch das
Erinnern erkennen wir unsere Lebensaufgaben, die wir dann
fröhlich oder auch traurig, aber auf jeden Fall mit Gefühl
angehen sollten.

Als vierter Punkt beim Umgang mit Gefühlen ist mir die

Langsamkeit wichtig. Wir sollten uns unbedingt hüten, jeden
Tag wieder in diese schnellen Gangarten zu verfallen. Es ist
außerordentlich schwierig, langsam zu leben, Stress und Hektik
sind normal. Aber man sollte sich immer bewusst sein, dass
Gefühle und Erotik Zeit und Geduld brauchen. Man kann nicht
schnell, gleichsam zwischen zwei Terminen und auf
Knopfdruck, erotisch sein.

Ich wünsche mir, dass Männer sich nach diesen vier Punkten

sehnen. Nur wenn sie sich nach Gefühlen sehnen, werden sie
sich an die Arbeit machen, und dann werden schließlich
vielleicht neue Männer entstehen, neue Menschen.

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Das produktive Sehnen

»Ich halte mich gern in Sehnsüchten auf. Ich empfinde, dass

in der Sehnsucht immer etwas Schmerzvolles, aber auch
Schönes liegt, immer eine Mischung von beidem. Für mich ist
Sehnsucht auch etwas Wichtiges. Wenn ich nur Sehnsucht hätte,
dann wäre mir das zu wenig. Aber ich habe ja auch noch viele
Glücksmomente im Leben, schöne Begegnungen, Erlebnisse und
Freundschaften, was auch immer. Trotzdem gehört für mich
dazu, dass ich immer einen Teil Sehnsucht behalten möchte. Das
muss sich nicht auf eine Frau konzentrieren, auf die Partnerin
oder auf eine andere Frau. Das kann in Richtung Beruf gehen.
Ich halte mich aber gern in diesen Gefühlen auf.«

Dieser Mann spricht von »Sehnsucht«, doch ich möchte seine

sich auch erfüllende Sehnsucht als »sich sehnen« bezeichnen. Er
hat das Wechselspiel von sich sehnen und Erfüllung der
Sehnsucht sehr gut in Worte gefasst. Sehnsüchtige Männer
suchen sich oft unerreichbare Frauengestalten, das trifft auf den
zitierten Mann nicht zu. Er hat durchaus erreichbare Frauen
kennen gelernt.

Der Sinn des Sehne ns ist nicht nur die Befriedigung von

Bedürfnissen, sondern auch eine Vergrößerung der Fähigkeit,
sich sehnen zu können. Das Sehnen ist ein völlig gesundes
Verlangen und ein Bedürfnis, das befriedigt werden kann. Ich
definiere diesen positiven Vorgang des Sehnens in fünf
Schritten:

1. Der Mann empfindet ein Sehnen als Gefühl des Mangels

oder der Unvollständigkeit.

2. Er erkennt klar, was - welchen Zustand - oder wen -

welchen Menschen - er sich ersehnt. Er nimmt sein Gefühl
wahr.

3. Der Mann entwickelt den Willen, sich den ersehnten

Zustand oder Menschen zu erobern. Er erlebt einen gewissen

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Freiheitsspielraum der psychischen Bewegung und eine gewisse
Offenheit.

4. Der Mann leistet Arbeit zur Eroberung, zur Erreichung

seines Ziels.

5. Der Mann erlebt in der Erreichung seines Ziels einen

Genuss und Freude.

»Sehnsucht ist ein Motor in meinem Leben. Dort, wo ich nicht

bin, da ist das Glück, was ich nie erreichen werde.
Unzufriedenheit mischt sich bei. Ich kann mir aber ein Leben
ohne Unzufriedenheit gar nicht vorstellen. Ich brauche einen
Motor, eine Antriebskraft. Insofern verstehe ich unter Sehnen
zum Beispiel zweierlei: Ich habe ein starkes Sehnsuchtsgefühl
nach Gemeinschaft. 20 Jahre lang war das ein Sehnsuchtsgefühl
nach Familie. Heute, nachdem ich geschieden bin und meine
Kinder bei meiner Frau sind, habe ich ein zweites
Sehnsuchtsgefühl: Ich habe mich schon immer danach gesehnt,
einmal bei einer Frau schwach sein zu dürfen und trotzdem
akzeptiert zu werden, wie ich bin. Das ist eine ganz starke
Sehnsucht. Ich weiß von meinen beiden Sehnsüchten, dass sie
erfüllbar sind, dass sie ein Motor sind in meinem Leben, ein
Stück, das zu verwirklichen ist.«

Bei vielen ist die Fähigkeit, sich zu sehnen, völlig

verkümmert. Sie wollen immer gleich alles haben, können nicht
warten oder holen sich das, was sie wollen. Dadurch
verkümmern der Schaffensdrang, die Schaffensfreude, die
Leidenschaft - doch die sind nötig für die Erotik. Sehnende
Erotik gibt uns die Kraft, unser jetziges Leben zu übersteigen,
mehr zu wagen im Leben, wachsen zu können, über uns
hinauszustreben. Das wirkliche Sehnen führt zur Begegnung
und zur Erfüllung.

Sehnen ist also bei Menschen, die aktiv werden und sich auf

den Weg machen, keine Sucht. Sehnen ist ein produktives

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Lebensgefühl. Ich meine sogar, es könnte ein Trieb sein: Der
Sehnen-Trieb lässt Menschen aufeinander zugehen und bringt
sie zusammen, weil sie einander brauchen. Der Sehnen-Trieb ist
uns von Geburt an eigen, denn der Mensch ist ein
Gemeinschaftswesen, allein kann er nicht überleben. Das
Mitanderen-Menschen-Zusammensein ist ein wesentliches
Kriterium psychischer Gesundheit.

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Die Sucht, in der Ferne zu sein

»Es ist ganz klar in der Sehnsucht etwas Masochistisches

enthalten. Etwas von Trauer und Traurigkeit gehört dazu.«
[Anm. d. A.: Trauer allein ist noch nichts Masochistisches.]
»Man stellt sich etwas vor, was es einmal gab oder geben
könnte. Sehnsucht hat man nie nach etwas total
Nichtgreifbarem, es ist prinzipiell greifbar. Aber man hat dieses
Gefühl, zum Beispiel Sehnsucht nach einer Person, und wenn
man dann die Person trifft, mit ihr
die Begegnung hat, die
Realität einen einholt, dann findet die Ernüchterung statt, und es
werden wieder neue Sehnsüchte produziert.«

Diese Aussage eines Mannes klingt viel hoffnungsloser als

die beiden vorhergehenden. Daneben stelle ich ein Gedicht von
Gustav Schwab, 1792 bis 1850, Professor für Literatur in
Stuttgart, der zum Kreis der Romantiker zu zählen ist.

Nur eine lass von deinen Gaben, verschwundene Liebe, mir

zurück. Nicht deine Freuden will ich haben, nicht dein
beseligendes Glück. Oh, schenke nur den Schmerz mir wieder,
der so gewaltig mich durchdrang, den tiefen Sturm der
Klagelieder, der aus der wunden Brust sich schwang. Ich will ja
nicht ein fröhlich' Zeichen, auch keinen Blick, kein fröhlich'
Wort. Nur nicht so stille lass mich schleichen, aus dieser Ruhe
treib' mich fort. Lass mich mit deiner Wehmut füllen. Flieh weit,
doch zieh mein Herz dir nach. Gib mir den Durst, der nie zu
stillen, gib mir dein Leiden, deine Schmach. Dein Seufzen, deine
Last, dein Sehnen, was andere nur an dir verschmähen, oh, gib
mir alles, bis mir Tränen in den erstorbnen Augen stehen.

In diesem Gedicht sind beide Motive enthalten: Sehnen und

Sehn-Sucht bis hin zum Masochismus. Gustav Schwab hatte die
Fähigkeit, das zu formulieren, was viele Männer heute nicht
einmal mehr ausdrücken können, was sie vermissen. Ihnen steht
der Mangel nicht zur Verfügung, sie spüren den Mangel nicht.

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Angesichts solch drastischer Formulierungen heißt es dann

oft, diese Sehn-Suchts-Motive aus der Romantik wären nicht
mehr zeitgemäß. Dem will ich einen - etwas verkürzten - Text
von Marius Müller-Westernhagen entgegenhalten:

Ich würd' mich für dich erhängen und ich würd' vom

Hochhaus springen.

Ich würd' mich für dich erschießen, mit Benzin mich

übergießen.

Ich glaubte nie an Liebe, die dann immer Liebe bliebe.

Und ich glaubte nie an Sehnsucht, die mir mein verdammtes

Herz bricht.

Denn Garantien gibt mir keiner.

Und ein Mann, der soll nicht weinen, doch ich genieße meine

Tränen ganz und gar.

Der sehnsüchtige Mann ist süchtig nach dem Zustand des

Niemals-ans-Ziel-Gelangens. Er hält sich immer nur in der
Entfernung von Menschen auf, sehnt sie von ferne an. In diesem
Zustand verharren viele Männer ihr Leben lang. Sie haben
flüchtige Begegnungen, leben vielleicht auch länger andauernde,
aber niemals tief greifende Beziehungen. Der sehnsüchtige
Mann erscheint sehr verhalten, überwiegend cool, oft auch
abweisend, manchmal gar frostig. In seiner Phantasie ist er
dennoch zu erotischer Leidenschaft fähig. Passend zu seiner
Gefühlsarmut, zur Unfähigkeit, seine Gefühle zu zeigen, sucht
er sich eine Frau, die ihn umwirbt, umschmeichelt und
verwöhnt, die ihn also erlöst von dieser seelischen
Kraftlosigkeit. Er braucht die emotionale Ergänzung durch die
weiblichen Gefühle, aber er überspielt das gern durch
verkrampftes Temperament, angestrengte Aktivität und
gezwungenen Charme.

Für seine Gefühlsarmut hält sich der Mann nicht

verantwortlich. Er unternimmt fast nichts gegen seine
Unlebendigkeit, außer eben Sehn-Sucht zu spüren. Aber es ist

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kein produktives Sehnen, sondern der sehnsüchtige Mann leidet,
fühlt sich einsam. In gewisser Weise genießt er dieses Leiden,
das ist Masochismus. Die Träume und Phantasien des
leidendsehnsüchtigen Mannes haben mit der Wirklichkeit so gut
wie nichts zu tun.

Schwelgen in der Sehn-Sucht ist typisch für den romantischen

männlichen Typen. Er bringt kaum eigene Gefühle zum
Ausdruck und schwärmt dafür von Gefühlen. »Romantiker«
wollen in der Sehnsucht bleiben, wollen nicht ernsthaft an sich
arbeiten, verbindlich und greifbar werden in der Partnerschaft.
»Romantiker« leben im Unendlichen, schwärmen für die Natur,
anstatt im Hier und Jetzt konkret ihr Leben einzurichten.

Typisch für viele sehnsüchtige Männer ist die Verklärung der

Vergangenheit, und das betrifft vor allem Erlebnisse in der
Kindheit: Dass sie sich gern in einer sich nicht erfüllenden
Sehnsucht aufhalten, ist erklärbar aus dem ambivalenten
Verhältnis zur Mutter. Auf der einen Seite war sie die erste, die
nächste Bezugsperson, sie war sicherlich zärtlich, aber eben
unter Umständen auch eklig, Furcht erregend. Heute sehnt sich
der Mann zwar nach der Frau, aber jede Frau muss damit
rechnen, dass ihr Partner auch Abwehr gegen sie in sich trägt,
die er aus der Beziehung zu seiner Mutter mitbringt.

Erotik kann ein sehnsüchtiger Mann nicht entwickeln, dazu

hält er sich viel zu viel in der Ferne auf.

»Ich kenne... sehr gut in der Partnerschaft dieses ganz starke

Gefühl, was immer stärker wird, je weiter man entfernt ist von
der Partnerin. In dem Moment, wo das Spannungsfeld praktisch
dadurch zusammenfällt, dass man beieinander ist, fällt die
Sehnsucht in sich zusammen, die Realität holt einen ein. Die
Realität ist dann da, aber man kann sie eigentlich nur sehr
mühsam mit dem vereinbaren, was man sich in seinen
Sehnsüchten ausgemalt hat. Bei mir gibt es dieses Pulsieren,
dieses Anstreben. Und gleichzeitig, in dem Moment, je stärker
man es anstrebt, und in dem Moment, wo man es erreicht,

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zerstört man es. Das erlebe ich als ein ganz wichtiges Element
beim Thema Sehnsucht.«

Die Distanz in den meisten Beziehungen und die Sehn-Sucht

können zu einem fatalen Kreislauf führen: Je länger der Mann
keinen Frauenkontakt hatte, je ferner ihm die Frau ist, desto
mehr sehnt er sich nach ihr. Wenn dann die Bege gnung
stattfindet, ist er jedes Mal wieder erstaunt, wie schwierig es mit
der Frau ist. In der Distanz hatte er sich das gar nicht so
vorgestellt. Und weil es so schwierig ist, entwickelt er Angst vor
der Frau oder baut die vorhandenen Ängste aus und geht wieder
auf Distanz, weil das einfacher ist. Dann wächst die Sehn-Sucht
wieder - ein Kreislauf, warum Mann und Frau nie richtig
zusammenkommen. Es gibt immer nur punktuelle
Begegnungen, von Wunsch, Sehnsucht und Phantasie
angetrieben, endend in großer Enttäuschung oder Konflikten.

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Arten der Sehn-Sucht

Die Sehn-Sucht nach der Frau kann auch in der Sehn-Sucht

nach einer anderen Frau ausgelebt werden. Neben der Sehn-
Sucht nach der Frau gibt es weitere Sehn-Suchtsarten, die
Auswirkungen auf Beziehungen haben.

1. Sehn-Sucht nach der Kindheit

Ein Motiv, das heute und in der Romantik eine große Rolle

spielt, ist die Sehn-Sucht nach der Kindheit. Diese Sehn-Sucht
ist ambivalent, so wie auch die Beziehung zur Mutter
ambivalent ist. Differenziert ausgedrückt muss man also sagen:
Männer sehnen sich nach den lieben Anteilen der Mutter und
haben Sehn-Sucht nach den bösen.

Sehnen nach der Kindheit ist eine Sehn-Sucht nach etwas,

was nie mehr wiederkehren wird. Das Sehnen ist also
aussichtslos. Je mehr Männer in diesen Gefühlen und dieser
aussichtslosen Sehn-Sucht verhaftet sind, desto weniger werden
sie ihre realen Lebensaufgaben angehen. Jeder Mann sollte sich
die Frage stellen, wie stark er in der Sehn-Sucht nach der
Vergangenheit lebt und seine anstehenden Lebensaufgaben
versäumt oder verdrängt.

Sehn-Sucht nach der Kindheit ist auch Sehn-Sucht nach

wirklicher Liebe und Geborgenheit. Das kann ambivalent sein.
Wenn der Mann überwiegend Verwöhnung erfahren hat, will er
weiter verwöhnt werden. Er schwelgt in der Erinnerung an die
kuschelige Kinderzeit und versäumt, sich als Erwachsener
darum zu kümmern, diese geborgene, zärtliche Stimmung zu
schaffen. Er will verwöhnt werden und übernimmt keine
Verantwortung dafür, die Partnerin zu verwöhnen.

2. Sehn-Sucht nach der Heimat

Männe r sehnen sich nicht nur nach der Kindheit, sondern

auch nach der Heimat. Das scheint mir die ausgestaltete Sehn-

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Sucht nach der guten Mutter zu sein. Nicht nur in fremden
Ländern, auch in Krisenzeiten wünschen sich Männer die so
genannte Heimat wieder zurück. Denn der Mensch braucht eine
Heimat, eine soziale Heimat, sonst wäre er einsam. Mit dem
Heimweh wünschen sich Männer die Zeit der Erfüllung zurück,
einmal empfangene Liebe und natürlich auch die Liebste. Bei
Herbert Grönemeyer klingt diese Sehn-Sucht so:

Gesichter sehn verbittert aus, kein Lachen, kein ähnlicher

Laut, die Miene gefroren, die Seele verhökert, alles sinnentleert,
keine innere Heimat, keine Heimat mehr.

3. Sehn-Sucht nach der Ferne

Die Sehn-Sucht nach der Ferne, das Fernweh, bedeutet weg

von der Heimat, weg von zu Hause. Nicht unbedingt, weil es
dort zu langweilig ist, sondern weil es im Gegenteil eher zu
grausam oder horrormäßig ist. Die Sehn-Sucht nach der Ferne,
nach dem Nie-zu-Findenden ist vermutlich auch die Sehnsucht
nach Ruhe und Frieden.

Symbol für die Ferne war in der Literatur der Romantik das

Posthorn, heute sind es die Harley, die Straße, der schnelle
Wagen mit der schönen Frau am Steuer, die in vielen
Songtexten und Kinofilmen vorkommen. Die boomende
Fernreisen-Branche ist wohl nicht nur ein Ausdruck von
Abenteuerlust, sondern auch der Flucht von zu Hause.

Ein Mann aus einer Männergruppe beschreibt die Sehnsucht

nach der Ferne so:

»Bei uns zu Hause war es oft sehr bedrängend, und ich konnte

nicht fliehen. Ich hin ein paar Mal geflüchtet, bin aber nicht weit
gekommen, weil ich noch zu klein war. Mir ging es dann so,
dass ich sehr starkes Fernweh entwickelt habe, starke Sehnsucht
nach der Ferne als Kind schon. Und dadurch habe ich mich von
der Familie im Grunde genommen entfernt. Ich
hatte die
Sehnsucht, allein sein zu können in der Ferne, fern von dieser
bedrängenden Situation in dieser bedrängenden Familie. «

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4. Sehn-Sucht nach dem Tod

Der nächste Bestandteil männlicher Sehn-Sucht ist die

Sehnsucht nach dem Tod. Sie ist vorhanden bei Männern, die
schon in der Kindheit gequält und vielleicht auch missbraucht
wurden.

5. Sehnsucht nach dem Vater

Die Sehn-Sucht nach dem Vater steht für Sehn-Sucht nach

Schutz, Stärke, Hilfe. Der Vater ist einer, der zuhört, der ein
Freund ist, hilft, anregt, Mut macht, durch Krisen begleitet. Der
Vater sollte auch den Gegenpol zur Mutter bilden, doch hier
sind viele Jungen enttäuscht worden. Die Väter waren und sind
oft abwesend, es bleibt eine unerfüllte Sehnsucht. Das Problem
ist, dass sich die kleinen Jungen am abwesenden, abweisenden
Vater orientieren und vielleicht selbst auch wieder solche Väter
werden.

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Wie Sehn-Sucht entsteht

Das Sehnen halte ich für ein hilfreiches Gefühl, aber wie

entsteht die Sehn-Sucht im Mann, die ihn daran hindert, zur
Erfüllung zu kommen?

Sehn-Sucht hat immer mit der Angst vor der Frau zu tun. Die

erste Frau in unserem Leben ist die Mutter, und vor der haben
viele Männer Angst gehabt und übertragen diese Angst auf alle
Frauen.

Sehn-Sucht hat auch etwas mit Leiden zu tun, mit einem sich

im Leidenszustand Aufhalten. Der kleine Junge erlitt das oft
jahrelang, er konnte nicht weg, und irgendwann hielt er Leiden
für den Normalzustand. Er hatte nicht gelernt, dass man an
seiner Situation etwas ändern kann, weil jeder Widerstand, jede
Eigeninitiative gebrochen wurde. Viele Mütter wollen ihren

Jungen fest halten - was übrigens ein ganz normaler

gruppendynamischer Vorgang ist. Auch die Familie ist ja eine
Gruppe.

Eine weitere Ursache für Sehn-Sucht ist Menschenscheu.

Menschenscheue Männer haben Mühe, auf Menschen und
besonders auf Frauen zuzugehen. Das ist entstanden aus der
Erfahrung der Distanzlosigkeit: Sie wurden lieblos behandelt, in
der Familie herrschte zu viel Hektik und Chaos. Die Männer
wünschen sich Ruhe, das kann auch Alleinsein bedeuten, und
dann entsteht die Sehn-Sucht nach anderen Menschen. Aber
wenn der Mann menschenscheu ist, kann er die Kluft zu anderen
nicht überwinden.

Sehn-Sucht zerreißt den betroffenen Mann: Auf der einen

Seite will er zur Frau, auf der anderen Seite kann er sich ihr
nicht wirklich nähern oder ist von jeder Annäherung enttäuscht.
Zerrissen zwischen dem Wunsch nach Liebe und der Angst vor
Nähe. Auch die Zerrissenheit ist das Erbe der Beziehung des
Sohnes zur Mutter: Auf der einen Seite braucht er die Mutter, ist

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abhängig von ihr, auf der anderen Seite tat ihm dieselbe Person
nicht gut.

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Wie Männer Sehn-Sucht aushallen

Unter dieser ständigen Zerrissenheit können Männer nun aber

nicht leben und müssen ihre Sehn-Sucht irgendwie befriedigen.
Hier habe ich nun so eine Art Selbstbefriedigung der Sehn-Sucht
gefunden, die nichts mit der sexuellen Selbstbefriedigung zu tun
hat. Die »soziale« Selbstbefriedigung des Mannes besteht
meiner Beobachtung nach aus einem rigiden, radikalen
Maskulinismus mit patriarchalen Werten: Gewalt, Macht,
Herrschaft. Weil er an seine wirklichen Bedürfnisse nicht
herankommt, sie nicht befriedigen kann, baut der Mann als
Ersatzspielzeug diese brutale Kultur auf, die für alle
menschenfeindlich ist, nicht nur für Frauen und Kinder.

Roger Garaudy hat dies sehr gut in seinem Buch »Das

schwache Geschlecht ist unsere Stärke« beschrieben: Er vertritt
die These, dass die männliche Ordnung von Macht und
Unterdrückung nur deshalb funktioniert, weil die Frau
unterdrückt werden kann und weil sie nicht die gleichen Rechte
hat. Der Mann stützt sich auf Gewaltanwendung, Ausbeutung
und Entwertung der Frau sowie auf Konkurrenz mit den
Männern.

Tatsächlich gibt es Männer, die in diesem Machtapparat

perfekt funktionieren und ihre Sehnsucht befriedigen. Sie ha lten
sich für völlig gesund, leben in diesen Hierarchien, üben Macht
aus und lassen nichts Irritierendes an sich heran. Unterstützt
wird das von den patriarchalen Organisationsformen wie
Hierarchie, Staat, Kirche, Militär, die alle nach dem Prinzip
Befehl und Gehorsam funktionieren. In der Konkurrenz mit
anderen Männern, auch im Sport, wird das System eingeübt:
Jeder will den anderen unterdrücken, überflügeln, schwächen.

Aber es gibt auch Männer in dieser Kultur, die an ihrer

unbefriedigten Sehn-Sucht leiden. Zusammenfassend möchte
ich nun fünf Gangarten der Sehnsucht vorstellen, also die

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Formen, wie Männer ihre Sehnsucht leben und ausagieren.

1. Nähefeindlichkeit

Der Mann lebt in der Ferne, weil er die Nähe der Frau nicht

ertragen kann. Er strebt danach, ihr fern zu bleiben, ihr nicht zu
nahe zu kommen, um nicht völlig ausgelöscht zu sein, wie er das
bei der Mutter erlebt hat.

Bei Männern, die solche Nähefeindlichkeit nicht bewusst

erleben und deshalb in der Nähe bleiben, kann es zu einer
allmählichen Verödung kommen. Männer, die 30, 40 Jahre
immer mit einer Frau zusammen waren, sind oft sozial verödet,
können nichts mehr selber, bekommen alles vorgeschrieben:
wann sie ins Bett gehen, wann sie fernsehen, wann sie ausgehen
oder ein Bier trinken dürfen, wann sie zum Arzt gehen müssen.

Ich habe mit diesen Männern zu tun und höre auch von

jüngeren Männern, wie deren Väter sind. Die Väter sind
verödet, weil sie zu dicht an der Frau dran waren. Deshalb ist
Entfernung für Männer absolut wichtig, mindestens
phasenweise. Erotik kann nur im Wechsel von Nähe und
Distanz entstehen.

Entfernung heißt aber nicht ständige Flucht. Allerdings ist für

manchen Mann das Losreißen von der Frau die einzige

Möglichkeit, überhaupt sein Ich wieder zu fühlen und nicht

nur ein Ich-Anhängsel zu sein. Aber das Losreißen kann sich als
Motiv verselbstständigen: Das sind dann Männer, die in den
fatalen Kreislauf von Distanzlosigkeit und Flucht geraten.

2. Sprachphobie und Sprachfeindlichkeit

Sprachfeindlich ist der Mann, weil er das Sprechen nicht

gelernt hat. Er hat es bei der Mutter nicht gelernt, weil er nur
zuhören und nur das tun durfte, was sie sagte. Novalis schreibt:
»Unaussprechlich fühlen wir uns bewegt.« - Das genau ist das

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Männer-Thema: Zerrissenheit und die Unfähigkeit, darüber zu
sprechen. Oder aber der Mann spricht so, dass ihn keiner
versteht.

Ein Beispiel für diese unverständliche Sprache bieten die so

genannten Wissenschaftler. Es gibt viele Vorlesungen, in die
man geht und dann denkt: Was redet der da? Ich versuche zu
verstehen, aber es gelingt mir nicht. Diese Unverständlichkeit ist
Programm, denn jedes Verstehen würde den Mann angreifbar
machen. Wer versteht, kann Fragen stellen, und da könnte es ja
passieren, dass man nicht antworten kann und das offen zugeben
muss. Die Skepsis gegen Verständlichkeit ist heute in der
Wissenschaft und Wirtschaft stark verbreitet: Man spricht
unverständlich, dann traut sich keiner zu fragen.

Polemisiert wird allenthalben gegen Menschen, die Gespräche

führen, die das Gespräch suchen. Das wird als unmodern,
romantisch, idealistisch hingestellt: »Die denken, sie könnten
mit Worten die Welt verändern, dabei geht doch ohne Worte
alles viel besser.« Das tragen die Männer auch in die Beziehung:
»Reden? Worüber willst du denn reden, ist doch alles okay.
Komm, sei lieber zärtlich zu mir.« - Womit dann gemeint ist,
dass der Mann mit der Frau schlafen will. Wirkliche
Entwicklung findet aber nur statt, wenn das angeblich
Unaussprechliche ausgesprochen wird. Für die Erotik ist es
ungeheuer fördernd, Hemmungen, Geheimnisse, Phantasien
anzusprechen und gemeinsam durchzusprechen.

3. Gefühlsduselei, Gefühlsüberschwang

Die Abwendung von echter Nähe und von echtem Gespräch

kann in einer Gefühlsduselei kulminieren. Das ist die Absage an
jegliche Vernunft, die pseudoromantische Entfernung von den
Menschen. Man schwelgt dann nur noch in Gefühlen und
versucht, Heilsbotschaften zu lancieren. Viele der modernen
Psychogruppen sind so orientiert, also meist sehr einseitig. Da

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heißt es dann zum Beispiel, Körperarbeit sei das einzig Wahre.
Oder sie machen Handauflegen. Heilsbotschaften, Magie,
Mystik, Esoterik, Okkultismus - darin steckt bisweilen ein
wahrer Kern, aber deren Erheben zum einzigen Maß der Dinge
widerspricht jeder therapeutischen Vernunft.

In der Erotik verschüttet dieser Überschwang den Zugang zu

den eigentlichen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Die
Männer sind fremdbestimmt und erhoffen sich dadurch eine
Erfüllung ihrer Sehn-Sucht.

4. Idealisierung der Frau

Die Idealisierung als Gangart der männlichen Sehns ucht ist

ein Vorgang, den wir oft in unseren Gruppen erlebt haben, wenn
Männer und Frauen zusammengekommen sind. Dazu
Zitatbruchstücke eines Mannes nach den Äußerungen einiger
Frauen zum Thema Sexualität:

»Ich möchte sagen, dass ich enorm berührt bin, wie ihr

gesprochen habt... Ich fühle mich reich beschenkt... Da habt ihr
uns ein ganz tolles Geschenk mitgebracht... Ich fühle mich sehr
eingestimmt... auf eine Weise, die jenseits dessen liegt, was für
mich normalerweise im Blick ist... Das hat mich sehr gefreut...
Ich kann das gar nicht allein so entwickeln. Es berührt mich
noch tiefer, als wenn ich mit der Frau zusammen ins Bett gehe
und es zum Beispiel um den Koitus geht.«

Diese Idealisierung stört mich enorm, weil ich darin auch eine

Kleinmacherei sehe. Idealisieren muss ich nur, was ich vorher
klein gemacht habe. Die Beziehung zwischen Mann und Frau
braucht keine Idealisierung: weder dass die Frau den Mann
idealisiert - so wie das im Patriarchat passiert - noch umgekehrt.

Loben und Schwärmen ist ja ganz ne tt, aber es bringt den

Mann und die Beziehung nicht weiter. Viel besser wäre eine
positive Auseinandersetzung mit der Frau. Bewusst lebende
Frauen wollen ein Gegenüber haben, sind nicht damit zufrieden,

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dass sie idealisiert werden, und sagen vielleicht: »Hör auf mit
dem Schmus. Ich will richtig mit dir reden.« Korrumpierbare
Frauen dagegen nutzen das und machen mit dem Mann, was sie
wollen.

5. Widerstand gegen das Gespräch

Diese fünfte männliche Sehnsuchtsgangart ist bereits mit

angeklungen. Gefühlsdusele i ist ein Widerstand gegen das
Gespräch, Idealisierung ebenfalls: Wenn ich eine Frau
idealisiere, muss ich mich nicht mit ihr auseinander setzen.
Manche Männer leben auch in der Vorstellung: »Mit der Frau
kann man sowieso nichts Vernünftiges reden: Von der kommen
immer nur Gefühle oder Forderungen.« Aber an seine Gefühle
will der Mann nicht heran, und mit Forderungen kann er
schlecht umgehen, das hat er bei der Mutter schon nicht gelernt:
Entweder er schottet sich ab, oder er erfüllt alles. Aber was die
Männer brauchen, ist eine wirkliche partnerschaftliche
Entwicklung, und dazu gehört unbedingt das Gespräch.

Sprache ist ein unverzichtbares Element jeder echten Erotik.

Aber die Sehn-Sucht hat auch Vorzüge. Einer davon ist auf

jeden Fall die Gewaltlosigkeit.

Sehn-Sucht ist ein Sich- in-der-Entfernung-Aufhalten, und wer

weit weg ist, kann nicht gewalttätig werden. Aus diesem
Blickwinkel ist mir Sehn-Sucht immer noch lieber als die
Distanzlosigkeit und die ausgeübte Gewalt. Ich habe da eine
eigene These entwickelt: Vielleicht stellt der Mann die Distanz
her, weil er spürt, dass er gewalttätig wird, wenn es zu nah wird.

Ein Problem ist, dass gewalttätige Männer manchmal auf

Frauen treffen, die sich das gefallen lassen. Diese Frauen fliehen
dann vielleicht in Frauenhäuser, aber das Schlimme ist, dass sie
wieder zu ihren Männern zurückgehen, obwohl sie wissen, dass
der Mann sich nicht verändert hat und dass sie wieder Gewalt zu
erwarten haben. Es gibt Untersuchungen, zum Beispiel von

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Margrit Brückner, die das belegen. Darüber sollten Frauen
nachdenken, denn das Problem ist, dass sie häufig ein Bedürfnis
nach völliger Verschmelzung haben: Aber vollständige
Verschmelzung bedeutet Chaos und unter Umständen
Zerstörung.

Ein weiterer Vorzug der männlichen Sehn-Sucht ist die

Vermeidung von Verliebtheitswahn. Wohl jeder kennt die
Verliebtheit, einen wahnähnlichen, irrealen Zustand, der
normalerweise sechs bis acht Wochen dauert. Manche Männer
begeben sich von einer Verliebtheit in die nächste, sind immer
dabei, Frauen zu erobern, und freuen sich dann über ihre
Leistung. Man nennt das Don-Juanismus.

Wenn ein Mann Sehn-Sucht entwickelt, ist das Positive daran,

dass er sich fern hält, dass er nicht ständig in diesen
Verliebtheitswahn gerät, völlig korrumpierbar wird und der Frau
ausgeliefert ist. Denn in dieser Zeit der totalen Verliebtheit
danken Männer ab, stellen alle ihre Interessen zurück und
wünschen sich nur noch die Verwöhnung durch die Frau.

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Von der Sehn-Sucht zur Entwicklung

Ziel für jeden Mann muss sein, dass aus seiner Sehn-Sucht ein

produktives Sehnen wird. Männer müssen beginnen,
Männerfeindlichkeit und weibliche Herrschsucht in
Beziehungen nicht mehr zu dulden. Sie müssen für sich selbst
die Verantwortung übernehmen, sich Selbsterkenntnis, aber
auch Frauenkenntnis erarbeiten. Denn die meisten Männer
kennen weder sich noch die Frau wirklich. Der
selbstverantwortliche, erwachsene Mann wird auch der Frau ein
klares Gegenüber sein. Aus unaussprechlichen, unerfüllbaren
Sehn-Süchten werden geäußerte, geforderte Bedürfnisse des
Mannes.

Nach meiner Erfahrung dauert eine solche Entwicklung fünf

Jahre. Ich habe dann allerdings erlebt, dass die Frauen das sofort
als aggressiv empfinden, wenn die Männer konkret gegenhalten.
Dagegen wehre ich mich: Wenn Männer, die vorher nicht richt ig
sprechen konnten, die Angst vor Frauen haben, die Frauen
idealisieren, die sich selber klein machen, wenn diese Männer
erstmals wirklich ihre Bedürfnisse äußern, darf das nicht als
Aggression interpretiert werden.

Abschließend das Zitat eines Mannes, der im Grunde zum

ersten Mal seine Bedürfnisse formuliert hat. Ich wünsche mir,
dass Frauen es nicht - wie geschehen - als aggressiv empfinden,
sondern sich ernsthaft damit auseinander setzen, wenn ihr
Partner sich äußert.

» Vorab heißt Freiheit, dass außer Frage steht, dass ich die

Beziehung zu meiner Partnerin und die Arbeit an dieser
Beziehung will, heißt also nicht, dass ich autonom oder ohne
jede Abhängigkeit von meiner Partnerin sein will. Freiheit heißt
außerdem, dass ich auch an mich selbst Ansprüche stelle, zum
Beispiel meine Bedürfnisse klar und deutlich äußern zu können,
und dass auch meine Entwicklung zu einer freiheitlichen

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Beziehung gehört. Das, was ich hier vortrage, ist auch das
Ergebnis langer Entwicklung in der Therapie. Meine
Bedürfnisse haben sich da sehr verändert. Freiheit heißt also
ganz konkret, dass ich mein gebrauchtes Frühstücksgeschirr auf
dem Tisch stehen lassen kann, dass ich anziehen kann, was ich
will, mich rasieren kann, wann ich will, dass ich keine
Rechenschaft ablegen muss, mit wem ich mich treffe, dass mich
meine Partnerin in Ruhe lässt und sich nicht immer nur an mich
wendet, sondern eigene Freundinnen hat, dass ich nicht mit
meiner Partnerin zusammenwohne, dass ich nach großer Nähe
oder sogar nach einer intimen Situation selbst entscheide, ob ich
gleich weggehe oder die Partnerin auffordere, in ihre Wohnung
zu gehen. Das heißt allgemeiner: Die Partnerin soll mich und
meine Handlungen grundsätzlich so respektieren und
akzeptieren, wie sie sind. Sie soll nur Kritik äußern, wenn sie
sich dadurch gestört fühlt, also ihre Nähe zu mir dadurch
behindert ist. Und wenn sie Kritik äußert, so habe ich immer
noch die Freiheit zu entscheiden, ob ich auf ihre Kritik eingehe
oder nicht. Ich riskiere also einen Streit oder eine Trennung.
Und ich möchte eine Partnerin, die dem standhält, die
streitfähig ist und sich von mir trennen kann, ohne sich
wochenlang schmollend zurückzuziehen.«

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Die Mutter - erste Quelle erotischer

Erfahrungen.

Und was ist mit dem Vater?

»Es versteht sich von selbst, dass wir uns in der Gruppe auch

mit der Tatsache beschäftigen müssen, dass die Mutter für den
Jungen die erste Quelle erotischer Erfahrung ist. Das männliche
Kind erlebt im Kontakt mit ihr symbiotische Verschmelzung.

Da es bei vielen Müttern unbewusste oder auch bewusste

Tendenzen gibt, den Sohn für sich behalten zu wollen, weil er
das einzige männliche Wesen ist, dass ihnen wirklich nahe ist
und zur›Verfügung‹steht, soll er›nicht so schnell groß und
selbstständig werden.‹

Diese unter dem Deckmantel von Liebe praktizierte

Vereinnahmungstendenz bewirkt in Jungen häufig die Bewegung
des gewaltsamen Losreißens von der Mutter und eine
lebenslange Furcht vor weiblicher Nähe.

In der Beziehung des erwachsenen Mannes spielen daher

ambivalente Gefühle eine starke Rolle. Seine Sehnsucht und sein
erotisches Begehren bewirken, dass er immer wieder die Nähe
der Frau sucht, in der konkreten sexuellen Liebessituation mit
einer Frau den vertrauten weiblichen Körper wiederfindet, den
er aus der Kindheit kennt und dessen Nähe er fliehen muss,
sobald sein›Hunger‹gestillt ist.

Diese Erfahrung prägt die männliche Erotik entscheidend.

Häufig wird von Frauen und Männern in diesem

Zusammenhang übersehen, dass die Frauen sich im Liebesakt
den 'fremden Männerkörper‹erst vertraut machen müssen. Denn
auch für die weiblichen Kinder war die Mutter die erste
erotische Erfahrung.

Ein Junge entwickelt seine männliche Identität - auf Grund

patriarchaler Strukturen - quasi durch die Trennungsbewegung

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und Distanzierung von der Mutter. Männliche Haltung von
Schwäche oder Aggressivität haben hier ihre primären Wurzeln.

Die Mutter war oft stark, willkürlich, wurde immer als

überlegen empfunden. Und gleichzeitig sollte ihr Sohn
Partnerersatz, Helfer oder auch Retter sein. Wir erinnern uns
mit Schmerzen an bestimmte Situationen, in denen wir von der
Mutter gedemütigt und verletzt worden sind. Gleichzeitig sollten
wir Söhne aber auch immer lieb und brav sein.

Wir haben also eine Menge Ängste, die wir mitbringen, die

uns häufig unbewusst sind und die wir in die Beziehung zu den
Frauen mit einbringen. Unbewusst gewordene
Kindheitserinnerungen prägen dann die Wünsche in der
Gegenwart, Phantasien und auch die konkrete Ausprägung der
Sexualität. Durch die Beziehung zur Mutter hat der Mann einen
Wunsch nach Verwöhnung entwickelt und erwartet, dass die
Frau ihm alle Wünsche von den Lippen abliest. Aber er hat auch
die Helferrolle mit auf den Weg gegeben bekommen. Das kann
dazu führen, dass der Mann immer auf die Frau schaut, sie
glücklich machen will, sie befriedigen will, ganz konkret
gesprochen: zum Orgasmus bringen will, dass das sein
Hauptziel ist. Außerdem suchen sich Männer häufig starke und
dominante Frauen, nicht die zärtlichen, weichen und
entgegenkommenden, also Frauen, die die Übergriffigkeit der
Mutter verkörpern. Das führt zu einer großen Angst vor Nähe
mit dieser Frau. Die Demütigungen und Verletzungen aus der
Kindheit drücken sich bei Männern auch häufig in
sadomasochistischen Phantasien und Praktiken aus.

Weil den Sohn und auch später den Mann die Ansprüche, die

von der Mutter formuliert wurden und die er völlig vergessen
hat, immer noch bestimmen, kann er der Frau nicht gerecht
werden. Das führt dann im Gegenzug zu einer Abwertung der
Frau und gegebenenfalls auch zu Gewaltanwendung.

Uns geht es also in der Männergruppe darum, diesen

Kindheitserinnerungen auf die Spur zu kommen, einen

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Bewusstwerdungsprozess in Gang zu setzen und die
Kindheitserlebnisse durchzuarbeiten, um dann unsere Gefühle
zu verändern.«

Die Feministinnen haben sich darum bemüht, den

erwachsenen Mann zu attackieren, aber sie haben sich nicht
darum bemüht, den kleinen Jungen zu verstehen. Diese Arbeit
müssen wir Männer leisten. Wir »erwachsenen« Männer sollten
uns bemühen, den kleinen Jungen in uns zu verstehen. In
unserer Männerarbeit haben wir in dieser Richtung schon
gearbeitet: Wir haben zum Beispiel, jeder für sich, einen Brief
an den kleinen Jungen geschrieben, der wir einmal waren. Das
war außerordentlich schwierig, weil die ganzen Einflüsse der
Eltern hochkamen und wir anfingen, uns selbst zu beschimpfen
und als nicht angenehm zu empfinden. Es fällt außerordentlich
schwer, freundliche Worte an den Kleinen zu richten, der wir
einmal waren. Ein Teil dieser Briefe ist im Kreuz Verlag unter
dem Titel »Liebe Mutter, du tust mir nicht gut« erschienen.

Jede zweite Frau hat nach Schätzung von Feministinnen

irgendwelche sexuellen Übergriffe erlebt. Ich schätze
mittlerweile dasselbe in Bezug auf die Männer. Hier soll aber
auch ganz klar betont werden, dass rund die Hälfte der Mütter
ihre Söhne anständig behandelt hat, liebevoll, verständnisvoll,
dass die Mütter ihren Söhnen Kraft gegeben haben. Aber bei der
anderen Hälfte der Männer ist das eben nicht so. Die haben eine
problematische Kindheit erlebt - vor allem im Verhältnis zur
Mutter, denn der Vater war ja sowieso meist abwesend, der war
als Alternative für die Jungen nicht greifbar und leistete dadurch
einer gewissen Verwahrlosung vor allem der Söhne Vorschub.
Oder, eine ebenso schlimme Alternative, er war ebenfalls
gewalttätig dem Jungen gegenüber und vielleicht auch
gegenüber der Mutter. Es geht mir nicht darum, Mütter
anzuklagen oder gar zu verurteilen - auch sie sind Opfer im
Patriarchat. Ich will die Mütter dazu ermutigen,
Sohneskennerschaft zu erwerben, denn ich will die Söhne

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schütze n.

Viele Männer übertragen ihre Erfahrungen aus dem

Verhältnis zur Mutter auf ihre Beziehungen zur Frau.
Nachfolgend zwölf Punkte, die zeigen, wie problematische
Mutter-Sohn-Verhältnisse aussehen können.

1. Idealisierung der Mutter

Manche Männer haben eine trügerische Vorstellung von ihren

Müttern, schwärmen von ihnen, verklären und idealisieren sie,
das heißt: Sie schonen sie. Der Grund ist Mitleid. Solche
Männer ergreifen für die Mutter Partei, haben ihre Gefühle
übernommen. Diese Übernahme ist ein komplizierter
psychischer

Vorgang, da musste einiges geschehen. Diese Männer wissen

alles über ihre Mütter, über ihre Krankheiten, Enttäuschungen,
Trauer. Über sich selbst wissen solche Männer aber sehr wenig.
Selbst wenn man einen auffordert, über sich als kleinen Jungen
zu reden, spricht er gleich wieder über seine Mutter. Er hat in
Symbiose mit ihr gelebt und bezahlt die Verklärung der Mutter
mit einer Unfähigkeit, sich persönlich als Mensch zu
entwickeln. Er hat keine Kraft gewonnen, sich mit der Mutter
auseinander zu setzen, geschweige denn, ihre Übergriffe
abzuwehren. Er spürte ihre Hilflosigkeit, war dabei selbst hilflos
und fühlt sich auch heute noch der Welt gegenüber hilflos. Doch
auf ihre Mütter lassen betroffene Männer nichts kommen.

»Damals fing ich an, mir einen Panzer zuzulegen, mir meine

Gefühle nicht anmerken zu lassen, mich nur auf mich zu
verlassen und mit meinen Problemen möglichst alleine fertig zu
werden. Das machte mich unverletzbar und unabhängig, und
nicht selten wurde ich für meine Selbstständigkeit auch noch
bewundert. Aber der Panzer, der mich vor Verletzungen von
außen schützte, verhinderte gleichzeitig, dass meine Gefühle,
Bedürfnisse und Erwartungen nach außen gelangten und von
denen wahrgenommen wurden, deren Nähe ich suchte. Es hat

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unendlich viel Kraft gekostet, mich auf diese Weise zu
behaupten und mich nicht klein kriegen zu lassen. Noch heute
habe ich das Gefühl, mich auszuliefern, wenn ich meine Gefühle
zeige, und es fällt mir schwer einzusehen, dass nicht jede kleine
Kränkung wirklich böse gemeint und nicht jede Distanzierung
schon eine Zurückweisung oder gar eine Demütigung ist. Und
noch heute reagiere ich äußerst empfindlich, wenn mir ein
Gespräch verweigert wird oder ich vor vollendete Tatsachen
gestellt werde. Dann werde ich wieder zum Einzelkämpfer, der
ich nicht mehr sein will, und lasse mich auf völlig überflüssige
Machtkämpfe ein, einzig und allein aus Angst, bevormundet
oder gedemütigt zu werden. Kämpfen ist wesentlich einfacher,
als zuzuhören und miteinander zu reden, und bewusst
eingesetztes Schweigen hat eine verheerende Wirkung.«

Das sagt der schweigende Mann, der an seine Gefühle nicht

herankommt, der auch mit Männern nicht ins Gespräch kommt,
weil er viel Schlimmes mit seiner Mutter erlebt hat. Solch
deutliche Äußerungen sind sehr selten.

Grund für die Schonung kann aber auch die Angst vor der

Mutter sein, vor ihrer Rache: Schläge, Schweigen, Liebesentzug.

2. Die interesselose Mutter

»Du projizierst in mich irgendwelche Vorstellungen und

Bedürfnisse von dir. Du zeigst keine Gefühle, kein Interesse für
mich. Es geht dir auch gar nicht um eine konkrete Vorstellung,
wie du mein Leben gestalten willst. Es geht um Herrschaft, du
willst mich beherrschen.«

Die interesselose Mutter hat kein echtes Interesse an ihrem

Sohn. Sie kennt ihn nicht, fragt ihn aber auch nicht, erzählt
immer nur von sich und meist von Krankheiten, Miseren,
Geldmangel. Sie richtet ungeheure Liebesansprüche an den
Sohn, er bleibt ihr Objekt. Er soll ihre gescheiterten
Entwicklungs- und Lebenspläne verwirklichen. Söhne, für die

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sich die Mutter nie wirklich interessierte, haben es als Männer
sehr schwer, sich selbst wichtig und ernst zu nehmen.

Es gibt den Mythos, dass Frauen Männer besser verstehen als

umgekehrt. Diesen Eindruck habe ich tatsächlich von
erwachsenen Partnerschaften. Aber Mütter verstehen ihre Söhne
oft überhaupt nicht. Weil sie sich überhaupt nicht einfühlen
können und weil sie kein Interesse haben. Mütter verstehen die
Schmerzen, die Hilflosigkeit und die Trauer ihrer Söhne nicht.
Die so genannte Mutterliebe ist für mich nur ein Mythos, der
diese Tatsache verschleiert.

3. Nicht die richtige Zärtlichkeit für den Sohn

»Bei deinen Abschieds- und Begrüßungsumarmungen haben

sich mir früher alle Nackenhaare gesträubt. Heute kann ich es
bisweilen zulassen, aber manchmal empfinde ich dabei auch
noch zwiespältige Gefühle. Denn ich empfinde dabei weniger
ein Ausdrücken von "Zuneigung, die mir auch Raum lassen
würde, als vielmehr dein Festhalten an einem Stück von dir.«

Damit meint der Mann sich, die Mutter empfindet ihn als ein

Stück von sich. Sie hält fest an ihm als einem Stück von ihr. Das
ist eines der Hauptprobleme, die Eltern gegenüber ihren Kindern
haben: Sie meinen, die Kinder seien ihr Eigentum und sie
könnten damit machen, was sie wollen. Mütter quälen ihre
Söhne mit unerwünschten »Zärtlichkeiten« und wecken damit
eine Aversion gegen jede Zärtlichkeit in ihnen. Ursache ist oft
das ungestillte Zärtlichkeitsbedürfnis der Mutter.

Manche Mütter geben auch zu wenig Zärtlichkeit. Sie sind zu

beschäftigt mit sich oder unfähig, zärtlich zu ihren Söhnen zu
sein. Diese Männer können später nur schwer zärtliche
Stimmungen herstellen und zärtlich sein.

4. Demütigung und Beschämung

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Viele Mütter demütigen und beschämen ihre Söhne: Sie

respektieren zum Beispiel beim Arzt, gegenüber Freundinnen
oder auch zu Hause die Intimsphäre und Geschlechtlichkeit der
Söhne nicht. Diese Männer müssen sich später sehr mühsam
ihre Grenzen, ihr Selbstwertgefühl erarbeiten. Keine einfache
Voraussetzung für eine selbstbewusste Erotik. Ein Sohn erinnert
sich:

»Du hast ein Problem daraus gemacht. Du wolltest beim

Waschen, dass ich meine Vorhaut zurückziehe. Mir war das
unangenehm, vielleicht tat es mir auch weh. Jedenfalls hast du
nicht locker gelassen. Du hast jedenfalls dafür gesorgt, dass wir
zum Arzt gingen. Du hast einen operativen Eingriff
vorangetrieben, dieser war nicht notwendig. Aber der Arzt hat
mich ins Sprechzimmer geholt und mich gefragt, ob ich mit
dieser Operation einverstanden wäre, und gefragt, welcher
Religion wir angehörten. Das war also überhaupt nicht
notwendig. Aber der neunjährige Junge, der ich war, konnte
nicht gegen seine Mutter agieren. Meine Bravheit, die du mir
schon früher ausgebildet hattest, ließ nur Zustimmung zu. Die
Wunde, die du mir damit beibrachtest, ist auf körperlicher Seite
nicht so schwer. Aber die seelische Seite, die
Minderwertigkeitsgefühle, die dadurch hervorgerufen wurden,
kein richtiger Junge zu sein, haben mich von der Pubertät bis
zum heutigen Zeitpunkt verfolgt. Du kannst dir nicht vorstellen,
wie schwierig es zum Beispiel in der Schule war. Das
gemeinsame Duschen nach dem Sportunterricht war
erniedrigend. Die anderen Jungen lachten mich aus, zogen mir
die Unterhose herunter. Ich kam mir vor wie ein Monstrum.
Auch der Umgang mit Mädchen war zu dieser Zeit besonders
problematisch. Ich empfinde dieses Vorgehen von dir als einen
Übergriff, fühle mich missbraucht und gedemütigt. Ich fühle
mich auch von meinem Vater verlassen, er war nicht da. Er
hatte nicht eingegriffen, hat mich nicht beschützt. Auch später
hat er mir nicht bei meinen Schwierigkeiten geholfen. Er hätte

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mir deutlich machen müssen, dass es viele Männer gibt, die
beschnitten sind, und dass es kein Makel für mich ist.«

Warum beschämen und demütigen Mütter ihre Söhne?

Mangelndes Einfühlungsvermögen ist natürlich eine Ursache,
aber oft täuschen diese Mütter absolute Selbstaufopferung vor:
Ich tue alles für meinen Jungen, signalisieren sie der Umwelt.
Für den Jungen heißt das, dass er selbst nichts kann, selbst aber
auch nichts bestimmen darf. So wird er in seiner Entfaltung und
Entwicklung behindert.

Natürlich geht es nicht an, die Rolle des Vaters in diesem

Zusammenhang zu verschweigen. Häufig hält sich der Vater -
Mann, wenn er überhaupt anwesend ist, aus dem schwierigen
Geschehen zwischen Mutter und Sohn heraus.

Er sieht zu, erinnert sich vielleicht an das eigene Drama, wagt

aber den offenen Konflikt mit der Frau nicht. Er überlässt ihr
den Sohn.

Dabei ist der Vater die Person, die dem kleinen Jungen bei der

notwendigen Ablösung von der Mutter tröstlich helfen könnte,
indem er ihm die Erfahrung vermittelt, dass auch Männer in
Sachen Pflege, Dinge der täglichen Fürsorge, Gestaltung von
Beziehung und emotionalem Austausch kompetent, zuverlässig
und richtig männlich sein können. Väter übernehmen diesen Part
zu selten, sodass das eigentliche Identifikationsobjekt dem
Jungen fremd, unzugänglich und nebulös bleibt. Wären der
Körper des Vaters und seine ganze Person ebenfalls eine Quelle
von Lebendigkeit, Zärtlichkeit und Geborgenheit und nicht nur
die Möglichkeit für spielerischen Kampf oder Konkurrenz,
verliefe die geschlechtliche Aneignung des Jungen komplexer,
und er müsste seine Erotik nicht mehr abwehren und durch
Abwertung des Weiblichen definieren.

Von dieser fundamental bedeutsamen Prägungsmöglichkeit

sind wir heute noch weit entfernt, da die entsprechenden Väter -
Männer fehlen oder in zu geringer Zahl wirken.

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5. Dominante Mutter

Entgegen dem Bild in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hat

in vielen Familien zu Hause die Mutter das Sagen. Diese Macht
übt sie nicht immer in dominanten, lauten Worten aus; auch
Blicke, Gesten, die Mimik, der subtile Unterton dienen ihr dazu,
die Stimmung im Haus zu steuern. Der Vater kann den
emotionalen Gegenpol nicht herstellen, weil er oft nicht
anwesend ist oder sich ebenfalls der Frau unterwirft. Mit ihrem
bestimmenden Verhalten macht es die Mutter dem Sohn sehr
schwer, sich zu behaupten und solche Selbstbehauptung für
spätere Beziehungen mit Frauen zu üben.

6. Umgang mit Wut

Der Mutter ist Wut erlaubt, dem Sohn nicht. Im Extremfall

führt das dazu, dass die wütende Mutter dem Sohn jeden
wütenden Impuls ausprügelt. Wut ist eine lebenswichtige
Reaktion für die Entwicklung der Persönlichkeit, doch nur
wenigen Jungen gelingt es, sich gegen die Wut der Mutter mit
eigener Wut zu behaupten. Männer ohne Wut wurden
systematisch klein gemacht.

Mütter erzählen oft ganz stolz, wie leicht es ihnen gelungen

sei, ihre Kinder trocken zu bekommen. Um das früh zu schaffen,
ist meist Gewalt erforderlich. Diese Mütter stellen sich selbst oft
als Opfer dar und leugnen gleichzeitig die Verletzlichkeit ihres
Sohnes.

7. Klagende Mutter

Die Mutter, die immer jammert und klagt, sich bei ihrem

Sohn ausweint, überfordert das Kind. Der Sohn muss zwar alles
anhören und mittragen, er kann es aber eigentlich nicht. Es
entsteht nicht nur eine Hilflosigkeit bei ihm, er bekommt auch

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ein negatives Weltbild und hat kaum eine Chance, eigene
positive Erfahrungen zu machen.

Ein Mann, dessen Mutter Selbstmordabsichten äußerte,

erinnert sich in seinem Brief an die Mutter:

»Das hatte zur Folge, dass ich daraufhin dein Tun und

Treiben verfolgte. Und als du dich dann einmal im Badezimmer
eingeschlossen hattest und auf mein Fragen nicht antwortetest,
hatte ich riesengroße Angst, du würdest dir das Leben nehmen.
Du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst mir das bereitete.
Dieses Gefühl der Ohnmacht war dann kaum auszuhalten. Eine
Ewigkeit verging, bis du dann wieder aus dem Bad herauskamst.
Schrecklich! Das war die größte Gemeinheit, die du mir als
Kind angetan hast.«

8. Gewalt der Mutter

Viele Mütter sind sehr gewalttätig ihren kleinen Söhnen

gegenüber, vor allem, wenn die Väter nicht dabei sind. Ein
Mann schreibt:

»Von dir, Mutter, wurde ich manchmal so verprügelt, dass ich

um Gnade winselte, sodass, wenn die Schläge nicht aufhörten,
mir schien, die Erde würde stillstehen. Deine Wut, ich weiß
nicht, auf wen, hast du prügelnd mit dem Stiel des
Teppichklopfers auf dem Po deines kleinsten Sohnes ausagiert.
Ich weiß den Anlass nicht mehr, so groß kann er nicht gewesen
sein. Das war in der Waschküche, du hattest gewaschen. Deine
schnaubende Wut, meinen Kopf zwischen deinen Knien, sodass
die Ohren vom Kniedruck schmerzten, es roch nach
Waschlauge, nach deinem Schweiß, und immer die Schläge, die
nicht enden wollten. Ich habe geschrien, ich habe gewinselt, ich
habe dich angebettelt: Ich bin wieder lieb, bin wieder lieb. Du
wolltest nicht aufhören. Es hat mich niemand gerettet. Ich war
dir ausgeliefert. Die Welt stand still.«

Die Väter wissen oft gar nichts davon. Oder die andere

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Variante: Die Mutter berichtet abends von den Missetaten, und
der Vater ist Vollstrecker der Gewalt. Das ist das Furchtbarste,
was ich mir überhaupt vorstellen kann: dass der Vater so ein
Jammerlappen ist, dass er das Gekeife der Frau akzeptiert und
den Sohn verprügelt. Der Sohn hat keine Chance gegen diese
Übermacht.

In der Gewalt der Mutter gegen den Sohn liegt meiner

Meinung nach zumindest eine Antwort auf die Frage: Wie
kommt die Gewalt in den Mann? Sicher sind nicht alle Männer
gewalttätig, aber prozentual gesehen doch viele. Aus der
Tiefenpsychologie wissen wir, dass die Bedürfnisse, Triebe und
Motivationen eines Menschen in seiner frühen Kindheit angelegt
werden. Tatsächlich haben Söhne auch mit dem Hass der Mütter
zu tun - und das ist nicht nur ein persönliches Problem, sondern
das hat eine gesellschaftliche Dimension. Indem man die Mütter
mit den Kindern allein lässt und die Väter sich mit der
Begründung, arbeiten zu müssen, verabschieden dürfen, kommt
Gewalt in die Kultur.

Das klingt jetzt für viele wie eine Schuldzuweisung an die

Mutter. Doch es geht hier nicht um Schuld, es geht um die
Entstehung der Gewalt bei Männern, es geht um Aufklärung und
auch darum, den Eltern Unterstützung zu geben, damit sie
wissen und gewarnt sind, was sie bei ihren kleinen Kindern
anrichten.

9. Gefängnis

Manche Mütter behandeln ihren Sohn wie einen Gefangenen:

Er kann sich der Mutter nicht entziehen, steht absolut in ihrem
Einflussbereich. Die Väter helfen ihren Söhnen da nur selten
heraus, weil sie nicht anwesend sind, weil sie kein
Einfühlungsvermögen für die kleinen Jungen entwickeln. Der
eingesperrte Sohn erlebt als Mann in der Beziehung zur Frau
unbewusst Ohnmachtsgefühle und ein starkes Ausgeliefertsein,

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das jede freie und freudige Erotik stört.

10. Sexuelle Interessen

Viele Mütter haben eindeutig sexuelle Interessen an ihrem

Sohn. Sie wollen nicht nur Zärtlichkeit, sie sind eindeutig am
Penis interessiert, machen zum Beispiel ständig irgendwelche
Vorhautübungen. Im Extremfall geht das so weit, dass sie den
Sohn mit ins Bett nehmen, wenn der Vater nicht da ist, oder gar
den heranwachsenden jungen Mann zum Koitus verführen und
ihm dann sogar noch die Schuld an der Situation geben.

Nach Gerhard Amendt sind 50 Prozent aller Männer von ihren

Müttern sexuell oder autoritär missbraucht worden. Er
veröffentlichte unter dem Titel »Wie Mütter ihre Söhne sehen«
die Resultate einer Fragebogenaktion. Die Fragebögen wurden
von Müttern ausgefüllt, und da findet sich sehr viel über
Sexualität, die Mütter mit ihren Söhnen haben.

Der sexuelle Übergriff auf Söhne muss uns interessieren,

wenn wir der Frage nachgehen, warum vielen Männern eine
produktive und glückliche Beziehung mit Frauen so schwer fällt.
Doch die meisten Söhne wissen nicht mehr, was ihnen passiert
ist. Es liegt in der frühen Kindheit und musste verdrängt werden.

Ein Mann schreibt an seine Mutter:

»Ich verstehe nicht, warum du von mir Zärtlichkeiten und

Anerkennung haben wolltest. Warum hast du es nicht an deinen
Mann herangetragen und mit ihm ausgelebt? Mit einem
erwachsenen Mann muss man sich auseinandersetzen, muss
sagen, was man sich wünscht und was nicht. Ein kleiner Junge
muss das mitmachen, der ist verfügbar und macht das ohne
große Fragen mit.«

Männer erzählen auch, dass sie mit den Erektionen

Schwierigkeiten haben, man spricht dann von Impotenz.
Manche erinnern sich, dass ihre Mutter die Erektionen gern
hatte und sie auch stimuliert hat. Für den Sohn war meist Ekel

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mit dabei, und das stört seine heutige Erektionsfähigkeit.

Manche Mütter kaschieren die sexuellen Berührungen mit

Ängsten um den Sohn: Sie müssen angeblich prüfen, ob der
Hoden noch im Sack und nicht etwa in die Bauchhöhle
gewandert ist. Sie haben Angst, dass die Vorhaut zu eng sein
könnte diese Sorge haben viele Mütter, das geht auch aus
Amendts Buch hervor.

Der extremste Fall ist, wenn die Mutter mit ihrem Sohn den

Koitus vollführt. Ein betroffener Mann schreibt:

»Wir schliefen dicht auf der schmalen Snap-Couch. Mir

schmeckte zwar der Wein zum Fernsehen, und das war ein
weiteres Attribut für mich, um mich mit 12 Jahren mich
erwachsen fühlen zu können. Doch meinen Schlaf hast du
gestört. Es war mir zu eng auf der Snap-Couch. Es war mir zu
eng neben deinen Körpermassen, zu klebrig, wenn ich umnebelt
von Wein und Halbschlaf mich wie unter Felsen begraben fühlte
und in der Wand verschwinden wollte. Ohne den Penis wäre mir
das erspart geblieben. Und der Missbrauch, den ich von dir
erlitten habe, begann damit, mich keine Grenze zu dir
entwickeln zu lassen.«

Die Mutter eines anderen Mannes hatte ihm angedroht, ihn

umzubringen, falls er schwul würde. Zunächst hatten wir das in
der Männergruppe als Intoleranz gegenüber Homosexuellen
interpretiert, aber es gab einen anderen Grund: Sie hatte ein
sexuelles Interesse an ihrem Sohn. Der Mann schreibt:

»Wenn du mir als Heranwachsendem zweideutige Witze

erzählt hast oder bei irgendwelchen Feiern, bei denen getanzt
wurde, unbedingt mit mir tanzen wolltest, war mir das immer
sehr unangenehm. Ich fühlte mich von dir abgestoßen, wenn du
mit mir ganz eng tanzen wolltest... Ihr zwei Frauen, die ihr beide
ohne Mann lebtet, hattet dann unbedingt Lust, mit uns zu tanzen
und uns auf die Pelle zu rücken. Ich hatte Mühe, mir dich vom
Leibe zu halten. Du hast darauf mit völligem Unverständnis

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reagiert. Schließlich, meintest du, könne ein Sohn doch ruhig
mit seiner Mutter tanzen. Ja, schon, aber nicht so. So hast du
mich angewidert. Du fandest auch nichts dabei, dass die andere
Frau mit ihrem Sohn zusammen in einem Ehebett geschlafen
hat. Sie meinte noch dazu irgendetwas von gemeinsamem
Lotterbett oder so ähnlich. Ich glaube, dir hätte das auch
gefallen. Mir nicht! Früher als kleiner Junge habe ich deinen
Körper noch angenehm empfunden, aber irgendwann mit
Beginn meiner Pubertät wurdest du mir immer unangenehmer,
wollte ich vor allen Dingen deinen entblößten Körper nicht
sehen. Trotzdem musstest du dich abends in dem Zimmer, in
dem wir beide in getrennten Betten geschlafen haben, ausziehen.
Manchmal habe ich versucht, von dir unbemerkt dich
anzuschauen. Aber ich hatte doch eher unangenehme Gefühle
dabei und habe mich dann zur Wand gedreht... Mit dieser
unterschwelligen Sexualität, ich sage heute Übergriffigkeit, hast
du häufig meine Schamgrenze überschritten. Du warst völlig
distanzlos und nicht in der Lage, meine Empfindlichkeiten zu
respektieren.«

Wenn ich davon ausgehen könnte, dass solche Dinge bekannt

wären, müsste ich sie hier nicht in dieser Ausführlichkeit
zitieren. Aber ich habe davon in meiner zehnjährigen
Ausbildung zum Psychotherapeuten nichts gehört, ich habe
nichts davon in Psychologiebüchern gelesen und auch nicht in
Büchern über die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.
Deshalb halte ich es für wichtig, solche Erlebnisse zu
veröffentlichen.

11. Die Mutter macht ihren Söhnen Angst

Aus vielen Briefen geht hervor, dass die Mutter ihren Söhnen

Angst vor Mädchen und anderen Frauen macht. Das hat mit
Eifersucht zu tun, denn die Mutter will den Sohn für sich.

Angst vor anderen Frauen erzeugen Mütter, indem sie alle

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Mädchen, mit denen der Junge zusammen ist, und die späteren
Partnerinnen schlecht machen. Damit wird auch der Junge klein
gemacht, als werdender Mann nicht akzeptiert. Manche Jungen
dürfen zum Beispiel nie die Kleidung tragen, die sie wollen, um
Mädchen gegenüber attraktiv zu erscheinen. Ein Mann schreibt
seiner Mutter:

»Ich verlernte sehr schnell, mich dir anzuvertrauen. Ich

spürte sehr schnell, wie hart du gegenüber Menschen sein
konntest, die sich Hilfe suchend an dich wandten. Darunter auch
meine Freundinnen und deine Freundinnen. Du hörtest sie an,
sie fühlten sich sicher mit ihren Problemen aufgehoben, und du
verurteiltest sie, kurz nachdem sie gegangen waren. So hast du
es mir nicht ermöglicht, Freundschaften zu Frauen zu
entwickeln, die frei waren von dem Gefühl, dass diese Menschen
sich etwa ähnlich verhalten könnten wie du dich gegenüber
deinen Freundinnen.«

12. Alle Männer sind schlecht

»Ich bin ein Junge, ein Mann. Du hast nicht versäumt, mir zu

erzählen, wie übergriffig, gewalttätig und gefühllos die Männer
sind. Ich habe mir viele deiner Erlebnisse anhören müssen,
bevor ich in die Pubertät kam. Dein Mann, mein Vater, kam
ganz besonders schlecht dabei weg... Die Männer waren alles,
wie die Mutter sagte, Schlappschwänze, Frauenhelden,
Frauenausbeuter, Missbraucher... Ich bin also auch ein Blödian
und gefühlloser Vergewaltiger. Als kleiner Junge glaubt man
das. Ich habe gelernt, mich selber zu verachten und mir zu
misstrauen. «

Mütter wie die des eben zitierten Mannes machen den Vater

oder überhaupt alle Männer so schlecht, dass der Sohn Angst
vor Männerfreundschaften und vor seinen eigenen Wünschen
bekommt. Er wird erzogen im Gefühl: »Alle Männer sind
potenzielle Vergewaltiger«, und aus diesem Gefühl heraus

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verbietet er sich seine männliche Erotik, seine Sexualität.

Ein anderer Mann schreibt an seine Mutter:

»Du hast meinen Vater nach eurer Scheidung eigentlich nur

schlecht gemacht. Er hat die Matratze des Dorfes geheiratet,
sich von der Erstbesten einfangen lassen, hast du dann öfter
erzählt, nachdem er eine neue Beziehung begonnen hatte. Du
hast ihn wie das letzte Arschloch dargestellt, das uns hat sitzen
lassen.«

So kommt es, dass die Jungen sich schlecht fühlen, weil sie

angeblich so wie der Vater sind. Daraus ergibt sich ein
außerordentlich angekränkeltes Selbstbewusstsein: Diese
Männer leben mit dauernden Selbstvorwürfen und machen sich
selber fertig. Sie erleben keine Erotik und sind nicht fähig, mit
einer Frau wirklich eine produktive Austauschbeziehung
aufzubauen.

Dennoch fällt es diesen Männern unerhört schwer und dauert

auch meist eine ganze Zeit, bis sie überhaupt einen Schmerz
spüren und in der Lage sind, sich darüber zu ärgern und Wut
gegen die Mutter zu empfinden. Abgesehen von den körperlichen
Schlägen, hinterlässt besonders diese massive Gewalt durch
Angst machen ihre Spuren bei den Männern.

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Selbstbefriedigung als Teil der eigenen

Erotik

Zwischen Selbstbefriedigung und Selbstkritik besteht für

mich ein entschiedener und markanter Zusammenhang. Am
offensichtlichsten ist, dass viele Menschen, die
Selbstbefriedigung machen, sich selbst dafür kritisieren. Das
halte ich für ein großes Problem, nicht die Selbstbefriedigung,
sondern die Selbstkritik daran. Ich behaupte: Nur wer die
Selbstbefriedigung voller Lust genießt, ist auch zu lustvoller
Erotik mit der Partnerin fähig.

Sigmund Freud beschäftigte sich sehr früh mit

Selbstbefriedigung, für die er die Worte »Onanie« oder
»Masturbation« verwendete. Die Onanie taucht bei ihm zuerst
im Zusammenhang mit Angstneurose auf, und er spricht von
einer sexuellen Schädlichkeit. »Onanie erzeugt neurasthenische
und neurotische Symptome.« Freud meinte, man könne die
Onanie therapieren, indem man sie dem Betroffenen abgewöhnt.
Die Schädlichkeit der Onanie war aber schon zu Freuds Zeit
umstritten: Sein Schüler Wilhelm Stekel meinte,
Selbstbefriedigung sei unschädlich. Das brachte ihm Freuds
Unmut ein. Worin ich Freud zustimme, das ist seine Aussage,
dass Männer, die nicht onanieren, »Sonderlinge« sind.

Vor 100 Jahren wurde das Onanieren als schädlich

empfundenes Geheimnis gehütet, über das man im Grunde nicht
sprechen durfte. Da hat sich bis heute nicht viel geändert.
Richtigerweise stellt Freud fest, dass Onanie bereits im
Säuglingsalter stattfindet: Reiben, Drücken und
Zusammenpressen der Oberschenkel beim Mädchen, die Jungen
nehmen auch schon die Hand. Erwachsene können sich daran
nicht mehr erinnern. Fragt man sie, wann sie mit der
Selbstbefriedigung begonnen haben, nennen die meisten das
Teenageralter.

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Insgesamt ist Freuds Haltung zur Onanie recht ambivalent.

Einmal sieht er sie als Hilfsmittel zur Tugend. Später bezeichnet
er sie als »Unart« - allerdings in Anführungsstrichen. Ein
anderes Mal sieht er es sogar als therapeutischen Fortschritt,
wenn der, der sich die Onanie eine Zeit lang verboten hat, sich
diese nun wieder zutraut.

Marianne Krüll hat sich mit Freud und dessen Vater

auseinander gesetzt und darüber ein Buch geschrieben. Darin
heißt es, dass Jacob Freud, der Vater, unter schweren
Schuldgefühlen litt, weil er das jüdische Verbot der Onanie
nicht einhalten konnte. Onanie galt in jüdischen Kreisen als
Perversion, es war eine schwere Sünde und ein Verstoß gegen
die geltende Moral. Der Vater konnte mit seinen Kindern sicher
nicht über seine Sexualität sprechen, das war ein absolutes Tabu.
Jacob Freud hat seinem Sohn Sigmund verboten, an seinem
Genital zu spielen, offenbar mit Kastrationsandrohung, denn
Freud hatte häufig Träume, wegen Onanie kastriert zu werden.
Vater Freud war außerdem der Meinung, dass Onanie langfristig
schwächt, und zwar nicht nur die körperliche, sondern auch die
geistige Potenz.

Auch Sigmund Freud konnte seinen Söhnen gegenüber nicht

offen mit dem Thema umgehen. Als der halberwachsene Sohn
mit Sorgen in Bezug auf Masturbation zu ihm kam, warnte er
den Jungen vor der Selbstbefriedigung. Das hat einen guten
Kontakt zwischen Vater und Sohn verhindert, denn der Junge
fühlte sich nicht verstanden. Freud konnte offenbar seine
durchaus fortschrittlichen wissenschaftlichen
Untersuchungsergebnisse nicht in die Tat umsetzen und sich
nicht von den Konventionen lösen, mit denen er aufgewachsen
war.

Freud fordert, dass man Kinder über Sexualität aufklärt, denn

Unwissenheit schützt niemals vor Problemen. Mit Aufklärung
fördern die Eltern das Denkvermögen der Kinder und
unterstützen diese auch in allen anderen Fragen zum

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Erwachsenwerden. Die schädlichen Seiten des Sexuallebens
sind laut Freud Ursache der häufigsten neurotischen
Krankheiten. Freud warnte auch vor der Einschüchterung der
Kinder und vor falschen Antworten, etwa, dass der Storch die
Kinder bringe. Kinder spüren falsche Antworten und werden
misstrauisch, entfremden sich von den Eltern.

Drei Ursachen zählt Freud für die schädliche Geheimnistuerei

der Eltern auf: Prüderie, schlechtes Gewissen und theoretisehe
Unwissenheit. Das Letzte möchte ich deutlich unterstreichen:
Viele, wenn nicht die Mehrzahl der Eltern, wissen nicht, dass
Kinder und sogar schon Säuglinge einen Geschlechtstrieb
haben. Der kommt nicht erst mit der Pubertät.

Freud sagt, die Aufklärung müsse Aufgabe der Schule sein.

Ich meine, dass zuerst die Eltern gefragt sind. Und ich glaube
auch nicht, dass man damit warten sollte, bis die Kinder Fragen
stellen, denn sie fragen nicht. Sie spüren schon an der
Atmosphäre, dass solche Fragen nicht erwünscht sind: Denn
über Sexualität wird ja nie gesprochen, das ist irgendwie
geheim. Aufgeklärte Eltern aber müssen die Kinder ansprechen,
nicht bedrängen, sondern immer wieder einmal etwas erzählen.
Keinesfalls sollte Aufklärung in einer feierlichen, einmaligen,
schwülstigen Aufklärungsaktion bestehen. Eigentlich müsste die
Sexualität im Gespräch zwischen Mann und Frau, die
zusammenleben, ab und zu vorkommen. Sexualität gehört zum
alltäglichen Leben, das ist etwas Normales, das ist etwas
Wissenswertes.

Man kann die Notwendigkeit der laufenden Aufklärung auch

nicht abwimmeln mit der Begründung, das sollte über
Gespräche mit Gleichaltrigen laufen. Die Gleichaltrigen wissen
auch nicht mehr, und es kommt zu
mythischmagischphantasievollen Deutungen, die notwendiges
Wissen ersetzen.

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Selbstbefriedigung ist normal

Der Kinsey-Report aus dem Jahr 1966 über »Das sexuelle

Verhalten des Mannes« liefert mehr und bessere Informationen
über Selbstbefriedigung als das meiste, was seitdem über das
Problem erschienen ist. Die Kinsey-Gruppe schreibt:
»Selbststimulierung zur erotischen Erregung ist allgemein
verbreitet bei Männern wie bei Frauen, beim jüngsten Kind wie
auch beim ältesten Erwachsenen.«

Die Kinsey-Gruppe hat herausgefunden, dass 92 Prozent der

Menschen sich selbst befriedigen und dabei bis zum Orgasmus
kommen. Selbstbefriedigung ist also Normalität, und es stellt
sich die Frage: Wer sind die übrigen 8 Prozent? Laut Kinsey
sind das Männer, deren sexueller Antrieb nicht stark genug ist
oder die sehr früh mit Frauen sexuellen Kontakt haben. Diese
nennt Kinsey »schwerfällige« Individuen, die nicht onanieren,
weil sie es nicht bis zum Orgasmus schaffen. Und schließlich
gibt es noch die Männer, die in Gruppen leben, wo die Onanie
verboten ist, zum Beispiel in jüdischen oder christlichen
Kreisen.

Der Kinsey-Report hat auch festgestellt, dass Jungen meist

von außen zum Onanieren hingeführt werden, das heißt sie
hören davon, oder es wird ihnen von anderen Jungen gezeigt.
Mädchen entdecken es dagegen häufiger selbst.

Kinsey arbeitet große Unterschiede zwischen den sozialen

Schichten heraus: Menschen mit guter Bildung machen am
häufigsten Selbstbefriedigung, die Ungebildeteren weniger. Hier
nun meine These: Mehr Selbstbefriedigung korrespondiert mit
mehr Selbsterkenntnis, das heißt: Ich glaube, dass Menschen,
die mehr Selbstbefriedigung betreiben, auch eine bessere
Selbsterkenntnis haben, dass sie ganz allgemein besser mit sich
selbst umgehen, weil sie mehr Interesse an sich haben.
Selbstbefriedigung ist für mich immer positiv zu werten.

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Menschen, die sich mehr befriedigen, sind weniger belastet
durch Enthaltsamkeit, denn es ist vollkommen natürlich, dass
man sich sexuell befriedigt. Enthaltsamkeit blockiert Emotionen
und mentale Kräfte.

Die Kinsey-Gruppe berichtet, dass Erzieher häufig beunruhigt

sind, wenn sie jüngere Kinder beim Onanieren »erwischen«. Sie
schicken sie dann zum Arzt. Ärzte wissen aber meist nicht mehr
und meinen, irgendetwas müsse sich ändern. Das Kind bekommt
keinen Trost und keine Erklärung, sondern wird verunsichert.
Der Kinsey-Report macht sich geradezu lustig über die
Heilungsversuche, wo doch noch nie nachgewiesen wurde, dass
Onanie in irgendeiner Weise schadet.

Schaden richtet dagegen das Verhalten der Erwachsenen an,

die ja meist selber unsicher und gehemmt sind: Verweise,
Verbote, das Kind lächerlich machen, seine Handlungen ins
Negative, Gefährliche ziehen. Wenn es gelingt, das Kind
ernsthaft zu beunruhigen, kann sich dies laut Kinsey als Störung
fürs ganze Leben auswirken. Kinsey-Vorschlag: Onanieren
akzeptieren, ohne es als wichtig erscheinen zu lassen. Das ist
zwar fortschrittlich, aber nicht mit letzter Konsequenz. Warum
können wir das Onanieren nicht als wichtig erachten, wo es
doch 92 Prozent der Menschen machen?

Der Kinsey-Report liefert auch viel Statistik über die

Häufigkeit des Onanierens: Männer machen es bis zu 25mal in
der Woche, der Durchschnitt liegt bei 6- bis 15mal. Auch
verheiratete Männer onanieren wöchentlich bis zu 4mal.
Manche schränken es ein, wenn sie regelmäßig Sexualverkehr
mit Frauen haben, und tun es häufiger, wenn sie von der Frau
getrennt sind oder wenn die Frau keine oder weniger Sexualität
will.

Meine Empfehlung ist sogar, lieber zu onanieren, als sich von

der Frau über das Druckmittel Sex erpressen zu lassen. Es gibt
Männer, die betteln bei der Frau um Sex und machen ihr alles
recht, nur damit es zum Koitus kommt. Sie machen sich klein

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vor der Frau, nur damit sie sich nicht verweigert. Das halte ich
für würdelos, und da ist Onanie auf jeden Fall besser.

Kinsey hat festgestellt, dass es Vorurteile und Tabus in Bezug

auf die Onanie vor allem in den niedrigen Schichten gibt:
Onanie mache verrückt. Onanie verursache Pickel. Onanie
schwäche den Mann, verursache körperliche Schäden, von
krummen Schultern über Gewichtsverlust etwa, Erschöpfung,
Schlaflosigkeit, schwachen Augen, Verdauungsstörungen,
Schwachsinn, Genitalkrebs, Impotenz bis hin zum
Rückenmarksschwund.

Die Fülle der Weltanschauungen gegen die Onanie hat nur ein

Ziel: Sie soll den Mann zur Frau hinführen. Vor allem bei
heranwachsenden Männern führen die verbreiteten Pseudo-
Warnungen vor Onanie zu seelischen Konflikten. Sie spüren den
Antrieb in sich, »wissen«, dass es verboten, gar gefährlich ist,
und müssen sich ständig selbst bekämpfen. Das ruft enorme
Schuldgefühle hervor und kann bis zum Selbstmord führen.
Kinsey schreibt: »Man kann sich kaum etwas Besseres
ausdenken, um der Persönlichkeit dauernden Schaden
zuzufügen.«

Aber die patriarchale Norm ist eben, dass der heterosexuelle

Kontakt das Normale ist. Wenn Männer in einer solchen
Beziehung weiter onanieren, ist das krankhaft. Kinsey
widerspricht dem ebenfalls und bezeichnet es als eine
»Rationalisierung patriarchaler Sitten«. An solchen Stellen
wundere ich mich immer wieder, wie klarsichtig dieses Kinsey-
Team schon vor 3 5 Jahren war. Kinsey hat auch Zahlen
gebracht: Bei einem 25jährigen gebildeten Mann verteilen sich
die sexuellen Erlebnisse zu 62 Prozent auf die Frau und zu 3 8
Prozent auf Selbstbefriedigung, das Verhältnis ist also etwa zwei
Drittel zu ein Drittel.

Kinsey nennt auch Vorteile der Selbstbefriedigung: Nervöse

Spannungen werden beseitigt, und das Leben wird
ausgewogener und zufriedener. Ich glaube, dass die körperliche

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und die geistige Leistungsfähigkeit ansteigen, wenn man sich
die Selbstbefriedigung gestattet, ohne Schuldgefühle dabei zu
haben.

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Stärke aus dem Selbstgespräch

Der mit Schuld beladene, negativselbstkritische Umgang

vieler Männer mit der Selbstbefriedigung ist typisch für unsere
Kultur. Wir machen uns oft selber schlecht: Du bist zu faul, zu
unsportlich, zu dick, zu gefräßig. Wir verbieten uns viel: Du
sollst dies nic ht, du darfst das nicht. Man soll nicht stolz sein,
schon gar nicht auf eigene Leistungen. Doch damit entmutigt
man sich ständig, oder man redet sich Gefahren oder Angst ein.

Manche treiben die Selbstkritik im Angesicht schwieriger

Situationen auf die Spitze und machen sich fertig, etwa vor
Prüfungen. Wenn sie viel Arbeit vor sich haben, denken sie: Das
schaffst du sowieso nicht - und bleiben im Bett liegen. Das aber
ist Selbstfolter: im Bett liegen bleiben und grübeln und negative
Selbstkritik üben.

Jeder führt ständig Selbstgespräche. Viele sind sich dessen

nicht bewusst. Auch Träume sind Selbstgespräche, und sogar
wenn Sie dieses Buch lesen, führen Sie ja ein Selbstgespräch.
Manche lesen gar nicht richtig, was da steht, oder hören ihrem
Gegenüber nicht richtig zu, weil sie so unentwegt mit ihren
eigenen Gedanken beschäftigt sind, dass sie fremden Gedanken,
wenn sie deutlich von ihren eigenen abweichen, nicht folgen
können.

Hier einige Beispiele für Selbstgespräche: »Also, was der da

schreibt, das betrifft sowieso nur andere. Bei mir ist alles okay.«
- »Also diese Zusammenhänge, die sind so kompliziert, die
kapiere ich sowieso nicht - da blättere ich jetzt einfach drüber.«
- »Ich bewundere, wie der da Gedanken entwickelt und das
ausdrückt. Das könnte ich nie.«

Egal ob man allein ist oder unter Menschen, das

Selbstgespräch ist fast dasselbe und ein Gutteil dieses
Selbstgesprächs enthält negative Selbstkritik. Wenn man sich
aber dauernd einredet, ich mache alles falsch, traut man sich in

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keine Auseinandersetzung hinein.

Positive Selbstkritik dagegen ist Ermutigung, erlaubt auch

Eigenlob. Das heißt nicht, dass man seine Schwächen ignorieren
muss, aber man kann durch positive Selbstkritik seine Stärken
mobilisieren. Zur positiven Selbstkritik gehört auch Humor, eine
Leichtigkeit, auch bei ernsten Sachen. Freud beherrscht das etwa
ganz gut: Fragt einer den anderen: »Onanieren Sie?« Sagt der
andere: »O - na, nie.«

Zum Selbstgespräch gehören auch unbedingt Notizblock und

Bleistift. Die sollte man immer in der Tasche tragen, damit man
sich jederzeit aufschreiben kann, was man denkt. Das ist
notwendig, weil man sonst viele Sachen wieder vergisst: Da
blitzt etwas auf, man findet das ganz spannend, hat aber in dem
Moment keine Zeit, den Gedanken weiter zu verfolgen. Wenn
man dann abends versucht, sich zu erinnern, ist der Gedanke
weg. Doch mit Hilfe des Notizbuches kann man immer wieder
die Gedanken weiterverfolgen, wenn man Zeit und Ruhe hat.

Es ist eine Grundeinstellung meiner Arbeit, dass man sich erst

einmal selbst akzeptieren sollte, mit allen Schwächen. Man kann
erst an sich arbeiten, wenn man sich akzeptiert hat. Man hat
eben Schwächen, aber die hat man sich ja auch nicht absichtlich
zugelegt. Wer sich nicht akzeptiert, verleugnet seine
Bedürfnisse, seine Lebendigkeit, seine Lust und natürlich auch
seine Selbstbefriedigung.

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Mut zur Selbstbefriedigung

Wenn man den Ausdruck Selbstbefriedigung ernst nimmt, ist

er nicht auf die Sexualität beschränkt, obwohl er in unserer
Kultur ausschließlich so gebraucht wird. Ich befriedige mich
auch, wenn ich jemanden umwerbe, Erfolg habe und etwas
Freundliches zurückbekomme. Auch ein gutes Gespräch kann
Selbstbefriedigung sein, eine gute Leistung gebracht zu haben,
sich in einem Konflikt gut vertreten zu haben. Eine gute
Mahlzeit, ein schönes Glas Wein, ein guter Film - das kann man
zufrieden genießen. Arbeiten und Kontakte sind bei weitem
nicht so negativ besetzt wie die Onanie.

Ich kann nur jedem empfehlen, seine Bedürfnisse nach

Selbstbefriedigung zu akzeptieren und sich von niemandem,
auch von sich selbst nicht, Einschränkungen auferlegen zu
lassen. Wie viel Selbstbefriedigung einem gut tut, das muss
jeder für sich entscheiden. Wenn er dann empfindet, das ist zu
viel, er will jetzt ein bisschen weniger, dann stimmt das
vielleicht. Es gibt ja auch Leute, die essen zu viel, die arbeiten
zu viel oder die joggen zu viel - aber das wird nicht negativ
belegt.

Es ist ja auch so, dass Masturbation nur als unschicklich oder

schädlich gilt, weil man es mit sich allein macht. Wenn dagegen
Mann und Frau sich gegenseitig streicheln, und das kann ja
durchaus bis zum Orgasmus gehen, gibt es diese negative
Belegung nicht. Dieses gegenseitige Streicheln und den Körper
des ändern dadurch Kennenlernen ist eine wunderbare Sache,
um von der Koitus-Fixierung wegzukommen.

Auf Selbstbefriedigung zu verzichten, ohne sie vorher

ausprobiert zu haben, halte ich für nicht gut. In der Partnerschaft
wird man natürlich möglichst partnerschaftlich miteinander
umgehen. Dazu gehört auch, sich gegenseitig von der
Masturbation zu erzählen: Wie oft man es macht, wie man es

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macht, welche Phantasien man dabei hat, wie es sich anfühlt,
wie es sich vom Koitus und anderen sexuellen Berührungen
unterscheidet. Eine solche Offenheit hilft, eventuelle
Schuldgefühle zu nehmen.

Der freie Genuss der Selbstbefriedigung ist auch wichtig für

die Ich-Stärkung. Der Begriff kommt aus der Psychoanalyse,
und dazu gehört, Lust an mir selbst haben zu dürfen, ohne Strafe
befürchten zu müssen. Die Strafe im Zusammenhang mit Onanie
stammt meist aus der Kindheit: Wir befürchteten, abgelehnt zu
werden, weil die Eltern, die Stimmung zu Hause oder andere
Menschen mehr oder weniger klare Signale vermittelten, Onanie
sei schädlich. Wer sich die Onanie verbietet und nicht zu einem
eigenverantwortlichen Umgang damit kommt, kann in
Depressionen verfallen, Depressionen als selbstverordnete Lust-
und Freudlosigkeit. Deshalb muss man mit den Kindern darüber
sprechen, damit sich diese negativen Stimmen nicht fortsetzen.

Es braucht also Mut zur Selbstbefriedigung. Wer sich lustvoll

selbst befriedigt, der hat seine Mutlosigkeit überwunden. Die
Konsequenz daraus: Wer die negative Selbstkritik gegenüber der
Selbstbefriedigung überwunden hat, kann sich auch mit anderen
Menschen darüber austauschen. Wie machst du das eigentlich?
Wie hältst du das mit der Onanie? Wie oft hast du sexuelle
Kontakte mit anderen Menschen, und wie oft onanierst du?
Wodurch wird bei dir der Spaß eingeschränkt? Mit welchen
Gefühlen machst du es? Fühlst du dich hinterher wohler?

Die Dressur, nicht zu onanieren, ist eine Art von Bravheit.

Das Onanieren mit Schuldgefühlen ist Selbstquälerei. Den
Ausschlag gibt immer der einzelne Mensch, der Charakter des
Menschen, wie hart oder wie masochistisch er ist oder wie
freudvoll er mit sich umgehen kann. Als Kind können wir uns
nicht wehren, wir werden von den Eltern beobachtet, sind
rechtlos und müssen das Onanieverbot akzeptieren. Ich glaube,
dass es auch heute noch leider so ist, dass Onanie als
unanständig gilt und tabuisiert wird. Die religiösen Institutionen

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vertreten das zwar nicht offen, aber doch ambivalent, und ich
fürchte, die meisten Eltern sprechen mit ihren Kindern zu wenig
darüber.

Unser Selbstgespräch ist erst einmal die Wiederholung des

Gesprächs mit den Eltern. Zum richtigen Selbstgespräch muss
man sich mühsam durchringen. Es steht eine enorme Arbeit an,
bis man zum richtigen Selbstgespräch kommt und sich nicht nur
irgendwelche Klischees vor sein inneres Auge hält. So kann aus
dem Selbstgespräch auch keine Selbsterkenntnis kommen, denn
man übernimmt ja nur, was andere gesagt haben: Eltern, Lehrer,
Professoren, Chefs.

Wer sich die Selbstbefriedigung nicht zugesteht, dankt

gegenüber den Eltern und anderen Autoritäten ab und gehorcht.
Dabei sollten wir immer überprüfen: Was tut mir gut? Was tut
mir nicht gut? Dann werden wir selbstbestimmt und
selbstständig, bauen die Fremdbestimmung in uns ab und
können uns von den schädlichen Einschränkungen der Kindheit
emanzipieren.

Ziel der Entwicklung sollte sein, überhaupt keine Verbote

aufzustellen. Lev Kopelew hat das Buch »Verbietet die
Verbote« geschrieben. Für Menschen, die an sich selbst arbeiten
wollen, ist es wichtig, sich spontan erleben zu können. Jemand,
der sich selbst nicht anerkennt, wird auch anderen Verbote
machen wollen, doch das wird er nicht merken und für sich auch
nicht aussprechen können.

Für die Therapie und die Weiterentwicklung eines Menschen

scheint mir wichtig, das bewusste Selbstgespräch zu lernen, zur
Selbsterkenntnis zu kommen und zu einer produktiven
Selbstkritik. Menschen sind die einzigen Wesen, die überhaupt
ein Selbstgespräch führen können. Wenn nun diese Menschen
sich selbst knebeln, ist das ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.

Wir können wahrscheinlich etwas ändern, wenn wir

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versuchen zu verstehen. »Verstehen« heißt, den Standort
wechseln, eine andere Gangart einüben, die falsche Meinung
über uns allmählich zu einer richtigen werden lassen, Verbote
ablegen. Dazu braucht es mit Sicherheit Gemeinschaft,
Austausch in einer Gemeinschaft, in der man sich geborgen
fühlt. Ich glaube, dass der offene Austausch von Kindheit an
unterdrückt wird. Die Kinder sollen ja den Autoritäten
gehorchen. Das Verbot der Selbstbefriedigung ist also auch ein
Verbot, selbst zu denken. Das Denkverbot wird durchgesetzt
durch das Verbot der Lust und der Selbstbefriedigung. Doch mit
der sexuellen Lust wird eine wichtige Quelle unserer
Lebendigkeit abgetötet.

Was ich mir nun über Selbstgespräch, Selbsterkenntnis und

Selbstkritik hinaus wünsche, ist Selbsterstaunen. Wenn man im
Selbstgespräch etwas geübter ist, staunt man oft darüber, was
einem im Kopf herumgeht, man schreibt es auf und fragt sich
dann: Kann das stimmen, oder ist das falsch? Wie komme ich
auf einen solchen Quatsch? Das muss ich erst einmal
überprüfen. Damit hat man auf jeden Fall das Schweigen, das
Sichselbst-Anschweigen aufgegeben. Dieser Vorgang ist, wie
wenn man seine Brille abnimmt, sie sich näher anschaut und
erstaunt feststellt: Die ist ja beschlagen.

Gegen das Selbstgespräch arbeitet das Sicherheitsstreben. Da

ist die Stimme in uns, die sagt: Halte dich an das, was die
anderen sagen. Das ist besser als das, was du denkst. Halte dich
an die Mehrheit, sonst bist du irgendwann ganz allein. Viele
Menschen hören auf diese Stimme: Sie buddeln sich ein in der
Mehrheitshaltung, sie erleben das eigene Denken als gefährlich,
als konfliktauslösend, als wahrscheinlich falsch. Manche
Menschen haben auch, wenn sie abweichende Gedanken bei
sich feststellen, Angst, dass sie verrückt werden. Wenn jemand
Ängste entwickelt, wäre es wichtig, mit anderen in Kontakt zu
treten, über die Ängste zu sprechen. Wenn man diesen Schritt
wagt, erfährt man oft, dass andere Ähnliches gedacht oder

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erfahren haben.

Was kann man tun, um das Selbstgespräch zu beleben, zu

vertiefen und damit auch die positive Selbstkritik zu fördern, die
Selbsterkenntnis und das Selbsterstaunen?

1. In jede große Angstsituation hineingehen: Immer gerade

das machen, wovor man am meisten Angst hat.

2. Keinen Konflikt scheuen, jede Provokation ergreifen und

einen Konflikt anzetteln.

3. Gegen die Verdrängung angehen und reingehen in die

Arbeit an der eigenen Person: Wenn ich an meiner eigenen
Person arbeite, verändert sich auch mein Selbstgespräch, oder es
entsteht überhaupt erst.

4. Ein anderes Verhältnis zum eigenen Körper aufbauen: Die

meisten von uns sind wahrhafte Christen, befolgen das
Onanieverbot, aber auch andere körperliche Bewegungsverbote.
Viele machen keinen Sport, rauchen lieber, aber das ist
Körperverachtung. Körper und Seele sind nicht getrennt, und
der Körper hat eine große Vernunft: Er zeigt uns durch
somatische Erscheinungen und Krankheiten genau unsere
Probleme. Auf den Körper zu hören, ist Teil des
Selbstgesprächs.

5. Seine Wohnung in Ordnung halten, sauber machen, auf die

Kleidung und das Äußere achten, auf die Umgangsformen.
Immer darauf achten: Wie wirke ich eigentlich? Und einmal den
Mut zu haben, andere zu fragen: Wie wirke ich auf euch, wenn
ich in den Raum komme?

6. Sich selbst fragen: Was habe ich für meine Mitmenschen

getan, damit diese fröhlicher und mutiger werden? Die Antwort
lautet meist: Nichts, aber ich habe mir selbst ja auch nichts
geschenkt. Dazu gehört auch, dass man die Gedanken aus dem
Selbstgespräch aufschreibt, weiterentwickelt und in bearbeiteter
Form an andere weitergibt. Wirklich soziale Menschen stehen in
enger Verbindung mit sich selbst. Ich glaube zum Beispiel,

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Menschen, die sehr viel lesen, das aber nicht an andere
Menschen weitergeben, haben kein produktives Selbstgespräch.
Die leiden an Verstopfung, an geistiger Verstopfung.

7. Jede Art von Sinnlichkeit und Kunst unterstützen.

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Die Entfaltung erotischer Qualitäten

Verantwortung in der Erotik

Das Gespräch unter Männern ist also unbedingte

Voraussetzung dafür, dass Männer sich selbst besser ins Gefühl
bekommen. Wenn sich nun Männer unter neuen Vorzeichen der
Frau nähern, müssen sie Verantwortung übernehmen: für sich,
für die Situation und auch für die Frau.

Verantwortung und Erotik - das eine Wort prickelt, das andere

klingt formal und langweilig. Verantwortung und Erotik
gehören aber unbedingt zusammen. Nic ht, um die Erotik
langweiliger zu machen, sondern um im Gegenteil alles möglich
werden zu lassen. Wer sich immer nur hineinstürzt in
Begegnungen, braucht sich nicht zu wundern, wenn er am Ende
immer unzufriedener und gelangweilter wird.

Was ist eigentlich Liebe? Die meisten Männer wissen keine

Antwort darauf. 1987 habe ich mein Buch »Männer lassen
lieben« geschrieben. Meiner Beobachtung nach hat sich seitdem
nichts verändert. Die meisten Männer lassen immer noch lieben,
denn das Buch wurde und wird zu 90 Prozent von Frauen
gelesen.

Gewalt ist sicher das Gegenteil von Liebe. Wir leben in einer

Zeit, in der immer noch außerordentlich viel Gewalt von
Männern gegenüber Frauen ausgeübt wird. Ich weiß, dass es
auch gewalttätige Frauen und Mädchen gibt, aber das sind
vielleicht 10 Prozent. Mit dem Hinweis »auch die Frauen« wird
aber nur verschleiert, dass über 90 Prozent der Gewalt von
Männern ausgeübt wird. Männer neigen auch mehr zu
Selbstmord. Meine These: Männer haben weniger Gefühl für
den Wert des Lebens und werden deshalb gegen sich und die
Frau gewalttätig bis zum Mord. Ich glaube, dass es kein Zufall
ist, dass 90 Prozent der Gewalttäter Männer und 90 Prozent
meines Lesepublikums Frauen sind.

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Wenn wir mehr Erotik wollen, sollten wir Männer uns immer

wieder fragen: Was ist Liebe? Ich meine nicht, dass man das
definieren muss, dass man das definieren kann, denn in jeder
Situation, in die man hineinkommt, ist liebevolles Verhalten
etwas anderes. Man muss sich jede Situation sehr genau
ansehen, um festzustellen, was jetzt auf liebevolle Weise - voller
Liebe - angebracht ist.

Nachfolgend einige Beispiele für liebevolles Verhalten. Diese

Schilderungen für Männer gelten natürlich auch für Frauen. Nur
wenn Mann und Frau sich wechselseitig bemühen, wird Liebe
und Erotik entstehen. Bemühen drückt es schon aus: Hier ist
Mühe angesagt, nicht nur Genuss und sich fallen lassen.

Liebevolle Männer hören einer Frau wirklich zu und

interessieren sich dafür, was sie sagt. Sie zeigen ihr Interesse
durch Fragen, die zum weiteren Erzählen ermutigen. Sie
verhalten sich respektvoll gegenüber der Frau, bemühen sich um
die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse, ihrer Werte. Werte sind
Strebensziele, und es reicht nicht, zu schauen, was die Frau ist,
sondern auch, was sie will, wohin sie will. Der liebevolle Mann
versucht, die Werte der Frau zu unterstützen, und hilft ihr bei
ihren Lebensproblemen.

Dazu gehört auch, die positiven Stimmungen der Frau zu

unterstützen und sie nicht zu zerstören. Männer zerstören oft
erotische Stimmungen, Freude und Lust. Um positive
Stimmungen unterstützen zu können, muss man sie kennen,
wahrnehmen, sich dafür interessieren. Nur wenn ich weiß, was
die Frau wünscht, wonach sie strebt, kann ich ihre Erfolge (an-)
erkennen. Viele Männer bleiben dagegen angesichts weiblicher
Erfolge verhalten und cool, sie schweigen, halten sich überstark
zurück und teilen die Freude nicht.

Zur Liebe gehört die männliche Würde. Das ist ein Begriff,

der für mich zunehmend an Bedeutung gewinnt. Männer im
Patriarchat sind überwiegend würdelos, weil sie zum Beispiel
Gewalt gegen die Frau anwenden. Gewalt bleibt das

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Hauptproblem: Sie ist nicht angeboren, ebenso wenig wie Erotik
und Verantwortung. Das sind kulturelle, anerzogene
Verhaltensformen, und die lassen sich sehr wohl verändern. Der
Mann muss

Verantwortung übernehmen für seine Gewalt. Nur wenn er

sich verantwortlich fühlt, wird er beginnen, sich zu verändern.

Ein Beispiel für die Verantwortungslosigkeit vieler Männer ist

das Thema Abtreibung. Die Frau hat das Problem: Soll ich das
Kind bekommen oder es abtreiben lassen? Der Mann - das
belegen Studien - fühlt sich verpflichtet, nüchtern und realistisch
zu analysieren, Stärke zu demonstrieren, die Lage zu
überblicken. Er redet klug, doch er bemüht sich nicht um
Verständnis, Einverständnis mit der Frau. Liebe, Gefühle, der
Wert des Lebens, Angst, Überforderungsgefühle - das müssten
die Themen sein. Die Männer verhalten sich verantwortungslos,
betont neutral und rationalisieren ihre Gleichgültigkeit mit
Sätzen wie: »Die Frau soll da ganz allein entscheiden dürfen.«
Aber beim Zeugungsakt, da waren sie doch auch dabei. Haben
sie Verantwortung für die Verhütung übernommen? Darüber
gesprochen? Jetzt müssen sie dieselbe Verantwortung für die
Entscheidung übernehmen, ob das Kind geboren wird oder
nicht.

Verantwortung und Erotik sind nicht angeboren. Wer sie als

angeboren annimmt, lebt Fatalismus und Ohnmacht gegenüber
menschlichen Gefühlen. Das äußert sich in Rationalisierungen
wie: »Gegen Gefühle kann ich nichts machen, die überfallen
mich einfach. Liebe und Hass, Freude und Trauer überkommen
mich einfach.«

Das stimmt nicht. Gefühle werden von Menschen geschaffen,

und Erotik ist eine Gemeinschaftsleistung von zwei Menschen.
Erotik ist gelernt - oder eben nicht gelernt -, und Erotik kann
man lernen. Wenn wir uns Erotik wünschen, müssen wir für uns
die Verantwortung übernehmen. Wir müssen lernen, für uns und
für die Erotik und die Gefühle des Partners die Verantwortung

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zu übernehmen.

Es ist unverantwortlich, Erotik nicht wahrzunehmen. Wenn

man Menschen kennen lernt und erlebt, ist es wichtig, sie mit
ihrem Geist und ihrer emotionalen Ausstrahlung wahrzunehmen.
Wer mit einer erotischen, geistigen, lebendigen Frau nur
technische Sexualität lebt, ist wertblind, ist ein Banause. Und
ich vermute, dass sehr viele Männer Banausen sind und
überhaupt nur technische Sexualität kennen.

Ein wichtiger Hinweis auf das Vorhandensein von Erotik in

der Beziehung sind Schmerzen bei Abwesenheit des Partners.
Wer diese Schmerzen nie empfindet, hat wahrscheinlich keine
sehr erotische Beziehung. Wenn in einer langjährigen
Beziehung bei einer Trennung keine Schmerzen mehr entstehen,
ist die Erotik wohl verschwunden. Es ist also wichtig, Schmerz
fühlen zu lernen.

Diese Veränderungen, diesen Erstarrungsprozess in der Erotik

müssen wir wahrnehmen und Verantwortung dafür übernehmen,
dass er nicht stattfindet. Erotik ist ein subtiles, kompliziertes
Geschehen, das immer durch Erstarrung bedroht ist. Es ist
meiner Beobachtung nach sehr viel wahrscheinlicher, dass
Erotik erstarrt und stirbt, als dass sie aufblüht.

Es ist ein Vorurteil, dass jeder Erotik haben kann. Bildung

spielt hier eine Rolle, und jeder muss die Verantwortung für die
eigene Bildung übernehmen. Erotik ist eine
Gemeinschaftsleistung zweier liebender, interessierter,
lebendiger und geistvoller Menschen. Allerdings hat Bildung
nichts mit dem universitären Grad zu tun: Es gibt sehr dumme
Professoren und sehr intelligente Arbeiter.

Die Gefühle und Reaktionen der Partnerin bestimmen die

Erotik mit, man kann Erotik nicht allein machen. Gefährlich für
die Erotik wird es, wenn die Partnerin nicht mehr begehrt wird,
wenn man sie nur noch wie eine Schwester sieht oder wenn sie
sich wie eine Lehrerin zu ihrem Schüler verhält.

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Wenn ein Partner kein Interesse mehr an körperlicher und

seelischer Intimität hat, wird das Leben des anderen
eingeschnürt. Wer mit einer solchen Partnerin zusammenbleibt
und nicht die Verantwortung für die Erotik und für sich selbst
übernimmt, nimmt seinen emotionalen Tod in Kauf. Das ist
Gewalt gegen sich selbst. Doch viele haben bei ihren Eltern den
Tod der Erotik erlebt, haben sich als Kind an Unlebendigkeit
und Stumpfsinn gewöhnt und sind deshalb immer in Gefahr, die
Erotik zu vergessen. Alles Mögliche ist wichtig, und für die
Erotik bleibt keine Zeit. Symptome sind: morgens lange im Bett
liegen bleiben, sich trotzdem müde fühlen, viel allein sein,
obwohl Erotik doch Gemeinschaft braucht, viel fern sehen.

Manche Menschen sehen 12 Stunden am Tag fern, wann soll

da noch Erotik entstehen?

Ein verbreitetes Klischee ist, Geld oder Macht seien erotisch.

Ich behaupte das Gegenteil: Macht ist unerotisch, und
unerotische Menschen wollen Macht. Viele Politiker zählen zu
dieser Kategorie unerotischer Machtmensch. Sie haben erotische
Gefühle vergessen, wissen nicht mehr, was es bedeutet, einen
Menschen zu lieben oder um jemanden zu werben. Erotische
Gefühle brauchen ständige Pflege, sonst erstarren sie. Doch
Machtmenschen haben dafür keine Zeit, sie kennen nur ein Ziel:
die Macht. Und dafür tun sie alles. Auch die Partnerin mus s da
mitspielen, auf Wahlveranstaltungen lächeln und daheim die
Familie in Ordnung halten.

Verantwortung heißt, wahrzunehmen, wenn ein Mensch lieb

ist und um einen wirbt. Unerotische Menschen nehmen erotische
Menschen nicht wahr. Unerotische Menschen unterliegen einer
Wertblindheit, aber natürlich auch einer Augenblindheit: Denn
Erotik ist ja sichtbar, doch wer gleichgültig ist, sieht keine
Erotik mehr. Er sieht sie im Kino nicht, liest sie nicht in einem
Buch und hört sie nicht in der Musik, sieht sie nicht im
Kunstwerk und auch nicht im lebendigen, erotischen Menschen.

Doch im Leben jedes Menschen gibt es Situationen des

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Gewecktwerdens. Auf die müssen wir gefasst sein, und für die
müssen wir sensibel werden. Wenn wir auf diese Situationen
achten, gespannt darauf warten, dann können wir erweckt
werden aus dem Schlaf der Nichterotik.

Viele haben in der Kindheit bei ihren unerotischen Eltern

erlebt, dass Erotik gar nicht gelebt werden darf. Unsere Kultur
hat viele Normen, Gesetze und Tabus gegen die wirkliche
Erotik. Tabuisiert sind zum Beispiel Selbstbefriedigung,
Untreue und Eifersucht. Erotische Gefühle haben fast nie etwas
mit der Norm in dieser Kultur zu tun. Leute, die erotisch sind,
müssen auch mutig, eventuell sogar aufmüpfig sein. Sie sagen
auch mal »Nein« zu gängigen Vorstellungen und
Verhaltensweisen.

Wer in dieser Kultur seine Liebe und seine erotischen

Bedürfnisse zeigt, ist schon von vornherein falsch. Wer also
nicht allein gelassen und isoliert werden will, sollte nicht allzu
viel davon zeigen. Wer aber seine Erotik nicht zeigt, ist auch
nicht erotisch. Die Abwehr gegen lebendige Erotik entspricht
vielleicht auch der Angst, dem Hass der Unerotischen: Denn
wenn sie einen wirklich erotischen Menschen erleben und sehen,
merken sie vielleicht, wie tot sie selber schon sind.

Als Beispiel für das in unserer Kultur Geduldete will ich

David Bennent zitieren, der den kleinen Oskar im Film »Die
Blechtrommel« gespielt hat. Auf die Frage nach den
Nacktszenen antwortete er: »Ein nackter Frauenkörper ist doch
etwas sehr Schönes. Das dürfen Kinder nicht sehen. Aber sie
dürfen Filme sehen, in denen Menschen verstümmelt werden, in
denen Blut fließt, in denen Menschen leiden müssen. Ich
verstehe das nicht.«

Erotik gilt in unserer Kultur als Grenzüberschreitung, im

religiösen Bereich gilt Erotik als Sünde. Es bleibt dem
Einzelnen, der Erotik trotzdem will, also nichts anderes übrig,
als Verantwortung für Erotik zu übernehmen.

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Verantwortung für die nackte Frau

Zum erotischen Glück eines heterosexuellen Mannes gehört

die nackte Frau. Er wird nicht glücklich, wenn er mit der
nackten Frau nicht liebevoll umgehen kann. Männer müssen in
der Erotik die Verantwortung dafür übernehmen: wie sie die
nackte Frau ansehen, was sie für ihre Lust und ihre Erotik
bedeutet.

Die nackte Frau ist für Männer schön, erregend und

begehrenswert. Erregend und begehrenswert kann sie auch
bekleidet sein. Was passiert also, wenn sie nackt ist und die
Erregung steigt? Ich glaube, viele Männer bekommen im
Angesicht der nackten Frau alle möglichen Ängste.

Der Körper der Frau ist erregend, ihre Brüste, der Po, die

Genitalien. Freud nannte die Genitalien auch erregend, fügte
aber hinzu, sie würden fast nie im eigentlichen Sinn als schön
empfunden. Schön finden wir das Gesicht, den Po, die Brust, die
Beine, aber die Vagina seltener. Der Mann hat große Mühe, mit
dem weiblichen Genital umzugehen, und die nackte Frau schämt
sich, sich so sehen zu lassen. Der Mann schämt sich seiner
Erregtheit, seines Begehrens und traut sich nicht, die nackte
Frau überall und ganz anzusehen. Er fürchtet, als geil, obszön
oder lüstern zu gelten. Kaum ein Mann traut sich, die Frau zu
fragen, ob er sie ganz nackt überall betrachten darf. Das ist ein
Tabu - doch wenn er sich traut, und die Frau traut sich, sich ihm
ganz zu zeigen, dann ist es Glück.

Warum lernen wir in der Schule und in der Familie Nacktheit

nicht kennen? Die Eltern halten sich meist bedeckt, im wahren
und im übertragenen Sinn des Wortes. Die körperliche Nacktheit
der Frau ist doch etwas Schönes, wie David Bennent richtig
sagte. Diese Nacktheit könnte doch verherrlicht werden,
bewundert, frei begehrt? In manchen Kulturen ist das auch so,
bei uns nicht.

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Warum hat die geliebte Frau Angst, sich uns ganz zu zeigen?

Müssen wir Männer darüber erhaben sein, so etwas sehen zu
wollen? Haben wir Angst, als unanständig und lüstern zu
gelten? Müssen wir fürchten, dass die Frau sich uns ganz
entzieht, wenn wir ein solch lüsternes Interesse an sie
herantragen? Finden sich die Frauen selbst nicht schön? Warum
schämen sich Frauen? Wäre es nicht toll, wenn sie schamlos
wären? Die begehrte, angebetete Frau zeigt sich schamlos nackt.
Aber das ist nicht so einfach: Sie will ja auch nicht aufreizend
und unanständig sein und hat vielleicht Angst, dass der Mann sie
nicht schön findet. Daran sind wir Männer mit schuld, wenn wir
zum Beispiel an der Frau herumnörgeln: der Busen zu klein, der
Bauch zu dick, die Beine zu dünn. Solche Dinge zu äußern, das
ist Nichterotik, das ist die Systematik der unerotischen
Stimmung, die von Männern praktiziert wird: Der Busen muss
ganz toll sein, sonst ist die Frau nicht erotisch - das ist Unsinn.

Ich stelle also in unserer Gesellschaft ein Paradoxon fest: Die

technische Sexualität, die ist erlaubt, aber die Genitalität, das
ganz Nackte, die Lüsternheit, die Ekstase und damit auch die
echte Erotik werden abgelehnt. Alles dreht sich um PEKOS:
Penis, Erektion, Koitus, Orgasmus, Schlaf. Aber die Ekstase,
das Herauskommen aus der alltäglichen Befindlichkeit, das ist
Erotik, darin besteht die erotische Tat. Sie wird gefürchtet und
auch geneidet. Der Neid der Unerotischen ist so bedrohlich, dass
Lust nicht gezeigt werden darf. Die Ekstase im Anblick, im
Streicheln, im Küssen, im Außersich-Sein, im totalen
Hingegebensein, im absoluten Offensein für den anderen
Menschen ist wie verboten.

Deshalb können wir das auch nicht als schön empfinden und

erschrecken geradezu, wenn wir zum Beispiel Bilder von
Künstlern sehen, auf denen ein Cunnilingus oder eine Fellatio
(Mund-Genital-Berührung) dargestellt sind: Eigentlich darf das
nicht gezeigt werden, also dürfen wir auch keinen Spaß beim
Anschauen haben.

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Der Anblick der nackten Frau kann ein Schock sein. So sind

wir erzogen worden: Wir können das nicht freudig, fröhlich,
ruhig genießen. Auch Darstellungen des erigierten Penis, des
Koitus, des onanistischen Aktes gelten als unanständig. Wer die
Nacktheit zweier Menschen im Bett, im Wasser, unter der
Dusche, ausdrücken will, etwa in Bildern, in Liebesbriefen, in
der Sprache, auf Videos, muss kulturelle Verbote missachten.

Als absolut unverantwortlich empfinde ich das brutale

Zurschaustellen der Nacktheit im Fernsehen. Die
Fernsehsendungen über angebliche Erotik beschäftigen sich mit
reiner Sextechnik. Das ist meistens abstoßend und das extreme
Gegenteil des Versteckens von Sexualität. Denn die
millionenfache Öffentlichkeit richtet sich ebenfalls vollkommen
gegen unsere wirklichen Bedürfnisse.

Wo bleibt die sexuelle Revolution? Ich behaupte: Es gab

keine Revolution und auch keine Evolution. Alles ist prüde wie
eh und je, wirkliche Erotik wird nicht zugelassen.

Wer Erotik leben möchte, muss dies unter dauernder Angst

tun. Sicherheit und Erotik gleichzeitig jedoch gibt es nicht in
dieser Kultur. Diese Angst muss man annehmen, hineingehen in
die Angst und bewältigen. Die einzige Rechtfertigung dafür ist
die Verliebtheit. Wer sehr verliebt ist, setzt sich über Verbote
hinweg, will erotisch sein, will fühlen. Aber meist gestatten wir
uns das nicht.

Woher kommt dieses rigide Glücksverbot? Der nackte Körper

der Frau bedeutet doch höchstes Glück für den sich sehnenden
Mann - ebenso wie der nackte Männerkörper für die Frau.
Dieses Glücksverbot kommt aus der asketischen Verbotsmoral
des christlichen Patriarchats. Die nackte Eva verführte den
Mann und machte ihn schuldig. Der Christ steht also unter
Zwang, dieser Zwang isoliert und spiegelt die Angst vor der
Freiheit. Erich Fromm hat das empfehlenswerte Buch »Die
Furcht vor der Freiheit« geschrieben. Die Angst, Tabus zu
überschreiten und in die Erotik hineinzugehen, ist eine

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ungeheure Kraft. Aber diese Angst bietet auch die treibende
Kraft zur Befreiung. Die Angst entspricht in ihrer Stärke dem
Sehnen nach dem nackten Körper der Frau. Dieses natürlichste
Bedürfnis kann in unserer Kultur nur mit Angst gelebt werden.

Wer sich solche Freiheit im Patriarcha t nimmt, muss sich

sagen lassen, dass er unter schweren Störungen seiner
psychischen Persönlichkeit leidet. Exhibitionismus,
Voyeurismus, die so unerhört lustvoll und erotisch sein können,
wurden bereits von Freud als Perversionen beschrieben. Wer
also durch seine Angst hindurchgeht, sich seiner Partnerin gerne
nackt zeigt und die Frau in ihrer ganzen Nacktheit genießt, gilt
als schwer gestörte Persönlichkeit.

Doch die sexuelle Ekstase, die wirkliche Erotik wäre eine

Befreiung, eine Erlösung vom Zwang und von der Angst. Wir
müssen viel Kraft einsetzen und viel riskieren. Die Gottesliebe
wurde erfunden, damit Unterordnung sinnvoll erscheint. Für
mich ist die Gottesliebe eine Lüge und absolut unerotisch. Mir
soll keiner erzählen, dass er wirklich Gott liebt und von ihm
geliebt wird. Die Liebenden zeigen den Weg zur Erlösung. Wir
müssen die Liebe suchen als erotisches Fest, als Entzücken.

Für Männer ist diese Befreiung die Huldigung der nackten

Frau. Ich weiß, dass das von vielen als höchst unmoralisch
empfunden wird, aber ich betone: Auch die befreite Erotik kann
gut, moralisch und ethisch sein. Dafür ist jeder Mann auch
verantwortlich. Aber ein sexueller Orgasmus ist erst dann
wahrscheinlich, wenn wir uns vergessen. Es ist gut, wenn man
sich in der Ekstase selbst vergisst, vergisst, wo man sich
befindet, sich ganz an die nackte Frau hingibt, sich von der
alltäglichen Identität löst. Das ist ein Appell an das eigentliche
Dasein.

Unser Alltag ist Gehorsam, Gefängnis und Zwang, das

Gegenteil von Erotik. Er führt uns vom Sinn des Lebens weg.
Erotik jedoch empfinde ich als einen Hauptsinn unseres Lebens.

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Für mich sind diejenigen gestört, die gehorsam sind, die

abstinent leben, die Erotik zerstören und auch von anderen
verlangen, dass sie abstinent, gehorsam und erotik zerstörend
leben. Die Moralapostel, Sittenrichter, Neidischen, Angstlosen
haben Angst vor ihren eigenen Bedürfnissen, vor sich selbst, vor
dem Über-Ich, den geschriebenen und ungeschriebenen
Gesetzen des Patriarchats. Sie verbieten die Erotik, und das ist
für mich Gewalt.

Es gibt leider kaum Therapeuten, die als Ziel Erotik haben.

Arbeitsfähigkeit, Anpassung und Beruhigung lauten die Ziele,
auch Sicherheit: materielle und psychische Sicherheit, aber fast
nie Erotik. Ein Therapeut kann es sich kaum leisten zu sagen:
»Mein Ziel ist, den Menschen zu Lust, zu Freude und zu Erotik
zu verhelfen.« Im Grunde genommen wollen die meisten
Therapeuten die Menschen nicht befreien, sondern belehren. Sie
sprechen nicht von Luststörungen und Erotikstörungen, sondern
allenfalls von Arbeitsstörungen.

Ich will das Tabu Luststörung aufgreifen und auf den

verinnerlichten Gehorsam aufmerksam machen. Mir ist wichtig
zu betonen, dass gewisse mit Tabus belegte Gefühle und Ängste
nicht unanständig sind, sondern ethisch gut. Ich will den
Menschen die Schuldgefühle nehmen, wenn sie gegen die so
genannte Normalität, gegen die angeblich normale
Anständigkeit verstoßen. Dies ist auch ein Plädoyer für warme
Zimmer im Winter, für fließend warmes Wasser im Bad, für
Muße und Freude im abgeschlossenen Zimmer, und ein
Plädoyer gegen Langeweile und für Vielseitigkeit.

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Mut zum Risiko

Beim Blick auf Kontaktanzeigen fallen zwei Extreme auf:

Entweder sie sind zurückhaltend und nichts sagend: »Fahre gern
Fahrrad« - das macht eigentlich beinahe jeder gern. Oder sie
sind frech bis albern. Selten findet man persönliche Aussagen.

Im Gespräch mit Männern stelle ich fest, dass sie häufig

Hemmungen bei bestimmten Worten haben: Die nehmen sie
nicht in den Mund, vor denen haben sie Angst, oder die
empfinden sie als übertrieben.

In beiden Fällen, bei der Kontaktan/eige und im Gespräch,

fehlt die Risikofreude. Risikofreude aber ist eine wichtige
Eigenschaft, wenn ein Mann Nähe zu einer Frau herstellen will,
und ebenso, wenn er wieder auf Distanz gehen will. Wer Nähe
will, kann nicht auf Nummer Sicher gehen. Er muss wagen,
Tabus zu brechen. Das Problem ist, dass viele dieser Tabus und
Vorurteile nicht bewusst sind.

Im Allgemeinen scheinen Frauen risikofreudiger und

erotischer zu sein als Männer. Die Männer haben mehr Angst,
über Sexualität und Erotik zu sprechen.

In Kontaktanzeigen sollte durchaus etwas stehen, was

Attraktivität, Körperlichkeit und Nähe betrifft. Das suchen wir
doch, also müssen wir das auch in Worte fassen. Vom
stereotypen, langweiligen, gedrosselten Schreiben kommt der
Mann aber nur weg, wenn er die Sprache benutzen lernt. Ich
empfehle, sich einmal all die Worte aufzuschreiben, die tabu,
verboten, schuldbeladen, übertrieben sind, die Worte, die man
nicht benutzt.

Das beginnt bei ganz einfachen Worten: Lebendigkeit, Lust,

Neugierde, Feuer, Aufregung - im Zusammenhang mit Erotik
werden sie nicht benutzt. Der Mann ist zu schüchtern,
zuzugeben, dass er aufgeregt ist, weil er zum ersten Mal mit der
Frau, die ihn interessiert, zum Kaffeetrinken geht.

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Aber das sollte man riskieren, es benennen. Schwindelig soll

es einem werden vor Angst oder vor Begehren. Man kann
lernen, damit umzugehen, dass einem die Luft weg bleibt, dass
man vor Scham im Boden versinkt oder dass man sich freut.

Freude, Scham, Angst, Begehr en gehören zur Erotik, und es

gehört Mut dazu, das etwa in Kontaktanzeigen zu formulieren.
Diesen Mut kann man im Männergespräch und beim
Briefeschreiben üben.

Briefe sind unmodern geworden. Man telefoniert und mailt.

Ich bedaure das, ebenso, dass kaum mehr verbindliche
Gespräche geführt werden. Wirklich über sich zu sprechen und
ganz ehrlich zu sein, dazu muss man sich durchringen. Männer
sprechen über Arbeit, Sport und Autos, über Kinder und Urlaub,
aber wenig über Gefühle und Schwächen. Selbst Männer in
Männergruppen, die schon Phasen hatten, in denen sie erotisch
und lebendig wurden, ziehen sich wieder zurück und werden
schweigsam und starr.

Jeder Mann sollte sich die Frage stellen, was er sich eigentlich

wünscht, was er begehrt. Und dann fragen: Was kann ich davon
aussprechen? Was habe ich schon ausgesprochen? Wer es nie
riskiert, seine Bedürfnisse und Begierden auszusprechen, der
begrenzt sich selbst und beschneidet seine Lust.

Risikobereitschaft in der Erotik ist auch bei Zurückweisungen

wichtig. Wenn ein Mann zum Beispiel wünscht, dass die Frau
seinen Penis leckt, dann muss er damit rechnen, dass sie ihm das
verwehrt, weil sie sich vielleicht ekelt. Risikobereitschaft
braucht auch die Frau, um Nein zu sagen im Bewusstsein, dass
sie den Mann enttäuscht, im Extremfall sogar verliert. Nach
einer Zurückweisung sollten die Partner darüber sprechen. Eine
Zurückweisung muss keine Zurückweisung bleiben, aber man
muss das Risiko eingehen, die gewünschte bzw. abgewehrte
Sache wieder beim Namen zu nennen. Briefe erleichtern das,
denn Gespräche darüber sind schwer. Dabei kommen leicht
Abwehrmechanismen auf, Arger, Scham, und dann steckt man

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in der Sackgasse und kommt nicht mehr weiter.

Briefe bilden die Brücke, und nach einiger Zeit kann man

dann seinen Wunsch wieder äußern. Man sollte ihn nach einer
Zurückweisung nicht aus den Augen verlieren. Die Frau kann
vielleicht versuchen, ein anderes Verhältnis zum Penis des
Mannes zu entwickeln, er kann ihr vertrauter werden, sie kann
ihren Ekel überwinden, der ja vermutlich in einem Vorurteil
oder einer Kindheitserfahrung begründet ist, und wagt es, seinen
Penis zu schmusen.

Nachfragen heißt aber nicht drängen. Drängen tötet die

Erotik. Erotik braucht Zeit, und hier geht es nicht um Stunden,
sondern um Wochen, Monate und Jahre.

Intimität ist ein psychischer Vorgang, in dem Menschen sich

wechselseitig die geheimsten Dinge mitteilen. Wenn zwei
Menschen offen sind, kann das allein schon sehr erotisch sein.
Doch unsere Intimität ist meist verarmt, wir sind nicht intim.

Es fesselt zwar noch immer die Aufmerksamkeit, wenn eine

Frau sich in der Öffentlichkeit nackt zeigt, Nacktfotos machen
lässt, ihre Eitelkeit und Sinnlichkeit zum Ausdruck bringt. Auch
ich finde das toll - aber nicht in der Öffentlichkeit. Schamlose
Nacktheit in aller Öffentlichkeit ist für mich eine Art von
Distanzierung: Im Fernsehen und in Zeitschriften findet so viel
Nacktheit statt, dass sie selbstverständlich und langweilig wird.
Was soll die Öffentlichkeit mit so genannten Powerfrauen, die
sich ausziehen? Ich weiß nicht, wie diese Frauen privat sind. Im
Rahmen einer solchen Fotoaktion behauptete der Stern, dass
damit Tabus gebrochen würden: »Fessel mich, beiß mich, leck
mich, hau' mich«, steht da. Das finde ich toll - aber was soll die
Öffentlichkeit damit? Die sen Tabubruch wünsche ich mir für
zwei Menschen in ihren intimen Begegnungen. Wie verquickt
angeblicher Tabubruch und Klischees sind, das offenbart eine
andere Formulierung - ebenfalls im Stern: das »weibliche Laster
Exhibitionismus«. Warum »weiblich«, warum »Laster«?
Exhibitionismus, die Lust, sich nackt zu zeigen, ist kein Laster.

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Ich finde das wunderbar wenn es nicht an die Öffentlichkeit
gezerrt wird. Zwei Menschen sollen sich einander zeigen. Wenn
das nicht geschieht, findet keine echte Nähe statt.

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Nähe und Distanz

Intimität hat auch etwas mit »Geheimnis« zu tun. Wenn zwei

Menschen sich kennen lernen, wissen sie nicht viel voneinander.
Die größten Geheimnisse haben zwei Menschen voreinander,
wenn es um erotische Phantasien geht. Doch es ist wichtig, sich
diese mitzuteilen, und es gehört Mut dazu. Phantasien muss man
nicht in die Tat umsetzen, aber man kommt sich beim Erzählen
näher und inspiriert sich. Inspiration, dieser gegenseitige Schub,
ist wichtig für Intimität und Nähe. Wenn der Partner nie
reagiert, nie etwas beiträgt von seinen Geheimnissen, wird es zu
Enttäuschungen, Rückzug und Distanz kommen.

Gegen Intimität und Nähe wird immer wieder polemisiert. So

plädiert etwa der amerikanische Soziologe Richard Sennet
dafür, Nähe nicht allein schon als Wert zu betrachten: »Ist es
wirklich menschenfreundlich, den Leuten zu sagen, ihre
Persönlichkeit werde sich entfalten, sie würden emotional
reicher, wenn sie lernten, Vertrauen zu fassen, offen zu sein, zu
teilen, andere nicht zu manipulieren, in die gesellschaftlichen
Verhältnisse nicht aggressiv einzugreifen und sich dem
persönlichen Gewinn nutzbar zu machen? Ist es
menschenfreundlich, in einer harten Welt die Herausbildung
eines weichen Selbst zu unterstützen?« Sennet ist gegen
menschliche Wärme und dagegen, sich alles mitzuteilen. Er
glaubt somit nicht, dass die Probleme in unserer Kultur auf
Entfremdung, Anonymität und Kälte zurückgehen, und
empfiehlt Zurückhaltung.

Ich bin anderer Meinung: In unserer Kultur ist ein weiches

Selbst enorm wichtig. Das heiß t nicht, dass man immer weich
ist. Es geht vielmehr um die Flexibilität, auch weich sein zu
können. Wer am Arbeitsplatz immer hart ist, braucht sich nicht
zu wundern, wenn er auch in der Intimität hart und
verbarrikadiert ist. Es ist beides zu entwickeln: das

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widerstandsfähige, kämpferische Ich und das weiche Ich. Ein
Mensch, der stark ist, wird stärker, wenn er auch weich sein
kann.

Die Flexibilität ist zudem wichtig für Nähe und Distanz. Wer

Nähe herstellen will, muss auch Distanz herstellen können.
Distanz aber bedeutet, in einer Beziehung nicht dauernd
symbiotisch zusammen zu sein, sondern auch andere Menschen
zu treffen. Das ist für das Sehnen wichtig. Distanz brauchen wir
auch, um einen Menschen zu verstehen, ich nenne das
»Verstehensferne«. Wenn wir zu dicht an einem Menschen dran
sind, können wir ihn nicht verstehen.

Körperliche Nähe kann auch psychische Distanz bedeuten.

Menschen schlafen miteinander, aber sie sehen sich nicht an,
machen das Licht aus, denken an jemand anderes und sprechen
nicht darüber. Ständige körperliche Nähe kann in
Distanzlosigkeit ausarten: Partner wohnen ständig in einer
Wohnung zusammen, machen alles zusammen, machen alles
gleich: hören immer dieselbe Musik, essen das Gleiche, haben
dieselben Freunde. Distanzlosigkeit ist auc h, wenn man den
anderen nicht respektiert. Das beginnt bei alltäglichen
Situationen wie: Wäsche wegräumen, die Küche sauber halten,
die Toilette putzen. Das sollte jeder für sich machen, um den
anderen mit seiner Unordnung nicht zu stören. Distanzlosigkeit
in erotischen Situationen heißt, rücksichtslos seine Bedürfnisse
zu befriedigen, ohne auf die Bedürfnisse der Frau Rücksicht zu
nehmen, ohne sich zu vergewissern, ob die Partnerin zum
Beispiel auch gerade jetzt den Koitus will. Wenn das nicht
geschieht, kommt es zu Übergriffen und Gewalt.

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Hingabe erfordert Selbstachtung

Die größte Nähe entsteht zwischen zwei Menschen, wenn sie

sich einander hingeben. Doch Hingabe wird gern verwechselt
mit Masochismus.

Masochistisch in der erotischen und sexuellen Begegnung ist,

wer sich keine eigenen Gedanken macht, wer seine Gefühle und
Bedürfnisse nicht ernst nimmt, wer seine Lebensgeschichte
nicht kennt, nicht darüber nachdenkt, keine Lebenserfahrungen
daraus bezieht. Das ist natürlich ein anderer Masochismus-
Begriff als der, wenn sich jemand Fesseln anlegen und sich
auspeitschen lässt. Aber Leder und Peitsche sind die Oberfläche,
die letztlich auch in meiner Masochismus-Definition mit
eingeschlossen ist.

Freud meinte, Frauen seien eher masochistisch, Männer

dagegen eher sadistisch. Ich sehe das eher umgekehrt. Warum
gehen so viele Männer in Masochisten-Salons? Doch wohl, weil
sie von ihren Frauen nicht bekommen, was sie wollen. Das ist
ein Zeichen, dass sie entweder die falsche Frau haben oder mit
ihr nie über ihre Wünsche sprechen.

Masochismus ist für mich nicht eine einzelne Situation,

sondern ein durchgängiger Lebensplan. Der masochistische
Mann unterwirft sich - um sich an anderer Stelle dafür zu
rächen. Er passt sich vielleicht in der Firma an und setzt dann zu
Hause die Familie unter Druck und wird gewalttätig.
Masochismus ist nicht angeboren, sondern ein erlerntes
Bedürfnis. Dem Masochisten ist das Grundbedürfnis nach
Selbstachtung nicht bewusst genug, meist hat er das im
Verhältnis zur Mutter gelernt. Der Masochist leidet an Frauen-
Sucht, was auch heißt, dass er sich verwöhnen lässt, er genießt
die Schmerzen und gibt dabei die Verantwortung für sich ab: Er
macht sich klein, stellt sich dumm, bezeichnet sich als Versager,
beschimpft sich, nimmt Demütigungen hin, spielt den

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Ungeschickten, den Verlierer, das Opfer. Dahinter lauert immer
die Rache: der Sadismus. Masochismus ist im Grunde
genommen immer Sadomasochismus.

Hingabe ist anders. Sich führen lassen in der Erotik und in der

Sexualität kann unglaublich schön sein. Doch dabei darf man
nie seine Selbstständigkeit und Selbstachtung aufgeben.
Hingabe bedeutet, auch selbst die Führung übernehmen zu
können. Ständige einseitige Hingabe führt in den Masochismus.
Sich nicht behaupten können provoziert Übergriffe.

Hingabe kann große Lust bedeuten, aber die Grenze zur

Aufgabe der Selbstachtung darf niemals überschritten werden.
Diese Grenze existiert, und es ist die Aufgabe jedes Menschen,
selbst herauszufinden, wo diese Grenze liegt. Ich selbst muss
entscheiden, wie weit ich mich führen lasse und wo meine
Selbstachtung beschädigt wird.

Hingabe ist für die Erotik vielleicht das höchste Glück: Sich

führen lassen, freiwillig, und wieder herausgehen aus dieser
Hingabe, die Führung übernehmen. Ich kann mich hingeben,
ganz in meinem Körper drin sein, bin vielleicht ganz und gar
kindlich in dieser Hingabe.

Kindliche Hingabe ist ein Risiko, das muss man wagen.

Risikobereitschaft ist in der Erotik immer wichtig, denn es heißt,
dass man Ängste und Hemmungen überwindet, etwa, einen
Wunsch auszusprechen. Das heißt aber nicht, dass man seine
Ängste einfach «Vergehen soll und dann gar brutal wird. Ängste
überwinden heißt, in die Angst hineingehen. Dazu braucht man
freilich die Distanz, um die eigene Angst zu verstehen. Angst ist
oft größer, wenn man allein ist. Zusammensein nimmt Angst.

Das geschieht auch, wenn wir Männer uns zusammensetzen

und offen über Probleme und Ängste reden. Wir lernen,
Bedürfnisse zu formulieren. Wir lernen, unsere Angst zu
verstehen, wir ergründen sie und gehen durch die Angst
hindurch.

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Die Angst ist ebenso wie Scham oder Ekel ein wichtiger

Indikator für erotische Bedürfnisse. Wenn man diese Gefühle
entwickelt, sollte man davon ausgehen, dass hier auch
Bedürfnisse verborgen sind, und sollte versuchen, sie zu
ergründen. Das heißt nicht, dass man alles mitmachen muss. Das
ist damit nicht gemeint.

Angst, Scham oder Ekel zu überwinden, braucht Zeit. Zeit

lassen, Zeit gewähren, Zeit einräumen, das ist sehr wichtig in
der Erotik. Erotik funktioniert nicht zwischen Spätnach-Hause-
Kommen und Schlafengehen.

Was genau ist Hingabe? Man gibt sich selbst. Und was ist das

Gegenteil von Hingabe? Verweigerung? Selbstbehauptung?
Selbstbehauptung und Hingabe ergänzen sich. Wenn einer sich
selbst nicht behaupten kann, kann er sich auch nicht hingeben.
Dann ist er nämlich starr, auf Defensive und Abwehr
eingestimmt. Ein Mann, der sich nicht hingeben kann, ist auch
nicht erotisch. Eine Gefahr liegt zudem in einer falschen
Selbstgewissheit bei Männern. Sie ist ebenso starr und tötet die
Erotik.

Hingabe - ich gebe mich hin. Der Volksmund sagt, man kann

nur geben, was man hat. Das ist sehr richtig: Nur wenn ich bin,
wenn ich weiß, wer ich bin, was ich wert bin, wenn ich mir
meines Selbst bewusst bin, kann ich mich hingeben.

Hingabe heißt für Männer auch, fraulicher zu werden.

Traditionell ist die Hingabe der Frau zugeordnet: Sie soll
Sexobjekt sein, sich hingeben, leicht handhabbar sein, nicht
Nein sagen, schnell zur Verfügung stehen und schnell wieder
weg sein, wenn der Orgasmus erledigt ist.

Für Männer ist es bedrohlich, sich vorzustellen, dass sie wie

Frauen werden könnten. Die Aufforderung, frauliche Werte,
Verhalten und Gefühle kennen zu lernen und sich anzueignen,
verunsichert Männer. Wenn sie sich tatsächlich auf diesen Weg
machen, bietet die alte Männerrolle immer wieder Sicherheit

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und Pseudostärke, so genannte Unabhängigkeit. Männer wollen
nicht abhängig sein, wollen sich nicht hingeben, wollen sich
nicht führen lassen - das ist eines der größten Männerprobleme.
Die Frage ist: Hat der Mann so viel Kraft und
Selbstbewusstsein, dass er sich in diese unsichere Zone
hineinbegibt? Hat er zu wenig Kraft, muss er dann auf jede
Veränderungsmöglichkeit verzichten und auf die Möglichkeit,
lieben zu lernen? Ein Problem ist ja auch, dass viele Frauen den
pseudostarken Mann wollen, der in unserer Kultur als der
»richtige« Mann gilt.

Sich führen zu lassen, wäre für den Mann eine Möglichkeit,

entspannter, ruhiger und froher zu werden. »Sein lassen« ist hier
ein wichtiger Begriff. »Sein lassen« im Sinn von etwas so sein
zu lassen, wie es ist - das entspannte, hingabefähige Sein des
Mannes zulassen. Aber auch die Partnerin sein zu lassen, sie
ernst zu nehmen. Das können viele Männer nicht. Frauen
werden sowieso oft nicht ernst genommen, sie werden entwertet,
beschimpft, ausgebeutet. Nun soll der Mann sie ernst nehmen?
Für mich sind die Frauen die stärkeren Menschen in dieser
Kultur. Sie können besser fühlen und besser denken. Es ist also
für unsere männliche Entwicklung von großem Wert, genau
hinzuhören, hinzusehen und weibliche Werte zu lernen.

Das ist kein leichter Weg, denn unsere patriarchale Kultur

erleichtert dem Mann, der sich einmal über die Grenze gewagt
hat, jeden Rückfall in sein altes, typisch männliches Verhalten.
Das erleben wir auch bei Männern, die einmal in einer Gruppe
waren, immer wieder: Sie halten sich eine Zeit lang im Raum
des Suchens und Findens und Wagens auf. Sie stellen sich in
Frage und beginnen, sich zu verändern, doch kaum sind sie
draußen, baut sich die alte Männerrolle wieder auf: hart,
scheinbar stark, unbeirrbar, unbehelligt, emotionslos, formal,
unbeweglich.

Die Gesellschaft will nicht, dass Männer in die Welt der Frau

eindringen, dass sie Gefühle erleben wie Schwäche,

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Abhängigkeit, Trauer, Angst. Das ist Männern nicht erlaubt, und
diese

Worte und Themen tauchen auch in Männergesprächen nicht

auf.

Sich als Mann hinzugeben, erfordert eine große Toleranz

gegenüber den Wesens- und Werdensmöglichkeiten der Frau.
Liebes- und hingabefähig wird ein Mann erst dann, wenn er der
Frau Verhaltensweisen zubilligt, die traditionellerweise dem
Mann zugeordnet sind, etwa, die Führung zu übernehmen, Nein
zu sagen, wütend oder sehr lustvoll zu werden. Die Frau muss
ihre Lust entwickeln dürfen, genau sagen, was sie sich wünscht -
ganz andere Dinge vielleicht, als der Mann sich wünscht. Und
der Mann muss sie sein lassen, muss ihr Zeit lassen. Das ist
notwendig für Hingabefähigkeit und wirkliche Erotik.

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Erotik braucht Zärtlichkeit

Die Zärtlichkeiten

Ich liebe jene ersten bangen Zärtlichkeiten, die halb noch

Fragen sind und halb schon Anvertrauen, weil hinter ihnen
schon die wilden Stunden schreiten, die sich wie Pfeiler
wuchtend in das Leben bauen.

Ein Duft sind sie, des Blutes flüchtigste Berührung, ein

rascher Blick, ein Lächeln, eine leise Hand. Sie knistern schon
wie rote Funken der Verführung und stürzen Feuergarben in der
Nächte Brand.

Und sind doch seltsam süß, weil sie im Spiel gegeben, noch

sanft und absichtslos und leise nur verwirrt, die Bäume, die dem
Frühlingswind entgegen beben, der sie in seiner harten Faust
zerbrechen wird.

Stefan Zweig

Zärtlichkeit ist ein großes Problem für Männer, denn damit

verhält es sich wie mit der Erotik. Man kann nicht einfach auf
Knopfdruck zärtlich sein. Man kann sich nicht vornehmen:
»Jetzt bin ich zärtlich«, und dann muss es funktionieren.

Jeder Mann meint, er wäre zärtlich und erotisch, aber

tatsächlich sind Männer eher zu Kampf und Härte erzogen
worden. Sie tragen allerhand Kampfeslust gegenüber Frauen in
sich. Die Erziehung in der Kindheit erlaubt dem Mann
gewissermaßen, Macht auszuüben und Gewalt anzuwenden. Das
wird nicht als Problem gesehen oder gar bekämpft, sondern in
Kauf genommen und je nach Position auch ausgeübt. Die
Erziehung von Mädchen geht dagegen überwiegend in Richtung
Erniedrigung, Machtlosigkeit und Degradierung.

Ihre Erziehung führt Männer zu einem Frauenhass, zur

Frauenausbeutung und zur Verachtung von Frauen. Sie nehmen
Frauen zwar in Anspruch, für die Kindererziehung, für den

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Haushalt, für die eigene Verwöhnung und die Beziehungsarbeit,
aber dafür achten sie die Frau nicht.

Warum sind Männer nicht zärtlich? Warum üben sie Macht

aus? Die älteste und falscheste Theorie ist, dass das in der Natur
des Mannes liege. Vererbungstheorie versus Milieutheorie
dieser Gegensatz wurde früh und viel diskut iert. Ich bin
überzeugt, dass Gewalt oder die Fähigkeit zur Zärtlichkeit eine
Frage der Persönlichkeit sind. Die Persönlichkeit wird durch die
Erziehung geprägt. Drei Faktoren spielen hier eine Rolle: die
Stellung in der Geschwisterreihe, die Persönlichkeitstypen, wie
Sigmund Freud sie geprägt hat, und die Familienstrukturen. Ich
bin aber kein Anhänger der Milieutheorie, sondern vertrete eine
dritte Auffassung, wie sie auch von Jean-Paul Sartre und
Simone de Beauvoir vertreten wurde: Der Mensch baut sich
seine Persönlichkeit selbst auf, indem er aus dem auswählt, was
ihm die Umwelt anbietet. Diese Theorie der Wahl beinhaltet,
dass der Mensch zwar geprägt ist durch seine Umwelt, aber auch
eine gewisse Entscheidungsfreiheit besitzt.

Der heranwachsende Junge wird sich also anschauen, welcher

Elternteil ihm als Vorbild mehr imponiert. Wahrscheinlich wird
er sich mit dem Vater identifizieren, weil der mehr Macht hat,
und meist sagt ihm auch die Mutter, dass er so werden soll wie
der Vater.

Als Erwachsener kann der Mann dann nicht erotisch und

zärtlich sein, weil er kein Vorbild dafür hatte oder es nicht
wählte. Er lebt Kampf und Wettbewerb - im Beruf und gegen
die angeblich geliebte Frau. Dieses Verhalten zu ändern, dauert
lange und ist schwierig, denn der Mann hat die Gesellschaft mit
ihrer Macht und Gewalt gegen sich. Eine männerdominierte
Gesellschaft ist nicht an der »Menschwerdung« des Mannes
interessiert.

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Zärtlichkeit braucht zarte Stimmung

Wer Zärtlichkeit will, muss auf die Stimmung achten. Es ist

eine Frage der Stimmung, ob ich mich erotisch gestimmt fühle
oder mich erotisch stimme, ob ich mich einstimme oder
einstimmen lasse auf Zärtlichkeit.

Die Stimmung hängt mit der Persönlichkeit des Mannes

zusammen und damit, was er in den letzten Tagen, den letzten
Monaten, den letzten Stunden erlebt hat. Wer gerade Stress im
Beruf hat und jeden Tag länger arbeitet, trägt den Stress auch
am Freitagabend noch in sich.

Einstimmen auf Zärtlichkeit ist eine Aufgabe, die jeder

übernehmen muss. Jeder ist für die Stimmung verantwortlich,
zuerst für seine eigene. Vor der Annäherung sollte man sich
fragen: Habe ich eine gehobene Stimmung, fühle ich mich
glücklich und froh, kann ich davon meiner Partnerin abgeben,
wenn sie niedergeschlagen, angstvoll oder müde ist? Oft will der
Mann nur Sexualität, um seine Stimmung aufzuhellen. Er fühlt
sich nicht für die Stimmung verantwortlich, sondern will die
Frau ausnutzen, um bessere Laune zu bekommen. Doch
Orgasmus hat mit Stimmung nichts zu tun, er ist nur eine
vorübergehende Körpersensation.

Stimmung für Zärtlichkeit bedeutet eine gewisse Leichtigkeit,

Fröhlichkeit und auch Humor. So nimmt man sich und die
Partnerin ganz anders wahr. In einer gedrückten Stimmung ist
keine Offenheit und damit auch kein Austausch möglich. Viele
Frauen fühlen sich in Gegenwart ihrer Freundin besser als bei
ihrem Mann. Viele haben aber auch Angst vor Männern, und der
Satz »Du brauchst keine Angst zu haben« verändert nichts.
Vertrauen muss wachsen.

Wenn zwei Menschen eine zärtliche Stimmung hergestellt

haben, ist diese sehr zerbrechlich. Ein einziges Wort kann das
zerstören, und ein solches Wort ist zum Beispiel »ficken«.

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Männer verwenden es oft leichtfertig, aber bei vielen Frauen ist
danach jede Lust und Zärtlichkeit wie abgeschnitten. Wer
zärtliche Stimmung herstellen und erhalten will, muss wissen,
was die Partnerin mag und was sie stört, und er muss mit diesem
Wissen Rücksicht auf sie nehmen. Die Sprache hat einen hohen
Stellenwert. Worte können nicht nur die Stimmung verderben,
sie können auch fröhlich machen, lustvoll, erotisch.

Ein Buch, in dem das sehr gut geschildert wird, ist »Wie

kommt das Salz ins Meer« von Brigitte Schwaiger. Dies Buch
beschreibt eine Partnerschaft von der Hochzeit bis zur
Scheidung: Rolf ist ein »Antierotiker«. Er belehrt die Frau
andauernd, weiß immer alles besser, nimmt sie nie ernst,
bestimmt, was gemacht wird, und fragt die Frau nie nach etwas.
Sie sprechen durchaus miteinander, aber die Gespräche sind
manchmal aberwitzig. Die Frau sagt: »Du verstehst mich nicht.«
Rolf: »Wie willst du, dass ich dich verstehe, wenn du dich selber
nicht verstehst?« Weitere Zitate von Rolf: »Du bist die einzige
Frau, die mich nicht langweilt.« - »Mit mir über Politik zu
reden, da musst du erst reifer werden.« - »Aber das brauchst du
nicht zu wissen, du hast ja mich, und wir lieben uns ja.« - »Sei
doch kein Kind, sei doch erwachsen.« - »Ich bin doch
schließlich ein Mann und bin doch nicht aus Holz.« Wenn also
die Frau etwas fordernder wird, dann entdeckt er seine Gefühle
und will, dass sie darauf Rücksicht nimmt.

Solche Gesprächsfetzen sind symptomatisch, das kenne ich

aus vielen Schilderungen in der Therapie und in den Gruppen.
Wenn der Mann Sexualität will, und sie ist nicht in der
Stimmung, heißt es: »Du bist ja frigide.« Wenn sich die Frau das
energisch verbittet, ist sie eine »Emanze«. Wenn sie auf ihre
Erziehung und Erfahrungen in der Kindheit verweist: »Denk
doch nicht immer an deine blöde Kindheit. Werde doch endlich
erwachsen.« Wenn der Mann sich überfordert fühlt: »Du bist
unreif.« Oder: »Weine, wenn es dir gut tut, aber weine nicht
endlos. Du bist ja schon ganz verschwollen.« Oder: »Ich finde

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es rührend, wie du so dasitzt und aussiehst, als dächtest du über
etwas Wichtiges nach.« Männer machen Frauen in ihren Sätzen
andauernd klein, nehmen sie nicht ernst, kommandieren sie
herum: »Hörst du mir überhaupt zu, wenn ich mit dir rede?
Woran denkst du dabei dauernd? Was habe ich eben gesagt?
Sag' das noch einmal. Was habe ich gesagt? Ich will wissen, ob
du zugehört hast.« Und so weiter.

Solche Sprüche zeigen absolutes Nicht-Verstehen und Nicht-

Verständigen. Diese Sprache ist fordernd, hart, machtbewusst,
aggressiv. So kann ein Mann kein offenes Gespräch
herbeiführen und schon gar nicht eine erotische, zärtliche
Stimmung herstellen.

Aber es gibt auch andere Männer. Einer erzählte, dass er sich

in Bezug auf die Sexualität oft traurig fühlt. Er sehnt sich nach
körperlicher Zärtlichkeit, bekommt sie aber nur selten:

»Ich bin immer froh, wenn nicht Krach zwischen uns ist. Die

Abwesenheit von Krach ist für mich angenehm. Aber angenehm
ist halt auch nicht genug auf Dauer, und trotzdem ist mein
Phlegma, oder weiß ich was, mein Festhalten am angenehmen
Zustand der Abwesenheit von Krieg, eben sehr stark.«
Tatsächlich herrscht in vielen Partnerschaften und auch in
unserem Unbewussten oft Krieg. In Träumen, den Botschaften
aus dem Unterbewussten, kommt häufig Kriegerisches vor. Das
aber ist eine schlechte Basis für Zärtlichkeit.

Als Problem des Mannes ergab sich, dass er mehr an

Kuscheln und Zärtlichkeit interessiert ist, seine Partnerin
dagegen mehr Koitus und Aktion will. Er hat nichts gegen den
Koitus, aber eben nicht so oft. Er will kuscheln, schmusen: »Ja,
ich bin so klein, und ich will auch einmal regredieren dürfen,
das kleine Kind sein und sie die Mami.«

Auch der Mann muss sich einmal klein machen dürfen,

unsicher sein, für die Frau das begehrte Objekt sein. Die meisten
Männer können das nicht, müssen immer aktives Subjekt sein,

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etwas bestimmen, etwas tun. Ihnen gefällt es, wenn die Frau sich
kleiner macht, sich führen und umwerben lässt. Das ist schön,
aber ein Problem ist, wenn man immer nur ein Schema lebt und
nicht auch die andere Verhaltensweise ausprobiert und genießt.

Die oben geschilderte Beziehung widerspricht dem gängigen

Vorurteil, dass der Mann »immer nur das Eine« will. Die Frau
verweigert »Kuschelsex«, verwendet den Begriff abwertend, für
sie ist nur der Koitus »richtige« Sexualität, sie will »hart
angefasst werden«. Die Bedürfnisse der beiden sind also sehr
verschieden, und sie finden keinen Weg, sich zu verständigen.

Das ist ein neues Problem, mit dem Männer konfrontiert sein

können, die sich auf den Weg gemacht haben, die sich
entwickeln, sensibler werden, mehr Lust an der Zärtlichkeit als
an der reinen Sexualität haben. Es kommt zu Umstellungen in
der Beziehung, und wenn die beiden das nicht im Gespräch
klären, werden sie kaum zu einer gemeinsamen erfüllten Erotik
und Sexualität finden.

»Kuschelsex« ist ein entwertender Ausdruck: Das ist kein

richtiger Sex, nur Sex light, da fehlt etwas. Aber immer mehr
Männer wollen auch anschmiegsam, mitfühlend, freundlich sein.
Sie wünschen, dass die Frau nicht nur an ihrem Körper, sondern
auch an ihrer Person, ihren Gefühlen, ihren Gedanken
interessiert ist. Männer wollen auch angelacht werden, auch die
Frau soll den Kontakt wünschen und aktiv herstellen, um den
Mann werben, ihn ernst nehmen, ihn aber auch frei lassen und
nicht festhalten wollen, ihm helfen, wenn er Hilfe braucht,
traurig ist, sich einsam fühlt. Auch Frauen haben zunehmend
Zeitnot und Stress, ob im Beruf, wo sie Karriere machen wollen,
oder im Haus, wo sie perfekt sein wollen.

Absolut unerotisch ist der kühle Verstand. Früher wurde das

vor allem bei Männern beklagt, aber es gibt heute auch Frauen,
die so sind: Sie brechen Berührungen schnell ab, fordern oder
klagen an. Sie sind nicht mitfühlend, sondern gegenfühlend. Es
scheint heute modern zu sein, dass Frauen ihre eigenen Gefühle

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sehr ernst nehmen, aber wenn sie sie wesentlich ernster nehmen
als die des Mannes, kann keine erotische Stimmung entstehen.
Das ist meiner Meinung nach auch ein großes Problem im
Feminismus. Wenn die Frau nur noch sich selbst im Blick hat
und überhaupt nicht bereit ist, auf den Mann einzugehen, wird
keine zärtliche Stimmung aufkommen.

Um die Ausgewogenheit müssen sich beide bemühen.

Zärtlichkeit hat viel mehr mit Gemeinschaft zu tun als
Sexualität. Einer allein kann nicht Zärtlichkeit herstellen, und
auch wenn mittlerweile Frauen ebenfalls Zärtlichkeitsprobleme
haben: Meist kann der Mann doch noch von der Frau lernen und
sollte das auch.

Die meisten Männer schlafen, was die Erotik anbelangt. Sie

wissen überhaupt nicht, was Erotik ist. Selbstverständlich sind
sie potenziell dazu in der Lage, aber sie haben es nicht als
Aufgabe begriffen, sondern leben einfach vor sich hin und hören
der Frau nicht richtig zu. Männer brauchen Geduld, Interesse,
Aufmerksamkeit und das klare Bewusstsein, dass sie im
erotischen Bereich von der Frau viel lernen können. Ich sage das
so deutlich, weil ich es selbst erlebt habe, und weil ich mir
wünsche, dass sich viele andere Männer dieses lustvolle,
freudige Erlebnis verschaffen.

Der Mann soll auch nicht meinen, dass er das einfach so kann.

Der Frau zuzuhören, ihre Bedürfnisse kennen zu lernen, sich
darauf einzulassen und zärtliche Erotik zu erleben, das ist ein
Prozess, der Jahre dauern kann. Absolut hinderlich für diesen
Prozess ist die Einstellung: Ich kenne die Frauen schon, auch
meine Frau. Meist kennt der Mann die Frau eben nicht, auch
wenn er schon lange mit ihr zu tun hat.

Besonders schwierig ist es, wenn Männer Angst vor der

Erotik der Frau bekommen: Wenn die Frau sich freier bewegt,
freier äußert, ihre Bedürfnisse formuliert, die über das
hinausgehen, was dem Mann bekannt ist, fühlt er sich
manipuliert oder empfindet die Wünsche oder Ablehnungen der

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Frau als gegen sich gerichtet. Wenn Frauen Veränderungen
wünschen, suchen Männer meist nach anderen Stellungen und
Sex-Techniken. Dabei wäre es wichtiger, »einfach« miteinander
zu sprechen.

Meine Überlegungen fokussiere ich in einem »Hauptsatz« der

Zärtlichkeit: »Es besteht die Notwendigkeit der Analogie
zwischen Bedürfnis und Werbung um Bedürfnis.« Anders
ausgedrückt: Wer sich Zärtlichkeit wünscht, kann das nicht hart
einfordern, sondern muss es zärtlich äußern. Es muss eine
Analogie bestehen zwischen der Art, wie man sich etwas
wünscht und was man sich wünscht. Es ist völlig aussichtslos,
im Kasernenton Zärtlichkeit einzufordern: »Zärtlichkeit -
Marsch!«

Zärtlichkeit erfordert eine leise Stimme, ein Flüstern. Man

sollte leise, langsam und sorgfältig sprechen, sanfte Worte
benutzen. Wer zärtliche Stimmung sucht, sollte keine Spitzen
formulieren, nicht ironisch oder sarkastisch werden, keine
derben Witze reißen, sondern in allem, was er sagt, Respekt zum
Ausdruck bringen. Wer das nicht kann, verhält sich unerotisch
und sollte auch keine Erotik ansteuern. Diesen Respekt kann
man lernen. Wenn ein Mann sich erotische Stimmungen mit
einer Frau wünscht, sollte er sie anerkennen in einem sehr
umfangreichen Sinn: als Frau, als Mensch, mit ihren Ideen, mit
ihren Leistungen, mit ihren Gefühlen, mit ihrem Aussehen.
Auch mit vielen Details, beim Äußeren zum Beispiel mit ihren
Haaren, ihrem Gesicht, ihren Augen, ihrer Kleidung, ihren
Beinen, ihrem Po, ihren Brüsten, ihrem Bauch, ihrer Vagina.
Das alles ist etwas Anzuerkennendes. Wenn der Mann vieles
davon nicht anerkennen kann, dann sollte er sich eine andere
Frau suchen. Und wenn die Frau spürt, dass sie in vielen
Bereichen nicht anerkannt wird, dann sollte sie sich einen
anderen Mann suchen.

Ein Manko für Männer ist, dass sie dieses Anerkennen nicht

gelernt haben: Männer lernen Kampf und Konkurrenz, Befehl

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und Gehorsam, aber nicht die respektvoll geflüsterte
Anerkennung gegenüber der Frau.

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Erotik braucht Empfindsamkeit

Ein wichtiges Entwicklungsziel für Männer auf dem Weg zu

mehr Zärtlichkeit und Erotik ist die Sensibilität oder auch
Empfindsamkeit. Die Empfindsamkeit steht in einem
Spannungsfeld zwischen zwei Extremen: der
Empfindungsunfähigkeit auf der einen und der
Überempfindlichkeit auf der anderen Seite.

Unsensibel, unempfindlich, empfindungslos ist ein Mensch,

der nicht fühlen kann. Jeder gerät irgendwann in die Situation,
nichts zu fühlen und unempfindlich zu sein. Männer haben mit
dem Nichtfühlen-Können größere und häufiger Probleme als
Frauen. Frauen fühle n intensiver. Das ist nicht von Natur aus so.
Männern wurden die Gefühle in der Kindheit abdressiert und
ausgetrieben: Sie haben es in der Kindheit nicht anders gelernt.

Die Unfähigkeit zu fühlen ist eine Starrheit. Manche

Menschen signalisieren das schon durch ihre Körperhaltung und
Bewegung: Sie sitzen starr, schauen starr, schauen einen nicht
richtig an und verschließen auch ihre Ohren, hören nicht zu.
Empfindungsunfähige Menschen erscheinen uninteressiert,
ignorant und blockiert. Es handelt sich um asoziale Charaktere,
und das ist auch gefährlich für die betroffenen Menschen: Sie
haben kein Mitgefühl für andere und für sich. Mitgefühl für sich
selbst wäre Selbstmitleid, das gilt Männern als
weichlichweiblich und damit unannehmbar.

Empfindungsunfähige Menschen machen sich hart, schotten

sich ab und bekämpfen andere Menschen. Die Unsensibilität
geht im Extremfall bis zur völligen Gefühllosigkeit und
Reaktionsunfähigkeit. Im psychopathologischen Bereich nennt
man das Idiotie: Sie ist auch veränderbar, das erfordert aber
intensive und langwierige Anstrengungen.

Ein wichtiger Grund für die Unfähigkeit zu fühlen ist die

Angst. Ängste können uns lahmen, blockieren und fühlunfähig

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machen. Damit wird natürlich auch das Selbstwertgefühl gestört.
Die Angst kommt aus der Kindheit. Die Erziehung zur
Empfindungsunfähigkeit ist typisch für unsere Kultur. Autorität
und Verbote spielen eine große Rolle, Kinder dürfen nur im
Rahmen weniger vorgeschriebener Verhaltensmuster reagieren.
Wenn sie sich falsch verhalten, drohen strenge Strafen.
Pedanterie, Dogmatismus, Rechthaberei beschreiben Formen
dieser Erziehung.

Gefühlsunfähige Menschen haben gefühlsbedingte

Hemmungen. Der Charaktertyp, der zur
Empfindungsunfähigkeit neigt, ist der depressive Mensch. Je
depressiver ein Mensch ist oder je länger er depressiv ist, desto
größer wird die Gefahr der Gefühlsunfähigkeit. Zunächst sind
diese Menschen schüchtern, haben Hemmungen, können keine
Forderungen mehr stellen, keine Konflikte austragen und neigen
immer mehr zu Passivität, Grübelei und Verzweiflung. Sie
beginnen zu schweigen, wenn gesprochen werden müsste,
geraten in eine Hoffnungslosigkeit und schließlich in eine
völlige Apathie, Indifferenz und Gleichgültigkeit. Schritt für
Schritt töten depressive Menschen ihre Gefühle ab und töten
damit in sich jedes Erlebnis, jeden Lebenswillen.

Das andere Extrem ist die Überempfindlichkeit, die

Hypersensibilität. Solche Menschen sind sehr leicht irritierbar,
reagieren sofort, Mimosen nennt man sie umgangssprachlich.
Die Überempfindlichen können sehr stolz sein, hellhörig und
wehleidig, jedenfalls in Bezug auf sich selbst. In Bezug auf
andere sind sie viel weniger empfindlich, bis hin zur Taubheit
und Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen anderer. Wenn
ihre persönlichen Belange tangiert werden, reagieren sie sehr
heftig. Sie beziehen alles Unangenehme auf sich, nehmen alles
»persönlich«, sind sehr schnell aufgeregt und sauer,
egozentrisch, narzisstisch. Der Narzisst zum Beispiel schreit
sofort Zeter und Mordio, wenn er kritisiert oder gefordert wird,
oder wenn auch nur die gewohnte Verwöhnung ein wenig

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nachlässt.

Der Hypersensible hat wenig Zutrauen zu sich selbst, wenig

Selbstachtung und geht deshalb bei den geringfügigsten
Anlässen sofort in eine starke Abwehrhaltung. Dadurch
verbraucht er viel Kraft, zieht sich deshalb schnell zurück, unter
Umständen auch vollständig. Magen- und Hautprobleme sind
typische Beschwerden der Überempfindlichen.

Im Leben überempfindlicher Menschen finden sich viele

Enttäuschungen und Entbehrungen - jedenfalls sehen sie das so,
weil sie alles Negative überbewerten und auf sich beziehen.
Schon kleine Ziele, die nicht erreicht werden, gelten als
Katastrophe. Überempfindliche sehen sich immer in
Feindesland, sind misstrauisch, haben einen Charakterpanzer,
lassen andere nicht an sich heran und verstecken sich. Man
erlebt dann nur eine äußere Schale: Sie können sich hinter einer
völlig beherrschten Physiognomie und Miene verbergen, doch
dicht unter der Haut lauert die Empfindlichkeit. Bei der
geringsten

Anforderung oder Attacke überreagiert der Hypersensible mit

Wut, Ärger oder Hass.

Natürlich sind solche Schilderungen von Extremtypen mit

Vorsicht zu handhaben. Solche reinen Typen gibt es selten, es
gibt eher Situationen, in denen man sich so verhält.

Empfindsamkeit oder Sensibilität ist ein Entwicklungsziel. Sie

ist also ein Ideal, das zwischen den beiden Extremen liegt.
Dabei geht es darum, den unsensiblen und den
hyperempfindlichen Menschen nicht zu verurteilen - weder in
sich noch in anderen. Es geht darum, ihn zu erkennen, darüber
zu sprechen und die Möglichkeit zur Entwicklung zu eröffnen.

Ein empfindsamer Mensch fühlt seine eigenen Gefühle sehr

intensiv und nimmt dieses Fühlen auch wahr. Er fühlt sich in
andere ein. Wenn er mit anderen mitfühlt, fühlt er manchmal
sogar schneller als die Betroffenen, weil er nicht so leicht

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irritierbar, sondern sich seiner Gefühle sicher ist. Er weiß, wie er
mit Gefühlen umgehen kann, weil er mehr Erfahrung darin hat,
Gefühle einzuordnen und zu beruhigen. Mitfühlen heißt nicht,
sich vo n jedem Leid eines anderen mitreißen zu lassen, das ist
Mit-Leid, und Mitleid ist ein sehr egoistisches Gefühl. Mit-
Gefühl dagegen erlaubt aus der eigenen Erfahrung, vor dem
Hintergrund eigener Sicherheit und Standhaftigkeit ein
Mitfühlen.

Charakterzüge des sensiblen Menschen sind Geduld,

Besonnenheit, Stehvermögen, verständnisvolles Umgehen mit
Mitmenschen, Hilfsbereitschaft, Kritikfähigkeit, die Fähigkeit,
eigene Fehler einzugestehen und darüber zu sprechen. Ein
empfindsamer Mensch verweigert nie lange das Gespräch. Er
zieht sich vielleicht einmal zurück, aber nicht für lange Zeit, und
er bietet dann auch das Gespräch wieder an. Ein empfindsamer
Mensch ist kooperativ, er reagiert, nimmt die Gefühle des
anderen ernst, äußert sich dazu. Er bringt Freude in die
Beziehungen zu anderen Menschen und fordert dies auch. Er ist
ein Mit-Mensch, Mit-Fühler, Mit-Handler. »Mithandeln« gibt es
zwar im Deutschen nicht, aber es wäre ein guter Ausdruck, um
Kooperation zu beschreiben. Das Wort Mittäter können wir hier
nicht verwenden, weil es negativ besetzt ist.

Empfindsame Menschen wurden in ihrer Kindheit ernst

genommen, nicht allzu hart behandelt und nicht zu sehr
verwöhnt. Das wäre ein wichtiges Ziel für Erwachsene: Kinder
ernst zu nehmen. Empfindsame Menschen wurden von ihren
Eltern viel gefragt und durften auch antworten. Sie durften ihre
Eltern auch kritisieren und wurden damit nicht ignoriert oder
wegen ihrer Kritik bestraft. Es gab eine Kooperation zwischen
Eltern und Kind, Vater und Mutter hatten Zeit für das Kind. Sie
sind nicht wegen des Kindes zusammengeblieben - das erwähne
ich deshalb, weil man dieses Argument oft hört: »Wir können
uns wegen der Kinder nicht trennen.« Meiner Meinung nach ist
das eine der grausamsten Arten, mit Kindern umzugehen: Zwei

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lieblose Menschen bleiben zusammen und überfrachten ihre
Kinder Tag für Tag mit ihren Lieblosigkeiten.

Ein empfindsamer Mensch war eingebettet in soziale

Beziehungen und konnte Gemeinschaftsgefühl entwickeln.
Gemeinschaftsgefühl und Empfindsamkeit sind zwei Begriffe,
die eng zusammengehören. Der empfindsame Mensch trägt
Beziehungen mit und lässt sich von anderen tragen.

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Empfindsamkeit braucht Ruhe

Wie findet man nun zur erotischen Empfindsamkeit?

Notwendig dafür ist unbedingt Ruhe, doch unsere Gesellschaft
lädt dauernd zur Unruhe ein: Fast alles, was in der Arbeit
gefordert und in der Freizeit geboten wird, ist Unruhe. Das
Fernsehen, der Sport, der Konsum, laute Musik erzeugen
Unruhe. Man braucht den »Kick«, den »Thrill«, den
»Overthrill«. Ich interpretiere das als Angstlust: Viele Menschen
brauchen die Unruhe und stellen sie in ihrem Leben immer
wieder her, weil sie noch nie Ruhe erlebt haben. Zur Ruhe
kommen heißt zu sich selber kommen, sich aus hektischen
Umweltaktivitäten herausziehen. Manche Menschen können
nicht ein oder zwei Stunden ruhig irgendwo sitzen und nichts
tun. Sie müssen immer etwas machen: Das ist Unruhesucht.
Unruhesüchtige sollten sich eigentlich in Therapie begeben. Ein
unruhiger Mensch wird auch nachts nicht ruhig schlafen: Er
träumt unruhig, und auch sein traumloser Schlaf ist unruhig. Er
zuckt im Schlaf, wälzt sich, stöhnt, spricht. In einer schwierigen
Lebenssituation ist das nicht ungewöhnlich, aber als
Lebensdauerzustand ist es nicht gut.

Ruhig werden kann man bei Spaziergängen in der Natur, beim

Waldlauf, beim Schwimmen, beim Fahrradfahren. Das sind gute
Möglichkeiten, ruhig zu werden - allerdings nicht, wenn man
dann mit dem Mountainbike über Schanzen springt oder in der
überfüllten Schwimmhalle nach der Stoppuhr schwimmt. Joggen
und radeln kann man auch gut zu zweit: So kann man lernen,
den Augenblick, sich selbst und die Zweisamkeit zu genießen
und zur Ruhe zu kommen.

Viele Menschen behaupten, sie könnten nichts für die Unruhe

in ihrem Leben. Meist ist das eine bequeme Ausrede: Die meiste
Unruhe in unserem Leben stellen wir selbst her. Eifersucht etwa
fördert die Unruhe in der Beziehung. Wer ständig eifersüchtig

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auf vermeintliche oder tatsächliche Nebenbuhler schielt, tut sich
schwer, eine erotische Situation ruhig zu genießen. Wer davon
betroffen ist und sich mehr Ruhe wünscht, müsste also an seiner
Eifersucht arbeiten.

Unruhe kann auch auf Verdrängungen hinweisen. Wir hatten

einen Mann in der Gruppe, der sprach jahrelang nie richtig über
sich, nur über oberflächliche Probleme. In einem größeren Kreis
brachte dann seine Partnerin ein Partnerschaftsproblem zur
Sprache, und daraus ergab sich zum ersten Mal ein intensives
Gespräch. Der Mann erschrak darüber, dass er als der
Problematische gelten könnte, verdrängte es und wurde sehr
unruhig. In den Folgemonaten zettelte er in der Gruppe mehrere
Konflikte an. Plötzlich hatte er eine Menge Probleme, viel
Unruhe und müsste sein eigentliches, zentrales Thema nicht
angehen.

Unruhig werden Männer auch oft, weil sie Schwächegefühle

nicht ertragen können. Sie überspringen die Schwäche, die
Angst vor der Schwäche durch Aktivität und Konsum: Alkohol,
Fernsehen, Süßigkeiten, Tabak. Wenn der unruhige Schwache
aber gerade Kraft hat, neigt er dazu, sich zu überschätzen und zu
überfordern. Er powert sich aus, behält nichts von seiner Kraft
übrig, sucht sich Felder zur Kraftvergeudung und ist dann
schnell wieder in der Schwächephase. Er erträgt das Kraftgefühl
überhaupt nicht. Denn wenn er mit seiner Kraft etwas Sinnvolles
im Leben anpacken könnte, wird die Unruhe angestachelt, damit
die Kraft schnell wieder weg ist. Dann klagt er: »Ich kann ja
sowieso nichts machen. Ich bin ja immer schwach.« Das ist die
entsprechende Rationalisierung.

Unruhige Männer leben oft Sehn-Sucht, sind immer auf der

Suche. Typisch ist auch, dass sie sich häufig und übertrieben
ärgern und Ruhe nicht ertragen können. Um der Ruhe zu
entgehen, zetteln sie sogar Streit an.

Letztlich ist die Frage nach Ruhe und Unruhe auch eine Frage

nach dem Sinn des Lebens. Ist der Sinn des Lebens, möglichst

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-200-

schne ll zu verbrennen, sich dauernd in jeden Stress, in jeden
Thrill und jede Angst hineinzustürzen? Oder ist es nicht auch
Sinn, einfach einmal zu sich zu kommen?

Ein Weg, zur Ruhe zu kommen und Kraft zu tanken, ist das

Leben in einer Gemeinschaft, die ruhiger und kraftvoller ist als
die normale Gemeinschaft in unserer Kultur. Die Gefahr für die
Ruhe ist, dass sie ganz einfach erscheint. Deshalb wird sie
schnell vergessen und verdrängt. Wir sind so stark in der
hektischen Gangart unserer Zeit drin, dass wir nic ht mehr an
Ruhe denken, dass wir uns die Ruhe gar nicht mehr vorstellen
können. Doch ohne Ruhe kommen wir nicht zu uns selbst - und
wer nicht bei sich selbst ist, wird auch keine Erotik erleben
können.

Ein zweites wichtiges Element für die erotische

Empfindlichkeit ist die Erschütterungsfähigkeit. Was heute
überwiegend vorherrscht, ist Erschütterungs-Unfähigkeit.

Marquis de Sade war solch ein erschütterungsunfähiger

Mann, quälte er doch Frauen und Mädchen und kam dafür
schließlich auch ins Gefängnis. Simone de Beauvoir meint: »Ich
glaube, dass der Schlüssel zu seiner Erotik in der Verbindung
von heftiger sexueller Triebhaftigkeit mit einem vollkommenen
Isolationismus des Gefühls zu suchen ist. Eine andere Erfahrung
scheint ihm völlig unbekannt geblieben zu sein: das

Erlebnis echter Erschütterung.« Er hatte keine Gefühle und

war durch nichts zu erschüttern.

Marquis de Sade ist ein extremer Vertreter männlicher Kultur,

aber die meisten von uns sind ebenso erzogen worden: »Ich darf
mich durch nichts erschüttern lassen. Ich muss die Zähne
zusammenbeißen. Ich muss da durch, egal, was kommt.« Das ist
der Weg zur Grausamkeit.

Ein Mensch nimmt sich selbst nur durch Erschütterung wahr.

Erst aber wenn er sich selbst wahrnimmt, besteht auch die
Chance, dass er seine Mitmenschen wahrnimmt und sich

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erschüttern lässt, mit ihnen fühlt. Erschütterung ist nicht leicht
herzustellen. Wir wollen das auch gar nicht, denn es ist mit
Schmerzen verbunden, mit Unsicherheit und Angst.

Viele Männer haben mit Erschütterungsunfähigkeit zu tun, die

Sensibilität verhindert. Um wirklich fühlen zu können, muss
man sich erschüttern lassen. Gefühl und Schmerz gehören
oftmals zusammen, das heißt natürlich nicht, dass wir jemand
bewusst Schmerzen zufügen, wie de Sade das getan hat. Es gibt
im Leben eines jeden Menschen genügend Dinge, die er
aushalten muss, die ihm Schmerzen bereiten und von denen sich
auch andere erschüttern lassen. Wir erleben das auch in unseren
Gruppen immer wieder. Einmal erzählte uns ein Vater, dass er
seinen achtjährigen Sohn geschlagen hat. Ich habe nachgefragt,
die Gruppe hat geschwiegen. »Warum schweigt ihr denn?«,
wollte ich wissen. »Der Mann hat Angst«, meinte darauf ein
Mann in der Gruppe. Das ist typisch, dass man sich erst mit dem
Täter identifiziert, nicht mit dem Opfer. Ein zweiter Mann sagte:
»Ich würde meinen Sohn nie schlagen.« Ein Mann begann zu
weinen, weil er auch schon einmal jemanden geschlagen hatte.
Eine Frau weinte, weil sie ihre Tochter einmal geschlagen hatte.
Eine andere Frau musste sich auf den Fußboden legen, weil sie
Angst hatte, sie würde ohnmächtig werden. Und der Vater
erzählte und argumentierte weiter, ließ sich auch nicht
erschüttern von den weinenden Menschen in der Gruppe. Das ist
ein Problem in unserer Gesellschaft: Männer lassen sich zu
wenig erschüttern von der Gewalt, nicht einmal von der Gewalt,
die sie selbst ausüben.

Woran erkennt man einen erschütterungsfähigen Mann im

Bett einer Frau, die Angst hat? Angst vor ihm, weil sie in der
Kindheit oder von anderen Männern Schlimmes erlebt hat. Den
erschütterungsfähigen Mann erkennt man daran, dass er keine
Erektion bekommt. Doch viele Männer merken nicht, dass die
Frau Angst hat, wollen den Koitus und führen ihn aus. Die Frau
erduldet das, sagt nichts, lässt es über sich ergehen, wehrt sich

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aber nicht. Der Mann und die Frau sind körperlich zusammen
und gefühlsmäßig total getrennt. Empfindsamkeit ist hier nicht
zu finden.

Zur Empfindsamkeit gehört auch, sich selbst immer wieder in

Frage zu stellen, gehört die Fähigkeit, immer wieder Angst zu
haben vor dem, was man gerade getan hat. Was habe ich gerade
gesagt? Was habe ich in diesem Brief geschrieben? Wie habe
ich mich in der Diskussion verhalten? Musste ich mich
eigentlich schämen für das, was ich getan habe? Oder auch in
eine andere Richtung: Haben die mir überhaupt zugehört?
Haben die mich verstanden? Wird man mich jetzt auslachen?

Dieses Nach-Fragen, die Angst und das Erschrecken sind

notwendig, um überhaupt lebendig zu bleiben. Wer nur noch
unbeirrt seinen Weg geht und nicht mehr nachfühlt, wie er
wirkt, wo er steht, wohin er geht, wie andere ihn empfinden,
verliert seine Empfindsamkeit. Wir sollten auch andere
Menschen fragen, wie wir wirken, die Partnerin oder Freunde,
Menschen, die tatsächlich ehrlich sagen, wie sie uns empfinden.
Das wird uns möglicherweise erschrecken, aber dieses
Erschrecken ist positiv.

Empfindsamkeit ist deutlich zu trennen von der

Empfindlichkeit. Aber man sollte seine Empfindlichkeiten ernst
nehmen. Ein Beispiel aus meiner eigenen Entwicklung: Ich
reagierte früher sehr emp findlich, wenn jemand mir sagte, ich
sei autoritär. Das war zur Zeit der Studentenbewegungen, und
da war autoritär ein Reizwort. Aber ich war tatsächlich autoritär,
deshalb habe ich empfindlich reagiert, und deshalb haben mir
die Leute das auch gesagt. Empfindlichkeiten sind also ein
Hinweis auf Dinge, mit denen man sich beschäftigen sollte. Man
sollte dabei nicht empfindlich abwehren, sondern empfindsam
nachfragen, nachfühlen, was da mit den Gefühlen los ist.

Empfindsamkeit hat auch mit Sanftmut zu tun. Sanftmut ein

unmodernes Wort: »Sanfter Mut« heißt das wörtlich.
Sanftmütige Menschen überhören wir gerne, wir überrollen sie

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mit unserer vermeintlichen Energie, und uns fehlt der Mut, sanft
zu sein. Empfindsamkeit ist nicht laut und heftig. Wer
Empfindsamkeit lernt, lernt liebevolle, zärtliche, zugewandte
Worte und Gesten spüren.

Hingabe ist für die erotische Sensibilität von enormer

Bedeutung, besonders die Hingabe an Zärtlichkeit. Simone de
Beauvoir hat fehlende Hingabe einmal formuliert als
»Verweigerung jeder körperlichen Passivität«. Das erscheint mir
sehr treffend: Männer haben in erotischen Situationen oft das
Problem, nicht stillhalten zu können. Sie müssen immer etwas
tun, die Frau anfassen, streicheln. Viele Männer müssen also
erst lernen, sich in der erotischen Situation hinzugeben, passiv
zu sein, die Frau zärtlich agieren zu lassen.

Eine solche Hingabe ist wichtig, um erotische Sensibilität zu

entwickeln, ist aber nicht zu verwechseln mit Inaktivität.
Gefragt ist Wachheit, Erleben mit allen Sinnen, aber nicht
hektisch, nicht verbunden mit körperlicher Bewegung. Es ist
vergleichbar dem aktiven Zuhören: Der Zuhörende folgt den
Gedanken des Sprechers, er gibt zu erkennen, dass er ihn
versteht, ihm folgt, aber er lenkt den Sprechenden nicht ab von
seine n Gedanken. Er stellt keine störenden Zwischenfragen,
höchstens Verständnis- oder bestätigende Fragen, er entwickelt
keine eigenen Gedanken, sondern lässt sich ganz auf die
Gedankenwelt des Sprechenden ein. Dieses aktive Zuhören
sollte der Mann der Frau ge genüber üben, und ähnlich sollte er
sich der Zärtlichkeit der Frau hingeben: Er möge auf die Frau
hinfühlen, sich auf ihre Bewegungen einlassen, ihrer Zärtlichkeit
folgen, sie nicht ablenken. Sich einfach der Zärtlichkeit
hinzugeben, ohne aktiv auf Koitus und Orgasmus zuzusteuern,
fällt Männern schwer. Es ist aber enorm wichtig für die
erotische Sensibilität. Denn die zielorientierte sexuelle Aktivität
macht unempfindlich für zarte erotische Schwingungen.

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Die erotische Begegnung mit der Frau

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-205-

Werbung heißt Kennenlernen

Auf eine Kontaktanzeige hin telefonierte eine Frau mit einem

Mann. Sie unterhielten sich am Telefon sehr nett, und sie fragte:
»Wann können wir uns denn mal sehen, uns wirklich treffen?«

»Ja, es ist ja noch nicht so spät, komm doch einfach zu mir«,

antwortete der Mann. »Jetzt um neun Uhr? Das ist doch ein
bisschen spät.« - »Wieso? Nimmst du denn keine Präservative?«

Das ist nicht Werbung, das ist Distanzlosigkeit. Leider gehen

solche Plumpheiten meist von Männern aus. Es ist also eine
wichtige Aufgabe, dass Männer sich das ABC des menschlichen
Umgangs vermitteln: Was man machen kann, was nicht, und
womit man eine Frau in die Flucht schlägt. Dieser Mann war
dermaßen unerotisch, dass sie ihn nie getroffen hat.

Wie nun wirbt man »richtig« um eine Frau, ohne sie zu

erschrecken, aber doch so, dass sie weiß, dass man an ihr
interessiert ist? Werbung ist ja ganz wichtig in der Erotik. Wie
also soll Werbung aussehen?

Es wird immer die Frage gestellt nach dem ersten Schritt. Der

erste Schritt ist sicher nicht, Stimmung herzustellen. Zuerst
muss man sich kennen lernen. Auch wenn in diesem Buch eine
bestimmte Reihenfolge aufgestellt wird

- Werbung,

Liebeserklärung, Verführung -, soll das nicht heißen, dass man
genauso vorgehen muss. Nur eine Reihenfolge ist mir wichtig:
Worte vor Taten. Der Mann sollte immer mit der Frau sprechen,
sich intensiv mit ihr austauschen, bevor er sie berührt.

Manche Menschen sind überzeugt, dass Berührungen viel

erfolgreicher sind als Worte. Die Frage ist nur: Welche
Berührungen? Man kann zärtlich über die Haare streichen, an
den Arm fassen oder in den Po kneifen. Berührungen, ohne
vorher darüber zu sprechen, bergen die Gefahr des Übergriffs in
sich. Meine persönliche Erfahrung ist, dass Worte viel wichtiger
sind als Berührungen. Mit Worten kann man sich einstimmen

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und Verneinung und Bejahung ausdrücken und besprechen.

Werben heißt, sich gegenseitig kennen lernen, die andere

Person wichtig nehmen. Denn man braucht gewisse Kenntnisse
der Gefühle, Aktivitäten, Ziele und Werte der Frau, um wirklich
Erotik aufkommen zu lassen. Die meisten Männer sind schon
beim ersten Treffen vollkommen verkrampft. Ein Mann
beschreibt:

»Einmal war ich mit einer Frau aus und hatte Lust, mit ihr zu

schlafen. Oh, was mache ich jetzt? Wenn ich das denke, wird es
sofort verkrampfter. Ich sprach mit der Frau. Sie hätte keine
Lust, das sei überhaupt nicht dran für sie, hat sie mir
geantwortet.«

Frauen haben sicher auch Erwartungen und Ängste, aber nach

meiner Erfahrung gehen Frauen seltener mit einem so klaren,
fast zwanghaften Plan in ein Rendezvous hinein.

Für Männer ist es absolut ungewohnt, in einer Begegnung

kein Müssen zu empfinden, ganz ohne zwanghaften Anspruch
einfach »nur« eine erotische Atmosphäre zu empfinden. Es
knistert vielleicht, aber es passiert weiter nichts. Genau das
jedoch wäre gut: spielerisch leicht, ohne Absicht, ohne
Erwartungen warten, was passiert. Aber »wenn nichts passiert«,
geht der Mann enttäuscht und sagt: »Hat wieder nichts
gebracht«, selbst wenn er sich zwei Stunden nett und freundlich
mit einer Frau unterhalten hat, die ihm sehr sympathisch war.
Oder er denkt: »Ich habe versagt« weil kein Koitus
stattgefunden hat. Er beendet den Kontakt mit der Frau, obwohl
die Frau sich vielleicht auch für ihn interessiert hätte. Warum
sonst unterhält sie sich zwei Stunden mit ihm?

Das zwanghafte Ziel Sexualität vom ersten Moment der

Begegnung an beschreibt ein Mann so:

»Wie kann ich davon wegkommen, dass mir Sexualität als

Leistungsanspruch erscheint, nicht verbunden mit Gefühlen?
Der Leistungsanspruch übertönt meine Gefühle, lässt mich

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gefühllos werden. Ich werde zwanghaft. Ich muss jetzt etwas
Sexuelles machen, und wenn das nicht gelingt, war unser
Zusammensein misslungen und blöde.«

Dieser Mann - und da ist er sicher nicht die Ausnahme denkt:

Die Frau will Sexualität, und ich muss sie verführen. Die
Spontaneität fehlt bei einer solchen Erwartungshaltung völlig.
Der Mann kann sich auf die Situation nicht mehr einlassen. Das
kann auch ganz anders klingen, bringt aber für den betroffenen
Mann im Ergebnis die gleichen Probleme:

»Ich gelte oft als Mann, als endlich mal ein Mann, der nicht

nur das Eine will, nur weil ich schüchtern bin. Ich erzähle dann
viel, will aber eigentlich auch als sexuelles Wesen
wahrgenommen werden. Aber das traue ich mir nicht zu sagen,
auch weil ich es in der erotischen Stimmung gar nicht mehr
spüre. Der Gedanke an Sexualität macht mich völlig gefühllos in
Bezug auf erotische Bedürfnisse.«

Das sind echte Aussagen von Männern. Männer sind so.

Natürlich nicht alle, aber damit sollte die Frau rechnen. Für
Männer ist es ein Dilemma, dass sie sich selber unter Zugzwang
setzen: Sie gehen abends aus, ins Konzert, in einen Vortrag, in
die Disco und sind total verklemmt, weil sie denken, da muss
etwas passieren.

Zu diesem Zwang kommt das Problem, dass ausgerechnet die

Sexualität ja für die Männer ein Tabu-Thema ist. Ausgerechnet
das, was sie zwanghaft wollen, können sie nicht besprechen.

Unter solchem Zwang besteht natürlich die Gefahr, dass der

Mann seine Stimmungen nicht wahrnimmt. Meist hat er die
Vorstellung, dass die Frau »sowieso nicht will«, hat also eine
Misserfolgshaltung und verleiht dann seiner Werbung
entsprechenden Nachdruck. Er ignoriert ablehnende Signale und
holt sich den Pseudo-Erfolg in der Sexualität. Ich meine nicht,
dass man gleich nach dem ersten Treffen Koitus miteinander
haben sollte. Das hat Zeit. Eine Beziehung hat größere Chancen,

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länger zu dauern, wenn man das in aller Ruhe angehen lässt.

Typisch für werbende Männer ist, dass sie sich klein machen,

doch gerade in der Werbung erscheint mir der Klageton sehr
unangebracht: Die Männer reden dann über ihre Schwächen,
ihre Macken, Probleme und Neurosen. Das ist Negativwerbung,
und damit wird versteckt der Hinweis transportiert: »Bei

Mami war's so schön, bitte hilf du mir auch.« Der Mann

erwartet, dass die Frau nett ist und sich um ihn bemüht, ihn
tröstet, ermuntert und hinführt zur Sexualität. Das ist keine
Aufforderung zur Gegenliebe, sondern eine Aufforderung im
Sinne von: »Sei meine Therapeutin.« Für eine Frau ist das
normalerweise wenig interessant. Erotik und Therapie schließen
sich, was sexuelle Erfolge anbelangt, gegenseitig aus. Männer
sollten diese Schwäche-Klage-Stimmung nicht aufkommen
lassen, sondern eine verantwortungsvolle Haltung einnehmen,
sich der Frau freundlich und interessiert zuwenden. Die meisten
Frauen wünschen sich eine Geborgenheit, die vom Interesse des
Mannes gekennzeichnet ist.

Ich kann jedem nur raten, einmal mit folgender Vorstellung in

eine Beziehung zu gehen: »Du hast keine Ahnung, was in der
anderen Person vorgeht. Du kannst es erforschen. Du bekommst
das auch heraus.« Der Mann muss also fragen: Was will die
Frau, die ich nun so toll finde? Will sie Körperkontakt? Das
liegt ja von Anfang an in der Luft.

Natürlich ist hier auch das Prinzip der Gegenseitigkeit

wichtig. Werbung wird gemeinhin für die Aufgabe des Mannes
gehalten. Sehr schön wäre es, wenn auch die Frau um den Mann
wirbt, aber die meisten sind zu ängstlich. Die Frau muss
ebenfalls Interesse am Mann haben, und jeder muss bereit sein,
sich zu öffnen, sich dem anderen zu vermitteln, ihm die
Möglichkeit geben, sich kennen zu lernen. Dazu gehört auch ein
Wertgefühl für die eigene Person. Wer kein Selbst-Wert-Gefühl
hat, braucht sich über Enttäuschungen nicht zu wundern.

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Wenn man über Werbung spricht, muss man auch über die

Ablehnung sprechen: Mancher Mann und manche Frau sind
eben nicht zu haben. Man kann sich einige Zeit bemühen,
vielleicht zwei, drei Monate, aber dann muss man das auch
lassen können. Ein Phänomen ist, dass viele Männer sich vom
ersten Nein der Frau vollkommen von ihrer Werbung abbringen
lassen. Das halte ich nicht für sinnvoll, außer es ist ein sehr
deutliches, unmissverständliches Nein. Man kann ansonsten
nicht davon ausgehen, dass man die Frau sofort bei der ersten
Begegnung vollkommen für sich einnimmt. Sechs bis acht
Wochen Zeit sollte man sich schon geben und sich in dieser Zeit
nach Möglichkeit einmal pro Woche mit der Frau treffen, um sie
näher kennen zu lernen. Bei diesen Treffen können die Themen
auch allmählich persönlicher und intimer werden, und das
erfordert viel Einfühlungsvermögen.

Zur Werbung gehört Aktivität. Das ist ein grundsätzliches

Thema, nicht nur in der Sexualität, sondern überhaupt im Leben,
wenn man nicht allein bleiben will. Die meisten Menschen
können sehr gut darauf eingehen, wenn jemand sie umwirbt:
Lass uns doch mal einen Kaffee trinken, einen Ausflug machen,
ein Gespräch führen. Aber die Aktiven sind leider absolut in der
Minderzahl. Für die Treffen, die tatsächlich stattfinden, sind
wenige Aktive verantwortlich, die immer wieder Anläufe
machen. Sie stiften Gemeinschaft, weil sie ein Gefühl für
Menschen und Kontakte haben und nicht einsam bleiben wollen.

Die Passiven warten ab. Bleibt die Initiative der Aktiven aus,

beschweren sie sich: »Mich ruft nie jemand an.« - »Ich bin
immer allein zu Hause.« - »Mich lädt nie einer ein.« Und sie
beginnen zu nörgeln. Passive, unzufriedene Menschen stehen in
Gefahr, Depressionen zu entwickeln. Zu depressiven Gefühlen
gehört immer, dass man sich zurückzieht, nicht auf andere
zugeht. Die Passiven nörgeln insgeheim sogar über die
Gemeinschaftsfreudigeren, verstehen aber nicht, dass sie sich
selbst abschließen und verbarrikadieren. Passive Menschen

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haben wenig Gemeinschaftsgefühl und zeigen ihre Gefühle nicht
so offen wie aktive. Bei Freundschaften und Liebschaften ist
dieses Problem besonders gravierend. Viele Männer, vor allem
ältere Männer, warten ab, bis die Frau auf sie zugeht. Sie
reagieren frauenfeindlich, wenn keine Frau mehr auf sie
zukommt. Wie soll daraus eine erotische Verführung entstehen?

Werbung um eine Frau sollte nicht enden, sobald man mit ihr

Sexualität hatte. Werbung und Verführung sind immer
wiederkehrende Prozesse, die sich mit der Entwicklung des
Mannes, der Frau und der Beziehung wandeln. So wie man
seine Liebe immer wieder neu erklären sollte, so dürfen beide
nicht müde werden, umeinander zu werben und sich gegenseitig
immer wieder zu verführen. Das Kennenlernen der Partnerin
geht nie zu Ende, so wie wir nicht aufhören sollten, uns selbst
kennen und verstehen zu lernen. Die fehlende Werbung, das
Abgleiten in immer gleiche Abläufe ist es, was langjährige
Beziehungen so monoton und leblos macht und am Ende
abtötet.

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Die immer wieder neue Liebeserklärung

Auch brach es los wie ein Damm in meinem Herzen. Ein

Menschenkind, das einsam steht auf einem Fels, von allen
Winden und reißenden Strömen umbraust, seiner selbsten
ungewiss, hin und her schwankt auf schwachen Füßen, wie die
Dornen und Disteln um uns her, so bin ich, so war ich, da ich
meinen Herrn noch nicht erkannt hatte. Nun wende ich mich wie
die Sonnenblume nach einem Gott und kann ihm mit dem von
seinen Strahlen glühenden Angesicht beweisen, dass er mich
durchdringt. Oh Gott! Darf ich auch und bin ich nicht allzu
kühn? Und was will ich denn? Erzählen, wie die herrliche
Freundlichkeit, mit der Sie mir entgegenkamen, jetzt in meinem
Herzen wuchert, alles andere Leben mit Gewalt erstickt, wie ich
immer muss hinverlangen, wo 's mir zum ersten Mal wohl war.
Und ich musste zum wenigsten den Wunsch befriedigen, dass Sie
wissen mögen, wie mächtig mich die Liebe in jedem Augenblick
zu Ihnen hinwendet. Auch darf ich mich nicht scheuen, diesem
Gefühl mich hinzugeben, denn ich war's nicht, die es mir in das
Herze pflanzte. Ist es denn mein Wille, wenn ich plötzlich aus
dem augenblicklichen Gespräch hinübergetragen bin zu Ihren
Füßen? Dann setze ich mich an die Erde und lege den Kopf auf
Ihren Schoß oder ich drücke Ihre Hand an meinen Mund oder
ich stehe an Ihrer Seite und umfasse Ihren Hals. Aber es währt
lange, bis ich eine Stellung finde, in der ich verharre. Dann
fange ich an zu plaudern, wie es meinen Lippen behagt. Die
Antwort aber, die ich mir in Ihrem Namen gebe, spreche ich mit
Bedacht aus:›Mein Kind, mein artig gut Kind, liebes Herz‹, sage
ich zu mir. Und wenn ich das bedenk', dass Sie vielleicht
wirklich es sagen könnten, wenn ich so vor Ihnen stände, dann
schaudere ich vor Freude und Sehnsucht zusammen. Weh' mir,
wenn dies alles nie zur Wahrheit wird. Dann wird mein Leben
das Herrlichste vermissen. Ach, ist der Wein denn nicht die
schönste und heiligste unter allen himmlischen Gaben? Diesen

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werde ich vermissen und werde das an~ dere nur gebrauchen
wie hartes, geistloses Wasser, das nicht nach mehr schmeckt.
Warum muss ich denn wieder schreiben? Einzig, um wieder mit
dir allein zu sein, so wie ich gern kam nach Weimar, um mit dir
allein zu sein. Zu sagen habe ich nichts. Damals hatte ich auch
nichts zu sagen, aber ich hatte dich anzusehen und innig froh zu
sein und war Bewegung in meiner ganzen Seele. Und wenn ein
Dritter meine Briefe läse, er würde sagen: »Hier ist einzig von
Liebe die Rede. Es ist ein Herz voll Liebe, das hier geschrieben
hat. Es ist ihm nicht mehr zu helfen.‹Ist dem zu helfen, der die
Augen einmal ins Leben aufgeschlagen hat? Er ist geboren und
muss die Welt anschauen mit Schlechtem und Rechtem bis in
den Tod. Selig, wer beim ersten Blick gleich das Herrlichste
erblickt und es so fest anblickt, dass kein Lärm und fremder
Schein ihn abzuwenden vermag. Bin ich zu tadeln, Herr meiner
Seele? Soll von Liebe nicht die Rede sein? So muss ich wahrlich
verstummen, denn ich weiß nichts anderes. Ob Liebe die größte
Leidenschaft sei und ob sie zu überwinden, verstehe ich nicht.
Die Liebe ist Willen, mächtiger, unüberwindlicher, gegen nichts
zu streiten in der Leidenschaft als gegen Unwahrheit.

Bettina von Arnim an Johann Wolfgang von Goethe

Dieser Liebesbrief gefällt mir sehr gut, und ich bedaure, dass

es heute nicht mehr üblich ist, solche Liebesbriefe zu schreiben.
Aber bevor ich weiter auf die Kunst der Liebeserklärung
eingehe, will ich kurz etwas zur »Liebe« sagen.

Der Ausdruck oder das Phänomen Liebe ist unglaublich

vielen Beschreibungsweisen unterworfen. Wenn man dieses
Wort benutzt, sollte man sich im Grunde genommen immer erst
darüber verständigen, was man damit meint. Ich habe den
Eindruck, dass der Begriff in unserer Zeit massiv verflacht und
oft an Stellen benutzt wird, wo er überhaupt nicht hingehört.

Liebe wird oft als etwas Mystisches, Mythologisches

bezeichnet, das man vielleicht mit Glück erlebt. Was fehlt, ist
das Bewusstsein, dass es eine unglaubliche lebenslange

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-213-

Anstrengung bedeutet, lieben zu lernen. Viele meinen, man habe
vielleicht Glück, geliebt zu werden, aber dass man lieben lernen
kann, wissen die wenigsten. Die Menschen denken,
Liebesfähigkeit werde einem in die Wiege gelegt. Das halte ich
für einen Irrtum, ein Vorurteil. Liebe ist ein Aspekt des
menschlichen Zusammenlebens, den man lernen und üben kann,
über den man sprechen und diskutieren kann, den man verstehen
kann. Liebe ist eine Lebensaufgabe - ein Aspekt, den ich bisher
so nur bei Alfred Adler wahrgenommen habe.

Liebeserklärungen sind kein aktuelles Thema. Darüber wird

nicht gesprochen und erst recht nicht geschrieben. In unseren
Tageszeitungen geht es eher um sexuelle Gewalt. Abgesehen
davon, was es sonst noch für Gründe für die männliche Gewalt
gegen Frauen gibt, ein Grund für dieses Verhalten ist sicher,
dass sie keine Liebeserklärungen formulieren können. Männer
haben das offenbar nicht gelernt.

Liebe wird viel zu wenig gezeigt und ausgedrückt. Vielleicht

deshalb, weil immer sofort die Frage im Raum steht: Wird
meine Liebe auch angenommen? Aber das ist eine sekundäre
Frage, wichtig ist erst einmal, dass man seine Liebe äußert.

Was uns an der Liebeserklärung hindert, sind die klassischen

Abwehrmechanismen, die Sigmund und Anna Freud schon
beschrieben haben: »Wir haben Hemmungen, wir haben Angst
und schämen uns. Das kann auch die Angst davor sein, dass es
zu leichtfertig oder zu wenig ist, wenn man einfach sagt:›Ich
liebe dich.‹«

Männern kommt dieser Satz viel zu selten über die Lippen.

Dabei geht es in der Erotik und Sexualität nicht ohne Worte.
Das »wortlose« Verstehen des anderen, von dem viele
Menschen träumen, ist eine Mär. Wir müssen miteinander
sprechen, wenn wir uns verstehen wollen.

»Ich liebe dich«, sagt der Mann nicht, weil er Angst hat, dass

es zu verbindlich ist, dass er sich damit verpflichtet. Er fürchtet,

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dass damit Forderungen auf ihn zukommen, denen er nicht
gewachsen ist. »Ich liebe dich« wird wie ein Eid empfunden.
Auch ist die Scham sehr groß, sich zu zeigen. Wenn man der
Frau sagt: »Ich liebe dich«, zeigt man sich bedürftig, verletzlich
und hat vielleicht Angst, dass es klingt wie »Ich brauche dich«.
Aber kein Mann will zugeben, dass er die Frau braucht.

Deshalb gehört zur Liebeserklärung die Selbstachtung, das

Selbstwertgefühl. Ein Mann mit Selbstwertgefühl kann seine
Liebe leichter erklären als einer, dem das wie Schwäche
vorkommt. Es braucht Mut, Liebe zu erklären. Und es braucht
Selbstliebe. Selbstliebe ist bei uns seit Christi Geburt verpönt.
Es heißt zwar in der Bibel: »Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst.« Aber der Mann liebt sich ja selbst nicht, und damit ist
dieser Satz eine Aufforderung zur Aggression.

Menschen, die sich selbst nicht lieben, die in einer

depressiven Lebensstimmung sind, können keine
Liebeserklärung abgeben. Aber vielleicht sind sie depressiv,
weil sie ihre Liebe nicht erklären können?

Zur Liebeserklärung gehört Zartheit, obwohl und gerade weil

wir in einer unzarten Gesellschaft leben. Es gehört auch eine
gewisse Verstecktheit dazu: Man kann nicht in alle Welt
hinausposaunen und hinausschreien, dass man jemanden liebt.
Liebeserklärungen sind zarte, zerbrechliche, auch flüchtige
Erklärungen, die der dauernden Erneuerung bedürfen. Gerade
Männer meinen, wenn sie das einmal gesagt haben, vielleicht
beim Heiratsantrag, dann ist der Fall erledigt.

Man sollte sich und den geliebten Menschen immer wieder

fragen: »Habe ich meine Liebe schon stark genug zum Ausdruck
gebracht?« In der Re gel bekommt man eine klare Antwort
darauf. Wenn die Antwort unklar bleibt, kann man davon
ausgehen, dass man sich noch nicht deutlich erklärt hat.

Die ständige Erneuerung dürfte aber keine inhaltslose Floskel

werden: Es müssen immer die entsprechenden Gefü hle dahinter

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stehen. Dazu gehören Gesten, die Mimik, der Blick - sie
verraten sehr genau, ob der Mann die Liebeserklärung ehrlich
fühlt. Die Wirksamkeit der Erklärung ist auch an der Reaktion
ablesbar, aber: Es gibt Menschen, die sich selbst so wenig
liebenswert fühlen, dass sie die Liebeserklärung nicht
entgegennehmen können.

Zur Liebeserklärung gehören Charakterfestigkeit und

Geradlinigkeit. Manche Männer glauben aber, dass sie nur einer
Frau im Leben ihre Liebe erklären dürfen, dass es nur eine
»echte« Liebe im Leben gibt. Das halte ich für ein Vorurteil.
Man kann mehrere Menschen lieben, und man sollte das den
Menschen auch sagen. Normalerweise freuen sich die
Mensehen, denen man seine Liebe erklärt, darüber. Eine
Zurückhaltung positiver, freundlicher Gefühle ist nicht liebevoll.
Es wäre gut, wenn man nichts zurückhält, was positiv in einem
ist. Doch wir haben gelernt, uns zurückzuhalten, weil wir uns
schämen, Hemmungen, ja Angst haben.

Wenn ein Mensch sich entwickelt, wird die Liebeserklärung

zu einem fortwährenden Dialog. Liebe zu zeigen fördert die
Entwicklung, fördert die Motive und das Vermögen, sich zu
entwickeln, vor allem, wenn die Liebe erwidert wird. Liebe ist
ein zwischenmenschliches Phänomen, das Bejahung,
Bestätigung und Bewunderung gern entge gennimmt. Liebe ist
eine Art Wertbewusstsein, das sich auf Menschen bezieht. Und
wenn ich einen Menschen als wertvoll empfinde, dann sollte ich
ihm das auch immer wieder sagen. Denn Liebe ist auch immer
ein Streben nach dem höheren Wert im sozialen, im
menschlichen Bereich.

Wer seine Liebe erklärt, der hat sogar die Pflicht

nachzufragen, ob die Erklärung wahrgenommen und ob sie
erwidert wird. Im Extremfall kann man seine Erklärung auch
zurücknehmen. Liebe hat den Drang, sich zu äußern. Aber: Man
muss auch warten können. Man sollte nicht eine schnelle
Antwort erwarten, sondern sich in Langsamkeit, in Geduld üben.

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Es kann passieren, dass man heute seine Liebe erklärt und erst
übermorgen eine Antwort bekommt, oder erst in einem halben
Jahr. Wer auf eine schnelle Antwort drängt, provoziert ein Nein.
Das ist das Problem vieler Männer: Sie wollen den schnellen
Erfolg und wollen sofort eine Antwort.

Dabei ist Liebe ein zwischenmenschliches Ereignis, das

wachsen kann und sicher auch häufig langsam wächst. Wenn
man Liebe empfindet oder wenn man Liebe erklärt bekommt,
sollte man ganz vorsichtig, zart und behutsam damit umgehen,
nichts überstürzen und nicht drängeln. »Liebe ist ein Kind der
Freiheit.« Dieser Satz wird oft so dahingesagt, aber das
Bewusstsein für seine Bedeutung fehlt. Freiheit heißt Loslassen:
kein Druck, kein Zwang, keine Erwartungen, keine
Forderungen. Eine Liebeserklärung ist wie ein Same. Nach der
Aussaat kann wochen- oder gar monatelang nichts passieren.

Wer nachgräbt und schaut, zerstört den Keim. Der geliebte

Mensch braucht Zeit, sich damit anzufreunden, vielleicht auch
eigene Ängste abzubauen. Liebe muss spüren dürfen, langsam
zu wachsen.

Freiheit meint auch Freisein von Eifersucht. Man muss der

geliebten Frau zugestehen, einen anderen zu lieben, ohne
übermäßig eifersüchtig zu reagieren. Liebe ist ein Kind der
Geduld und des Wartens - natürlich nur unter der
Voraussetzung, dass man seine Liebe erklärt hat. Wer nur
wartet, die Frau anhimmelt und seine Liebe nicht deutlich
erklärt, sollte nicht auf das Wunder warten, dass sie sich dem
verliebten Mann zuwendet und von sich aus ihre Liebe erklärt.

Um der Frau Zeit zu lassen, sind auch Pausen in der

Liebeserklärung, im Werben um sie notwendig. Die Pausen
bieten die Möglichkeit, zu sich zu kommen und zu spüren, wie
groß die Liebe wirklich ist. Distanz ermöglicht außerdem ein
produktives Sehnen nach der geliebten Frau, aus dem heraus
man wieder Aktivitäten entwickeln kann, sie zu umwerben.

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Die psychische Hauptstruktur der Liebeserklärung ist die

Unsicherheit. Wer seine Liebe erklärt, weiß nie genau, ob sie
erwidert wird. Diese Unsicherheit braucht Kraft, doch es kann
sogar erotisch sein, solche Unsicherheit zu empfinden: Ich
offenbare mich jetzt, ich wage es zu sagen - ich liebe dich. Und
es kann sein, dass es nicht zurückgegeben wird. Es kann sein,
dass ich monatelang allein dastehe damit. Aber auch dieses
Warten kann erotisch sein.

Viele Männer wollen sich nicht in die Unsicherheit

hineinbegeben. Männer sind Sicherheitserzwinger. Es erfordert
eine enorme Reife, zu Unsicherheit, Angst und Schwäche zu
stehen, ohne als Person abzudanken und sich aufzugeben.
Liebeserklärungen dürfen auch unbeholfen sein. Dazu ermutige
ich Männer: Unbeholfene Liebeserklärungen aus lauter Angst
und Verletzlichkeit sind erlaubt, lieber unbeholfen als gar nicht.
Aber Männer sind perfektionistisch, wollen stark wirken,
können diese Ansprüche an sich selbst nicht erfüllen und sagen
dann lieber gar nichts. In der Liebeserklärung darf man auch
kindlich werden, man muss nicht immer erwachsen sein.

Bei aller Ernsthaftigkeit, bei aller Unsicherheit vor oder in der

Liebeserklärung darf man den Humor nicht vergessen.
Freundlich, lachend, leicht humorvoll, das ist die ideale
Stimmung für eine Liebeserklärung. Damit sind natürlich nicht
derbe Witze gemeint. Eine offene, frohe, freundliche Stimmung
fördert die Chance, dass auch die Frau freudig darauf eingeht.
Wenn ein Mann in einer depressiven Lebensstimmung ist, sich
selber nicht helfen kann, eigentlich schon mit einem Misserfolg
rechnet, sollte er lieber erst an seiner eigenen Stimmung
arbeiten, bevor er die Frau damit überschüttet.

Rund um die Liebeserklärung muss eine positive Stimmung

herrschen, man sollte sich um eine positive Haltung bemühen.
Man sollte zum Beispiel Komplimente machen können. Wenn
man sich mit einer Frau trifft, darf man immer die Frage im
Kopf haben: Was ist an ihr liebenswert? Was kann ich ihr an

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Positivem sagen? Welches Kompliment kann ich ihr machen?
Es ist nie so, dass man kein Kompliment machen kann. Man
sollte der Frau eine Freude machen wollen, ihr Geborgenheit
vermitteln, bei ihr eine gute Stimmung hinterlassen.

Männer resignieren an diesem Punkt zu schnell: Wenn sie

feststellen, »das ist nicht diejenige, welche«, macht ihnen das
Treffen keinen Spaß mehr, und schon is t die schlechte
Stimmung da. Männer müssen lernen, die Verantwortung für die
Stimmung zu übernehmen. Natürlich kann man die Frau, die
einem gegenüber steht, nicht steuern, letztlich ist es ihre
Entscheidung, wie sie reagiert, wie sich ihre Stimmung
verändert. Aber zumindest auf die eigene Stimmung kann und
sollte man achten.

Der Prozess einer sich immer wieder erneuernden

Liebeserklärung sollte natürlich zu etwas Gegenseitigem
werden. Doch die männlichen Reaktionen auf
Liebeserklärungen sind manchmal sehr merkwürdig, sie sind
geradezu ein Problem. Frauen beklagen sich immer wieder, dass
Männer gar nicht reagieren, offensichtlich gar nicht verstehen,
was die Frau meint. Wenn Frauen Männern ihre Liebe gestehen,
geschieht das manchmal recht versteckt. Ich finde es gut, dass
das so ist, dass vieles nur zart angedeutet wird. Ich finde es
wichtig für

Männer, dass sie lernen, die Sensibilität auch für das ganz

Zarte zu entwickeln.

Vielen Männern fehlt nicht nur die Sensibilität für die

Liebeserklärung einer Frau. Ihnen fehlt auch das Gefühl für
Abweisungen. So passiert es immer wieder, dass Männer Frauen
nachlaufen, die in grober Weise abweisend sind. Das ist vor
allem eine Gefahr für gehemmte, verschämte, schüchterne
Männer. Die Männer legen sich das dann so zurecht : »Ich bin
zwar schüchtern. Aber ich beweise ihr, dass ich sie liebe. Das
schaffe ich.« Umgekehrt warne ich alle Frauen davor,
unempfindlichen, gefühllosen Männern nachzulaufen. Auch

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-219-

wenn diese immer wieder sagen: »Ich liebe dich.« Sie werden es
nicht spüren.

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Verführer brauchen Menschenkenntnis

»Mit mir und meiner Freundin ist es häufig so, dass sie

bestimmte Wünsche hat, dass ich sie zum Beispiel fester anfasse.
Beim nächsten Mal denke ich, das ist in Ordnung. Das habe ich
jetzt verstanden. Das mache ich wieder so. Dann ist es aber so,
dass sie es inzwischen nicht mehr möchte, aber lange Zeit nichts
sagt und statt dessen sagt:›Nein, ich will jetzt gar nicht
mehr.‹Oder sie hat keine Lust mehr. Und dann geht die ganze
Situation flöten. Ich reagiere dann häufig ärgerlich in solchen
Situationen. Die Stimmung ist weg, oder die Stimmung kippt.
Wenn meine Freundin mir sagt, dass es ihr schon die ganze Zeit
nicht gefällt, dann fühle ich mich natürlich sehr blöde, dann
fühle ich mich auch gekränkt. Ich habe mich so bemüht und
hatte den Eindruck, das macht ihr Spaß. Und hinterher sagt sie
dann:›Nein, ich will jetzt überhaupt nicht mehr. Die ganze Zeit
hat es mir nicht gefallene«

Dies ist die recht realistische Schilderung eines Mannes aus

einer Männergruppe. Er ist durchaus positiv in seiner
Grundeinstellung, aber die Sache gestaltet sich schwierig. Zur
Verführung gehören nämlich immer zwei: zwei, die sich
abstimmen müssen. Und zwei, die nicht jeden Tag in der
gleichen Stimmung sind.

Wie verführt man also eine Frau? Bevor ich auf die meiner

Meinung nach reale Situation eingehe, will ich drei Klischee-
Verführer aus dem Stern zitieren:

Horst lässt keine Chance aus, eine tolle Frau zu beeindrucken.

Er nennt sich selbst einen Verführer mit Niveau und legt Wert
auf Gefühl, Ro mantik, Sensibilität. Schlüsselworte, die Horst
offensichtlich anders interpretiert als ich, denn gleich danach
kommt der Satz: »Eine goldene Kreditkarte oder ein Mercedes
der S-Reihe können als Draufgabe nicht schaden.« Horst sagt, er
habe keine Eile beim Verführen, aber er achte darauf, dass er

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den richtigen Wein wählt und den richtigen Anzug trägt.
Außerdem hört er bei Diskussionen zu. Das ist ein Fortschritt:
Früher haben die Männer den Frauen offensichtlich nicht
zugehört. Horsts Vorbild ist Casanova: Der war fast immer
verliebt, das imponiert Horst, auch, dass Casanova zum Beispiel
mit zwei Nonnen zugleich im Bett war, oder mit Mutter und
Tochter zusammen.

Der zweite im Stern vorgestellte Mann ist Rene: Er ist 39 und

hat eine 23jährige Freundin, die ganz lieb und verständnisvoll ist
und einfach weiß, dass sie ihn nicht ändern kann. Er ist offen für
alles, was lange blonde Haare hat, einen mädchenhaften Körper
und Augen, hinter denen nicht das totale Vakuum liegt. Sein
Trick bei der Verführung ist, dass er sich zuerst immer ganz
zurückhaltend gibt. Für Rene liegt der Reiz in der Eroberung,
pro Jahr sechs bis zwölf Mädchen, aber seine Dauerfreundin
möchte er nicht verlieren.

Der dritte ist Gert. Gert macht nie Geschenke, weil er sich

selbst als das größte Geschenk betrachtet, und er lehnt Kondome
strikt ab: »Wenn ein Mädchen damit ankommt, sage ich ihr:
Dann lassen wir es lieber. Bisher haben alle die Kondome
gelassen.« Er weiß, dass Aids zu seinen Risiken gehört, aber für
sich selbst schert ihn das nicht. Nur wenn er seiner noch immer
geliebten Heidi diese Infektion bescheren würde, dann wäre dies
ein Grund, »mir selber die Kugel zu geben«.

So weit das Bild des männlichen Verführers, doch was

wünschen sich Frauen von den Männern? Brigitte befragte
verschiedene Frauen, was sie sich wünschen.

Ein Kindermädchen wünscht sich: »Männer sollten lockerer

und ausgelassener sein, die Meinung einer Frau respektieren,
auch wenn die Frau einen völlig anderen Standpunkt hat.«

Eine Fotografin wünscht sich mehr Humor und Selbstkritik

statt lächerlicher Verbissenheit, mehr Lebensmut und mehr
Lebenslust.

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Eine Verlagskauffrau möchte bessere Liebhaber, ein bisschen

Abwechslung und dass die Männer besser zuhören.

Eine Hausfrau sagt: »Ich will sie gut angezogen, kussfrisch

und mit dem herben Duft eines Männerparfums. Männer, die bei
jedem falschen Wort stundenlang schmollen, sind mir zuwider.«

Eine Psychologin wünscht sich: Unabhängig soll er sein,

selbstbewusst, erfolgreich, klug, tolerant, kinderbegeistert,
liebevoll, einfühlsam, zärtlich, erotisch, leidenschaftlich,
humorvoll, sozial kompetent, locker, durchsetzungsfähig,
ideenreich, reiselustig, initiativ und belastbar. »Er soll mir das
Gefühl geben, dass ich wertvoll für ihn bin. Und wenn ich mal
durchdrehe, soll er ruhig bleiben.«

Das ist also allerhand, was die Frauen da von Männern

erwarten. Eine Frau, die sich offensichtlich schon intensiver mit
der Thematik befasst hat, sagt zum Beispiel, dass sie sich vor
allem das Lebensgefühl des Mannes ansehen möchte: Wie steht
er im Leben? Attraktiv wäre er für sie, wenn er an seinem
Charakter und seiner Lebensweise arbeitet. Sie wünscht sich
Sanftmut, einen liebevollen Umgang und eine gewaltlose,
einfühlsame Sprache. Wichtig ist ihr auch, dass der Mann
gesund lebt, sich gesund ernährt, sich bewegt und finanziell von
ihr unabhängig ist.

Solche Wünsche sollten wir Männer zur Kenntnis nehmen

und uns Gedanken machen, wie wir uns im Spiegelbild dieser
Wünsche fühlen. Enorm interessant für Männer finde ich auch,
was bisexuelle Frauen sagen. Vielleicht können wir uns da ja
Anregungen holen: Wie verführt eine Frau eine andere Frau? Im
Stern gab es einmal einen entsprechenden Artikel: »Die
doppelte Lust«.

Als erste bisexuelle Frau wird Anai's Nin zitiert, die nicht nur

Henry Miller liebte, sondern auch dessen Frau June. Anai's Nin
schreibt: »Ihre Schönheit überwältigte mich. Als ich ihr
gegenüber saß, hatte ich das Gefühl, alles, auch das Verrückteste

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für sie tun zu können, alles, worum sie mich bat. Sie war ganz
Farbe, Glanz, Fremdartigkeit.« Ana i's, Henry und June lebten
eine Dreiecksbeziehung, doch bei June hatte Anai's Nin ganz
andere Gefühle als bei Henry: »Ich fühle mich wie ein Mann
wahnsinnig verliebt in ihr Gesicht und ihren Körper, ich möchte
sie beschützen. June, du wirst ewig Teil meines Lebens sein.
Wenn ich dich liebe, dann muss das so sein, weil wir einmal
dieselben Phantasien, denselben Wahnsinn, dieselbe Bühne
geteilt haben.«

Der Artikel zitiert auch meine Partnerin, die

Psychotherapeutin Irmgard Hülsemann: »In letzter Zeit
beginnen immer mehr Frauen darüber zu sprechen, dass sie auch
erotische Wünsche, Sehnsüchte und sexuelles Begehren auf
Frauen richten. Die Gefühle dabei sind aber noch immer eher
Erschrecken und starke Verunsicherung. Das Neue und das
Interessante aber ist, dass Frauen jetzt darüber reden, Frauen, die
mit Männern gelebt haben oder immer noch mit einem Mann
zusammenleben, diese Frauen sagen, dass sie sich vorstellen
können, mit einer Frau Liebe zu machen, dass sie sich das
wünschen und dass sie oft in der Begegnung mit Frauen sexuelle
Gefühle spüren. Diese Frauen sagen dann, die sexuellen
Beziehungen mit den Frauen sind viel befriedigender, aber es
bleibt immer noch die Bewertung im Kopf und im Gemüt, das
sei doch nicht die richtige Sexualität gewesen, eben nicht die mit
dem Mann.«

In dem Stern-Artikel kommt auch eine Frau zur Sprache, die

sich zutraut, beinahe jede Frau zu verführen. Sie meint, die
Liebe zwischen Frauen sei hundertmal erfüllender, seelenvoller
und befriedigender als die mit Männern, und beschreibt, wie sie
eine Frau verführt. Sie geht auf Partys, auf denen meist nur
Pärchen sind, lehnt sich in Sichtweite der Auserwählten an die
Wand, trinkt, hört Musik, lächelt den Leuten zu, die bei ihr
stehen bleiben und ihr etwas erzählen und behält immer die
auserwählte Frau im Blick: »Ich schaue einfach nur zu, wie sie

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beim Lachen den Kopf in den Nacken wirft, wie sie trinkt, sich
küssen lässt und dabei die Haare hinter den Ohren hochschiebt
und ihre Finger über den Rand des Weinglases wandern.
Natürlich hat sie mich längst gesehen... Sie weiß, dass ich sie
anstarre. Es reizt sie, es ist auch für sie ein Spiel, ein
interessanter Gedanke: Eine Frau begehrt mich.« Irgendwann
lässt die Begehrte ihren Begleiter einfach stehen und geht zu
Sonja, so heißt die verführerische Frau. »Sie zittert schon leicht,
möchte, dass ich sie anfasse, wenigstens einmal ihre Haare
hochhebe, wenigstens einmal, wenn ich ihr Feuer gebe, meine
Finger auf ihre Finger lege.« Sonja flüstert ihr etwas ins Ohr,
berührt mit den Lippen ihr Ohrläppchen: »Und dann wissen wir
beide Bescheid, irgendwann in den nächsten Tagen werden wir
zusammen im Bett liegen. Und es wird wundervoll sein.«

Das sollten wir Männer zur Kenntnis nehmen und uns fragen:

Was machen die Frauen da? Warum machen sie es? Was ist
dabei anders, attraktiver als mit uns Männern?

»Verführung« ist ein abgegriffenes und sachlich falsches

Wort. Die Vorsilbe »Ver« signalisiert eine Fehlleistung.
Verführen heißt also: wegführen, dahin führen, wo die Frau
nicht hin will. Doch die beiden wollen ja zueinander finden mit
ihrer Zärtlichkeit und Sexualität.

Der Blick ins Wörterbuch zementiert diese Bedeutung:

verleiten, verlocken, zur Hingabe verleiten. Da heißt es sogar:
»Ein Mädchen zur Hingabe verleiten«. Das ist sehr
aufschlussreich: Mädchen müssen verführt werden, Jungen
offensichtlich nicht! Der »Verführer« ist ein gewissenloser
Liebhaber.

Aber Männer müssten nicht verführen. Sie müssten sich

einfach nur freundlich verhalten, sich den Frauen öffnen und
auch einmal lachen. Das wäre für die Frau recht angenehm und
für andere Männer übrigens auch. Normalerweise hat eine Frau
da ja auch nicht allzu viel einzuwenden, wenn die beiden sich
nicht absolut spinnefeind sind oder er eben überhaupt nicht ihr

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-225-

Typ ist. Wenn zwei miteinander zum Kaffeetrinken gehen, dann
ist ja ein gewisses Ja schon vorhanden, ohne dass das gleich
heißen muss, dass sie jetzt Sexualität will. Ver-Führung im
eigentlichen Wortsinn ist also nicht nötig. Man braucht nur
gewaltlos zu bleiben, freundlich - und einigermaßen sauber im
Denken.

Was gehört nun zur Verführung? Auf diese Frage werde ich

nicht mit Tipps und Tricks antworten, das überlasse ich den
Medien. Mir geht es um die Gefühle, die Verhaltensweisen, die
Umstände, die eine Verführung begünstigen, die den Mann
näher an sein Ziel bringen, das Ziel der gemeinsamen
körperlichen Berührung.

Der Mann sollte sich immer ein gewisses Gefühl der

Unsicherheit behalten, Sicherheit ist unerotisch. Das Gefühl »ich
bin mir sicher« verführt dazu, einfach zu konsumieren und sich
nicht zu bemühen, nicht sensibel zu sein. Die vorhandene
Unsicherheit sollte nicht bekämpft werden, man sollte sie
vielmehr auch der Frau zeigen.

Verführung braucht auch genügend Zeit: In der Mittagspause

oder abends zwischen Feierabend und Ehefrau noch schnell mit
der Freundin - das ist nicht besonders erotisch.

Ein veralteter Begriff im Rahmen der Verführung ist das

»Vorspiel«. Das Vorspiel vor dem eigentlichen Spiel? Vorspiel,
das klingt irgendwie nach Inszenierung: Kerzen, Beistelltisch,
Weinflasche, Licht aus, leise Musik - das kann sehr schön sein,
aber die Kerzen und die Musik sind Utensilien, die keine
erotische Stimmung auf Knopfdruck erzeugen. Viel wichtiger
sind persönliche Offenheit, Unsicherheit ertragen können und
Zeit haben.

Das folgende Zitat ist von einem Mann, der sich in der

Männergruppe ausführlich geäußert hat:

»Meine Freundin und ich sind zusammen eine Woche in

Urlaub gefahren. Diese Woche Urlaub hatte ich mir so

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vorgestellt, dass wir eben sehr viel Zeit und Ruhe haben und
dann auch häufiger Sexualität haben könnten. Das war ein
Wunsch von mir. Wir hatten zwei bis drei Wochen nicht
miteinander geschlafen, wahrscheinlich auch deshalb, weil wir
viel zu viel gearbeitet hatten. Wir beide waren sehr angestrengt.
Aber ich hatte auch Lust auf Sexualität, und dann habe ich mir
überlegt: Wie soll ich das machen?

Meine Freundin hatte mir schon gesagt, dass sie es irgendwie

komisch findet, wenn ich ihr einfach sage: Ich habe Lust. Dann
sagt sie immer:›Was willst du mir denn damit sagen?‹Dann
stehe ich etwas merkwürdig da mit meiner Lust. Dann versuche
ich, ein bisschen um sie zu werben, bin besonders zärtlich. Und
das endet immer so, dass wir zusammen kuscheln, dass aber
eigentlich keine erotische Spannung da ist.

Ich dachte, im Urlaub würde das eher möglich sein, und habe

mir auch mehr Nähe zu ihr gewünscht. Aber es kam nicht zur
erotischen Spannung. Meine Freundin hat mir schon häufig
vorgeworfen, dass ich es ihr überlasse, diese aufzubauen. Nach
drei Tagen in diesem Urlaub war ich sauer, weil ich nicht mehr
wusste, wie denn nun eine erotische Spannung überhaupt
entstehen soll. Ich wollte wieder nach Hause, wollte den Urlaub
abbrechen. Ich hatte keine Lust mehr. Dann habe ich mit meiner
Freundin einen Streit angefangen. Dann habe ich ihr gesagt,
dass ich es unmöglich finde, dass wir so distanziert miteinander
umgehen, nicht ins Gespräch kommen. Ich hatte keinen Bock
mehr, ich wollte weg. Da wurde sie dann irgendwie wach und
meinte, sie würde mich jetzt anders sehen, wenn ich so mit ihr
streite. Dann hat sie auch mit mir zurückgestritten. Nach einigen
Stunden sind wir uns dann nähergekommen, haben auch
miteinander geschlafen. Dann gab es also Sexualität. Auf einmal
war nämlich das Lebendige da, die Wachheit. Und wenn das da
ist, dann schlafen wir auch häufiger miteinander. Ich habe sie
also im Grunde genommen wachgemacht eigentlich dadurch,
dass ich deutlich und streitig meine Bedürfnisse geäußert habe.

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Wenn die Lust dann einmal da ist und wir nicht irgendwie
versacken, dann wird das immer lustvoller. Und sie sagt zu
mir:›Ja, du musst mehr werben.‹Dann denke ich: Werben? Was
soll ich denn nun noch machen? Ich versuche dann immer
zärtlich zu sein, aufmerksam, Rasierwasser zu benutzen. Dann
fällt mir ein, ich müsste wahrscheinlich zudringlicher werben, in
Richtung Vergewaltigung. Aber das meint sie nun nicht. Mir
erscheint die ganze Angelegenheit der Werbung
unwahrscheinlich kompliziert. Was sie mir gestern gesagt hat,
stimmt heute nicht mehr, und morgen ist es schon wieder
anders. «

An dieser Äußerung sehen wir: Mit Regeln ist einem nicht

geholfen. Es hängt immer von den beiden Persönlichkeiten ab,
die das gestalten. Es sind Hemmungen im Spiel, Ängste,
Bequemlichkeiten, und vor allem das Nicht-darüber-Sprechen.
Es gibt kein Maß für Zärtlichkeit, kein Maß für Kuscheln. Das
müssen zwei Partner miteinander ausmachen, ausprobieren, sich
einfühlen, darüber sprechen, reagieren. Jede Frau und jeder
Mann wollen etwas anderes. Für die Verführung ist wichtig,
herauszufinden, was für die Partnerin erotisch ist.

Ein Thema beim Verführen ist natürlich auch die Stimmung.

Das Schönste ist, wenn zwei Menschen auch miteinander lachen
können. Humor und Lachen sind immer befreiend, erst recht in
der Verführungssituation. Viele Männer sind zu ernst, zu
abgeschlossen, zu verbissen. Sie kommen aus ihrer
Arbeitsstimmung nicht heraus, allerdings: Eine wirkliche Arbeit,
eine kreative Arbeit, ist ebenfalls erotisch, im Sinne von
lebendig, anregend. Eine unkreative Arbeit, die keinen Spaß
macht, ist einschläfernd und unerotisch.

Wer in der Arbeit verbissen ist und für die Unerotik der

Arbeit in der Sexualität Entschädigung sucht, geht den falschen
Weg. Jeder Mann muss auf seine ganze Persönlichkeit achten.
Er ist dafür verantwortlich, dass er lebendig und wach bleibt,
dass er Spaß und Freude an dem hat, was er tut, dass er

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Leistungs- und Erfolgszwang abbaut.

Sexualität und Arbeit haben vieles gemeinsam, zum Beispiel:

Sie sind mit einer besseren Stimmung besser zu leisten. Gute
Ideen in der Arbeit entsprechen der Erektion und der Lust auf
Sexualität. Das Ganze lässt sich als Lebensstimmung
bezeichnen. Manche Menschen haben das Gefühl, das Leben sei
eine Last, und fühlen sich dauernd überfordert. Andere gehen
lebendig und wach durch die Welt und freuen sich auf die
nächste Begegnung. Entsprechend leben Menschen ihre
Sexualität: müde, überlastet und inaktiv oder neugierig,
aufgeschlossen und positiv.

Das Verführen ist wichtig, man kann es lernen, aber: Es wird

nicht immer gelingen. Ich habe auch schon Männer erlebt, die
sich unglaublich um die Partnerin bemühten, zärtlich und
gesprächsbereit waren, aber es ging nicht. Ein Mann sagte
einmal in einem Einzelgespräch zu mir:

»Ich möchte über Sexualität reden. Das ist ja nun kein

leichtes Thema. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Das
Thema überschattet mein ganzes Leben, seit ich denken kann.
Schon in der Pubertät hat mich das Thema sehr bedrückt. Ich
dachte immer: Das wird nie etwas, ich kriege keine Frau ab.
Das Thema war selten eine Quelle von Lust und Freude.«

Der Mann sagt, er spricht viel mit seiner Partnerin über

Sexualität, die Sexualität bleibt aber ein Problem. Sie möchte
viel seltener als er, hat manchmal gar keine Lust. Manchmal
meint sie, ganz ohne Sexualität auskommen zu können, dann ist
es ihr unangenehm, manchmal voller Ekel. Das ist natürlich
schwierig für den Mann, aber realistisch: Manche Frauen sind
sehr offen - mit dieser Offenheit quälen sie den Mann aber auch.
Die Frage ist in einem solchen Fall, ob die Quälerei notwendig
ist oder ob die beiden sich nicht besser trennen. In Bezug auf
den eben beschriebenen Fall wage ich diese Frage, weil ich mit
diesem Mann sechs Jahre lang intensiv gearbeitet habe und die
Frau nicht bereit war, mitzuarbeiten. Doch auch das ist ein

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Phänomen: Männer hängen in einer Partnerschaft, die ihnen
nicht gut tut, und können sich nicht trennen.

Wenn ein Mann eine Frau verführen will, muss er sie kennen,

und dazu gehört Menschenkenntnis. Wer keine
Menschenkenntnis mitbringt, kann die Eindrücke, die er
wahrnimmt, nicht verarbeiten. Er kann nichts empfinden, sieht
die Frau nicht richtig, quält sich, weil ihm nichts einfällt, weil er
nicht weiß, was er sagen soll. So lernt man eine Frau nicht
kennen. Der bessere Menschenkenner ist auch der bessere
Verführer.

Dies ist ein Plädoyer, Menschenkenntnis zu erwerben, und

das ist ja auch die Arbeit, die wir in Männergruppen machen.
Nur wenn wir uns selber besser kennen lernen und einander
kennen lernen, werden wir auch die persönliche Fähigkeit
erwerben, Frauen kennen zu lernen.

In Männergruppen wäre es interessant, sich gegenseitig vo n

Verführungen zu erzählen. Dabei kann man von anderen lernen,
bekommt ins Gefühl, wo man selber steht, bekommt

Rückmeldungen aus der Gruppe, wie man wirkt, welche

Haltung man eingenommen hat, wie glaubwürdig, wie schlüssig
die Erzählung ist.

Für sich selbst kann man seine erotischen Verführungen

aufschreiben. Das Aufschreiben zwingt dazu, die Situation noch
einmal aus der Distanz Revue passieren zu lassen und genau zu
überlegen, wie es gelaufen ist, konkrete Worte dafür zu finden,
kurz: das Erlebte noch einmal durchzuarbeiten, nachzufühlen.

Werbung und Verführung sind nicht Handwerk, sondern

Kunstwerk. Der Prozess des Erforschens ist die Kunst des
Findens, ist ein allmähliches Hineinwachsen in die Welt des
anderen, ein allmähliches Heranbegeben, ein empfindsames,
ruhiges, vorsichtiges, hingabefähiges Annähern an die Welt des
anderen Menschen. Alles andere ist Technik, Organisation, Plan,
jedenfalls etwas sehr Unerotisches. Doch nur die erotische,

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sensible Werbung und Verführung hat eine Chance, etwas
Dauerndes zu ermöglichen, etwas Glückbringendes,
Freudebringendes, Ermutigendes.

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Sexuelle Fantasien

»In meiner Phantasie wie beim wirklichen Vögeln bin ich an

einem entscheidenden Punkt angelangt. Wir schauen bei einem
Football-Spiel zu. Es ist bitterkalt. Vier oder fünf von uns haben
sich unter einer großen Wolldecke zusammengedrängt. Plötzlich
springen wir auf, um den Mittelstürmer besser zu sehen, der auf
die Ziellinie zurennt. Während er über das Feld rast, drehen wir
uns in die Decke eingehüllt wie ein Mann in seine Richtung und
schreien laut vor Aufregung. Irgendwie ist einer der
zuschauenden Männer, ich weiß nicht, welcher es ist, und will es
auch gar nicht wissen, will auch gar nicht nachsehen, weil ich
viel zu gespannt bin, ganz dicht hinter mich gerückt. Ich schreie
weiter. Meine Stimme ist wie ein Echo von ihm, dessen Atem ich
heiß auf der Haut spüre. Ich kann den steifen Penis durch seine
Hose hindurch fühlen, als er mir durch eine Berührung zu
verstehen gibt, ich solle meine Hüften weiter zu
ihm
herumdrehen. Das Spiel ist so, dass wir alle immer noch zur
Seite gewandt bleiben, um zuzuschauen. Die Menge gerät völlig
außer sich. Jetzt hat er seinen Schwanz herausgeholt, und
plötzlich ist er zwischen meinen Beinen. Er hat ein Loch in
meinen Slip unter dem kurzen Rock gerissen, und ich schreie
noch lauter, weil die Spieler jetzt nah beim Tor sind. Wir
springen alle ständig vor Begeisterung hoch, und ich muss ein
Bein auf die nächsthöhere Sitzreihe stellen, um das
Gleichgewicht nicht zu verlieren. Nun kann der Mann hinter mir
leichter in mich eindringen. Wir hüpfen alle herum und klopfen
uns gegenseitig auf den Rücken. Er legt mir den Arm um die
Schultern, damit wir uns im gleichen Rhythmus bewegen. Jetzt
ist er in mir drin, wie ein Rammbock in mich hineingestoßen.
Mein Gott. Mir kommt's, als wäre er schon in meiner Kehle.
Weiter so! Los! Los! - schreien wir gemeinsam. Wir sind lauter
als alle anderen und bringen sie dadurch dazu, noch verrückter
zu brüllen. Wir zwei heizen die Begeisterung an wie die

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Anführer einer Clique, während ich ihn in mir spüre, wie er -
wer er auch immer sein mag - steifer und steifer wird und mit
jedem Hochspringen immer tiefer reinstößt, bis das Hurra-
Geschrei für die Spieler den Rhythmus unseres Fickens
annimmt. Und alle um uns herum sind auf unserer Seite. Jubeln
uns und dem Tor zu. Es ist jetzt schwer, beides voneinander zu
trennen. Es ist der letzte Angriff des Mittelstürmers, alles hängt
von ihm ab. Wir beide rasen wie die Wahnsinnigen, unserem
eigenen Ziel schon nahe. Meine Erregung steigert sich, gerät
fast außer Kontrolle, als ich dem Football-Spieler zujubele, der
es wie wir machen soll, damit wir alle gemeinsam das Ziel
erreichen. Der Mann hinter mir schreit auf und umkrampft mich
in lustvollen Zuckungen. Der Mittelstürmer schießt ein Tor.«

Nancy Friday hat zwei Bücher veröffentlicht, eines über

»Sexuelle Phantasien der Frauen« und eines über »Sexuelle
Phantasien der Männer«. Die eben zitierte Phantasie stammt von
ihr selbst. Sie hatte mit einem Mann Sexualität, und er forderte
sie auf: »Erzähl mir doch, was du gerade denkst.« Doch nach
Nancy Fridays Erzählung stand der Mann wortlos auf und
verließ das Bett. Er kam auch nie wieder, obwohl sich die
beiden vorher versichert hatten, dass es keine sexuelle Grenze
für sie gäbe - aber die Phantasien waren ihm unerträglich. Nancy
Friday fügt hinzu, dass sie diesen anderen Mann vom Football
gar nicht wollte, er war ja ein gesichtsloser Niemand:
»Außerdem hätte ich solche Gedanken nie gehabt und schon gar
nicht laut ausgesprochen, wenn ich nicht so erregt gewesen
wäre. Und das lag ja nun an ihm, dem wirklichen Liebhaber.«
Sie hat sich darüber geärgert, dass er ging, sie war empört und
empfand Scham. Ihr Ärger war so groß, dass sie sich entschloss,
ein Buch über weibliche Phantasien zu schreiben. Sie hat lange
keinem Mann mehr ihre Phantasien erzählt, erst ihrem
Ehemann. Der war sehr beeindruckt von ihrer Vorstellungskraft
und sagte manchmal: »Das hätte ich mir im Traum nicht
ausdenken können.« An dieser Toleranz erkannte Nancy Friday,

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wie sehr er sie liebte.

Als sich Nancy Friday an das Buch über Phantasien der

Frauen machte, es erschien in Deutschland 1980, reagierten
selbst Freunde sehr restriktiv. Die meisten brachen das Gespräch
ab, wenn sie von ihrem Buchprojekt sprach. Wenn überhaupt
etwas gesagt wurde, dann kam von den Männern so etwas wie:
»Warum sammelst du nicht Phantasien von Männern? Frauen
brauchen keine Phantasien, die haben ja uns.« Oder: »Ich
verstehe ja, dass irgendeine alte vertrocknete Jungfer, die kein
Mann mehr will, solche Phantasien hat. Meinetwegen gestehe
ich es auch noch einer frustrierten Neurotikerin zu. Aber die
normale, sexuell befriedigte Frau hat doch so etwas nicht. Wer
hat denn überhaupt solche Phantasien nötig? Was ist am guten,
altmodischen Sex auszusetzen?«

Auch intelligente, angeblich aufgeschlossene, vorurteilslose

Männer waren sehr schockiert. Männer haben offensichtlich
Angst, wenn Frauen über ihre sexuellen Phantasien sprechen.
Etwa 1982 kam dann auch das Buch über die sexuellen
Phantasien der Männer heraus.

Die Phantasien von Männern und Frauen unterscheiden sich

deutlich. Fridays Bücher zeigen, dass Frauen viel
erfindungsreicher, mutiger und risikofreudiger sind. Ich habe
das Buch über die Frauen ganz gelesen, das über die Männer
nicht: Es war mir zu langweilig. Männer werden durch Ängste,
Schuldgefühle und Hemmungen am Phantasieren gehindert.
Nancy Friday gibt zu, dass ihr viele Phantasien Vergnügen
bereiteten, manche sie aber auch anwiderten oder entsetzten.
Das bedeutet: Wir müssen mit dem Mitteilen sexueller
Phantasien vorsichtig sein. Nicht jede Phantasie macht jedem
Lust. Sie sind sehr unterschiedlich, und wir müssen bei der
Verführung, bei der Sexualität, beim Austauschen von
Zärtlichkeiten, uns Zeit lassen, um herauszufinden, was den
anderen stimuliert, was ihn sexuell anmacht.

Viele männliche Phantasien erschienen Nancy Friday als

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Ausdruck supermännlicher Überheblichkeit - nur darauf
angelegt, sie zu schockieren oder in den Dreck zu ziehen. Ich
glaube, da ist etwas dran. Man muss sehr aufpassen, dass man
nicht nur schockieren will. Vor allem Männer neigen dazu.

Phantasien sind wie der Appetit beim Essen: Dieses zeigt, was

uns schmeckt und was wir essen möchten. Das sollte man ernst
nehmen und keine Dinge essen, auf die man keinen Appetit hat.

Mit erotischen Phantasien verhält es sich ähnlich. Sie müssen

ungeheuer wichtig genommen werden, aber das heißt nicht, dass
alle Phantasien in die Tat umgesetzt werden müssen. Dazu
müssen beide Partner Lust haben, doch man kann nicht davon
ausgehen, dass beide die gleichen Phantasien haben.

Wer sich etwa ausmalt, die Frau grob anzupacken, sie zu

übermannen, zu überwältigen, zu unterwerfen oder sie einfach
nur kräftiger zu behandeln, der kann das nicht einfach umsetzen,
sondern muss mit ihr zuvor darüber sprechen. Im Grunde
genommen sollte über jede erotische Berührung vorher
gesprochen werden. Es wird dann immer dagegengehalten:
»Dann ist ja der ganze Zauber weg, wenn man immer alles
vorher besprechen muss.« Das stimmt nicht. Wer es einmal
ausprobiert hat, weiß, dass es nicht stimmt. Ich halte das sogar
für eine Schutzbehauptung: Angeblich hat der Mann Angst, der
Erotik den Zauber zu nehmen. Tatsächlich hat er Angst, ein
Risiko einzugehen. Es gehört viel Mut und Risikobereitschaft
dazu, seine Phantasien zu erzähle n, und man sollte es auf jeden
Fall ausprobieren. Wenn es keinen Spaß macht, kann man es
auch wieder lassen, aber probieren sollte man es auf jeden Fall.

Der Austausch erotischer Phantasien erfordert aber auch

Fingerspitzengefühl. Wenn ein Mann Gewalt-Phantasien hat,
sollte er sich sehr genau überlegen, wie viel er davon seiner
Partnerin zumuten kann, wann er ihr das erzählen kann, unter
welchen Voraussetzungen. Hier ist vermutlich das Gespräch
unter Männern besser. Phantasien vom Gezwungenwerden und
Unterwerfen, vom Überwältigen, Fesseln und Schlagen sind

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keine Perversionen, sie kommen aus der Kindheit, da sind wir
vielleicht auch geschlagen worden. Diese Ursprünge in unserer
Lebensgeschichte sollten wir erforschen, denn wenn sich
Einstellungen und Bewusstsein verändern, wandeln sich auch
die Phantasien.

Phantasien kann man gemeinsam ausspinnen. Das kann sich

ziemlich frivol und riskant entwickeln, kann sehr anregend,
aufregend, erregend sein. Man kann vorher verabreden, dass
man alles nur in Worten ausmalt und es auf keinen Fall in die
Tat umsetzt. Das macht Mut, man wagt sich an Grenzen und
Tabus, findet Worte für das Unaussprechliche. Wichtig ist dabei
nur immer, dass man kommuniziert, wie man sich dabei fühlt,
damit die Erotik nicht in Angst und Schrecken umschlägt.

Bei vielen Menschen entsteht bereits eine starke erotische

Lust, wenn man sich offenbart, die Scham, vielleicht auch
Ekelgefühle überwindet. Wer sich offenbart, riskiert natürlich
immer die Zurückweisung. Die Partnerin will das nicht hören,
das ist die eine Möglichkeit. Oder die Partnerin kann den mit der
Phantasie verbundenen Wunsch nicht akzeptieren, weist das
entrüstet, ängstlich, aus moralischen oder aus welchen Gründen
auch immer, zurück.

Doch Worte und Sätze, die einmal ausgesprochen sind,

bleiben wie Samen in der Erde. Die liegen da und keimen
vielleicht, und langsam wächst daraus etwas. Meiner Erfahrung
nach ist es häufig so, dass man, wenn man nach Wochen oder
Monaten wieder auf das Thema kommt, eine veränderte
Reaktion erhält. Oder die Partnerin kommt von sich aus auf das
Thema zurück, fragt nach, will mehr wissen und hören.

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Die Berührung der Haut

Die Haut ist unser größtes und wahrscheinlich wichtigstes

Organ. Dieser Tatsache sind sich viele nicht bewusst. Wenn
Menschen sich berühren, körperlich berühren, ist die Haut
immer das Medium dieser Berührungen. Je bewusster man sich
ist, was dabei passiert, desto produktiver wird auch diese
Berührung werden.

Alltägliche Berührungen sind oft unbewusst: Man kommt in

einen Raum, streift jemanden, stößt jemanden an. Die Hand zu
geben ist zwar eine bewusste Berührung, aber unbewusst bleibt
meist, dass dabei auch Gefühle eine Rolle spielen: Dem einen
gibt man die Hand gern, dem anderen weniger gern, manche
nimmt man auch in den Arm. Vor Berührungen kann man sich
ekeln, ängstigen, schämen.

Die Haut kann einer Berührung oft nicht ausweichen: Wenn

ein Mensch berührt wurde, dann ist er berührt und reagiert auf
jeden Fall, ob bewusst oder unbewusst. Hautreaktionen werden
oft sofort verdrängt, nicht gespeichert, geschweige denn
verstanden, gefühlt oder untersucht. Unbewusst kann es so
geschehen, dass man seine Bedürfnisse und
Liebesmöglichkeiten drosselt oder Kontakte nicht zulässt. Es ist
allerdings auch wichtig, unangenehme Kontakte nicht
zuzulassen.

Die Haut spricht häufig eine sehr deutliche Sprache. Sie wird

rot vor Scham, vor Wut, vor Anstrengung, man kann erbleichen.
Menschen, die sich die Aussagen der Haut nicht bewusst
machen und darauf keine Rücksicht nehmen, sind sehr
verletzlich. Aber sie wissen nicht, dass sie dort eine schwache
Stelle haben.

Hautbewusste Menschen sind präsenter und darauf

eingerichtet, sich mit Berührungen auseinander zu setzen. Sie
können Unangenehmes vermeiden, sie kennen ihren Körper

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ziemlich genau, kennen ihre Schwachstellen und Stärken, ihre
Bedürftigkeit und ihre Begrenzungen. Deshalb plädiere ich für
Hautbewusstsein.

Prinzipiell gibt es angenehme, erwünschte Berührungen und

unangenehme, unerwünschte. Entsprechend reagieren wir mit

Abwehr oder Begehren. Zu den Abwehr-Reaktionen können

auch psychosomatische Reaktionen kommen. Neben der
Schamröte sind das zum Beispiel Neurodermitis, Nesselsucht,
Dermatitis und Akne. Schamröte kann aber auch sagen:
Eigentlich will ich mehr Berührung, aber ich schäme mich für
dieses Begehren.

Scho n flüchtige Berührungen, etwa wenn man jemanden

trösten oder auf etwas aufmerksam machen will, können zart
oder kräftig sein, können angemessen oder auch übergriffig sein.
Wer einen unangenehmen Hautkontakt zulässt, entwickelt
hinterher oft unangenehme Gefühle und kommt davon nicht
mehr los. Besonders Menschen, die aggressiv oder gewalttätig
behandelt wurden, haben Probleme mit Hautreaktionen und
körperlichen Reaktionen insgesamt. Die Betroffenen, das
müssen Männer sich klar machen, sind in unserer Kultur
überwiegend Frauen. Frauen sollten unangenehme Berührungen
abwehren. Das erfordert eine enorme Energie, deshalb lassen
Frauen Berührungen oft geschehen.

Männer sind sich ihrer Hautaktionen und reaktionen sehr

selten bewusst: Ein Händedruck, an den Arm fassen, auf die
Schulter klopfen - man sollte sich bewusst sein, was man da tut
und was man mit sich geschehen lässt. Oft reagieren wir auch
unbewusst, indem wir uns wegdrehen, unter einer Berührung
wegwinden, um den anderen auf Distanz zu halten. Ein Mann,
den ich einmal umarmte, drehte sich spiralförmig unter meinem
Arm weg. Das war mir sehr unangenehm, denn offensichtlich
war ich ihm zu nahe getreten. Es ist also außerordentlich
wichtig, sich in die Situation, in das Gegenüber einzufühlen, um
zu merken, ob eine Berührung angebracht ist.

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Problematisch sind angeblich absichtslose Berührungen: Man

sitzt in der Kneipe eng nebeneinander, und der Oberschenkel
des Mannes drückt an den der Frau, oder man legt den Arm auf
die Bank hinter ihr, dass sie sich umarmt fühlt, wenn sie sich
zurücklehnt. Das ist aber nur akzeptabel, wenn zwei Menschen
sich schon näher gekommen sind und der »Zufall« ihnen ein
willkommener Zufall ist. Dann kann man diese Berührungen
auch intensivieren und verlängern, sollte aber gerade als Mann
sorgfältig darauf achten, ob die Frau das wirklich will, und sie
vielleicht einfach fragen. Dazu gehört Mut, denn man riskiert
eine Zurückweisung.

Schweigen oder Nicht-Reaktion auf eine Berührung

interpretieren Männer gern als Einverständnis. Sartre hat das in
dem Buch »Das Sein und das Nichts« beschrieben: Ein Mann
legt in einem Restaurant seine Hand auf die der Frau. Sie zieht
sie nicht weg. Er interpretiert das als Zustimmung und fühlt sich
nach einiger Zeit zu weiteren Berührungen ermuntert. Die Frau
hat das aber nicht so gemeint, sondern so getan, als hätte sie
nichts gemerkt. Ein problematisches Verhalten von beiden
Seiten. Sie sollte reagieren, und er sollte eine Reaktion abwarten
oder nachfragen.

Hautberührungen, Körperkontakte, zärtliche Kontakte sollte

man unbedingt besprechen: Mann und Frau miteinander und
Männer untereinander. Der eigene Körper ist mehr oder weniger
vertraut, der andere Körper ist zunächst immer fremd. Männer
haben die Tendenz, sich des Körpers der Frau zu bemächtigen.
Ein liebevoller Mann bemächtigt sich nicht, sondern lässt den
Körper der Frau in seiner Ganzheit bestehen. Er wartet auf
Berührungen und führt erwünschte Berührungen herbei, aber
keine gewaltsamen Übergriffe.

Es gibt auch ein körperliches Verstehen: Indem man sich

berührt und miteinander körperlich umgeht, kann man sich auch
verstehen. Aber das kann nicht die Wortsprache am Beginn des
Kennenlernens ersetzen. Doch weil Worte mit Angstoder

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Schamgefühl besetzt sind, überspringt man die Sprache und
berührt ohne Worte.

Dabei kann man auch mit Worten streicheln, sollte das auch.

Eine sanfte, liebevolle, zarte Stimme streichelt, betört,
verzaubert. Wer eine Frau so anspricht, kann sie im Innersten
berühren, kann die Angst nehmen, ihr Geborgenheit vermitteln.
Schon im Gespräch kann man Raum und Zeit vergessen. Im
liebevollen Gespräch gibt es keinen Zwang, keine
Bemächtigungstendenzen, keine Begierde. Worte können aber
auch Angst machen oder eine Bemächtigungstendenz erkennen
lassen.

Das Streicheln mit Worten ist sinnvoll, weil sich damit auch

der Mann vor Frustrationen und Misserfolgen schützt. Wer eine
Frau liebevoll und sanft anspricht und keine entsprechende
Antwort bekommt, sollte den Körperkontakt erst gar nicht
suchen.

Die ersten Berührungen sollten zart und sanft erfolgen. Ohne

Zartheit und Liebe ist eine Berührung schnell eine
Bemächtigung.

Es wird häufig behauptet, Frauen hätten eine differenziertere

Hautwahrnehmung, Männern ginge es nur um Busen, Po und
Genitalien, Frauen hätten mehr Interesse am Streicheln. Das
stimmt sicher häufig, aber nicht für alle. Und prinzipiell glaube
ich, dass das Hautbewusstsein ein Produkt unserer Erziehung ist
und dass wir das deshalb verändern können. Wir können
Hautsensibilität, Hautbewusstsein lernen. In jeder Berührung,
jeder zärtlichen Geste muss im Grunde genommen die Aussage
enthalten sein: »Ich vergesse nicht, dass ich dich begehre. Aber
ich weiß, dass ich nicht Macht ausüben will oder Brutalität. Ich
weiß auch, dass ich dich nicht sofort haben muss, sondern dass
ich dich sein lasse.«

Menschen, die nicht geliebt wurden, die selbst nicht lieben

können und die hart und erstarrt erscheinen, leben oft mit

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Angsterlebnissen, Schrecken und Schmerz, aber auch mit
Brutalität und Kälte. Solche Menschen kann man mit einiger
Menschenkenntnis auch erkennen, wenn man noch nicht mit
ihnen gesprochen hat. Sie zeigen mit ihrer Physiognomie, ihrer
Haltung, Gestik und Mimik, ob sie hautsensibel sind oder ob sie
ihre Haut benutzen mussten, sich gegen andere abzugrenzen.
Die Haut ist die Begrenzung unseres Körpers, sie schützt uns,
sie wehrt sich.

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Streicheln ist lebensnotwendig

Die Grunderfahrungen mit Hautkontakten, das Streicheln, in

den Arm nehmen, tragen, drücken, aber auch schlagen oder
kratzen, spielen im Leben eines Menschen eine enorme Rolle. Je
jünger Kinder sind, desto wichtiger ist der Hautkontakt. Es
entscheidet unter Umständen über das Schicksal des ganzen
Lebens, was in den ersten Jahren an Hautkontakt und
Körperkontakten passiert.

Kinder brauchen beruhigende, besänftigende Erlebnisse.

Bloßes Anfassen reicht nicht aus, das kann sehr steril sein. Ein
Reagenzglas fasst man emotionslos an, da spielen Gefühle keine
Rolle. Aber ein Kind leidet Schaden, wenn es emotionslos, zu
grob oder etwa mit zu kalten Fingern angefasst wird.

Entwicklungsstörungen vo n Kindern sind häufig von

Hautreaktionen begleitet. Menschen mit Hautproblemen sind
häufig zu wenig gestreichelt worden. Rötungen oder andere
Hautreaktionen heißen meist: »Fass mich nicht an.« Kinder
hören ja oft: »Fass das nicht an.« Oder: »Lass dich nicht von
anderen anfassen.« Das ist ein berechtigter Wunsch, das Kind zu
schützen, aber wenn Eltern übertreiben oder übertriebene Angst
äußern, wird es problematisch.

Wer in der Kindheit zu wenig körperliche Zärtlichkeit

empfangen hat, wer wenig gestreichelt wurde, hat es schwerer
als andere, mit Berührungen angemessen umzugehen und andere
zu berühren. Ashley Montagu schreibt in seinem Buch
»Körperkontakt«: »Die wesentlichste Sinnesempfindung unseres
Körpers ist die Berührung, die wichtigste Wahrnehmung im
Schlaf- und Wachzustand. Wir fühlen, wir lieben und hassen,
sind empfindlich und empfinden durch die Tastkörperchen
unserer Haut.«

Die Haut ist also unser frühestes, sensibelstes und sensitivstes

Organ, das erste Medium des Austausches mit anderen

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Menschen, unser wichtigster Schutz. Erneuerung und
Entwicklung der Haut gehen das ganze Leben lang weiter. Eine
wichtige Frage ist also: Welche Hautreizungen und
Stimulierungen sind nötig, um eine gesunde Entwicklung zu
ermöglichen? Wie viel Zärtlichkeit braucht der Mensch, und wie
wirkt sich ein Mangel an Streicheln auf die Persönlichkeit aus?

Dazu ein Tierexperiment: Mit Ratten wurden zwei

Versuchsgruppen gebildet. Die einen Ratten wurden von Geburt
an freundlich gestreichelt und zärtlich behandelt, die anderen
nur gefüttert und gereinigt, die Berührungen waren nicht
liebevoll und auf das Notwendige reduziert. Die Ratten
entwickelten ein unterschiedliches Verhalten: Die gestreichelten
Ratten waren zahmer, furchtloser, hatten mehr Zutrauen und
waren weniger reizbar. Die anderen waren zaghaft, ängstlich,
nervös, verkrampften, wehrten sich, wenn man sie in die Hand
nahm, und bissen. Das allein ist schon beeindruckend, aber das
Experiment ging weiter: Allen Ratten wurden Schilddrüse und
Nebenschilddrüse entfernt. Von den gestreichelten Ratten
starben in den beiden Tagen nach der Operation 13 Prozent, von
den anderen 79 Prozent. Daraus folgerten die Wissenschaftler:
Das zarte Streicheln und der liebevolle Umgang mit den Ratten
hatten die Stabilität des Nervensystems und des Immunsystems
erheblich erhöht. Zärtlichkeit, das drückten sie direkt so aus,
kann über Leben und Tod entscheiden. Wenn das schon bei
Ratten so ist, dann ist davon auszugehen, dass Streicheln auch
beim Menschen enorme Auswirkungen hat. Kinder, die von
Geburt an zartes Streicheln und liebevollen Umgang erleben,
entwickeln einen anderen Charakter und eine andere
Persönlichkeit. Eltern, die ihr Baby nicht streicheln, nicht
streicheln können, enthalten ihrem Baby etwas vor. Sie
entscheiden über sein Schicksal, entscheiden über Leben und
Tod.

Montagu erwähnt in seinem Buch einen ähnlichen Vorgang:

Tiermütter reinigen ihre Jungen durch Lecken. Nach Ansicht

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von Forschern hat das nicht in der Hauptsache mit Reinigung zu
tun, sondern das Lecken ist lebensnotwendig: Die Niere wird
angeregt, die Harnausscheidung verstärkt, auch die Atmung, der
Kreislauf, die Nerventätigkeit, die Verdauung und die
Fortpflanzungsfähigkeit werden dadurch erhöht.

Montagu geht davon aus, dass das Streicheln der Mutter nicht

nur das Baby stimuliert, sondern dass auch die Mutter den
Hautkontakt mit dem Säugling braucht. Ich frage: Braucht denn
die Frau später, wenn sie kein Baby mehr hat, diesen
Hautkontakt nicht? Und brauchen denn die Väter, die Männer
diesen Hautkontakt mit dem Baby nicht?

Viele Frauen beklagen, dass ihr Mann sie nicht mehr

streichelt. Ich weiß nicht, was da im Einzelnen vorgeht, aber der
Mann, der nicht streichelt, braucht den Körperkontakt doch
auch. Das ist eine wichtige Botschaft an Männer, vor allem an
solche, die ohne viel Zärtlichkeit erzogen worden sind:
Streicheln schadet nicht! Es nützt und ist wichtig für die
körperliche und psychische Gesundheit.

Die Schwangerschaft, die Zeit im Leib der Mutter, ist eine

Zeit innigster Berührung und Stimulation für das Kind.
Mensche n haben aber im Vergleich zu anderen Säugetieren eine
sehr kurze Schwangerschaft, man spricht von einer biologischen
Frühgeburt. Deshalb ist für Menschenbabys der Körperkontakt
nach der Geburt enorm wichtig. Bei tatsächlichen Frühgeburten
ist er noch wicht iger. Und ich betone: Das können auch die
Väter. Außer Stillen können die Väter alles, was die Mutter
kann, doch das läuft in unserer Kultur einfach falsch: Die Mutter
wiegt das Kind, und der Vater geht arbeiten.

Die Sprache kennt viele Hautbilder. Man sagt zum Beispiel:

»Den muss man mit Samthandschuhen anfassen.« Das heißt: Er
ist empfindlich, er fährt schnell aus der Haut. Das ist schon der
nächste Ausdruck: »Aus der Haut fahren.« Das heißt: Er ist
wütend, regt sich auf, bleibt nicht bei sich. Umgekehrt kann man
sich »wohl fühlen in seiner Haut«. Das sind Menschen, die mit

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sich im Reinen sind, ausgeglichen, zufrieden. Von
empfindlichen Menschen sagt man auch, sie seien
»dünnhäutig«, haben eine »dünne Haut«. Unsensible Menschen
haben dagegen eine »dicke Haut«. Als »gute Haut« bezeichnet
man Menschen, die einem Geborgenheit vermitteln, die ehrlich
sind, denen man vertrauen kann. »Das hat mich berührt«
bezeichnet normalerweise eine innere, gefühlsmäßige
Berührung. Alle diese Sprachbilder haben mit psychischen
Themen zu tun.

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Die unglückliche Haut

Ich selbst habe etwa seit meinem 20. Lebensjahr mit

Hautreaktionen zu tun. In Aufregungs- oder Stresssituationen
springen mir zum Beispiel die Hände auf. Der Arzt nennt das
»endogenes Ekzem«, das heißt: Er weiß nicht, woher es kommt.
Aus naturwissenschaftlichmedizinischer Sicht kann er nicht
mehr sagen und auch nicht mehr tun, als verschiedene Salben
auszuprobieren, und irgendeine wirkt dann. Beim nächsten
Stress springt die Haut wieder auf: Manchmal kann ich etwas
Gutes dagegen tun, manchmal nicht. Eine solche trockene Haut
ist auch empfindlicher bei Verletzungen: Ein bisschen geritzt,
und schon blutet sie.

Diese Hautreaktionen sind psychosomatische, ebenso wie

Neurodermitis, atonische Dermatitis oder Schuppenflechte. Hier
wird immer viel über Vererbung gesprochen, mein Vater hatte
die gleiche Haut, aber ich glaube auch, dass er einen ähnlichen
Charakter hatte. Den Charakter habe ich jedoch nicht geerbt,
sondern mir abgeschaut.

Die unglückliche Haut ist ein Symptom. Natürlich darf man

nicht vernachlässigen, dass auch die Umweltverschmutzung ein
Grund für die zunehmenden Hautkrankheiten ist. Meist aber hat
der Betreffende etwas verdrängt, hat irgendeinen Kompromiss
gefunden. Mit der Hautkrankheit kann er etwas bewältigen, aber
er bezahlt dafür enorme psychische Kosten. Wenn mit der Haut
irgendetwas dauerhaft nicht in Ordnung ist, dann ist das ein
Hinweis auf psychische Vorgänge. Die Wurzeln dafür liegen oft
in der Kindheit, Neurodermitis etwa wird meist in den ersten
beiden Lebensjahren sichtbar.

Otto Fenichel, ein Psychoanalytiker aus dem Freud-Kreis

schreibt: »Vor allem die Wärmeerotik ist oft auf frühe orale
Erotik zurückzuführen und ein wesentlicher Bestandteil der
Sexualität. Die Hautnähe des Partners und das Gefühl seiner

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Wärme sind ein wesentlicher Bestandteil einer
Liebesbeziehung.«

»Kalte« Menschen sind nicht angenehm. Dabei kann kalt sehr

konkret sein: kalte Hände zum Beispiel, deren Berührung
unangenehm ist. Oder im übertragenen Sinn: eine kalte Person.
Das sagt ma n zu Menschen, die keine Geborgenheit, keine
Zartheit vermitteln. Kälte und Härte sind Eigenschaften, die oft
Hand in Hand gehen.

Kinder, die nicht genügend gestreichelt wurden, nicht

genügend Nähe und Geborgenheit erfahren haben, können auch
ein Anklammerungsbedürfnis entwickeln. Sie können nicht
loslassen, weil sie ständig Angst haben, die Menschen seien
nicht verlässlich. Dieses Klammern in Beziehungen tötet die
Liebe, nimmt die Freiheit und führt zu Distanzlosigkeit.

Die Psychologin Ulrike Haase hat sich intensiv mit gesunder

und kranker Haut befasst, hat beides am eigenen Leib erfahren
und schreibt darüber: »Hautbewusstsein im
zwischenmenschlichen Kontakt gibt auch Sicherheit beim
Spüren von Berührungen und Zärtlichkeiten. Die Empfindungs-
und Genussfähigkeit beim Erleben zärtlicher Hautkontakte kann
sich nach meiner Erfahrung enorm steigern und
ausdifferenzieren und einen ganz neuen Bereich des Genießens
eröffnen. Hautbewusstsein im Kontakt mit sich selbst ist auch
ein Weg zu mehr Bewusstheit und Ruhe, zu mehr Freude, Lust
und Genuss am eigenen Körper und damit allgemein im Leben.
Hautbewusstsein ist auch Hauterotik. Es ist ein Weg, sich der
eigenen Attraktivität und Anziehungskraft und der eigenen
erotischen Ausstrahlung bewusster zu werden. Mit der
Entwicklung von Hautbewusstsein kann man einen liebevollen
Umgang mit sich selbst erlernen, an dem es ja vielen auch sehr
mangelt... Deutliches Fühlen von Gefühlen steht nach meiner
Erfahrung in direktem Zusammenhang mit gesunder Haut. Es
geht für mich einerseits um Abgrenzungsbedürfnisse und
aggressive Gefühle. Ich merke deutlicher, wenn ich Distanz und

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eventuell Alleinsein brauche oder wenn ich mich schlecht
behandelt fühle.... Auf der anderen Seite sind es Nähewünsche,
das Sehnen nach Körperkontakt, das ich manchmal sehr direkt
körperlich mit der Haut als einen Mangelschmerz wahrnehme.
Dann friert meine Haut, und ich habe das Bedürfnis, sie mit eng
anliegendem Stoff zu bedecken und zu wärmen und in der Nähe
von geliebten Menschen zu sein.«

Ulrike Haase gibt auch Empfehlungen, wie man sein

Hautbewusstsein entwickeln kann. Folgende Fragen sollte man
sich beantworten: Fühle ich meine Haut überall? Wo am Körper
spüre ich sie? Wie fühlt sich die Haut an: warm oder kalt, dick
oder dünn, abgehärtet oder empfindlich, verletzlich? Wie fühle
ich meine Haut gegen andere Hautbereiche, zum Beispiel die
Handflächen auf der Haut, die Haut an den Handflächen? Wie
fühlen die Fußsohlen den Boden? Wie empfinde ich Duschen,
warmes Wasser auf der Haut? Wie ist Wind auf der Haut, kalter
oder warmer Wind? Spüre ich Sonnenstrahlen auf der Haut oder
Regen? Wie verändert sich die Haut: nach dem Sonnen, dem
Baden, der Sauna, dem Schlafen? Wie fühlt sich die Kleidung
an: warm, weich, kuschelig, kühl, steif, kratzend?

Hautgefühle kann man anregen: indem man sich selbst

streichelt, sich bewusst wäscht, sich bewusst einseift, sich
bewusst abtrocknet, abrubbelt, sich selbst massiert, mit dem
Schwamm, der Bürste, sich eincremt, einölt, auch Eigen-
Fußreflexzonenmassage ist eine Möglichkeit. Das sind alles
Dinge, die man teilweise täglich erledigt und wo man jedes Mal
die Chance besitzt, Hautgefühl zu erlernen und sich seiner Haut
bewusst zu werden.

Mangelndes Hautbewusstsein wird in der Kindheit erlernt. Ich

will hier noch einmal die Parallelen zu den Gefühlen betonen:
Wenn man als Kind ständig kratzende Kleidung tragen musste
und alle Proteste dagegen von den Eltern ignoriert wurden, dann
verdrängt man die Gefühle, die die Haut aussendet: Es ist nicht
wichtig, ob es kratzt. Es ist nicht wichtig, ob du dich wohl fühlst

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in deiner Haut. Natürlich ist es wichtig, aber die Kinder lernen
das Gegenteil und werden zur Unempfindlichkeit erzogen.

Eingesperrt wird man nicht nur in unangenehmer Kleidung,

auch im Laufstall, im Laufgurt, im Babybett, im Kinderstuhl.
Das produziert laut Jean Liedloff (»Auf der Suche nach dem
verlorenen Glück«) einen unbehaglichen Überschuss an Energie,
der dann normalerweise in unserer Kultur im sexuellen Bereich,
nämlich im Orgasmus, ausgelebt wird. Doch der Orgasmus
befreit laut Jean Liedloff nur von einem »oberflächlichen Teil
der Energien«. Das erklärt auch, warum Sexaholics von einem
Orgasmus zum anderen drängen, aber nie richtig befriedigt sind.

Der mangelnde Körperkontakt produziert ein

Unbefriedigtsein, und deshalb betone ich noch einmal: Das
Wichtigste beim Liebesspiel ist nicht der Koitus, sondern die
Haut, das Berühren der Haut, das Streicheln der Haut, das
Küssen und das Liebkosen der Haut, der nichtgeschlechtliche
Körperkontakt.

Das Problem in unserer Kultur ist, dass Männer immer

meinen, jeder Körperkontakt müsse zum Koitus führen. Es
herrscht ein großer Mangel an Streicheln und Zärtlichkeit, nicht
nur innerhalb von Beziehungen, sondern überhaupt im Umgang
der Menschen miteinander. Jean Liedloff drückt das so aus: »Ich
bin der Meinung, dass mit einer klaren Vorstellung des
Unterschiedes und etwas Übung im Trennen beider Bedürfnisse
ein Großteil mehr Zuneigung ohne die Komplikationen durch
sexuellen Kontakt, wenn dieser nicht erwünscht ist, ausgetauscht
werden können. Das ungeheure Reservoir von Sehnsucht nach
körperlichem Trost ließe sich vielleicht beträchtlich verringern,
wenn es gesellschaftlich akzeptabel würde, mit Gefährten jeden
Geschlechts Hand in Hand spazieren zu gehen, auf dem Schoß
anderer Menschen zu sitzen, nicht nur im privaten Kreis,
sondern auch in der Öffentlichkeit, einen verführerischen
Haarschopf zu streicheln, wenn einem danach zu Mute ist, sich
frei und öffentlich zu umarmen und seine liebevollen Impulse

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nur dann zu bremsen, wenn sie unerwünscht sind.«

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Teil II:

Keine Furcht vor unvermeidlichen

Komplikationen

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Eifersucht ist keine Krankheit

» Wie stark diese Ideologie ist, dass es Eifersucht nicht gibt,

habe ich selber in meinem Leben erlebt. Also ich gehöre ja
dieser nach-68er-Zeit an und hatte damals mit meiner späteren
Frau eben auch die Übereinkunft: Jeder kann machen, was er
will. Und: Eifersucht gibt es nicht. Und dann hatte sie eine
Beziehung neben mir, außer mir. Und ich hatte eben diese
Ideologie: Es gibt keine Eifersucht. Ich habe sie also auch nicht.
Jetzt kommt es darauf an, nicht nur zu reden, sondern eben auch
keine zu haben. Und das war, im Nachhinein finde ich, total
schädlich, weil ich ja gar nicht meine Gefühle haben konnte, die
Trauer. Ich war unwahrscheinlich traurig, unwahrscheinlich
gekränkt. Das kommt mir jetzt heute immer noch so langsam
hoch... Diese Ideologie hat mich daran gehindert, mich damit
auseinander zu setzen. Und ich habe das eigentlich bis heute
irgendwie nicht richtig verarbeitet... Ich glaube aber, ich habe
bis heute auch Rachegefühle daraus zurückbehalten... Also das
war einfach so stark: Es gibt gar keine Eifersucht. Ich habe das
so vertreten, jetzt mache ich das auch so. Das hat mir sehr
geschadet.«

Die meisten Menschen leiden unter Eifersucht, und die

meisten Menschen bekennen sich auch dazu. In einer
Untersuchung aus dem Jahr 1995 gaben 39 Prozent der Männer
an, dauernd eifersüchtig zu sein. Nun ist das keine Krankheit,
aber doch eine massive Belastung. Bei den Frauen sind etwa 30
Prozent nach eigenen Angaben ständ ig eifersüchtig. Zudem
stellt diese Untersuchung fest, dass die Eifersucht der Männer
zunimmt, wenn die Frau selbstständiger wird und außer Haus
ihrem Beruf nachgeht. Historisch gesehen kann man also sagen,
dass die Eifersucht die Männer dazu geführt hat, die Frauen
einzusperren.

Symptome der Eifersucht, die in den Sprechstunden der

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Psychologen und Ärzte genannt werden, sind Gereiztheit,
Schlafstörungen, Essstörungen, Wutausbrüche und andere.

Die gesundheitlichen Folgen von Eifersucht können Stress,

Magersucht und andere psychosomatische Erkrankungen sein.
Eifersucht ist für mich kein moralisches Problem. Ich bin weit
davon entfernt, Menschen vorzuschreiben, wann sie mit wem
sexuelle Kontakte haben. Eifersucht ist meiner Meinung und
Erfahrung nach immer ein individuelles Problem. Wer von
Eifersucht betroffen ist und damit kämpft, muss sich auf sich
einlassen. Die Lösung des Problems liegt nie im veränderten
Partnerverhalten. Eifersucht, darüber sollten sich Partner klar
sein, ist in einer Beziehung meist ein schwer wiegendes
Problem. So schwer, dass die wenigsten die Kraft haben, es
allein zu überwinden. Viele Menschen überschätzen ihre Kräfte
und laufen dadurch in noch schwierigere, bedrohliche
Situationen hinein.

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Arten der Eifersucht

Eifersucht ist von Neid zu unterscheiden. Neid bezieht sich

auf eine andere Person. Bei Eifersucht sind immer drei Personen
im Spiel: die Partnerin und die dritte Person, auf die man
eifersüchtig ist.

Eifersucht ist sehr verbreitet, und viele Menschen fühlen sich

kompetent, dazu etwas zu sagen. Das äußert sich dann in
Allgemeinplätzen wie: »Eifersucht heißt nur Besitzstreben.«
Oder: »Man muss den Partner total frei lassen.« Das stimmt in
dieser Verallgemeinerung nicht, denn es gibt sehr
unterschiedliche Arten von Eifersucht. Ich schildere die
Eifersucht in diesem Buch aus Sicht des Mannes, aber das
Gesagte kann für Frauen entsprechend gelten.

Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen Eifersucht ohne

Untreue und Eifersucht, wenn tatsächlich Kontakte mit einem
Dritten stattfinden.

Manche Männer sind eifersüchtig, obwohl die Partnerin treu

ist und keine Beziehung mit einem Dritten hat. Das ist meist
eine neurotische Eifersucht, eine unangebrachte Reaktion, die
viel mit Projektionen zu tun hat. Meiner Erfahrung nach ist diese
Form der Eifersucht sehr selten, weil die jahrelange, die
jahrzehntelange Treue selten ist. Wenn ein Mensch wirklich
jahrzehntelang treu ist, dann muss er sich ernsthaft fragen
lassen, warum er so unlebendig ist. Tatsächlich geben die
meisten Menschen zu, dass sie schon einmal untreu waren.

Wenn eine dritte Person im Spiel ist, was nicht unbedingt eine

sexuelle Beziehung mit einem oder einer Dritten bedeuten muss,
habe ich vier verschiedene Reaktionen entdeckt:

1. Trauer

Eifersucht als Trauer über den Verlust der Zuwendung der

Partnerin. Trauer ist die Arbeit, die ein Mensch leistet, wenn er

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einen Verlust erleidet. Trauer ist eine gesunde Reaktion, sehr gut
beschrieben in dem Buch »Die Unfähigkeit zu trauern«, verfasst
von dem Ehepaar Mitscherlich.

2. Depression

Eifersucht als depressive Reaktion ist wie die Trauer eine sehr

zurückgezogene Reaktion, aber im Unterschied zur Trauer fehlt
bei der Depression die Aktivität, den Verlust zu verarbeiten.

3. Kämpfen und Werben

Das ist eine sehr aktive, auch nach außen sichtbare Form. Der

Mann versucht bei drohendem Verlust der Partnerin um die
Beziehung zu kämpfen und um die Frau zu werben: eine recht
seltene, aber sehr gesunde Form der Eifersucht.

4. Aggression

Auch das ist nach außen sichtbar, aber sehr unproduktiv. Von

Wutausbrüchen bis zu Gewalttätigkeiten können eifersüchtige
Reaktionen reichen. Das kommt übrigens, wie alle Formen von
Gewalt, bei Männern deutlich häufiger vor als bei Frauen.

Als fünfte Reaktion ergänze ich: die fehlende Eifersucht.

Manche entwickeln überha upt keine Eifersucht, auch nicht,
wenn die Partnerin eine Beziehung mit einem Dritten unterhält.
Das erscheint mir neurotisch. Ein solcher Mann ist wohl schon
sehr abgestumpft und ignorant.

Angeblich will die Mehrzahl der Frauen mit ihrem Partner

über Eifersucht sprechen: 56 Prozent beziffert eine
Untersuchung. Ich halte das für eine fiktive Zahl, denn ich
glaube, dass es kaum zu solchen Gesprächen über Eifersucht
kommt. Meiner Erfahrung nach ist aber das Schweigen über die
Eifersucht das größte Problem. Männer wie Frauen trauen sich
nicht, darüber zu sprechen, weil das Thema zu schwierig und
explosionsgeladen ist. Sie fürchten den Verlust der Beziehung.

Ich bin nicht immer mit allem einverstanden, was Sigmund

Freud von sich gegeben hat, aber zur Eifersucht zitiere ich ihn

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-255-

gern: »Die Eifersucht gehört zu den Affektzuständen, die man
ähnlich wie die Trauer als normal bezeichnen darf. Wo sie im
Charakter und Benehmen eines Menschen zu fehlen scheint, ist
der Schluss gerechtfertigt, dass sie einer starken Verdrängung
erlegen ist und darum im unbewussten Leben eine umso größere
Rolle spielt.«

Man kann es nicht genug betonen: Eifersucht ist normal. So

wie die Trauer normal ist, die ich ja eben als eine Form der
Eifersucht genannt hatte. Trauer ist die Reaktion auf einen
Verlust. Man trauert nicht nur um einen verstorbenen Menschen,
man kann auch um den Verlust einer Illusion trauern. Freud
beschreibt die Trauer in mehreren Stufen: Als Erstes entsteht der
Verlust, als Zweites wird Arbeit notwendig, sich von dem
Verlo rengegangenen zu lösen. Als Drittes sträubt sich der
Mensch gegen diese Arbeit, will das Verlorengegangene nicht
loslassen. Dann kommt es zu einer schmerzlichen Verstimmung,
und schließlich interessiert sich der Trauernde nicht mehr für die
Außenwelt. Das kann so weit gehen, dass er nicht mehr in der
Lage ist, Kontakt zu Mitmenschen aufzunehmen oder seinen
Alltag zu regeln. Um nicht in diesem Zustand zu verharren, ist
Trauerarbeit notwendig. Sonst baut sich der Trauernde
illusionäre Wunschphantasien auf, um über die Trauer
hinwegzukommen, statt dass er sich der Realität stellt, die sich
ja nach dem Verlust verändert hat.

Wenn ein Mensch keine Trauerarbeit leistet, kann es zur

Depression kommen. In einer starken Depression hat ein
Mensch kein Interesse mehr, zu arbeiten, zu lieben,
Beziehungen aufzubauen. Depression wird heute allgemein als
Krankheit verstanden, und ein solcher Patient bedarf der Hilfe.
Es wäre gefährlich, das als Eifersucht zu verharmlosen. Wer
infolge der Eifersucht depressiv ist, sollte sich
psychotherapeutische Hilfe holen.

In der Psychologie wird meist nicht unterschieden zwischen

Eifersuchtstrauer und Eifersuchtsdepression, doch ich halte die

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-256-

sorgfältige Unterscheidung für sehr wichtig.

Im Patriarchat ist Eifersucht ein Tabu: Männer müssen nicht

eifersüchtig sein, denn die Frau kommt ja zu Hause nicht raus,
kann also auch keine anderen Männer kennen lernen. Dieses
Einsperren der Frau musste man aber auch erklären, und dazu
hat man den größeren Freiheitsdrang des Mannes und den Drang
nach Sexualität mit einer anderen Frau herangezogen. Meiner
Meinung nach verschleiern solche Erklärungsversuche nur die
Arbeitssucht und die Frauensucht des Mannes.

Alfred Adler hat im Gegensatz zu Freud in der Eifersucht

keine normale Reaktion gesehen. Für ihn war Eifersucht immer
krankhaft, immer eine kämpferische, gegnerische
Stellungnahme. Adler anerkennt weder die Trauer noch den
verstärkten Kampf um die Partnerin und führt die Eifersucht auf
die kindliche Eifersucht zwischen Geschwistern zurück. Doch
ich denke, es gibt einen großen Unterschied zwischen der
kindlichen Konkurrenz um dieselben Eltern und der Eifersucht
eines erwachsenen Menschen auf einen Konkurrenten. Adler
argumentierte immer final, das heißt: Er fragte, wohin eine
bestimmte Reaktion führte. Als Ziel der Eifersucht sah er die
Entwicklung von Macht und das Kompensieren von
Minderwertigkeitsgefühlen. Ich sehe das sehr skeptisch, denn
Eifersucht kann auch aus einem tatsächlichen oder real
drohenden Verlust entstehen. Wenn sich dann jemand engagiert
für die Beziehung einsetzt oder um die Partnerin trauert, sehe
ich das nicht als Machtstreben, sondern als gesunde,
nachvollziehbare Reaktion.

»Wirkliche Liebe kann nicht eifersüchtig sein.« Dieser Satz

wurde so oder ähnlich schon von vielen Autoren geäußert. Ich
lese daraus nur die eigene Verdrängung der Autoren. Sie streben
ein unerreichbares Ideal an und versuchen, sich mit der
Verdrängung der Eifersucht etwas vorzumachen. Eifersucht
wird als der Feind jeder Liebe beschrieben, als Krankheit
gebrandmarkt, in ihren extremsten Ausprägungen geschildert.

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-257-

Einen paradoxen Höhepunkt erreicht die Beschäftigung mit dem
Thema Eifersucht zur Zeit der angeblichen sexuellen Befreiung,
also nach der Pille und der linken Bewegung, etwa von 1968 bis
1972. Seitdem ist die Eifersucht tabuisiert: Man ist nicht
eifersüchtig. Kaum jemand spricht über seine Eifersucht, weil
jeder denkt: Eifersucht ist krankhaft. Eifersucht ist falsch. Ich
muss tolerant und offen sein, Eifersucht ist unmoralisch.

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-258-

Eifersucht erfordert Arbeit

Ich meine: Eifersucht ist selten das Problem eines Beteiligten,

sondern meist haben beide zum Problem beigetragen, es wäre
also Beziehungsarbeit angesagt. Der nichteifersüchtige Teil der
Beziehung hält sich oft für den stärkeren, doch wenn sich die
Partnerin dann trennt oder auch eine zweite Beziehung eingeht,
bricht die Stärke zusammen. Man kann nicht einfach sagen: Die
Eifersucht muss weg. Es ist sorgfältig zu untersuchen: Woher
kommt der Eifersuchtskonflikt? Wie ist er entstanden? Wie sind
die Beteiligten damit umgegangen?

Ab 1968 wollten viele leben und lieben wie de Beauvoir und

Sartre. Der Lebenspakt der beiden lautete, sich erstens absolute
Freiheit zu lassen und zweitens absolut ehrlich zu sein und
einander alles zu erzählen. Sartre hatte viele Liebesbeziehungen
und hat sich selbst Eifersucht sehr übel genommen. Den anderen
Frauen gegenüber galt der Lebenspakt allerdings nicht: Die
kannten die Wahrheit nicht und wurden zum Teil sogar belogen.
Nur Simone wusste die ganze Wahrheit. Ich habe immer
bezweifelt, dass das zu ihrem Vorteil war.

In ihren Memoiren, im zweiten Teil von »In den besten

Jahren«, gibt es dann tatsächlich Stellen, in denen de Beauvoir
ihre Eifersucht eingesteht, zum Beispiel gegenüber Camille: »Er
erzählte mit einer Wärme von ihr, die an Bewunderung
grenzte... Ich sagte mir, dass sie mit Sartre mehr gemeinsam
hatte als ich. Vielleicht schätzte er sie mehr als mich. Vielleicht
war sie wirklich schätzenswerter als ich. Ich hätte mich
ihretwegen nicht so sehr erregt, wenn nicht Eifersucht mich
geplagt hätte.« Oder Olga: »Magisches Dreieck. Dieses
Gebäude, dieses Trio war Sartres Werk. So sehr ich mich
bemühte, ich fühlte mich nicht recht wohl darin. Als ich mich
entschloss, sie mit Sartres Augen anzusehen, hatte ich den
Eindruck, meinem Herzen Zwang anzutun... Wenn ich mir das

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-259-

Trio als Dauereinrichtung vorstellte, die über Jahre bestehen
würde, graute mir. Ich hatte nicht den leisesten Wunsch, Olga
bei den Reisen, die ich mit Sartre machen wollte, mit von der
Partie zu sehen.«

Simone de Beauvoir wäre keine Schriftstellerin, hätte sie das

nicht in einem Roman verarbeitet: »Sie kam und blieb«, ein
Roman, den ich jedem empfehlen kann, der sich mit dem Thema
Eifersucht auseinander setzt. Im Roman kommt es schließlich
dazu, dass Franchise ihre Nebenbuhlerin ermordet. Simone de
Beauvoir hat sich zu den autobiographischen Zügen dieses
Romans bekannt, und ich glaube, dass sie dieses Buch
geschrieben hat, um mit ihrer Eifersucht fertig zu werden, die
sie sich ja wegen des Lebenspaktes nicht leisten konnte.
Übrigens hat de Beauvoir es später als Sadismus bezeichnet,
sich alles erzählen zu sollen. Selbst so starke Persönlichkeiten
wie Sartre und de Beauvoir sind im Grunde genommen mit dem
Problem Eifersucht nicht fertig geworden.

Carl Rogers schildert in »Die Kraft des Guten« eine

Eifersuchtssituation: Fred und Trish wollten nicht
besitzergreifend sein, wollten nicht beherrschen und unterhielten
beide außerhalb der Ehe intime, sexuelle Beziehungen. Sie
sprachen über alles offen, waren kaum eifersüchtig, emp fanden
eine große Zuneigung zueinander. Trish, die Frau, geht zuerst
eine intime Beziehung mit einem Freund von Fred ein. Fred
reagiert sehr verständnisvoll und sagt: »Durch unsere
Kommunikation waren wir im Stande, im ständigen Kontakt
miteinander zu sein, beziehungsweise einander Rückmeldung zu
geben und die entstehenden Konflikte gleich beizulegen.«

Das halte ich schon für eine Illusion: Wer einmal in einer

Dreierbeziehung gelebt hat, weiß, dass solche Konflikte nicht
»gleich beizulegen« sind, sondern nur nach intensiver Arbeit.

Fred jedenfalls bezeichnet seine Beziehung als »Bezugspunkt

und Quelle der Sicherheit in unserem Verhältnis zur Umwelt«.
Nach zwei Jahren wandelt sich Trishs intime Beziehung zu

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Freds Freund in ein freundschaftliches Verhältnis, weil der
Freund seinerseits eine Freundin hat, die besitzergreifender ist
und ihn für sich allein haben will. Bei Fred und Trish kommen
neue Partner hinzu, eine Art Großfamilie entsteht. Freds
Katastrophe tritt ein, als seine Eltern sich trennen, die
Großmutter todkrank ist, er mit großen Problemen nur das
Rigorosum besteht und danach arbeitslos wird. Er bekommt
Schuldgefühle wegen einer Forschungsarbeit, eine Depression
bricht bei ihm aus, er gerät in Panik, hat Lähmungsgefühle,
unternimmt schließlich einen Suizidversuch. In den sieben
Tagen auf der Suizidstation ist Trish immer bei ihm, er erholt
sich schließlich langsam. Deutungsversuche von Bekannten:
»Da ist nur eure komplizierte Beziehung schuld«, wehrt er ab.
Fred: »Ich kann eindeutig sagen, dass dies keinesfalls zutraf. Im
Gegenteil, nur die ständige Anteilnahme von Trish und den
anderen hatte mich gerettet.«

Ich glaube, Fred macht sich etwas vor, wenn er seine

Kraftlosigkeit und Schwäche einzig dem beruflichen Sektor
zuschreibt. Es stand wohl ein Kongress an, und dieser, so
interpretiert Carl Rogers, habe Fred den Schlaf geraubt, habe ihn
Wahnvorstellungen entwickeln lassen, weil Fred nach
Perfektion strebte und Angst vor der Konkurrenz mit Kollegen
hatte. Aber das entscheidende Problem ist meiner Meinung
nach: Warum hat denn Fred Trish nicht von seinen Problemen
erzählt, wenn doch angeblich die Kommunikation so offen war?
Fred sagt: »Ich hatte Schuldgefühle, dass ich so deprimiert war.
Ich meinte, allein darüber hinwegkommen zu müssen.« Das ist
eine typisch männliche Stellungnahme: »Ich habe mich
geschämt, davon zu sprechen. Es schien mir unglaublich. Es
schien mir, als ob jemand anderer dies fühlte.« Anfänge von
Dissoziation und Schizophrenie? »Es fällt mir schwer, um Hilfe
zu bitten. Ich fürchte mich davor, in eine psychiatrische Anstalt
gesteckt zu werden, für den Rest des Lebens eingesperrt.« Auch
Trish wurde von Carl Rogers befragt, und sie sagt: »Ich will

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keine besitzergreifende und eifersüchtige Beziehung. Ich liebe
zwei Männer. Seit der Depressio n von Fred und seinem
Selbstmordversuch fürchte ich mich davor, was der nächste Tag
bringen wird.« Auch sie hat also Angst, will zunächst raus aus
der ganzen Gemeinschaft und weiß, dass sie in Fred nun nicht
mehr nur ihren Partner, sondern auch ihren Patie nten sehen
wird.

Ich glaube, dass sich Fred nicht nur im Beruf, sondern auch

privat übernommen hat. Eine Dreierbeziehung ist ungeheuer
schwierig zu leben, und nach meiner Erfahrung ist es noch
schwieriger, sich das auch noch gegenseitig zu beschreiben.

Interessant ist, wie Carl Rogers und, kontrovers dazu, seine

Kollegin Maureen Green, eine bekannte Sexualtherapeutin in
Amerika, das beurteilen. Carl Rogers kommt, trotz der genauen
Kenntnis der Katastrophe, zu dem Schluss: »Man kann auch
lernen, nicht eifersüchtig zu sein. Es ist möglich, mehr als einen
Menschen gleichzeitig zu lieben... Die Menschen gehen auf
Erkundung aus und kehren bereichert in die Beziehung zurück.«

Maureen Green bezeichnet Freds Bericht als »zu gut, um

wahr zu sein«. Sie sagt: »Ich kann mich nicht damit
identifizieren, dass Eifersucht ein Zeichen eines Mangels an
Selbstvertrauen ist. Eifersucht kann eine durchaus angemessene
Reaktion sein auf eine bestimmte zwischenmenschliche
Situation. Dann muss es Zweifel, Verzweiflung, Bedürftigkeit,
Leidenschaft und sogar Hass geben.«

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-262-

Das Prinzip Treue

Das Thema Treue und Untreue betrachte ich als völlig

ungelöst. Es gibt zwar jede Menge Aussagen darüber, aber sie
sind meiner Meinung nach alle falsch. Deshalb philosophiere ich
auch zu diesem Thema als einer, der an der Wahrheit interessiert
ist, sie aber noch nicht kennt.

Zunächst einige Überlegungen zum Prinzip Treue: Treue in

unserer Gesellschaft ist immer vor einem patriarchalen
Hintergrund zu betrachten. Manches davon wird zwar heute als
vergangen abgetan, aber die patriarchalen Prinzipien haben ihre
Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen.

Historisch gesehen ist die Frau das Privateigentum des

Mannes. Der Mann musste dem Vater der Frau einen Preis für
die Frau bezahlen. Dann hat er versucht, die Treue der Frau zu
erzwingen, indem er sie zu Hause einsperrte. Mit seiner
Käufermentalität meinte der Mann, mit der Frau machen zu
dürfen, was er will. Manche Männer glauben das heute noch.
Der Marxist würde sagen: Der Mann betrachtet die Frau als
Ware.

Für die Frau gilt das Prinzip Treue: Sie muss treu sein. Der

Mann darf sich auch anderen Frauen zuwenden. Die Treue der
Frau ist die Garantie für das Identitätsgefühl des Mannes, auch
für sein Überlegenheitsgefühl ihr gegenüber. Diese Doppelmoral
gilt bis in die Gegenwart. Zwar bekennen sich heute auch
Frauen zu ihren Seitensprüngen: 72 Prozent der verheirateten
Frauen gaben in einer Umfrage an, in ihrer Ehe mindestens
einmal fremdgegangen zu sein. Das ist nicht moralisch zu
werten, Männer haben das ja schon immer getan. Ein Phänomen
ist nur, dass die weibliche Untreue bis heute strenger beurteilt
wird als die männliche.

In den USA ist das immer noch sehr auffällig. In Minnesota

etwa ist Ehebruch per Gesetz definiert als Geschlechtsverkehr

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-263-

einer verheirateten Frau mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann
ist (Stand 1997). Wenn ein verheirateter Mann dagegen mit
einer Frau, die nicht seine Ehefrau ist, Geschlechtsverkehr hat,
bedeutet das keinen Ehebruch.

Gegen solche Doppelmoral kämpfen Frauen und mittlerweile

zum Teil auch Männer, aber das heißt nicht, dass sie schon
verschwunden ist. In ihrem Buch »Die Liebe der Frauen«
schreibt Margrit Brückner, dass Misshandlungen und Gewalt
gegen die Frau die Folge des Versuchs des Mannes sind, seine
Frau einzusperren und sie von anderen Menschen zu isolieren.
Er meint, die Treue auch mit Gewalt erzwingen zu dürfen. Die
Frau soll nicht einmal Kontakte zu ihren Verwandten haben, soll
nur für ihn zu Hause da sein. Anfangs empfinden das manche
Frauen sogar als besonderes Zeichen von Liebe: »Der liebt mich
so, dass er mich immer bei sich zu Hause haben will.« Margrit
Brückner beschreibt: »... häufiges Anrufen am Arbeitsplatz, ob
die Frau wirklich da ist, und Begleitung bei allen Erledigungen.
Das kann so weit gehen, dass der Frau verboten wird, das Haus
zu verlassen, Freunde einzuladen oder arbeiten zu gehen. In
wachsendem Umfang beaufsichtigen die Ehemänner alle
Lebensäußerungen der Frauen. Die Frauen wenden viel Energie
dabei auf, die Männer von ihrer Treue zu überzeugen. Frauen
haben immer einen gewissen Teil ihrer Kraft darauf zu
verwenden, den Mann sicher zu halten, dass sie treu sind. Jeder
Blick, jedes Lächeln könnte als Flirt interpretiert werden. Jedes
Gespräch und jedes Kleid muss sie auf ihre Wirkung hin
überprüfen, um sich nicht erneuter Gewalttätigkeit und
Verdächtigung auszusetzen.«

Die moderne Frage lautet: »Lässt sich sexuelle Treue in einer

engen Paarbeziehung nicht nur um den Preis der Erstarrung,
Enge, Selbstverleugnung und Selbstbetrug verwirklichen?«
Diese Frage stellt Marina Gambaroff in ihrem Buch »Utopie der
Treue«. Man kann die Frage verkürzt formulieren: Kann denn
ein Mensch dem anderen alles bieten, alles sein? Das Nein liegt

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-264-

in der Luft. Also darf man sich dann das, was man braucht, auch
woanders holen? Ob und vor allem wie man sich das gestattet,
das liegt an jedem einzelnen Menschen und seinem Charakter.

Es ist eigentlich selbstverständlich, dass man sich auch zu

anderen Menschen hingezogen fühlt. Es ist modern, sich
gegenseitig Freiheiten zuzugestehen, sich nicht einschränken zu
wollen. Warum aber fühlen sich Männer durch das Treue-Gebot
viel stärker eingeschränkt als Frauen? Marina Gambaroff stellt
den Zusammenhang zur Zwangsneurose her: Sowohl die Treue
als auch die Untreue können zwangsneurotisch sein. Beides
jedoch ist als problematisch anzusehen, wenn es mit Zwang zu
tun hat.

Es gibt Menschen, die können erfüllte Sexualität nur mit

ihrem Partner erleben. Aber ebenso kann es, vor allem Mannern,
passieren, dass sie in ihrer Partnerschaft keine erfüllte Sexualität
erleben und bei der zweiten Frau auch nicht. Ich bin überzeugt
davon: Absolute Treue, lebenslange Treue gibt es nicht. Es sei
denn um den Preis großer Starrheit.

Das Prinzip Treue ist eine entfremdete Struktur, die mit

Zwang zu tun hat. Hinter einer solchen Treueforderung stehen
drei charakteristische Motive:

1. Symbiosetendenz: Menschen, die absolut miteinander

verschmelzen wollen, fordern prinzipiell Treue voneinander.

2. Kontaktängste: Ein Mann mit Kontaktängsten muss seine

Partnerin festha lten und verbietet ihr also jeden gefährlichen
Kontakt mit anderen Männern, denn der birgt ja die Gefahr des
Verlustes.

3. Fähigkeit zur Selbstverwirklichung: Ein Mensch, der

kreativ und produktiv lebt, sich selbst verwirklicht, braucht
keine dritte Person.

Aber ebenso können diese Treuemotive als Motive für

Untreue interpretiert werden:

1. Wer in einer Symbiose mit einer Frau lebt, kann sich

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vielleicht nur mit einer anderen Frau daraus lösen.

2. Untreue kann auch die Reaktion eines Kontaktgeängstigten

sein. Der enge Kontakt in der Beziehung macht ihm so große
Angst, dass er ausbricht.

3. Untreue kann auch als Selbstverwirklichung gelten: Ein

Mann lässt sich nicht einschränken und sieht die zweite Frau als
Lebenserweiterung, die ihm zusätzliche Glücksmomente bietet.

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Das Prinzip Untreue

Diese Gedanken sollen zeigen: Beim Thema Treue und

Untreue gibt es keine generellen und einfachen Antworten. Es
hängt immer sehr stark von der Situation ab. Wenn allerdings
jemand andere Umgangsformen in der Liebe und Sexualität
leben will als die gesellschaftlich vorgegebenen, dann braucht er
eine ungeheure Kraft dazu, im Grunde genommen brauchen
beide Partner oder alle drei eine große Kraft dafür. Selbst Jean-
Paul Sartre und Simone de Beauvoir haben zuweilen nicht die
Kraft ge habt, die ihr Experiment erforderte. Je mehr man sich an
die gesellschaftlichen Klischees hält, und das Klischee bedeutet
bei uns Treue, vor allem für die Frau, desto leichter hat man es.
Das soll keine Aufforderung sein, es sich immer leicht zu
machen. Nur ist es wichtig, auch einmal zu versuchen, den
Klischees dieser Kultur zu entkommen.

Marina Gambaroff schreibt in ihrem Buch »Utopie der

Treue«: »Je mehr ich mich darauf einstellte, über Treue zu
schreiben, desto unsicherer erschien mir der Boden, auf den ich
mich leichtsinnigerweise zu begeben versprochen hatte. Ich sah
nur noch unauflösbare Widersprüche und Ungereimtheiten.«

Mir geht es ähnlich. Ich kann zwar in einem Einzelfall

Stellung beziehen, aber Allgemeinheiten zu diesem Thema
fallen mir schwer. Mir erscheint die Treue ebenso wie die
Untreue als Extrem. Deshalb ist es wichtig, für sich selber im
Leben immer wieder zu überprüfen: Was habe ich früher für
Maßstäbe gehabt? Wie hat sich das bei mir verändert? Wie sehe
ich das heute?

Wenn man älter wird, ändern sich die moralischen und

ethischen Vorstellungen und die sexuellen Praktiken.
Wahrscheinlich hat jeder Mensch so genannte Untreue-
Wünsche. Untreue ist für mich nicht negativ besetzt. Untreue ist
das Gegenteil von Treue und ebenso problematisch zu bewerten.

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Historisch galt im Patriarchat Untreue als Diebstahl der Ware

Frau, und Eifersucht war das adäquate Gefühl. Die Untreue war
eine Herabwürdigung des besitzenden Mannes. Dieser bekam
Minderwertigkeitsgefühle, Demütigungsgefühle nicht, weil ihm
die Frau so wertvoll war, sondern weil er es als Demütigung
empfand, dass man ihm seine Ware wegnahm. Beim patriarchal
orientierten Mann kommen Selbstzweifel auf, dass er nicht
stark, nicht attraktiv genug ist, die Frau zu halten. Und mit
halten meint man wohl nicht »im Arm halten«, sondern eher »im
Gefängnis halten«.

Die Gefahr für den untreuen Mann, der sein Glück in immer

neuen Abenteuern sucht, ist der Don-Juanismus: Man geht von
einer Frau zur anderen, ohne jemals wirklich befriedigt zu sein.
Die Untreue kann also eine Flucht vor der Aufgabe sein, sich zu
verwirklichen und voll in eine Beziehung einzubringen. Untreue
kann auch die Flucht vor einer Auseinandersetzung in der
Beziehung sein: Die Beziehung ist eng, die Sexualität
langweilig, aber man spricht das Thema nicht an, sondern sucht
sich woanders eine oberflächliche Befriedigung. Aber: Wer hat
schon die Kraft, sich immer voll einzubringen, sich immer zu
behaupten und immer auf die Partnerin Rücksicht zu nehmen?

Untreue kann auch positiv sein. Ich habe erlebt, dass

Menschen sich nur durch Untreue etwa von einem despotischen
oder gewalttätigen Partner befreien konnten.

Untreue wird gern als Anzeiger für Schwierigkeiten in der

Beziehung interpretiert. Das ist ein Klischee, und dagegen
sträube ich mich. Denn: In keiner Beziehung stimmt jemals
alles. Damit stimmt der Satz wieder, aber dann stimmt er eben
immer und ist überflüssig.

Eine feste Beziehung kann in ihrer Alltäglichkeit langweilig

erscheinen, die den Alltag durchbrechende Untreue-Beziehung
könnte mehr erotisieren. Sie lässt Träume zu, Sehnsucht. Vor
allem Männer leiden an Sehn-Sucht und halten sich vielleicht
treu nicht mehr aus. Das hat weniger mit der Partnerin zu tun.

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Der Mann hält sich selber nicht aus, geht zu einer anderen Frau
und versucht dort, aus seinem Dilemma herauszukommen.

Ich möchte die Untreue ebenso wenig zum Prinzip erheben

wie die Treue. In den Jahren 1968 bis 1970 war die Untreue
Gesetz: »Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum
Establishment.« So hieß das damals, doch die Untreue als
Prinzip ist eine Illusion von Freiheit und Problemlosigkeit und
mündet in der Beziehungslosigkeit.

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Verantwortung für drei

Wenn nun eine Dreier-Situation entstanden ist, ist sehr viel

Verantwortung gefragt. Die Feministin Carol Gilligan schreibt
in »Die andere Stimme«: »Es darf niemand verletzt werden,
keiner der Beteiligten, nicht einmal ich selbst, wenn ich in einer
solchen Situation bin.«

Es ist also immer darauf zu achten, dass keiner der

unmittelbar Beteiligten geschädigt wird. Das kann man am
Anfang nicht wissen, und deshalb muss man immer wach
bleiben und prüfen, wie sich die Situation für die Beteiligten
entwickelt. Schaden kann jeder Beteiligte nehmen, nicht nur die
betrogene Ehefrau. Wenn die zweite Beziehung länger dauert,
ist unbedingt zu prüfen, ob und wann man der Hauptpartnerin
etwas erzählt.

Ich unterscheide bei der Untreue zwei Formen: den

Seitensprung und die länger dauernde zweite Beziehung. Der
Seitensprung ist für mich kein Problem. Wenn ein Mann sich
einmal oder für ein paar Wochen mit einer anderen Frau
einlässt, selber damit fertig wird und der Frau nichts erzählt,
sehe ich darin nichts Schlimmes. Die Beichte, gar die
nachträgliche Beichte, ist eine sadistische Attacke, um die
Partnerin zu beunruhigen.

Wenn die zweite Beziehung mehrere Monate dauert, muss

man das der Partnerin mitteilen, weil sie sonst keine Chance hat,
um die Beziehung zu kämpfen. Ich verwende bewusst das Wort
Kampf, denn es ist eine Illusion, zu meinen, dass immer
harmonische Situationen herzustellen sind. In Dreier-Situationen
ist häufig überhaupt nichts mehr harmonisch. Wer die feste
Partnerin über längere Zeit im Unklaren lässt, ist ungerecht.

Der Untreue muss die Verantwortung dafür übernehmen, dass

er seine beiden Liebespartnerinnen nicht in eine Katastrophe
hineinsteuert. Diese Verantwortung ist ein Kriterium für

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Erwachsensein. Er hat die Verantwortung für die Geliebte, denn
diese zweite Frau ist ja keine Droge, mit der man sich mal
schnell Abwechslung von der Beziehung holt. Sie ist ein
Mensch, und der Mann muss darauf achten, dass er sie nicht
kaputt macht. Das ist deshalb so wichtig, weil nicht alle
Geliebten in der Lage sind, auf sich zu achten und sich gegen
die Situation zu wehren.

Aber die Geliebte ist nicht immer nur das Opfer, sie ist auch

Täterin. Das muss sich jeder Mensch klar machen, der sich als
Dritter in eine Beziehung hineinbegibt. Normalerweise weiß ja
die Geliebte, dass der Mann verheiratet ist.

Jeder Mensch hat auch auf sich selbst zu achten: Eine

Situation mag reizvoll sein, aber das heißt nicht, dass sie einem
auf Dauer gut tut. Wer mit zwei Partnerinnen lebt, lebt in einer
gefährlichen Situation, die enorm viel Kraft kostet. Das kann so
weit gehen, dass jemand depressiv wird, verstört, suizidal oder
gar verrückt, weil es zu anstrengend ist. Die Situation ist also
immer wieder zu prüfen, und nur weil mir etwas vor vier
Wochen gut getan hat, heißt das noch lange nicht, dass es heute
auch noch gut ist. Wir müssten wissen, wann ein Zustand
erreicht ist, der für einen der Beteiligten so unerträglich ist, dass
etwas verändert werden muss, weil sonst vielleicht jemand daran
zerbricht.

Um dies entscheiden zu können, für die anderen und für sich

selbst, muss man wissen, was man unbedingt braucht und was
man unbedingt tun muss. Hier betone ich noch einmal:
Sexualität braucht man nicht unbedingt. Auf Sexualität kann
man auch verzichten. Ich weiß, dass manche diese Aussage für
prüde halten, aber ich habe in diesem Buch ausführlich
begründet, welchen Stellenwert die Sexualität hat.

Generelle Aussagen über die Untreue gibt es nicht, was

können also die individuellen Motive für Untreue sein? Dazu
gibt es kaum psychologisch erforschte und gesicherte Fakten;
die nachfolgenden Überlegungen entspringen meinen Gedanken,

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Beobachtungen und Erfahrungen.

Ein erstes Motiv für Untreue ist die Chance, sein

Selbstwertgefühl aufzuwerten. Eine andere Frau zu erobern,
vermittelt ein Glücksgefühl. Dieses Aufwertungsgefühl dauert
nicht allzu lange. Etwa drei bis sechs Wochen dauert die erste
Verliebtheit, dann kommt die Realität.

Untreue kann eine Partnerwahl auf narzisstischer Grundlage

sein. Im Akt der Untreue, der Eroberung der anderen Person,
kommt eine Selbstidealisierung zustande, eine Art Größenwahn
und Stolz.

Manche Männer wollen mit der Untreue die Partnerin

disziplinieren. Irgendetwas stimmt nicht in der Beziehung, man
macht einen Seitensprung und beichtet dann. Die Betrogene ist
sodann in einer Zwickmühle, denn ihr wird ja vermittelt: Du bist
schuld, dass ich fremd gegangen bin, bemühe dich gefälligst
mehr um mich. Diese Absicht zu disziplinieren muss genau
erforscht werden, vor allem, wenn schon ein kleiner
Seitensprung gebeichtet wird.

Männer werden auch untreu, weil ihnen die Partnerin zu groß

geworden ist: Die Kinder werden größer, die Frau geht wieder in
den Job zurück und hat vielleicht mehr Erfolg als der Mann, der
seit Jahren auf einer Stelle festsitzt. Neid auf den Erfolg ist dann
der Grund für die Untreue: »Dich hole ich jetzt mal auf den
Teppich zurück«, steht als Motiv dahinter. Auch eine Art von
Disziplinierung.

Manche Männer ersparen sich mit der Untreue schlicht die

Arbeit an sich und an der Beziehung. Wenn der Mann zum
Beispiel in der Ehe impotent geworden ist, bei der Freundin aber
nicht, dann erspart er sich die Arbeit an der Impotenz. Er setzt
sich nicht mit seiner Ehefrau, seiner Sexualität, seinen Gefühlen
auseinander, sondern holt sich woanders den Reiz. Oder die
Geliebte macht etwas mit, was die Ehefrau verweigert: Auch da
erspart er sich die Mühe, immer wieder darüber zu reden und

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seiner Frau vielleicht die Angst zu nehmen. Es kann die
verschiedenste Arbeit anstehen, die sich ein Mann durch die
Untreue erspart: Arbeit an Gefühlsarmut, wirklich sprechen
lernen, lernen, zu sagen, was los ist und was man empfindet,
worunter man leidet, Arbeit an Herrschsucht, an
Ausbeutungstendenz, an Kraftlosigkeit und so weiter.

Mit Untreue kann man auch Lebensprobleme verdrängen, die

nicht direkt mit der Beziehung zu tun haben. Allgemeine
Zukunftsangst oder Angst vor Entwicklungen in der
Gesellschaft lassen sich durch kurzfristige Verliebtheiten
verdrängen. Oder man verliebt sich, wenn man gerade eine
Diplomarbeit schreiben oder eine wichtige Entscheidung im
Beruf treffen muss. Dann ist die Verliebtheit wichtiger, und man
drückt sich vor der Arbeit.

Ein typisch männliches Untreue-Motiv ist die Sehn-Sucht in

all ihren Spielarten wie Sehn-Sucht nach Heimat, nach Nähe,
nach Ferne, nach Gefahr, nach Abenteuer. Wer jedoch wirklich
liebt, stellt sich seinen Lebensaufgaben und flieht nicht davor,
indem er aus der Beziehung ausbricht.

Es kann auch sein, dass ein Mann untreu wird, weil er das

Schweigen in seiner ständigen Beziehung durchbrechen will. Es
gibt Beziehungen, in denen überhaupt nicht mehr richtig
kommuniziert wird. Irgendwann gibt man es auf, die Partnerin
zu erreichen: Man kennt die Tabus, man riskiert keine Konflikte
mehr, aber mit der neuen Gefährtin kann man alles bereden,
plötzlich ist alles wieder interessant.

Die emotionale Kraftlosigkeit vieler Männer ist ein weiteres

Motiv für Untreue. Sie holen sich in der Partnerschaft mit einer
dritten Person eine neue Therapeutin. Und die Geliebte spielt
vielleicht sogar gern die Therapeutin, denn so kann sie den
Freund halten.

Ein Phänomen ist, dass man jemanden schlecht zur Untreue

auffordern kann. Immerhin kann es passieren, dass man wagt, zu

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-273-

sagen: »Jetzt such dir doch endlich einmal jemand anderen.«
Aber das ist dann im Allgemeinen eine Aufforderung zur
Trennung, nicht zur Untreue. Es ist nicht sinnvoll, untreu zu
werden, wenn schon die Hauptbeziehung nicht richtig
funktioniert.

Doch Untreue ist oft ein Ausweichen vor der Trennung. Da

liegt eine Beziehung seit Jahren im Argen und ist auch nicht
hinzukriegen. Vermutlich wäre die Trennung sinnvoller als das
gegenseitige Lügen und Betrügen. Aber Trennung erfordert
Kraft, und die Angst vor der Unsicherheit hält viele davon ab,
sich zu trennen.

Mit diesen Motiven zur Untreue will ich keine Moral

aufstellen, wie sie etwa Kirche, Staat und verschiedene
Institutionen verbreiten. Die Untreue, die ein Mensch wählt, ist
ein Teil seines Lebensplanes. Alle drei oder mehr Beteiligten
leben ihre persönlichen Möglichkeiten. Sie brauchen sich nicht
dafür zu schämen, aber es bleibt ihre Aufgabe, dass sie für ihr
eigenes inneres Gleichgewicht sorgen, vor allem, wenn die
Beziehung zu einer Dreierbeziehung wird, in der alle Beteiligten
Bescheid wissen. Ich bin da nicht moralisch, und es hat auch
keinen Sinn, Menschen davor zu warnen. Ob eine Dreier-
Beziehung, die riskiert und eine Zeit lang gelebt wurde, gut ist
oder nicht für die Beteiligten, kann man immer erst hinterher
beurteilen. Auch Ratschläge sind in einer solchen Situation
sinnlos: Man sollte die Beteiligten schon sehr gut kennen, bevor
man einen Ratschlag wagt.

Ich verurteile auch Leute nicht, die treu leben. Das soll kein

Leser aus meinen Äußerungen schließen. Treue und Untreue
sind Aspekte der abendländischen Kultur, und beides kann die
Verfehlung des eigenen Lebenssinns bedeuten. Den Sinn eines
Lebens kann nicht die Gesellschaft vorgeben. Diesen Sinn muss
sich jeder selbst erobern und erarbeiten.

In unserer kirchlich und patriarchal geprägten Kultur wird bis

heute das Prinzip Treue vertreten. In Bezug auf das »Problem«

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Untreue ist unsere Kultur hilflos. Aus der linken Bewegung
heraus erschien 1984 ein Sonderheft der Zeitschrift Konkret zum
Thema »Sexualität«. Darin gibt es ein Kapitel zu »Wahn und
Treue«. Herman Gremlitzer schreibt zu diesem Thema über die
Doppelmoral des Journalisten Springer, der sexuell
ausgerichtete Kontaktanzeigen veröffentlicht und sich zugleich
in diversen Artikeln sittlich entrüstet. Auf diese Doppelmoral
weist Gremlitzer hin, auf die persönliche Ebene von Treue und
Untreue wagt er sich nicht. Martin Walser bringt zum Thema
Treue Folgendes vor: »Das Konservendosenhafte Liz Taylors
und das Liz- Taylorhafte Romy Schneiders immunisiert mich
vollkommen gegen den Gestütsnaturalismus Brigitte Bardots.«
Mehr schreibt Walser nicht. Christel Dormagen äußert sich über
die frauenfeindliche Sprache eines gewissen Gernot Geilers und
polemisiert gegen eine sexuelle Geschwätzigkeit, die das
Verlangen austreibt. Meiner Erfahrung nach ist Polemik gegen
Geschwätzigkeit meist eine Polemik gegen den intensiven
gesprächsmäßigen Austausch von Menschen über Probleme. Die
vierte Stellungnahme zur Treue besteht aus einem Wortspiel zu
Treue und Wahn, wo Soldaten zum Stichwort Wahn der
Flughafen bei Köln einfällt.

Also bereits vier Stellungnahmen, ohne dass dabei etwas

Substanzielles über Treue und Untreue gesagt wird. Der einzige
für mich ernst zu nehmende Beitrag stammt von Peggy Parnass:
»Treue ist was für immer und immer und immer... Meine Mutter
war genau so. Sie hat sich freiwillig umbringen lassen. War gar
nicht mitverhaftet, hat sich aber darum gedrängt, auch verhaftet
zu werden, um bei ihm bleiben zu können. Das ist für mich
Treue.«

Auch der Männerforscher Herb Goldberg äußert sich in

seinen Schriften zu Treue und Untreue. Er behauptet, der Mann
sei frühzeitig auf Polygamie konditioniert, ohne den Beweis
dafür anzutreten. Er meint, der Mann müsse sich der Frau
unterwerfen, versuche stets, sich den Bedürfnissen der Frau

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anzupassen, weil ein Seitensprung ein Bombardement von
Schuld- und Selbsthassgefühlen nach sich ziehe. Ich will auf die
Argumentation nicht eingehen, vieles schreibt er einfach so,
ohne es zu belegen. Meiner Einschätzung nach hat er das
verfasst, um gegen die Feminismus-Bewegung anzuschreiben,
aber er hat nicht begonnen, über das Problem nachzudenken.

Auch Theodor Reik liefert in »Geschlecht und Liebe« nur

Klischees. Er vertritt zum Beispiel die Meinung, dass Frauen
toleranter seien, weil sie die Erkenntnis hätten, dass Männer sich
gern frei fühlen und nicht daran erinnert werden wollen, dass sie
gebunden sind. Also ich kann weder eine größere Toleranz bei
Frauen beobachten, noch meine ich, dass sie toleranter sein
müssten.

Reik meint auch, dass Frauen nur selten so stark eifersüchtig,

so zornig und selbstquälerisch sind wie Männer. Das erscheint
mir als Frauenidealisierung. Frauen leiden, toben und quälen
sich ebenso wie Männer. Dann meint Reik noch, dass bei
Männern das Bedürfnis nach Abwechslung stärker sei, weil sie
einen stärkeren Geschlechtstrieb hätten. Dem kann ich nur
entgegenhalten, dass die Männer aus der Männerbewegung
genau das Gegenteil behaupten. Frauen seien unersättlich in
ihrem Geschlechtstrieb und würden die Männer verschlingen,
schreibt zum Beispiel Walter Hollstein in »Nicht Herrscher aber
kräftig«.

Es gibt also nicht viel, an das man sich halten kann, wenn es

um das Thema Untreue geht. Untreue, Sehn-Sucht und
Verliebtheit sind aber drei Dinge, die nach meiner Beobachtung
oft zwanghaft zusammenhängen.

Der Mann verhält sich in Fragen der Sehn-Sucht und Untreue

ebenso, wie er auch sonst im Leben steht. Wenn er seine
Mitmenschen normalerweise rücksichtsvoll behandelt, dann
wird er auch in der Dreier-Situation rücksichtsvoll,
verantwortungsbewusst und beziehungsvoll handeln. Wenn er
sich sonst rücksichtslos verhält, wird er auch Untreue

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unverantwortlich oder gar brutal handhaben. Sehn-Sucht und
Untreue können also Zeichen von Kraft sein und ebenso
Zustände seelischer Armut, Verwirrtheit und Schmerz. Sie
können neurotische Phänomene oder eine Aktualneurose sein,
die in einer Lebenskrise auftaucht.

Sehn-Sucht und Untreue sind meist nicht bewusst gewollt,

sondern werden unbewusst angesteuert, installiert, arrangiert
und haben immer mit unserem Lebensplan zu tun. Wenn wir
verstehen wollen, warum wir untreu werden oder treu bleiben,
müssen wir uns einen psychotherapeutischen Zugang zum
Unbewussten verschaffen. Sehn-Sucht und Untreue haben mit
Gefühlen zu tun, sind aber keine reinen Gefühlsakte. Sie haben
mit Lebensstimmungen zu tun, mit Illusionen, mit realistischen
Lebenssichten ebenso wie mit aktiven eigenen Leistungen.
Sehn-Sucht und Untreue sollten nicht mit Liebe verwechselt
werden. Sie enthalten oft keine Bewegung mehr auf die geliebte
Person zu.

Liebe dagegen ist Bewegung auf die geliebte Person zu.

Indem man Kontakt aufnimmt, das Gespräch aufnimmt, sich
dem Problem stellt, den Gesprächspartner ernst nimmt und
Mitverantwortung für die Beziehung übernimmt. So verstehe ich
Liebe, und das ist oft in Sehn-Sucht und Untreue nicht mehr
enthalten.

Letztlich ist aber immer die Treue sich selbst gegenüber

wichtig. Man kann von niemandem die Lösung seiner
persönlichen Probleme erwarten. Ein Phänomen wie die Liebe
ist eine lebenslange Aufgabe, eine Kraftanstrengung, ein
Bemühen, sich selbst zu begreifen. Das kann man nie als
erledigt abhaken: In neuen Lebensphasen ergeben sich neue
Probleme, und in Konfliktfällen wie Treue und Untreue sollte
man sich immer wieder zu einer gewissen Offenheit sich selbst
gegenüber, zu einer Treue zu sich selbst durchringen. Die Frage
lautet immer wieder: Was sind unsere Ängste? Was versuchen
wir zu vermeiden? Was wollen wir eigentlich nicht

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aussprechen?

Treue zu sich selbst heißt auch Treue zu den eigenen Werten.

Werte, die man für sich als gültig anerkannt hat, die man jähre-,
vielleicht jahrzehntelang gelebt hat, sollte man nicht einfach
fallen lassen. Man muss auch seinen Kräften treu bleiben, sollte
nicht Raubbau am Körper betreiben, seinen Geist nicht
überanstrengen und seiner Seele nicht zu viel zumuten. Untreue
und Dreierkonstellationen bringen erhebliche Unruhe ins Leben,
sie kosten Kraft. Wer nur bei seiner Geliebten Kraft und
Erholung findet, muss sich fragen, ob er sie ausnutzt und warum
er nicht selbst für Muße und Freude in seinem Leben sorgen
kann.

Treue zu sich selbst ist auch, sich Gewohnheiten anzueignen,

die man für sich als günstig erkannt hat: dass ich zum Beispiel
in Ruhe frühstücke oder am Samstag mit meiner Partnerin etwas
unternehme oder zweimal die Woche mit Freunden Fußball
spiele.

Treue zu sich selbst bedeutet, dass man versucht,

Schuldgefühle und neurotische Störungen abzubauen,
gegebenenfalls mit fremder Hilfe. Dass man sich seine
Lebensmöglichkeiten immer wieder vor Augen führt, auch die
Möglichkeiten, die man bisher noch nicht ergriffen hat. Treue
und Untreue sind solche Möglichkeiten, die man in Erwägung
ziehen kann.

Treue zu sich selbst heißt, ein Leben mit Sinn zu führen, mit

Selbsterkenntnis und mit Menschenkenntnis.

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Trennung: Flucht oder Rettung?

Es ist sehr schwierig und aufwändig, eine Beziehung

zwischen Mann und Frau über längere Zeit zu führen. Auf diese
Aufgabe werden wir in unserer Kultur nicht vorbereitet. Man
bekommt als Kind mit, dass es wohl angebracht ist, sich mit
einer Partnerin, einem Partner zusammenzutun. Aber wie diese
Beziehung zu führen ist, wo die Klippen liegen und wie die
Probleme zu lösen sind, das lernt man nicht. Selbst im Fach
Psychologie an der Universität fehlt Partnerschaft im
Vorlesungsverzeichnis nahezu völlig.

Weil das Führen einer Beziehung so schwierig ist, trifft man

auf sehr wenige Beziehungen, die über 20 Jahre bestehen und
lebendig sind. Ich formuliere jetzt sogar die These:
Wechselseitiges Missverstehen in der Partnerschaft ist die
Normalität, wechselseitiges Verstehen die Ausnahme.

Aus vielen Trennungen können wir schließen, dass es

zwischen den Partnern so schwer wiegende, unlösbare Probleme
gibt, dass sie sich schließlich nicht mehr umeinander bemühen.
Vielleicht sind es aber gar nicht die Probleme. Vielleicht erleben
die beiden auch zu wenig Freude miteinander, und es kommt
deshalb zur Trennung?

Trennung wird manchmal überhöht und als großes Unglück

empfunden. Eine Trennung aber ist kein Unglück, sie ist eine
ganz normale Lebenskrise, die man mit Hilfe anderer Menschen
durchstehen kann. Manche Menschen nutzen die Gelegenheit,
dass jemand sich von ihnen getrennt hat, um sich völlig gehen
zu lassen. Daran ist aber nicht die Trennung schuld, sondern die
Charakterstruktur des Betreffenden, der sich nicht wieder
aufrappelt.

Nicht in jeder Beziehung geht es gleich um trennen oder nicht

trennen. Oft haben sich die beiden einfach auseinander gelebt.
Das Problem ist, dass jeder vom anderen erwartet, dass er auf

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seine Gefühle und Bedürfnisse eingeht, ohne sich seine eigenen
neurotischen Charakterzüge bewusst zu machen, geschweige
denn, in einer Therapie einmal zu besprechen. Eine solche
Therapie würde ja Arbeit machen.

Ich bin hier weit davon entfernt, Frauen und Männern

einseitig die Schuld zuzuweisen. Zu einer Beziehung gehören
immer zwei, und oft ist es so, dass beide Hilfe brauchen.

Viele Menschen trennen sich trotz großer Schwierigkeiten

nicht. Da können Verzweiflung, Unglück, Leblosigkeit in der
Beziehung oder Krankheiten herrschen. Doch die Ursachen für
die Probleme werden nicht in der Beziehung oder in der Person
des Partners gesehen. Beide verdrängen, dass eigentlich eine
Trennung notwendig wäre. Sie haben Angst davor.

Zwei Menschen, die in einer Beziehung leblos und

unglücklich sind, die wenig Freude miteinander haben, tragen
eine schwere Last. Die Verantwortung, die Schuld dafür möchte
ich nie einem der beiden zuschreiben. Es sind immer beide
beteiligt. Die Partnerschaft wird von beiden errichtet, sie leiden
beide darunter und oft nicht nur sie, sondern auch die Kinder
und andere Menschen, die mit den beiden zu tun haben.

In unserer Kultur spielt auch die Religion beim Thema

Trennungen oft eine große Rolle. Häufig unterstützen religiöse
Kreise zwar die Zusammenführung von Menschen, die
Trennung aber nicht. Trennungen sind ein Tabu: »Was Gott
zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.«

Ein häufig vorgebrachter Grund für Trennungen ist: Die

Partnerwahl war falsch. Im therapeutischen Gespräch zu dritt
werden dann oft Klagen und Anklagen formuliert. Wenn man
mit den Partnern einzeln spricht, werden noch mehr Anklagen
formuliert. Die Frau klagt den Mann an, der Mann klagt die Frau
an, und meistens haben beide ein bisschen Recht und ein
bisschen Unrecht. Im Therapiegespräch darf man ja auch einmal
klagen. Verräterisch wird es, wenn an der Partnerin kein gutes

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Haar mehr gelassen wird. Warum haben die beiden sich dann
zusammengetan? Sie sind ja schon eine Zeit zusammen, und
jetzt ist alles Mist? Es kann hier zu einer
Wahrnehmungsverzerrung kommen bis hin zu der Strategie, den
anderen loszuwerden oder in die Knie zu zwingen. Es scheint
vergessen zu sein, was das Liebenswerte am anderen war.

Hinter den Anklagen stehen meist andere Gefühle: Woraus ist

die Abneigung entstanden? Woher kommen die
Distanzwünsche? Diese Frage ist oft zu beantworten:
Distanzwünsche entstehen, weil die Nähe zu dicht war. Die
meisten Menschen leben zu dicht beisammen, und für diese
Dichte reicht das Wort »Symbiose« nicht. Denn Symbiose ist
eine Gemeinschaft zu wechselseitigem Nutzen. Aber viele
Menschen führen eine Lebensgemeinschaft zu gegenseitigem
Schaden und in den Trennungs-Szenarios erlebt man dann
glühenden Hass. Aber je größer der Hass erscheint und je
engagierter sich die beiden anklagen, desto eher sind dahinter
noch starke Gefühlsbindungen zu vermuten. Die Gefühle sind
oft noch da, weil auch die Gründe, weswegen die beiden sich
gewählt haben, weiterhin bestehen.

Wenn ein Paar sich trennen will, sind die Probleme meist

nicht nur aus der aktuellen Sit uation gespeist, sondern auch aus
unbewussten Quellen und Kindheitserfahrungen.
Kindheitserforschung aber ist absolut notwendig, um
herauszufinden, welche Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte
der Mann mit der Partnerwahl verbindet.

In dieser Richtung findet aber in unserer Kultur keine

Aufklärung statt, eher sogar eine Verdummung. Kinder finden
oft eine schizophrene Situation vor: Die Eltern sind nicht
glücklich miteinander, reden nicht miteinander, arbeiten
Konflikte nicht durch, ja gehen sich aus dem Weg. Dieselben
Eltern schwärmen den Kindern vor, wie wichtig es ist, einen
Partner zu finden, wie toll die große Liebe ist. Die Kinder
werden nicht auf Schwierigkeiten vorbereitet und wie man diese

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löst, sondern es wird ein romantischer Dunst erzeugt: Wenn ein
Mann eine Frau findet, ist er glücklich und zufrieden.

Die meisten von uns treffen keine realistische Wahl, sondern

wählen Traumbilder. Wir sind alle sehr gut in der Lage, unsere
Traumbilder auf reale Personen zu projizieren. Außenstehende
sehen das manchmal und warnen, aber das wird nur selten
gehört. Die Verliebtheit hält meist nicht lang, und in der realen
Beziehung verschwinden die Illusionen allmählich. Doch die
Traumbilder kommen immer wieder hoch, sie halten 20, 30, 40
Jahre lang. Ab und zu tritt die reale Person hervor, aber das ist
dann nicht auszuhalten, und so wird das Traumbild wieder davor
gestellt. Anstatt dass man die Kinder aus unerfüllten
Bedürfnissen heraus Traumbilder erzeugen lässt, wäre es
wichtiger, sie darüber aufzuklären, wie sie sich selbst und
andere Menschen besser kennen lernen.

Von den Eltern, der Schule und der Kirche bekommen wir

auch eine unrealistische Perspektive vermittelt, worauf wir dann
ein Anrecht zu haben meinen. Die Männer lernen, sich eine
Traumfrau auszumalen: »So sollte sie sein. Wenn ich die finde,
ist alles in Ordnung. Sie wird für mich da sein und auf mich
achten. Sie wird für mich Termine machen und sagen, wann ich
zum Arzt gehen muss. Sie wird mir sagen, wann ich meinen
Chef nicht mehr anpöbeln darf. Weil ich sonst die Stelle
verliere. Sie wird therapeutisch tätig sein. Sie wird sagen, wann
wir verreisen und wohin wir verreisen.« Das klingt überspitzt,
aber dieses unbewusste Traumbild wird vermittelt. Der Mann
weiß nicht, dass er das im Grunde auch selber könnte. Er müsste
das sogar selber können, um der Frau auch etwas zurückgeben
zu können. Doch der Mann lernt nur, dass er der Geldverdiener
ist. Oft hört man: »Ich habe doch immer alles gemacht. Habe
gearbeitet, Überstunden gemacht und das Geld nach Hause
gebracht. Und war nie untreu.« Er sieht seine Pflicht als erfüllt
an, weil ihn nie jemand darüber aufgeklärt hat, dass zu einer
Beziehung mehr als Geld bringen und Verwöhnung nehmen

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gehört. Nur eine Zahl dazu: Von drei Trennungen gehen
inzwischen zwei von der Frau aus.

Manchmal führen die unerfüllten Träume auch »nur« zu

einem Auseinanderleben in der Partnerschaft. Die beiden sind
sich bewusst, dass sie realitätsferne Fiktionen hatten. Nun
könnte man erwarten, dass sie sich in dieser Situation der
Desillusionierung gegenseitig helfen. Das Problem der Männer
ist aber, dass sie nicht merken, dass sie Hilfe von den Frauen
bekommen. Deshalb wissen sie auch nicht, dass sie etwas
zurückgeben sollten.

Zum Trennungsproblem werden die unerfüllten Hoffnungen,

weil viele Partner nicht über sie reden können. Es kommt kein
Gespräch zustande. Allenfalls wird geschrien, werden Türen
geknallt und wird Gewalt ausgeübt: Ein ruhiges
Konfliktgespräch zu führen, das haben wir nicht gelernt.

Es wäre Aufgabe der Schule, mit Heranwachsenden ruhige

Konfliktgespräche einzuüben. In Schulklassen gibt es viele
Konflikte und zunehmend Gewalt. Auch die meisten Eltern
können Konflikte nicht bewältigen: Sie verheimlichen
Differenzen vor den Kindern, aber die spüren, dass irgendetwas
nicht stimmt. Manchmal rasten die Eltern auch aus, schreien,
werden hysterisch oder gewalttätig, schweigen sich tagelang an:
Sie sind später Vorbild für Kinder.

Wenn in Beziehungen Probleme auftreten, schweigen Männer

häufig, und zwar zwanghaft. Die Frau will dann mit dem Mann
ins Gespräch kommen, versucht es immer wieder, wird immer
aufgeregter und hysterischer, bis er sagt: »Mit dir kann man
sowieso kein vernünftiges Gespräch führen, so wie du dich
aufregst.« Aber vorher hören die Männer nicht hin, oft
jahrelang. Auf die Frage nach Trennungsgründen antworten
Männer immer wieder: »Sie hat mir nie irgendeine Kritik
gesagt.« Und die Frauen sagen: »Ich habe es ihm immer wieder
gesagt, dass es mir so nicht gefällt und dass es so nicht
weitergehen kann, aber er hat mir nicht zugehört.«

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Das ist aus meiner Sicht der Hauptgrund für Trennungen: das

zwanghafte Schweigen des Mannes, weil er sich für emotionale
Dinge nicht zuständig fühlt, und das zum Teil aufgeregte bis
hysterische Angreifen der Frau, die allmählich ausrastet, weil sie
kein Gegenüber hat.

Manche Frauen halten solche Beziehungen sehr lange aus,

lassen sich kränken und zurückweisen, aber sie trennen sich
nicht, sondern nörgeln so lange herum und machen dem Mann
das Leben schwer, bis er die Trennung vollzieht.

Ein weiterer Grund für Trennungen sind die Gewalt des

Mannes und die Moral der Frau. Die beiden entsprechen sich,
denn die oft restriktive Moral der Frau ist auch eine Art Gewalt:
Sie macht Schuldgefühle.

Diese tiefer liegenden Gründe für Trennungen sind oft nicht

bewusst. Vordergründige Anlässe sind dann oft ganz andere.

Beziehungen mit Dritten sind häufig Anlass für eine

Trennung. Nicht jeder ist bereit, zu akzeptieren, dass die
Partnerin noch eine andere Beziehung pflegt. Das muss er auch
nicht.

Immer wieder erzählen mir Männer, was sie alles nicht

bekommen haben, was aber alles von ihnen gefordert wurde.
Richtig gesprochen haben sie mit ihrer Partnerin darüber nie,
etwa darüber, ob die Forderungen und Erwartungen realistisch
sind. Manchmal werden schon die kleinsten Versagungen in der
Partnerschaft als Lieblosigkeit gewertet, direkt ausgesprochen
oder auch unterbewusst. Deshalb ist es ganz wichtig, seine
Erwartungen zu erforschen und die Erwartungen der Partnerin
zu kennen.

Fehlende Verwöhnung ist solch eine vermeintliche

Lieblosigkeit, die eine Trennung auslösen kann. Die meisten
Männer erwarten, dass sie verwöhnt werden. In unserer Kultur
wird nicht vermittelt, dass Beziehung auch mit Zumutungen zu
tun hat, mit gegenseitigen Forderungen.

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Anlass für Trennungen ist, dass Konflikte in verletzendem

Ton ausgetragen werden: wütend, hasserfüllt, aggressiv,
kränkend, autoritär. So kommen zu den Konflikten verletzte
Gefühle, Kränkungen, Beleidigungen hinzu. Wenn die Frau
etwa spottet: »Du Schlappschwanz«, oder: »Du kriegst doch eh
keinen hoch«, dann wird der Mann gewalttätig.

Manchmal löst auch Narzissmus die Eskalation aus: Der

Mann ist übertrieben gekränkt, seine Selbstachtung ist angenagt,
und er denkt sich: »Das darf ich mir nicht bieten lassen. Die
Frau attackiert mich.« Es kommt zu Schuldzuweisungen, und
die sind fast immer an die falsche Adresse gerichtet. Meist
tragen beide die Schuld und die Verantwortung für eine
Eskalation.

Wenn sich Partner mit Problemen dazu entscheiden, eine

Therapie zu machen, sollte der Therapeut nie parteiisch sein.
Das ist etwas, was ich auch Freunden im Umfeld des Paares nur
empfehlen kann: Es geht nicht darum zu klären, wer Recht hat.
Die Aufgabe heißt, ein besseres Verständnis zwischen den
Partnern zu ermöglichen.

Wenn sich ein Paar einen Therapeuten sucht, dann empfehle

ich, sich vorher anzuschauen, wie dieser Therapeut lebt. Wenn
er eine bürgerliche Ehe führt, dann kann man nicht erwarten,
dass er offen mit einer Dreier-Konstellation umgeht. Wenn er
noch nie in einer Partnerschaft gelebt ha t, kann er sich
womöglich gar nicht in die Problemwelt des Paares einfühlen.
Nach solchen Kriterien sollte man sich den Therapeuten
aussuchen.

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War die Partnerwahl falsch?

Wenn Trennungen in der Luft liegen oder vollzogen werden,

heißt es oft: Die Partnerwahl war falsch. Meiner Meinung nach
stimmt dieser Satz beinahe nie. Eine schwierige Beziehung ist
für mich nicht der Beleg, dass die Partnerwahl falsch war. Die
Partnerwahl war meist in Ordnung, denn die Menschen wählen
oft unbewusst richtig. Natürlich kann die Partnerwahl aus
fehlender Menschenkenntnis heraus auch einmal wirklich falsch
sein. Dann sollte man nicht am falschen Partner festhalten. Jeder
Dogmatismus in dieser Frage ist mir fremd: Die Menschen
haben ein Recht, sich zusammenzutun, und sie haben genauso
das Recht, wieder auseinanderzugehen.

In der Psychologie wird weithin die These vertreten, dass in

unserer Kultur die Frau sich den Mann wählt. Auch ich bin
dieser Meinung. Deshalb muss der Mann sich fragen, sich
fragen lassen, warum das so ist. Be i Männern herrscht ein
gewisses Maß an Passivität, an Verwöhnung. Früher war die
Mutti zuständig, jetzt kommt die Frau und sagt: »Komm, wir
gehen zusammen.« Darüber sollten wir Männer nachdenken.
Natürlich geschieht das von Seiten der Frau nicht offen und
direkt: Sie gibt bestimmte Signale, und der Mann geht darauf
ein. Scheinbar - vor allem für Außenstehende - ist es so, als sei
der Mann aktiv geworden. Aber die Signale der Frau waren
vorher da, sonst wäre der Mann nicht aktiv geworden.
Unbewusst läuft bei vielen Männern ein Sich-wählen-Lassen ab,
der Mann praktiziert sozusagen eine passive Partnerwahl.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Menschen in Bezug

auf einen Partner keine Wahl, persönliche Zu- oder Abneigung
waren kein Kriterium. Die Familie wählte und setzte Kriterien
fest wie: Aus welcher Schicht kommt sie? Zu welchem Stand
gehört sie? Wie viel Geld hat die Familie, was bringt die Braut
mit in die Ehe? Aus welcher Volksgruppe kommt sie, welcher

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Konfession gehört sie an? Ist sie gesund, kann sie Kinder zur
Welt bringen? Ist sie kräftig, kann sie arbeiten?

Der Zweck einer Ehe war nicht das persönliche Glück der

beiden: Die Ehe war eine Wirtschaftsgemeinschaft, eine
gegenseitige Arbeitskraftsicherung. Die beiden
Zusammengeführten hatten keine andere Möglichkeit, als
zusammenzuwachsen. Das ist durchaus manchmal gelungen: Sie
meisterten das Leben gemeinsam, verständigten sich, ertrugen
Schicksalsschläge und unterstützten sich gegenseitig.

Auch heute noch ist es so, dass sich viele junge Männer nicht

trauen, gegen die Erwartungen der Eltern eine Partnerin zu
wählen. Die Kriterien dafür sind meist unbewusst, und ich
meine: Vielleicht sind diese alten Kriterien in manchen Fällen
ganz vernünftig. Man sollte schon ein wenig darauf schauen, mit
wem man sich zusammentut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
es günstig ist, wenn ein junger Mann, der sehr gut verdient, sich
eine Partnerin nimmt, die kein Geld hat und die auch nicht bereit
ist, zu arbeiten: So entsteht Abhängigkeit und keine
Gleichberechtigung.

Hinter die angeblich »rein gefühlsmäßige« Partnerwahl, die

der Stimme des Herzens folgt, setze ich große Fragezeichen. Da
spielen Machtprobleme eine Rolle, Geltungsprobleme,
Verwöhnung und so weiter. Zudem ist die Partnerwahl infolge
des sozialen Wandels viel komplexer und widersprüchlicher als
früher: Menschen verändern ihre Berufe, vollziehen persönliche
Wandlungen. Letzteres passiert übrigens immer wieder: Ein
Mann beginnt eine Therapie, und die Partnerin zieht nicht mit,
bleibt stehen, entwickelt sich nicht. Irgendwann hat sich der
Mann durch die Therapie weiterentwickelt und stellt fest, dass
die Partnerin noch wie früher ist. Das genügt ihm dann nicht
mehr, und er trennt sich von ihr.

Die Aufgabe eines Paares besteht darin, Probleme gemeinsam

anzugehen. O hne die Hilfe einer produktiven sozialen
Gemeinschaft schaffen die beiden das kaum. Die Eigenleistung

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von zwei Menschen müsste darin bestehen, dass sie sich eine
gemeinsame Welt aufbauen, gemeinsame Werte entwickeln,
Verhaltensweisen üben, Kompromisse schließen, sich auch
voneinander abgrenzen und Konflikte im Gespräch lösen. Das
erfordert Einsatz.

Die Aufgabe, eine gemeinsame Welt zu schaffen, löst man

nicht ein für alle Mal. Diese Welt ist jeden Tag aufs Neue zu
schaffen. Jeden Morgen muss man die Beziehung neu auf die
Beine stellen. Es ist wichtig zu wissen, dass man sich nicht
zurücklehnen kann: »Jetzt ist es gut, und jetzt sind wir
glücklich.«

Die Partnerwahl ist seitens! durchdacht und erfolgt meist

aufgrund von Zufälligkeiten, Eitelkeiten und allen möglichen
neurotischen Aspekten. Zwei Fremde tun sich zusammen und
kommen doch aus verschiedenen Welten. Die Welt des anderen
kennen zu lernen und seine eigene Welt zu vermitteln, ist eine
Aufgabe, die sehr langwierig sein kann. Selbst wenn wir in
Nationalität, Rasse, Schicht, Religion und Vermögen
übereinstimmen, sind wir im Grunde Fremde.

Die Kriterien für die Partnerwahl sind häufig sehr

bestimmend, aber selten bewusst. Manche Menschen wählen
ihre Partner sogar gegen eigene Interessen.

Ein wichtiges Kriterium bei der Partnerwahl sind psychische

Zwänge. Sie verhindern eine freiwillige Wahl. Wichtig wäre,
sich diese psychischen Zwänge bewusst zu machen, daran zu
arbeiten und sie abzulegen. Das setzt eine gewisse Reife voraus.
Diese persönliche Reife sollte auch die Partnerin mitbringen.
Das wird häufig nicht berücksichtigt, es zählen ganz andere
Kriterien.

Männer wählen oft Frauen, die ihrer Mutter ähneln, Frauen

wählen Männer, die dem Vater ähneln. Das ist häufig sehr tief
im Unterbewusstsein verankert. Das Problem ist, dass die
meisten Menschen nicht wissen, wie die Beziehung zu ihrer

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Mutter beziehungsweise zum Vater war. Im Lauf der
Partnerschaft kommt es dann zu Dejà-vu-Erlebnissen: »Das
habe ich ja schon einmal erlebt.« Die Wahl des
gegengeschlechtlichen Elternteils ist die Suche nach dem
kindlichen Paradies. Dabei ist der Ausdruck »Paradies« oft nicht
angebracht. Viele Kinder haben zu Hause gelitten, doch als
Partner wählen sie sich dann Menschen, die eine ähnliche
Situation wie zu Hause erzeugen, denn daran sind sie ja
gewöhnt. Damit können sie umgehen.

Oder es erfolgt die Gegenreaktion: Als Erwachsener will man

auf keinen Fall mehr das erleben, worunter man in der Kindheit
gelitten hat. Das kann vom Regen in die Traufe führen, weil
auch hier zwanghafte Strukturen zu einer unfreien Partnerwahl
führen.

Ein weiteres Kriterium für die Partnerwahl sind

Übereinstimmungen. Dieses Kriterium kann, auch wenn es
unbewusst abläuft, Sinn machen. Da spielt vieles aus der
Kindheit herein: die Ansicht der Eltern, der Lehrer, der Freunde.
Deshalb wird auch heute noch meist innerhalb der Schranken
des sozialen Milieus, der Herkunft, des Besitzes und der
Religion gewählt. Übereinstimmung kann sich auch auf
Äußerlichkeiten beziehen, auf die finanziellen Möglichkeiten,
auf die Intelligenz. Viele Aspekte der Übereinstimmung kann
man nur schwer beschreiben, zum Beispiel spielt der Geruch
eine Rolle, die Stimme, gewisse ästhetische Vorstellungen,
bestimmte Auffassungen und Einstellungen, Vorlieben und
Interessen. Es können aber auc h Kleinigkeiten sein, die zu einer
Übereinstimmung führen: die Vorliebe für einen Namen, für ein
Gericht, für einen Musiktitel. Besonders das Aussehen eines
Menschen kann zum Gefühl der Übereinstimmung führen: ein
voller Mund, kleine Ohren, ein blonder Haarschopf, ein
strammer Po, schlanke Beine. Solche Äußerlichkeiten sind
natürlich nicht geeignet, den passenden Lebenspartner zu finden,
aber viele Menschen wählen danach.

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Diese Übereinstimmung kann natürlich auch für das Gegenteil

gelten: Manche Männer wollen zum Beispiel auf keinen Fall
eine dicke Frau oder eine Frau mit herrischer Stimme, oder eine
Vegetarierin.

Ein weiteres Kriterium bei der Partnerwahl sind natürlich

Gefühle, und zwar nicht nur Liebe. Manche Männer suchen zum
Beispiel Angst. Ihre Angstlust ist ihnen nicht bewusst, und sie
erkennen nicht, dass sie eine Angst einflößende Partnerin
wählen. Andere Männer suchen ständig Aufregung, damit sie
nie zur Ruhe kommen müssen. Andere suchen die vollkommene
Ruhe, bis hin zur Leblosigkeit, damit sie nie aufregende
Konflikte ausstehen müssen. Die Partnerwahl kann von einem
Überlegenheitsgefühl bestimmt sein oder auch von Stolz auf die
in irgendeiner Weise herausragende Partnerin. Diese
Partnerwahl erhöht dann das eigene Selbstwertgefühl. Stolz gibt
es auch in Form eines Eroberungsgefühls, als Triumph
sozusagen, die Frau herumgekriegt zu haben. Ein häufiges
Gefühlspaar zwischen Mann und Frau ist, dass die Frau das
Gefühl haben will, dem Mann zu helfen und ihn zu retten, zu
therapieren. Der Mann sucht das Gefühl, verwöhnt zu werden.
Die Frau sucht sich dann einen problematischen Mann, und der
Mann sucht sich eine Helferin. Diese Struktur gibt es zum
Beispiel beim Alkoholiker und bei der Co-Alkoholikerin.

Typisches Gefühlsmuster bei Beziehungen ist, dass der Mann

so wählt, dass er vor den Gefühlen der Frau fliehen wird. Die
Innerlichkeit der Frau ist ihm suspekt, für Themen wie
Anhänglichkeit, Zärtlichkeit, Feinsinnigkeit oder Taktgefühl
fühlt er sich nicht zuständig. Da kann er als Gesprächspartner
nicht standhalten und flieht deshalb hinaus in die Welt, in die
Arbeit. Dort kann er rechnen, kalkulieren, organisieren,
analysieren. Die beiden leben also in zwei völlig verschiedenen
Welten. Der Mann wählt die Partnerin, die für ihn die
Gefühlsarbeit und die Beziehungsarbeit leistet, weil er das nicht
kann. Damit die beiden miteinander funktionieren, muss sie

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ganz klar akzeptieren, dass er so ist, wie er ist. Sie darf nicht
etwa von ihm verlangen, dass er auch Gefühls- und
Beziehungsarbeit leistet. Mit der Partnerwahl hat die Frau dieser
Struktur zugestimmt, und nachdem das so ist, will sie seine
Schwächen, Unsicherheiten, Zweifel, Ängste und
Hilflosigkeiten auch gar nicht sehen. Sie will einen Mann haben,
von dem sie auch etwas hat, deshalb biegt sie ihn in ihrer
Phantasie so hin, wie sie ihn sich wünscht. Sie entschuldigt ihn:
»Er ist eben so, er wird sich nicht ändern. Das muss ich eben
ertragen, ich werde ihn nicht verlassen.« Insgeheim hat sie die
Überzeugung: »Den kriege ich schon noch hin. Ich habe Liebe
für uns beide.« Dann versucht sie ihn heimlich hinzubiegen,
nimmt Zuflucht zu Tricks oder verweigert sich. Das aber ist
nicht der richtige Weg: Da fühlt der Mann sich verschaukelt,
ausgetrickst und wehrt sich zurecht.

Ostermeyer spricht in seinem Buch »Zärtlichkeit« von

»neurotischer Partnerwahl«. Meiner Meinung nach sind in
dieser Kultur fast alle Partnerwahlen neurotisch, denn sie
werden von Schwäche bestimmt, nicht von Stärke. Die Wahl der
Partnerin erfolgt aus dem Bedürfnis nach Vervollständigung und
Zuarbeit, nicht aus dem Bedürfnis, selbst kraftvoll zu sein und
etwas abgeben zu können, aus dem Bedürfnis, dass die Partnerin
sich freut und dass sie Glückserlebnisse hat.

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Trennungsarten

Nach einer Trennung tritt an die Stelle der Liebe, die

angeblich da war, häufig tödliches Beleidigtsein. An die Stelle
des Zusammenseins, das oft ein Gefängnis war, tritt die absolute
Trennung. Vorher haben die beiden sich geliebt, dann kommt
ein Eklat, ein riesiges Problem, und einer oder beide sind tödlich
beleidigt.

Ich glaube, das sind Menschen, die mit so viel Größenwahn

leben, dass sie bei der kleinsten Zumutung schon umkippen. In
der Psychoanalyse nennt man das narzisstische Kränkung, und
das ist ein Charakterfehler. m

USS

das so sein? Müssen es immer

die Extreme sein: absolute Nähe und dann absoluter
Kontaktabbruch? Ich kann mir auch eine andere Variante
vorstellen, wenn es sich um zwei einigermaßen stabile
Persönlichkeiten handelt: Die beiden könnten in einer lockeren
Beziehung bleiben. Das wäre keine Beziehung mehr, in der sie
immer nur füreinander da sind. Doch hier liegt das Problem:
Männer brauchen die Therapeutin, um mit ihrer psychischen
Situation fertig zu werden. Und Frauen scheinen die feste
Bindung zu brauchen, in der sie jemanden umsorgen können.

Warum immer diese radikale Trennung? Warum können aus

Partnerschaften nicht Freundschaften entstehen? Warum ist man
dermaßen erbost und beleidigt, dass man diese ehemals geliebte
Frau überhaupt nicht mehr ertragen kann? Warum kann man
nicht die Sachen, die gut waren, weiter miteinander praktizieren,
etwa zusammen ins Theater gehen, zusammen eine Radtour
machen oder miteinander ins Bett gehen? Warum immer dieses
Klammern oder die absolute Trennung? Ich plädiere dafür,
darüber nachzudenken, warum man mit der Partnerin, mit der
man so lange zusammen war, nicht wenigstens einen lockeren
Kontakt hält.

Die lockere Bindung könnte auch mit Zärtlichkeit und

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Sexualität zu tun haben, ohne Verpflichtung. Es wäre doch
schön, wenn zwei eine Freundschaft aufbauen könnten, sich
gegenseitig frei lassen würden und sich gleichzeitig auf die
Suche nach einem anderen Partner, einer anderen Partnerin
machen würden. Man könnte diese Freundschaft sogar aufrecht
erhalten, wenn man eine neue so genannte feste Bindung
eingeht.

Aber wir leben in einer Kultur der zwanghaften Treue-Moral,

deshalb ist das schwierig. Ein Mensch darf nicht zwei
Beziehungen gleicher Intensität haben, und er darf im Grunde
auch nicht zwei freundschaftliche Beziehungen gleichzeitig
leben. Warum jedoch diese strikte Moral des Alles oder Nichts?

Die Gleichsetzung von Sexualität und fester Bindung ist im

Grunde Religion - »aus der Not geborene Unselbstständigkeit
schwacher Menschen« habe ich das genannt. Beziehung war in
unserer Kultur immer schon Unfreiheit, absolute Treue und die
Pflicht, gebunden zu sein. Dieses Muster nehmen wir als Kinder
in uns auf, wiederholen es bei der Partnerwahl und leben es
unseren Kindern wieder vor.

Eine Alternative zum Klammern, das irgendwann die absolute

Trennung provoziert, sind vorübergehende Trennungen. Man
kann ja ruhig eine enge Bindung haben und auch viel zusammen
sein, aber warum soll man nicht jede Woche zwei, drei Tage
getrennt verbringen? Oder warum trennt man sich nicht für ein,
zwei Wochen, wenn man merkt, dass es langweilig, belastend,
nervend oder sogar gewalttätig wird? Dann lebt jeder für sich,
wird sich über sich klar und entwickelt vielleicht auch wieder
Sehnsucht.

Doch diese zeitweiligen Trennungen erfordern einiges.

Zunächst einmal muss das Gespräch darüber stattfinden. Es hat
keinen Zweck, wenn der Mann das macht, ohne die Frau
darüber aufzuklären. Dann kommt bei der Partnerin
verständlicherweise Angst auf. Wir müssen also unser
Schweigen aufgeben und zugleich dabei vorsichtig vorgehen:

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-293-

Wenn ein Mann nach Jahren des Zusammenlebens sagt: »Du,
ich will mich jetzt einmal ein paar Wochen trennen«, ist das eine
Zumutung für die Frau. Und will man eine Frau kennen lernen,
kann man nicht voraussetzen, dass sie vollkommen gelassen
darauf reagiert, wenn man ankündigt: »Ich bin gewohnt, mich
alle paar Tage zu trennen.« Auf vorübergehende Trennungen
muss man sich gemeinsam einigen, sonst gefährden sie die
Beziehung, anstatt sie zu stabilisieren.

Voraussetzung für vorübergehende Trennungen ist auch, dass

beide eine gewisse Selbstständigkeit haben und einander nicht
neurotisch brauchen. Der Mann sollte zumindest fähig sein,
Kaffee zu kochen und die Fertigsuppe aufzubrühen. Eigentlich
müsste es ja überhaupt so sein, dass zwei Menschen in einer
Beziehung leben, die so selbstständig sind, dass sie einander
nicht brauchen. Bei manchen Männern ist das nicht gegeben:
Die sind so unselbstständig, dass die Frau ihnen sagen muss,
was sie heute machen, was sie morgen anziehen sollen und
wohin sie nächsten Monat zusammen in Urlaub fahren.
Menschen, die sich vorübergehend trennen, müssen für sich die
Verantwortung übernehmen können und ein wenig mehr auf die
Beine stellen, als nur vor dem Fernseher zu sitzen.

Die vorübergehende Trennung darf auch nicht zur

gegenseitigen Kontrolle führen: Ständige Anrufe mit
Nachfr agen wie: »Wo warst du? Was hast du gemacht? Mit
wem?«, sind nicht der Sinn vorübergehender Trennungen.

Trotz der Trennung, der vorübergehenden Distanz und Ferne

müsste auch die Kraft da sein, für die Partnerin Verantwortung
zu fühlen. Wenn es ihr zum Beispiel schlecht geht, sollte man
für sie da sein. Das darf natürlich nicht zum Dauerzustand
werden, dass es dem einen schlecht geht, damit der andere
immer für ihn da ist.

Es muss auch die Kraft da sein, die Verbindung immer wieder

herzustellen. Nicht, dass einer die Trennung will mit dem
Hintergedanken: »Da soll sie mal sehen, wie's ihr geht. Dann

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soll sie mal kommen.« Beide sollten die Kraft und auch das
Interesse haben, die Bindung immer wieder herzustellen.

Ich bin, wie bereits erwähnt, ein Befürworter vo n getrennten

Wohnungen. So kann man die zeitweiligen Trennungen und das
Sich-wieder-Begegnen sehr gut gestalten.

Abschließend möchte ich noch näher darauf eingehen, warum

Trennungen oft vermieden werden, obwohl sie vielleicht nötig
wären. Menschen leben mit der Illusion, dass nach einer
Trennung ihr ganzes Glück zerstört ist, dass danach ihr
glückliches Leben zu Ende ist. Sie halten die aufkommende
Verzweiflung nicht aus, das Alleinsein wird zur Einsamkeit und
zum Schmerz.

Vor allem Männer sind nicht in der Lage, Trauerarbeit zu

leisten, viele wehren sich gegen Tränen. Ein Mann, der weint,
gilt auch heute immer noch nichts. Ein bekannter Fußballer, der
einmal Tränen zeigte, wurde von seinen Kollegen öffentlich als
Heulsuse beschimpft und fertig gemacht.

Es wird sogar empfohlen, Trennungen nicht durchzusprechen.

Ostermeyer zum Beispiel empfiehlt: »Nur eines macht das
Weiterleben möglich: Alle Spuren und Erinnerungen an den
Geliebten tilgen, ihn auslöschen, als wäre er nie gewesen.« Das
ist eine typisch männliche Stellungnahme, die ich als krankhaft
empfinde. Natürlich ist Durcharbeiten angebracht. Im
Zusammenhang mit einer Trennung kommen Gefühle hoch,
beispielsweise Hoffnungen, Verzweiflungen, Ängste, Wünsche,
da kann man sich selbst besser kennen lernen und
weiterentwickeln.

Trennungen werden auch vermieden, weil Arbeitsteilung

herrscht. Der Mann bringt das Geld, die Frau ist für Kinder und
Gefühle zuständig, das hat sich gesellschaftlich eingespielt, nach
diesem Muster laufen viele Beziehungen. Das zu durchbrechen,
kostet viel Kraft. Man muss plötzlich auch die Arbeit des
anderen im eigenen Leben übernehmen. Die Frau muss sich um

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das Geld sorgen, der Mann um den Haushalt, um die Gefühle,
um den Kontakt zu den Kindern.

Auch das soziale Umfeld übt oft einen massiven Druck aus.

Die eigene Familie, die Nachbarn, die Freunde, sie alle
vermitteln einem, dass man zu dieser Frau gehört, dass man ihr
treu sein muss. Wer das durchbricht und die Frau verlässt, ist der
Böse, den alle verurteilen. Mit der Entscheidung zur Trennung
schwimmt man also unter Umständen ganz allein gegen den
Strom.

Dahinter steht die Partnerschaftsideologie dieser Gesellschaft.

Sie vermittelt uns: »Wenn du dich mit einer Frau zusammentust,
hast du die Chance, glücklich zu werden.« Ohne Frau geht das
nicht. Dieses Ideal ist mehr oder weniger bewusst in uns:
»Ewige Liebe zweier Menschen.« Andere Beziehungen haben
wir selten oder nie erlebt: Beziehungen mit Abstand und
Freiheit, geprägt von gegenseitiger Verantwortung und
Feinfühligkeit. Uns wird beigebracht, dass wir eine Partnerin
brauchen, und dazu gibt es dann Buchtitel wie »Das Ich wird
erst Ich durch ein Du«. Die marode Paarbeziehung, die beinahe
nie funktioniert, wird idealisiert und so dargestellt, als ob sie
notwendig wäre, als ob des Menschen Natur so sei.

Wer heute ohne eine feste Partnerin lebt, wird geschmäht:

»Warum hast du keine Freundin? Hast du ein Problem?« Auch
das Getrenntleben von Partnern wird nicht hingenommen:
»Warum zieht ihr nicht zusammen? Warum heiratet ihr nicht?«
Wer dann gar in größeren Gemeinschaften zu dritt oder
mehreren zusammenwohnt, wird sogar als gefährlich und
pervers hingestellt. Wohngemeinschaften sind fast nur noch
unter Studenten geduldet.

Zweierbeziehungen entsprechen der gesellschaftlichen Norm,

und wer sich trennt, sprengt die Norm. Das wiederum braucht
enorme Kraft, die nicht jeder aufbringen kann.

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Das Altern des Mannes

So sollst du, munterer Greis, dich nicht betrüben, sind gleich

die Haare weiß, doch wirst du lieben.

Johann Wolfgang von Goethe

Männer haben Angst vor dem Älterwerden, verdrängen es und

laufen deshalb Gefahr, ihr Alterwerden nicht aktiv zu gestalten.
Als Ehemänner und Väter überlassen sie die Gestaltung der
Beziehung oft den Frauen. Doch es ist wichtig, sich mit dem
Alterwerden auseinander zu setzen. Frauen werden zum Teil
besser mit dem Alterwerden fertig, weil sie oft schon mit dem
Weggang der Kinder gezwungen werden, sich eine neue
Aufgabe und neue soziale Kontakte zu suchen.

Weithin unbekannt, aber mittlerweile wissenschaftlich

erwiesen ist, dass auch Männer ein Klimakterium, also
Wechseljahre durchleben. Zwischen 45 und 55 Jahren kommt es
auch bei ihnen zu Veränderungen im hormonellen Haushalt. Das
verursacht wie bei Frauen verschiedene psychosomatische
Erscheinungen. Männer sollten darauf vorbereitet sein, sonst
kann es zu schweren psychischen Einbrüchen und Krisen
kommen.

Das Altern ist natürlich zunächst ein körperliches Phänomen.

Der Körper weist Mangelerscheinungen auf, man wird
gebrechlicher, man verliert auch in geistiger Hinsicht. Wer
glaubt, er baue nur körperlich ab und bleibe geistig fit, macht
sich etwas vor: Man bleibt nur dann geistig gesund, wenn man
auch körperlich fit bleibt. Wir müssen uns also im Alter ganz
besonders um unsere körperliche Befindlichkeit kümmern.

Das Beste, was ich jemals zum Altern gelesen habe, stammt

von Simone de Beauvoir: »Das Alter«. Auf dieses Buch werde
ich mich in diesem Kapitel überwiegend stützen. Normalerweise
beziehe ich mich nicht nur auf eine einzige Autorin, aber dieses
Werk erscheint mir außerordentlich bedeutsam, und ich befinde

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-297-

mich in völliger Übereinstimmung mit dem, was de Beauvoir
schreibt.

»Alte, Betagte oder Greise« nennt de Beauvoir die

Altersgruppe, um die es hier geht. Wir alle halten uns da gern
heraus, und ich gehe davon aus, dass die meisten Leser jünger
sind und meinen: »Alter? Geht mich nichts an.« Keiner hält sich
für alt, keiner will alt sein. Man spricht nicht von älteren
Menschen. Alter ist ein Tabu, man ist höchstens weniger jung.

Anstatt uns mit dem Alter zu beschäftigen, üben wir uns in

Selbsttäuschung: »Ich werde nicht alt, nicht schwach wie die
anderen«, reden wir uns systematisch ein. Keiner weiß, wie er
sein wird. Aber eine wirkliche Selbsterkenntnis, die wir uns für
unser Leben wünschen, erfordert auch das Verstehen des Alters
und die Auseinandersetzung mit dem Tod. Wir sollten uns nicht
nur betroffen fühlen, wir sind betroffen.

Diese Angst vor dem Alter bezeichne ich als

»Gerontophobie«. Menschen unserer Kultur schämen sich des
Alterwerdens, entwickeln Scham und Angst

als

Abwehrmechanismen, um sich nicht mit dem Alter beschäftigen
zu müssen. Es gibt auch wenig Literatur zu dem Thema. Alte
werden in unserer Kultur verurteilt zu Einsamkeit, Krankheit
und Verzweiflung. Es wird so getan, als hätten die alten
Menschen nicht die gleichen Bedürfnisse wie die jungen, die
Bedürfnisse der alten Menschen werden verdrängt. Simone de
Beauvoir schreibt: »Alte, die etwas fordern, schockieren die
Jüngeren: Wenn ältere Menschen auf Liebe, auf Sexualität, auf
Eifersucht bestehen, erscheinen sie Jüngeren oft widerwärtig,
lächerlich oder gar abstoßend.«

Die Jüngeren fordern von den Alteren eine heitere

Gelassenheit, die es erlaubt, über das Unglück der Alteren
hinwegzusehen. Verbreitet wird ein falsches Ideal des alten
Mannes: Weiße Haare, reich an Erfahrung, verehrungswürdig,
über allem stehend. Es heißt, Ruhestand bedeutet Muße und
Freude. Das kann so sein, wenn einer sich darauf vorbereitet.

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Aber die meisten alten Menschen haben einen erbärmlichen
Lebensstandard. Sie sind zwar von Berufszwängen befreit,
haben aber zu wenig Geld und Energie, um neue Möglichkeiten
zu erleben. Sie fühlen sich häufig absolut einsam, langweilen
sich, werden ausgeschlossen aus der Gesellschaft. Die Jungen
verspotten den alten Narr, der dummes Zeug faselt. Simone de
Beauvoir weist immer wieder darauf hin, dass dies erstaunlich
ist, weil wir doch alle älter werden und wissen müssten, dass wir
uns bei diesem Thema mit unserer eigenen Zukunft befassen:
»Kinder und Enkel bemühen sich kaum um die Alten, sie
bemühen sich nicht, das Los ihrer Eltern und Großeltern zu
erleichtern.« Das Abschieben in Heime ist ein grausamer Akt,
besser wäre es, zu Hause in einer größeren Lebensgemeinschaft
zu bleiben.

Wir noch nicht Alten wenden uns, wenn wir uns nicht

realistisch mit dem Alter befassen, gegen uns selbst.
Normalerweise werden wir ja auch einmal alt. Wir verdrängen
unser eigenes Altern und machen uns kein konkretes Bild.
Simone de Beauvoir schreibt: »Das Alter kommt häufig
unvorhergesehen.« Also nicht allmählich, Schritt für Schritt,
sondern als Schock, mit einer Depression oder gar mit Suizid-
Anwandlungen.

Tatsächlich erscheint vielen, wenn sie sich ihres Älterwerdens

bewusst werden, das Alter wie ein Unglück. Es ist aber kein
Unglück, es ist ein Lebensabschnitt, ein nicht zu umgehender
Lebensabschnitt, den wir auf würdige Art und Weise gestalten
sollten. Wir müssen unsere Kräfte zusammennehmen, um das
Alter zu gestalten und zu bestehen. Gelegentlich haben wir
Angst davor: Wir müssen uns ja eingestehen, dass mit dem Alter
der Tod näher kommt. Todesangst ist vermutlich die schlimmste
Angst, die wir haben können.

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Die Erotik altert nicht

Ältere Männer haben dieselben Bedürfnisse wie jüngere, das

gilt selbstverständlich auch für erotische Bedürfnisse. Man hört
immer wieder, dass sic h Menschen über die Lüsternheit der
Greise mokieren. Sexuelle und erotische Interessen der Älteren
werden von den Jüngeren als abstoßend empfunden, auch weil
der Ältere dadurch ein Rivale des Jüngeren wird. Der Ältere hat
gewisse Vorteile: Er hat vielleicht mehr Geld, ein gewisses
Ansehen. De Beauvoir: »Er hat auch noch Kraft und Potenzen
zur Liebe.« Der ältere Mann ist sich des Reizes der Frauen auf
sich bewusst, und er übt auch manchmal einen Reiz auf jüngere
Frauen aus, der, so meint de Beauvoir, aus der Sehnsucht der
Frauen nach einem lieben Vater entsteht.

Der ältere Mann, der noch Chancen auch bei jüngeren Frauen

hat, verletzt den Narzissmus der jüngeren Männer. Natürlich ist
die Sexualität der Älteren nicht mehr so animalisch, aber das
erscheint vielen Frauen eher als Vorteil: Ein älterer Mann ist
zärtlicher, weicher, behutsamer, hat mehr Zeit, nimmt sich Zeit,
ist einfach dankbarer dafür, dass er noch erotisch und liebevoll
fühlen kann.

Der ältere Mann ist häufig impotent. »Impotent« ist ein

Schimpfwort in unserer Kultur, dabei heißt es einfach, dass ein
Mann keine Erektion mehr bekommt oder nur noch eine leichte.
Der ältere Mann will deshalb mehr küssen und streicheln, die
Frau ansehen, und damit entwertet er den Koitus des Jüngeren.
Ich habe bereits ausführlich die problematische Koitus-
Fixierung der meisten Männer beschrieben. Ein Mann, der nur
den Koitus anstrebt, ist nicht zärtlich und erotisch. Der junge,
koitusfixierte Mann hat Angst vor der Impotenz des Alters,
verdrängt diese Angst und entwickelt einen Kastrationskomplex.
Die Verdrängung, den Hass auf sein künftiges Schicksal drückt
er aus, indem er den älteren Mann lächerlich macht.

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-300-

Das Traurige ist, dass dieser Mann, wenn er älter wird, sich

der Frau nicht mehr gewachsen fühlt, nur weil sein Penis nicht
mehr wächst. Er wirbt nicht mehr um die Frau. Dabei wäre es
gerade dieses Werben, die Erotik, die dem älteren Mann Freude
und Lebendigkeit bringen würde.

Das Ideal der heiteren Gelassenheit ist natürlich anzustreben,

doch das bedeutet Arbeit an sich, das kommt nicht automatisch
mit den Jahren. Lachen ist dabei ein wichtiger Punkt: Viele
Männer lachen zu wenig. Es wäre gut, wenn Männer rechtzeitig
lachen lernen würden. Lachen gehört ja zum Weisewerden,
Lachen aus vollem Halse, Lachen mit einem wirklich guten
Gefühl, Lachen aus Freude am Leben. Das kann man lernen, das
ist einem nicht immer von Natur aus gegeben, sondern ein
Lebens-, ein Therapieziel für Männer.

Heiterkeit, Besonnenheit, Weisheit und Güte sollten Männer

nicht erst im Alter entwickeln. Dazu gehört auch, sich von
Männern führen zu lassen, die schon mehr davon haben. Simone
de Beauvoir zitiert Platon: »Weise Männer sollen führen, nicht
die, die sich im Krieg ausgezeichnet haben, sondern die, die
denken gelernt haben.« Allerdings: Die he itere Gelassenheit in
Bezug auf den Körper der Frau, die gibt es einfach nicht. Wenn
bei einem Mann Liebe, Erotik und Sehnen verschwinden, hat er
sich meist selbst dazu verurteilt. Das ist ein Entschluss, eine
Resignation. Viele ältere Männer lassen die Liebe nicht mehr zu
und sterben dann ab.

Die fehlende Erektion ist kein Hinderungsgrund für Erotik.

Mittlerweile gibt es ja auch Tabletten dagegen, und ich habe
nichts dagegen, wenn Männer diese nehmen. Ich würde sie
allerdings nicht nehmen. Der Grund für diese Erektions- und
Koitus-Fixierung ist, dass die Zärtlichkeit enorm unterschätzt
wird und der Koitus überschätzt. Meiner Erfahrung nach sind
Koitus und Zärtlichkeit völlig unterschiedlich: Koitus hat nur
selten mit Zärtlichkeit und Erotik zu tun.

Ziel von Spottgeschichten, aber auch von Neid ist in unserer

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Kultur der ältere Mann, der sich Dank seines Reichtums eine
hübsche Frau angelt, dann aber seinen »ehelichen Pflichten«
nicht mehr nachkommen kann. Die Gefahr für den Älteren ist,
dass die Frau sich dann einem Jüngeren zuwendet. Simone de
Beauvoir zitiert aus Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer die
Schilderung der Hochzeitsnacht: »Und an die Arbeit ging er, bis
das Licht des Tages schien. Nahm einen Bissen, trank ein
Schlückchen feinen Klaret dann und sang aufrecht im Bette
sitzend, hell und klar und laut und küsste, koste lüstern seine
Braut, gleich einem Fohlen voller Spielereien und schwatzhaft
war er, gleich einem Elsterlein, im Nacken zitterte sein offenes
Fell, indem er sang, so laut krähte er und hell, Gott weiß allein,
was seine Maid empfand, als sie ihn sitzen sah im Schlafgewand
und in der Nachtmütz mit dem dürren Hals, vom Spiel erbaut
war sie wohl keinesfalls.«

Aber es gibt auch eine andere Darstellung, wo der Alte nicht

lächerlich und abstoßend dargestellt wird. Simone de Beauvoir
zitiert zum Beispiel Victor Hugo mit folgender Dichtung: »Sein
Bart war silbern wie ein Bach im April. Denn der junge Mann
ist schön, doch der Greis ist groß. Und man sieht Feuer in den
Augen des Jungen, doch im Äug des Greises sieht man Licht.«
Das gefällt mir: »Wie ein Bach im April«, der Mann hat seine
erotische Ausstrahlung bewahrt.

Simone de Beauvoir beschreibt im weiteren Verlauf, wie die

Gesellschaft mit älteren Menschen umgeht: Man achtet sie nicht,
hat Interesse, sie als minderwertige Menschen zu entlarven, man
tyrannisiert und zermürbt sie, behandelt sie fürsorglich. Ich sehe
solche Fürsorglichkeit sehr kritisch: Das ist eine Verwöhnung
mit dem Ziel, den alten Menschen endgültig zu schwächen. Es
gibt eine Art ironisches Wohlwollen alten Menschen gegenüber:
Man spricht dümmlich mit ihnen, nimmt sie nicht mehr ernst,
belügt sie, blinzelt sich hinter ihrem Rücken vielsagend zu.
Simone de Beauvoir sagt: »Man will, dass die alten Leute sich
jenem Bild anpassen, das die Gesellschaft sich von ihnen macht.

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Man nötigt ihnen Beschränkungen in der Kleidung auf, ein
zurückhaltendes Benehmen, die Wahrung des Scheins. Vor
allem auf sexuellem Gebiet wird Unterdrückung der erotischen
Impulse erwartet. Die Familie zum Beispiel empört sich, wenn
der Alte oder die Alte noch mal heiraten will. Man droht, ihn
oder sie ins Irrenhaus zu stecken, man sperrt ihn oder sie ein, er
kommt zu Tode... Die meisten haben ein sehr niedriges geistiges
Niveau. Sie lesen wenig, ihr Interessenniveau sinkt auf Null. Sie
können immerfort die alten Gedanken über die Krankheit und
den Tod wiederkäuen. Im Heim verfällt der alte Mensch sehr
rasch in den Zustand der Senilität.« Die Autorin macht hier also
sehr klar: Der alte Mensch kommt nicht wegen der Senilität ins
Heim, sondern er wird dort senil gemacht.

Das ideale alte Paar ist nicht ohne Erotik. Der

Geschlechtstrieb nimmt zwar ab, aber alte Menschen sind nicht
asexuell, sie bleiben geschlechtliche Wesen und wollen ihre
Sexualität befriedigen. Es gibt eben andere Befriedigungen als
den Koitus. Die Sexualität ist meist auf den anderen Körper
bezogen. Wir wollen den anderen Körper sehen und berühren,
denn der andere Körper, für den Mann der weibliche Körper,
verleiht der Welt eine erotische Dimension. Bei alten Menschen
finden oft Regressionen statt, sie regredieren auf eine kindliche
Sexualität: küssen, beißen, sich zeigen, schauen wollen und so
weiter. Das sollte man nicht abwerten, denn die kindliche
Sexualität ist genauso wertvoll wie die des Erwachsene n.

Simone de Beauvoir nennt Ziele der Sexualität, denen ich

mich anschließe:

1. Spannungen lösen, also zum Orgasmus zu gelangen und

danach entspannt zu sein.

2. Das Bewusstsein von Befriedigungen geistiger Art haben

zu dürfen, also Bilder vor meinem geistigen Auge zu haben oder
auch de facto vor mir zu haben, wie ich küsse, beiße, streichle,
liebe, geliebt werde, begehre, bewundere, werbe. Diese Bilder
sind in uns und sollten befriedigt werden. Auch die Herstellung

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dieser Bilder bedeutet eine Befriedigung.

3. Erotik ist immer Wagnis und Abenteuer, eine lahme Erotik

ist schlecht vorstellbar. Wenn Wagnis da ist, ist aber auch Angst
da. Wagnis kann auch Angstlösung sein.

4. Die Begierde nach dem anderen Körper ist das

Bewusstsein, den anderen Menschen auf diese einzigartige
Weise zu erreichen. Die Welt der beiden, die sich berühren und
befriedigen, wird eine andere. Es ist faszinierend, den anderen
zum Körper werden zu lassen. Normalerweise sind wir
Kopfmenschen, aber wenn zwei sich nackt begegnen, sich kosen
und küssen, werden sie zum Körper, und das ist ein
beglückendes Erlebnis.

5. Die Nähe zum anderen: In der körperlichen Begegnung

wird die Distanz zum anderen Ich überwunden. Es werden,
wenigstens vorübergehend, beglückende Nähe hergestellt und
die eigene Begrenztheit überwunden.

6. Ziel der Liebe und der Sexualität ist auch das Akzeptieren

des Nein-Sagens der anderen Person. Nicht jede Nähe ist
beglückend, aber das Scheitern eines Treffens kann durch Liebe
kompensiert werden. Die Wünsche der anderen Person werden
total akzeptiert, und das kann beglücken.

7. Der Mann fühlt sich als Mann, die Frau fühlt sich als Frau

bestätigt, anerkannt, gesehen. In der Sexualität ist auch
Narzissmus erlaubt. Narzissmus wird oft als etwas Perverses
hingestellt. Wenn mich aber die Partnerin schön findet, dann ist
das eine ungeheure Bestätigung des Selbstwertgefühls, eine
Aufwertung.

Aus dieser Darstellung der Grundbefindlichkeiten und des

Wesens der Sexualität folgt, dass das Alter nicht der Keuschheit
geweiht werden kann. Der alte Mann und die alte Frau begehren
zu begehren. Diesen Wunsch, zu begehren und begehrt zu
werden, halte ich für wichtig. Mann und Frau haben Sehnsucht
nach Gefühl, nach unersetzlichen Glückserfahrungen, die man

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nicht vergisst, nach erotischen Erfahrungen.

Die Begierde des anderen Körpers ist der Beweis, dass ich

noch ich bin, dass ich mir eine gewisse Unversehrtheit, eine
Jugendlichkeit bewahrt habe. Der Grund für die Keuschheit, die
sexuelle Abstinenz, ist der Ekel vor dem eigenen, alternden
Körper: Man weigert sich, den eigenen Körper für den anderen
noch existieren zu lassen, glaubt, ihn verstecken zu müssen. Das
ist ein Phänomen, das bei Frauen auch in jüngeren Jahren schon
zu beobachten ist. Simone de Beauvoir schreibt: »Der Mensch,
der geliebt wird, empfindet sich als liebenswert und überlässt
sich rückhaltlos der Liebe. Die Gefahr ist einzig die öffentliche
Reaktion.« Der alte Mensch fürchtet, sich lächerlich zu machen
in seiner Liebe, in seinen erotischen Bedürfnissen, er fürchtet
den Skandal und macht sich zum Sklaven der Gesellschaft, die
Keuschheit und sexuelle Abstinenz von ihm verlangt. Er schämt
sich seiner Begierden und leugnet sie, verdrängt sie ins
Unbewusste.

Viele Männer gewinnen ihre Erotik zurück, wenn sie eine

jüngere Partnerin erobern oder wenn sie sich von ihrer
langjährigen Partnerin trennen. Doch viele ältere Männer haben
Angst, überhaupt um Frauen, um jüngere oder gleichaltrige, zu
werben. Sie fürchten, nicht verführen zu können. Sie zögern
lange, fürchten den Widerwillen der Frau, fü rchten das
Scheitern. Die Lösung für viele Ältere ist die
Selbstbefriedigung, die ja viel einfacher und oft auch schöner ist
als der Koitus. Ich habe mit Selbstbefriedigung sehr schöne
Erlebnisse gehabt, sowohl allein als auch mit der Partnerin, die
häufig schöner als die Koituserlebnisse waren, aber das wird in
unserer Kultur immer wieder geleugnet.

Simone de Beauvoir sagt: »Je reicher und glücklicher die

Sexualität im Leben des Menschen überhaupt war, desto mehr
hält sie im Alter an.« Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass
man nie auf Sexualität und Erotik verzichten und statt dessen
darum kämpfen sollte. Ich glaube, Menschen, die stark genug

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sind, um Sexualität zu kämpfen, sind die kreativeren,
glücklicheren. Kampf hat hier natürlich nichts mit Gewalt zu
tun, meist steht ja Arbeit an sich selbst, an seinen Gefühlen und
Möglichkeiten und an der Beziehung an.

Der alte Mann kann ja nun meist nicht mehr den Koitus

ausführen, also sucht er andere Wege der Befriedigung. Männer,
die ihr ganzes Leben eine reiche Erotik leben, haben im Alter
die besseren Voraussetzungen für eine erfüllte Sexualität.
Befriedigung kann man finden in erotischer Lektüre, frivolen
Bildern, Berührungen, auch flüchtigen Berührungen,
Fetischismus, so genannten Perversionen, Betrachtungen,
Regressionen, oralen und analen Berührungen. Aufgabe der
älteren Menschen ist es, den eigenen Weg zu finden, mutig zu
sein und gegebenenfalls die Meinung anderer Leute zu
ignorieren.

Simone de Beauvoir macht auch Ausführungen zur alten

Frau: »Die Sexua lität der Frau wird biologisch weniger
beeinträchtigt als die des Mannes.« Das bestätigt auch Kinsey,
der feststellte, dass die Frau sexuell beständiger ist und mit 60
Jahren noch genauso begehren kann und Lust empfinden wie
mit 30 Jahren. Die Frau bleibt orgasmusfähig vor allem, »wenn
ihr regelmäßige und wirksame Stimulierung zuteil wird«,
schreibt Simone de Beauvoir.

Frauen stören sich viel weniger am Altern des Mannes als

umgekehrt, weil sie weniger von Äußerlichkeiten abhängig sind.
Nichts behindert die Frau, ihre sexuelle Aktivität bis zum letzten
Lebenstag zu behalten, doch Kinsey meint, dass sexuelle
Aktivitäten bei älteren Frauen seltener sind.

Der Grund für die Benachteiligung der Frau liegt darin, dass

der Mann die Frau als Objekt betrachtet und sich selbst als
Subjekt. Simone de Beauvoir schreibt: »Für die ältere Frau ist es
sogar sehr schwierig, sexuelle Partner zu haben, vor allem
außereheliche Partner zu haben, ist schwierig. Sie ist für Männer
weniger attraktiv als der Mann für Frauen. Ein junger Mann

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kann eine Frau begehren, die alt genug ist, um seine Mutter zu
sein, nicht aber eine, die seine Großmutter sein könnte.« Das ist
leider so: Mit 70 Jahren ist die Frau für die Männer meist kein
erotisches Objekt mehr. Sie hat auch meist kein Geld, einen
Prostituierten zu bezahlen, und hat viel mehr Scham und Angst,
was die Leute sagen könnten. Ihr Verlangen beherrscht sie aber
weiter, und der einzige Ausweg ist dann die Selbstbefriedigung.

Damit wird aber der Narzissmus der Frau nicht mehr

befriedigt. Simone de Beauvoir: »Aber durch Liebkosungen und
Blicke des Partners wird auch der älteren Frau, durch
Liebkosungen und Blicke, also lüsterne Blicke des Mannes,
wird nur beglückend der eigene Körper als begehrenswert
bewusst. Doch beim ersten Anzeichen einer Zurückhaltung des
Partners empfindet die Frau ihren Verfall, fasst sie einen
Widerwillen gegen sich und erträgt es nicht mehr, sich den
Blicken des Mannes auszusetzen. Selbst wenn ihr Mann sie
noch begehrt, kann ein tief verinnerlichtes Gefühl für
Schicklichkeit sie dazu bringen, sich zu versagen.« Das finde ich
sehr erschütternd. Es ist wichtig, dass wir Männer uns klar
machen, dass die Frau dann Schicklichkeit statt Lüsternheit im
Gefühl haben kann.

Einen weiteren interessanten Hinweis gibt Simone de

Beauvoir: »In Pflegeheimen, in Altersheimen nimmt die Erotik
mit dem Alter zu. Altersirresein, Dementia senilis, bringt
erotische Phantasien mit sich, weil die geistige Kontrolle
abnimmt.« Es gibt eine so genannte krankhafte Erotik, wenn alte
Menschen sic h dann öffentlich zeigen, masturbieren,
Koitusgesten machen, obszöne Reden führen, sich
exhibitionistisch verhalten. Das wird von der Umgebung heftig
und mit Ekel zurückgewiesen. Aber welche Not dahinter steckt,
das macht sich niemand bewusst. Die Sexualität alter Frauen ist
noch stärker tabuisiert als die alter Männer. De Beauvoir betont
aber: »Die Sexualität hängt eng mit der Vitalität und der
Aktivität von alten Menschen zusammen, sie sind untrennbar

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miteinander verbunden in dem geschlechtlichen Begehren.
Wenn das tot ist, stumpft auch der Mensch mit seinen Gefühlen
ab. Sexualität und Kreativität entsprechen einander.«

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30 Schritte zur erotischen Intimität

30 Schritte zur erotischen Intimität - solche Aufzählungen

bergen natürlich immer Gefahren in sich: Jede Beziehung
beginnt anders, jeder Mensch ist anders, reagiert anders. Die
erste Frage ist: Wo fängt der erste Schritt an, wo endet der 30.
Schritt? In der Disco etwa kennt man sich nicht, am Arbeitsplatz
oder im Verein wahrscheinlich schon. Ich gehe hier vom
Urzustand aus: Man kennt sich nicht.

Diese 30 Schritte können nicht allgemein verbindlich sein,

aber es ist sicher gut, überhaupt 30 Schritte zu machen. Es
müssen nicht diese sein und schon gar nicht in dieser
Reihenfolge. Diese Schritte können auch nicht an einem Tag
vollzogen werden. Wenn man von einem Zwölf-Stunden-Tag
ausgeht, dann blieben für jeden Schritt nur 20 bis 30 Minuten,
das wäre zu schnell. Diese 30 Schritte können sich Wochen oder
Monate hinziehen, ja es kann ein Jahr dauern, je nachdem, mit
welcher Impulsivität oder Angst die beiden aufeinander zu
gehen.

1. Der erste Blick

Der erste Punkt des Kennenlernens zwischen Menschen

scheint mir der Blick zu sein. Irgendwo sieht man jemanden,
und es kann passieren, dass man schon beim ersten Blick enorm
angetan ist.

Es ist wichtig, die Gefühle zu registrieren, die man bei diesem

ersten Blick hat. Sind das zugewandte Gefühle? Man verliebt
sich ja nicht in jede, die man sieht. Es wäre gut, sich bewusst zu
machen, wie man blickt: Man sollte den völlig verschlingenden
Blick vermeiden, aber auch den gänzlich ignoranten Blick, mit
dem man so tut, als ob einen das alles nichts anginge. Man sollte
freundlich blicken, und das kann man lernen: freundlich oder
lieb zu blicken oder auch zu grüßen. Es ist wichtig, sich seines
Blickes bewusst zu werden, wenn man zum Beispiel einen

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Raum betritt: Ob man an den Menschen vorbeischaut oder ob
man sie freundlich anblickt.

Der erste Blick kann auch ein Laut sein: Ein Wort, ein Satz,

ein Lachen, ein Seufzer, die Stimme, der Tonfall - das alles kann
einen elektrisieren. Auch wenn man jemanden flüchtig berührt -
im Vorbeigehen oder wenn man nebeneinander sitzt -, kann der
Funke überspringen. Oder man riecht die Frau, ihr Parfüm zum
Beispiel.

2. Der Blick zurück

Ich blicke also elektrisiert auf die eine Frau, bin fasziniert,

und jetzt ist die Frage: Erwidert sie den Blick, kann sie ihn
überhaupt erwidern? Es wäre ganz gut, sich so zu positionieren,
dass die Frau den Blick erwidern kann. Man kann sich in einer
Runde zum Beispiel ins Blickfeld setzen und auf den Rückblick
warten.

Wenn dieser Antwortblick erfolgt, sollte man sich fragen: Wie

ist dieser Blick? Interessiert, nicht interessiert?

Man kann seinen Blick auch durchaus wiederholen, aber man

wird nicht unverwandt in ihre Richtung starren, schaut mal
hierhin, mal dorthin und dann wieder zu ihr. Auch hier ist die
Ausgewogenheit wichtig: weder zu aufdringlich noch
desinteressiert. Man darf sein Interesse durchaus signalisieren
und vielleicht auch seine Faszination.

3. Ansprechen

Man erkennt durchaus am Blick, ob jemand Interesse hat. Es

kann aber auch sein, dass man kein Interesse registriert, doch
das sollte einen nicht entmutigen. Manche Menschen wirken
eben eher unscheinbar. Auf jeden Fall entsteht die
Notwendigkeit, die faszinierende Person anzusprechen.

Ich empfehle, wenn man wirklich fasziniert ist, mit der

Ansprache nicht zu lange zu warten: Im Cafe, im Kino-Foyer,
im Bus - die Situation kann schnell unwiederbringlich vorbei
sein.

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-310-

Was sagt man? Es gibt viele Möglichkeiten, und es ist

sicherlich eine Kunst, die »richtigen« Worte zu finden. Mit
welchen Worten erreicht man eine Frau, die man noch nicht
kennt?

Das richtet sich auch nach der Situation: Man kann nach dem

Weg fragen oder sich etwas Witziges zurechtlegen. Aber man
kann auch ganz direkt und einfach fragen: »Darf ich Sie
ansprechen?« - »Ja, worum geht's?« - »Ja, Sie sind mir
aufgefallen. Ich finde Sie faszinierend.«

Es ist durchaus eine Kunst, etwas Freundliches, etwas

Positives zu sagen: »Ich finde Sie sympathisch. Darf ich einmal
ein paar Worte mit Ihnen wechseln?« Wenn die betreffende
Person dann »Nein« sagt, muss man nicht sofort auf dem Absatz
kehrt machen, sondern kann durchaus eine weitere Ansprache
formulieren: »Vielleicht nachher nochmal?«

4. Einladung/Verabredung

Als Viertes könnte man eine Einladung aussprechen, eine

Verabredung versuchen: »Könnten wir nicht nach dem Film
noch in eine Kneipe gehen?« - »Ich möchte Sie zum
Kaffeetrinken einladen.« - »Ich würde gern nach dem Konzert
mit Ihnen auf ein Glas Wein gehen.« Es kann passieren, dass
man auf die Frage: »Haben Sie irgendwann Zeit?«, die Antwort
bekommt: »Nein, ich habe nie Zeit.« Da ist es gut, wenn man
sich einen gewissen Humor bewahrt: »Wie? Sie haben nie Zeit?
Auch nicht für Ihren größten Verehrer?«

Der Humor ist auch wichtig für das eigene Wohlbefinden:

Nur weil man jetzt drei Blicke gewechselt hat, darf man sich
nicht auf die Sache versteifen und auf Teufel komm raus Erfolg
haben wollen. Eine gewisse Heiterkeit sollte man sich erhalten:
Wenn es nicht klappt, ist es auch nicht so schlimm, aber eine
gewisse Hartnäckigkeit ist auch erlaubt.

Relativ frühzeitig angebracht und sinnvoll ist die Frage: »Sind

Sie gebunden oder nicht? Ich möchte Sie nicht belästigen, und

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wenn Sie mir jetzt sagen, Sie sind gebunden und es gibt keine
Chance, dann will ich Ihre Zeit auch nicht weiter
beanspruchen.« So hält man sich den Rückzug offen, und auch
für die Frau ist es nicht unangenehm.

Bei der Einladung gibt es durchaus Abstufungen: Einen

Kaffee zusammen trinken ist unverbindlicher als spazieren
gehen, eine Disco ist oft unverbindlicher als eine Kneipe. Man
muss spüren, was angebracht ist.

5. Erstes Gespräch

Wenn es mit der Verabredung klappt, dann kommt es bei

diesem Treffen zu einem Gespräch. Am Anfang steht die
Begrüßung: Es gab einen Fall, da kam der Mann mit dem Auto
zum Treffen. Es war vereinbart: Unter einer Laterne bei einem
großen Tor. Der Mann parkte das Auto in 20 Metern Entfernung
und blieb sitzen - das ist nicht besonders »entgegenkommend«.
Besser wäre es gewesen, er wäre ausgestiegen und lächelnd zu
der Laterne gegangen, an der die Frau stand.

Die Begrüßung sollte freundlich, aber nicht überschwenglich

sein. Ein Satz zu Beginn wäre etwa: »Guten Tag, ich freue mich,
dass wir uns heute treffen und uns etwas austauschen können.«

Beim ersten Gespräch sollte man darauf achten, dass man

nicht dauernd nur von sich spricht. Es ist auch nicht zu
empfehlen, gleich seine ganze Kranken- und Leidensgeschichte
zu erzählen oder von der letzten Freundin, die einen gerade
verlassen hat - das ist kein Therapiegespräch, von dem man
geheilt aufsteht. Das Gespräch sollte vielmehr aus einer Art von
unverbindlicher Konversation bestehen. Es empfiehlt sich auch
nicht, sich selbst eine Stunde lang in den höchsten Tönen zu
loben. Das Gespräch sollte ungefähr in der Mitte liegen
zwischen Kranken- und Heroengeschichte. Humor oder ein paar
Witze können die Situation im ersten Gespräch auflockern, aber
das muss einem liegen. Witze erzählen sollte nur, wer es kann
und gern macht. Gute Gesprächs themen sind der Beruf, Hobbys,

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die Familiensituation, eventuell Kinder. Und man kann natürlich
anknüpfen an die Situation, in der man sich getroffen hat: das
Konzert, der Film, der Vortrag, das sind gute Themen.

Es kommt darauf an, sowohl zuzuhören als auc h zu sprechen.

Wer zu viel spricht, nimmt sich die Chance, den anderen kennen
zu lernen. Wer zu viel schweigt, bleibt auf Distanz, gibt nichts
von sich preis. Man sollte auch darauf achten, ob die Frau
gesprächsfähig ist: Bekomme ich eine Antwort auf das, was ich
sage, oder bringt sie immer nur ihre Themen an?

Man sollte die Frau ins Auge fassen, versuchen, sie wirklich

zu sehen und zu hören und sich auch auf sie zu beziehen. Das
soll nicht zu nahe gehen, aber ein kleines Kompliment ist
durchaus angebracht, ohne zu übertreiben. Man kann sich auf
die Kleidung beziehen, auf die Haare, und dann vorsichtig
formulieren, was einem gefällt. Bei der ersten Begegnung
dürfen die Komplimente durchaus eine gewisse Distanz wahren,
aber ehrlich müssen sie sein. Wenn einem etwas nicht gefällt,
sollte man es für sich behalten und nicht in irgendwelche
bemüht witzigen Formulierungen packen. Das kann schnell in
Peinlichkeit umschlagen.

Die Kommunikation besteht nicht nur aus Worten: Wo schaut

sie hin? Schaut sie mir überhaupt in die Augen? Wie schaut sie
mich an? Fixiert sie etwas hinter mir, oder schaut sie immer auf
den Tisch? Diese Dinge geben ersten Aufschluss über die
Charakterstruktur, und davon will man ja im ersten Gespräch
einen Eindruck gewinnen. Auch wie jemand die Hand gibt - so
kräftig, dass man fast in die Knie geht, oder wie ein Stück
Kuchenteig -, das ist wie eine Visitenkarte beim ersten
Gespräch.

Ich finde auch Pünktlichkeit bei der ersten Verabredung

wichtig. Es bleibt jedem überlassen, wie lange er wartet, aber
ich denke, nach einer halben Stunde wird jeder unruhig. Wenn
man zu lange allein in der Kneipe sitzt oder irgendwo
herumsteht, wird es unangenehm, und dann sollte man auch

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gehen.

6. Interesse des Gegenübers

Beim ersten Gespräch muss man sich auch fragen: Interessiert

sie sich überhaupt für mich? Hört sie mir zu? Werde ich
wahrgenommen? In dieser Phase des Gesprächs muss man
merken, wie man behandelt wird und wie das Gefühl dabei ist.

Ich empfehle, schon im ersten Gespräch sofort einzugreifen,

wenn jemand sich asozial verhält. Wenn man unfreundlich
angesprochen, zu wenig beachtet wird, sollte man die Situation
nicht vorbeigehen lassen, ohne Einfluss zu nehmen. Hier geht es
darum, wie ich mich fühle, und dass ich mich wehre, wenn ich
mich nicht gut fühle. Man sollte sich zum Beispiel wehren,
wenn einem der Zigarettenrauch direkt ins Gesicht geblasen
wird: »Entschuldigen Sie, der Rauch ist mir unangenehm,
können Sie die Zigarette wieder ausmachen?« Bei
unangenehmen Äußerungen kann man durchaus etwas
Qualifiziertes erwidern: »Das ist mir jetzt unangenehm. Sie
waren mir erst so sympathisch, und jetzt fangen Sie an zu
jammern. Warum denn? Wollen Sie in diesem ersten Gespräch
nicht ein wenig optimistischer sein?« So etwas kann man sagen
- selbst wenn man die Frau nie wieder sieht. Das hinterlässt
garantiert einen bleibenden Eindruck, und vielleicht denkt sie
sogar darüber nach.

7. Erneute Verabredung?

Das Nächste ist die Frage, ob man sich wieder sehen will.

Habe ich Interesse? Spüre ich auch bei der Frau Interesse?
Manchmal hat man selbst keine Lust, oder man spürt: »Die wird
sowieso Nein sagen.« Dann sollte man es auch lassen. Wenn
eine zweite Verabredung in der Luft liegt, sollte man sich
überlegen, wo diese stattfinden soll.

8. Wo sich wieder sehen?

Ich rate davon ab, sofort in die Wohnung einzuladen. Ich

empfehle, erst zwei bis drei Verabredungen an neutralen Orten:

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Man kann ins Museum gehen, ins Kino, Konzert oder Theater,
spazieren gehen, sich in der Kneipe, im Cafe treffen.

Beim Kino sollte man sich sorgfältig überlegen, welchen Film

man wählt. Nichts Brutales, was vielleicht die Frau verängstigt.
Auch keinen stark erotischen Film, denn dann fragt sich die Frau
sicher: »Was will der von mir?« Ich halte eher einen
hochklassigen Film für angebracht, sodass man danach auch
Gesprächsstoff hat, sich austauschen kann.

Gleiches gilt für Vorträge, aber Vorsicht: Wenn man sehr

verschiedener Ansicht ist, dann kann es danach zu einem
Streitgespräch kommen, und das ist ganz am Anfang vielleicht
nicht so günstig.

9. Attraktivität ausdrücken

Wenn man beim zweiten, dritten, vierten Treffen ein sehr

deutliches persönliches Interesse spürt, dann wird es Zeit, dies
der Frau auch zu sagen: »Ich finde dich attraktiv.« - »Ich finde
dich äußerst interessant.« - »Ich fühle mich zu dir hingezogen.«
Oder natürlich: »Ich mag dich.« - »Du gefällst mir.« - »Ich
würde dich gern noch viel besser, viel näher kennen lernen.« Bei
aller Unsicherheit, in die man sich mit solchen Sätzen
hineinbegibt, sollte man beobachten, wie die Frau reagiert.
Wenn nur Desinteresse kommt, dann sinkt die
Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer näheren Beziehung kommt.
Wenn auch nach mehrmaligen Anläufen nichts zurückkommt,
sollte man so mutig sein zu fragen: »Wie findest du mich denn?
Ich habe dir jetzt schon mehrere faustdicke Komplimente
gemacht, und es kommt überhaupt nichts zurück. Magst du mich
überhaupt?« Wenn dann ein klares Nein kommt, braucht man
das Gespräch auch nicht mehr lange auszudehnen. Das hat
keinen Zweck: Man will ja auf Sympathie stoßen und einen
gewissen Erfolg haben. Aber es kann ja auch eine Antwort
kommen wie: »Ich bin eigentlich unwahrscheinlich schüchtern,
entschuldige bitte, dass ich dir nicht direkt geantwortet habe.
Aber ich finde dich auch recht nett.«

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Für dieses Nachfragen gibt es viele

Formulierungsmöglichkeiten: »Wie geht es dir eigentlich mit
mir?« - »Wie findest du mich?« - »Findest du mich attraktiv?« -
»Findest du mich interessant?« Oder sogar: »Findest du mich
erotisch?« - »Kannst du dir eine Freundschaft zwischen uns
vorstellen oder sogar eine Liebesbeziehung?« - »Kannst du dir
vorstellen, dass wir uns näher kommen?«

10. Nach Hause einladen

Wenn das gegenseitige Interesse klar und ausgesprochen ist,

kann man riskieren, die Frau nach Hause einzuladen: »Ich
würde dich gern zum Frühstück einladen.« Oder auch zum
Abendessen. Man muss nicht unbedingt ein Meisterkoch sein,
um jemanden einzuladen, es genügen auch einfache Gerichte.
Oder man geht ins Restaurant und danach zu sich nach Hause:
»Ich habe da einen feinen Likör, den könnten wir ge meinsam
probieren.« Ob in ihre oder in seine Wohnung, das ist egal.
Frauen haben oft das Interesse, die Wohnung des Mannes
kennen zu lernen.

11. Mitbringsel

Wenn man zum ersten Mal in die Wohnung der Frau kommt,

ist es angebracht, ein kleines Geschenk mitzubringen. Das kann
Konfekt sein oder Blumen. Das Geschenk sollte nicht zu intim
wirken.

12. Die erste Berührung

Zu Hause kann es zur ersten bewussten, gewollten,

selbstbestimmten Berührung kommen: Diese muss so sein, dass
sie Freiheit lässt und Freiheit stiftet.

Das kann am Tisch sein, indem man seine Hand auf die Hand

der Frau legt - oder vielleicht auch nur daneben, aber so, dass sie
spürt, dass die Berührung kein Zufall ist. Bekommt die Frau
einen Schreck und zieht die Hand zurück, dann ist das ein
sicheres Zeichen, dass man weitere Berührungen sein lassen
sollte. Wenn sie die Hand ohne erkennbare Reaktion liegen

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lässt, sollte man den Mut aufbringen, nachzufragen: »Ist dir das
angenehm?«

Die ersten Berührungen sollten sehr zart und vorsichtig sein -

immer im Nicht-Wissen: Wie kommt das jetzt an? Dabei sollte
man alle Gefühle und Reaktionen registrieren: Wie fühlt sich
das an, ist die Berührung angenehm? Wie reagiert die Frau,
welche Gefühle zeigt sie, was bringe ich zum Ausdruck? Ist es
ihr angenehm? Man kann seine Freude ausdrücken, sollte aber
auch darüber sprechen, wenn Berührungen zurückgewiesen
werden: »War dir das unangenehm? Warum?« Sehr gut ist,
wenn man bei Zurückweisungen eine gewisse Leichtigkeit,
einen Humor bewahrt und weiterträgt ins Gespräch.

13. Vorsichtiges Streicheln

Wenn klar ist, dass die Berührung für beide angenehm ist,

kann man als Nächstes den Arm berühren oder die Schulter.
Vielleicht folgt ein vorsichtiges Streicheln der Hand, der Haare,
der Wangen - aber immer erst an den peripheren
Körpergefilden, nicht gleich in den geschlechtsspezifischen
Regionen. Intime Bereiche sollte man auf jeden Fall noch
meiden.

Die erste Berührung erscheint noch nicht so gezielt und

gewollt, aber mit den nächsten Berührungen will man dann
schon etwas. Man streichelt die Hand länger, erkundet sie
genauer, spürt Reaktionen und reagiert seinerseits. Damit wird
man eine freundliche, ruhige oder erotische Stimmung
erreichen. Weiter sollte man bei dieser Begegnung nicht gehen.

14. Intimere Gespräche

Bei der nächsten Begegnung sollte man das Ziel haben, sich

näher kennen zu lernen. Bisher weiß man ja noch nicht so viel
voneinander. Man kann ein Gespräch anbahnen über Intimität
und Sexualität, kann über seine Erfahrungen sprechen, sollte
jedoch nicht gleich von anderen Frauen schwärmen. Man muss
auch nicht zu sehr ins Detail gehen oder sich exhibitionieren,

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aber es gibt da so eine Zwischenzone, in der sich das Gespräch
bewegen kann.

15. Der Kuss

Nach diesen etwas intimeren Gesprächen und zärtlichem

Streicheln kommt für mich der

KUSS

.

Ich halte wenig davon, den

anderen einfach heranzuziehen und zu küssen. Da hat natürlich
jeder seine eigenen Erfahrungen, aber ich würde vorher fragen:
»Ich habe jetzt ein so warmes Gefühl für dich. Darf ich dich
küssen?«

Ich bin dafür, den ersten

KUSS

nicht so wild zu gestalten:

Vielleicht sollten sich erst nur die Lippen berühren. Im Laufe
der Zeit spürt man, ob ein Zungenkuss angebracht ist, ob er als
wohlig empfunden wird oder ob er gar verweigert oder
zurückgewiesen wird.

Beim ersten Küssen sollte man ganz vorsichtig und im

Gespräch bleiben, sich immer vergewissern, wie alles erlebt
wird: »Findest du das jetzt schön?« - »Ist dir das angenehm?«
Das darf man durchaus fragen. Oder: »War das zu schnell?« -
»Bist du das nicht gewohnt?« Auc h sollte man immer spüren,
wie es einem selbst dabei geht, wie man die Berührungen des
Kopfes, des Rückens, das Streicheln erlebt. Man merkt zwar,
wie es vom anderen erlebt wird, ob es erwidert, ob es als
angenehm empfunden wird. Trotzdem empfehle ich die
Nachfrage, damit die Frau Gelegenheit hat, etwas zu sagen. Es
ist ungeheuer wichtig, zu erfahren, was in ihr vorgeht, dass sie
sagen kann, was sie sich wünscht und was sie nicht ertragen
kann. Bei Begrenzungen und Zurückschrecken sollte man
immer fragen: »Was ist los?« Manchmal kommen eben
Erlebnisse hoch, die die eine oder andere Berührung oder
Liebkosung als unangenehm erleben lassen. Das muss man
unbedingt respektieren. Es kann sich im Lauf der Beziehung
ändern.

An diesem Punkt und überhaupt immer ist es ungeheuer

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wichtig, miteinander im Gespräch zu bleiben und sich
wechselseitig zu vergewissern, welche Hemmungen und
Wünsche vorhanden sind. Die nächsten Schritte bewegen sich in
den intimen Bereich hinein, und hier werden die Unterschiede
im persönlichen Erleben immer größer.

16. Berührung der Brust

Beim Mann entsteht jetzt oft der Wunsch, die Brust zu

berühren. Dies kann sehr zart geschehen und wenn die Frau
bekleidet ist. Ich gehe auch davon aus, dass wahrscheinlich die
meisten Frauen darauf warten, dass der Mann die Initiative
ergreift und nicht der Mann darauf warten kann, dass die Frau
initiativ wird und etwa ihn an der Brust berührt. Die Brust des
Mannes ist, was das Lustempfinden betrifft, genauso
empfindlich wie die Brust der Frau. Manche Männer wissen das
nicht, Frauen vielleicht auch nicht. Das kann man im Liebesspiel
gegenseitig erkunden und ausprobieren.

Manche Männer haben ungeheure Hemmungen, die Brust

einer Frau zu berühren, dann sollten sie darüber reden. Wenn die
Frau das allerdings kategorisch ablehnt, muss man sich nach
einiger Zeit auch fragen, ob das die richtige Frau für eine
erotische Beziehung ist, sie direkt ansprechen: »Warum komme
ich bei dir nicht an? Was ist los mit dir?«

17. Umarmungen

Zur intimen Berührung gehört als Nächstes, die Frau in den

Arm zu nehmen - was ja auch häufig vom Mann ausgeht. Viele
Männer reagieren sogar empfindlich, wenn die Frau im
sexuellen Bereich zu forsch vorgeht. Meine langjährige Arbeit
mit Männern hat mir gezeigt, dass Männer oft viel zarter sind,
als sie sich nach außen geben. Davon sollten auch die Frauen
wissen.

In den Arm nehmen heißt, den Körper spüren, die Erregung

spüren. Für die Frau ist die Erektion meist einfacher zu spüren
als für den Mann die Erregung der Frau. Wenn er die

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Brustwarzen berührt, und diese sind hart, ist sie wahrscheinlich
erregter, als wenn sie nicht hart sind. Aber eine feuchte Vagina
zum Beispiel ist nicht so schnell zu erkunden, deshalb ist es
auch wichtig, dass er immer wieder fragt, wie sie sich fühlt.

Während der Umarmungen kann man, solange die Frau noch

bekleidet ist, ihren Po streicheln und sehen, wie sie darauf
reagiert. Der Po ist eine sehr erogene und lustvolle
Körpergegend, das kann man ruhig einmal ausprobieren, aber
immer mit der Bereitschaft, die Hände wieder zurückzunehmen,
wenn man Abwehr spürt. Abwehr und Widerstand können sich
manchmal darin zeigen, dass die Frau starr wird oder beinahe
nicht mehr weiteratmet. Das ist eine Art von Nein und zeigt,
dass sie sich darauf im Moment noch nicht einlassen kann. Man
ist in diesem Moment zu weit gegangen und sollte sich sofort
zurückziehen.

Dies beschreibe ich jetzt natürlich sehr stark aus der Sicht des

Mannes, und es kann sein, dass die Frau das ganz anders
empfindet. Aber darüber kann man dann ja ins Gespräch
kommen - und selbstverständlich muss auch nicht jeder Mann so
empfinden wie ich. Alle Schritte sollten wechselseitig gemacht
werden: Es ist nicht angebracht, dass eine Frau sich streicheln,
küssen und berühren lässt und dabei immer passiv bleibt.

18. Erste Erkundung der nackten Haut

Irgendwann kommt der Punkt, wo man die Erkundung der

nackten Haut wagen sollte. Das heißt zum Beispiel für den
Mann, der Frau unter die Bluse zu fassen, vielleicht zuerst den
Rücken und den Bauch zu streicheln und dann zu versuchen, die
Brust zu berühren. Grobes, drängelndes Vorgehen ist nicht
angebracht. Wenn die Bluse oder der BH zu eng sind, kann man
fragen, ob man sie öffnen darf oder ob die Frau sie auszieht.
Sehr erregend ist die Möglichkeit, in die Hose zu fassen, wenn
sie nicht zu eng ist, und zu versuchen, dort bestimmte Regionen
zu streicheln und zu erkunden - aber immer genau auf die
Reaktionen der Frau achten!

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19. Verhütung

Spätestens an diesem Punkt sollte man von der Erotik wieder

in die Realität zurückkehren und über Empfängnisverhütung
sprechen. Das kann man nicht aussparen.

Der Mann sollte sagen, wenn er vasektomiert ist, das heißt:

die männliche Sterilisation hat durchführen lassen, sodass er
unfruchtbar ist. Man sollte darüber sprechen, ob man
Aidsgefährdet ist, ob man einen Aids- Test hat machen lassen
und ob man seitdem ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte.
Die Frau sollte sagen, ob sie die Pille nimmt, ob sie eine Spirale
eingesetzt hat oder ob sie andere
Empfängnisverhütungsmethoden praktiziert.

Mann und Frau sind dafür verantwortlich, dieses Gespräch zu

suchen. Es erfordert eine gewisse Zeit, denn es sind
Hemmungen zu überwinden, man kann nicht jede Frage sofort
beantworten, man muss sich erst vertrauter werden. Verhütung
und Aids müssen besprochen werden, aber das hat keine Eile
wie Eile überhaupt tödlich für jede Erotik ist und die Beziehung
sprengt.

20. Orgasmusfähigkeit

Ein weiteres Gesprächsthema ist die Orgasmusfähigkeit: Es

gibt Menschen, die sind orgasmusfähig, und Menschen, die sind
es nicht. Die Orgasmusfähigkeit sagt nichts über die Erotik.
Natürlich wünscht sich jeder, orgasmusfähig zu sein, aber eine
Orgasmusunfähigkeit verhindert nicht die Erotik, ebenso wenig
wie die Erektionsschwäche des Mannes Erotik verhindert.
Meine erotischsten Erlebnisse hatte ich in Situationen ohne
Erektion - wesentlich erotischer als alles, was ich mit Erektion
erlebte.

Das Gespräch sollte nicht beim Orgasmus stehen bleiben,

sondern sich überhaupt darum drehen, was Lust macht. Für viele
Männer ist der Orgasmus das Ende der sexuellen Begegnung.
Meiner Interpretation nach sind Männer, die nach ihrem

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Orgasmus sofort schlafen müssen, recht verwöhnt, um nicht zu
sagen: verschlafen. Wenn man im Moment erschöpft ist, wartet
man ein wenig, und wenn man die Frau wirklich begehrt, dann
ist auch die Lust wieder da - wenn auch vielleicht nicht die
Erektion. Viele Männer sind nur auf den Koitus fixiert, und
viele Frauen machen das auch mit. Diese Frauen sind enttäuscht,
wenn der Mann keine Erektion hat, weil sie nicht viel über
andere Lustmöglichkeiten wissen.

Im Gespräch über Lust sollte man auch nach der Angst

fragen: »Hast du Angst vor dem, was wir jetzt wagen wollen?« -
»Ja, ich habe Angst.« - »Und wovor?« - »Vor den Schmerzen,
weil ich es schon erlebt habe, dass es wehtut, wenn der Penis in
die Vagina eindringt.« Darüber muss man reden, denn wenn
zum Beispiel eine Frau keine Vaginal-Flüssigkeit hat, hat das
nicht unbedingt mit ihrer Lustfähigkeit zu tun. Mangelnde
Feuchtigkeit bei der Frau ist übrigens viel leichter zu
kompensieren als das Ausbleiben der Erektion beim Mann, etwa
mit Öl oder Gleitmitteln.

21. Nackt sein

Ich meine, diese Dinge sollte man besprochen haben, bevor

man sich entkleidet. Es ist nicht wichtig, ob man sich selbst
auszieht oder ob man es gegenseitig macht, aber man sollte sich
dabei anschauen. Dabei sollte sich doch ein gewisses Begehren
entwickeln, und es ist schön, wenn man sich attraktiv findet.

Häufig legen Männer überhaupt keinen Wert auf ihre

Körperformen oder ihre Körperfülle. Ich finde das nicht gut.
Eine gewisse Ästhetik ist im sexuellen Bereich durchaus
wünschenswert. Frauen achten meist sehr auf ihren Körper. Das
soll natürlich nicht heißen, dass jeder Dicke unerotisch ist.
Körperfülle ist etwas, was man von Anfang an sieht, und wenn
zwei Menschen sich einander annähern, haben sie auch
Gelegenheit, die Körperformen des anderen zu akzeptieren.
Ganz wichtig ist, ob der Dicke sich wohl fühlt. Wer mit seinem
Körper zufrieden ist, dürfte hier auch kein Problem in der

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sexuellen Begegnung haben.

Wenn man sich dann anschaut, sich in den Arm nimmt, sich

ins Bett legt, oder vielleicht nackt miteinander tanzt, sollte man
sein Entzücken über den Körper des anderen auch ausdrücken.
Nicht nur das Betrachten ist wichtig, sondern man sollte sich
auch bewusst machen, was für ein ungeheures Geschenk das ist,
sich nackt zu zeigen. Es ist ein Beweis von Vertrauen und
Offenheit - und diese Wertschätzung vermisse ich bei Männern
manchmal. Sie gehen damit um, als ob es selbstverständlich
wäre, dass die Frau sich nackt zeigt.

22. Der Weg zum Orgasmus

Die nächste Frage, die sich auftut, wenn zwei Menschen

miteinander ins Bett gehen, ist: Wie kommen beide zum
Orgasmus? Es gibt Menschen, die gar nicht zum Orgasmus
kommen wollen, die brauchen das nicht. Wenn eine Frau das
zum Ausdruck bringt, muss man als Mann nicht erschrecken
oder das gar als Niederlage verbuchen. Doch sehr häufig erleben
Männer das als gegen sie selbst gerichtet und halten sich dann
für einen Versager. Hier möchte ich ganz klar sagen: Wenn eine
Frau keinen Orgasmus hat, ist der Mann noch lange kein
Versager.

Es kann natürlich sein, dass die Frau eine bestimmte

Berührung braucht oder bevorzugt, um zum Orgasmus zu
kommen. Darüber sollten die beiden reden und es auch im Bett
berücksichtigen.

Ob man nun mit dem Penis in die Vagina eindringen darf oder

kann, wie das die Frau empfindet, wie man es selbst empfindet -
das ist einfach bei allen Menschen unterschiedlich. Es gibt
Männer, die können ihren Penis noch so viel hin und her
bewegen, sie bekommen keinen Orgasmus dabei, und ebenso
ergeht es manchen Frauen. Da gibt es dann wohlmeinende
Bücher, in denen der Mann als »impotent« und die Frau als
»frigide« abgestempelt wird. Ich halte das nicht nur für dumm

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und völlig unsachlich, sondern es ist einfach brutal, wie diese
Ausdrücke verwendet werden.

Interessant, wichtig, human und vor allem erotisch ist es,

andere Wege zu erkunden, die einen Orgasmus ermöglichen.
Das können die beiden auch miteinander schaffen, wenn sie sich
ruhig und geduldig darüber unterhalten und vieles ausprobieren.

23. Selbstbefriedigung

Ein weiterer Schritt in der Beziehung kann sein, über

Selbstbefriedigung zu sprechen, sich darüber auszutauschen,
welche Art von Selbstbefriedigung man bevorzugt und ausübt.

Beinahe jeder Mensch befriedigt sich selbst.

Selbstbefriedigung ist der normalste und früheste sexuelle
Ausdruck im Leben. Manche sind da gehemmt, andere nicht,
aber man darf danach fragen, wie Selbstbefriedigung praktiziert
wird: »Streichelst du dich auch selbst?« - »Kommst du dabei
zum Höhepunkt?« - »Wie machst du das? Was macht dir
besonders Spaß?«

24. Oralgenitale Kontakte

Wichtig ist auch das Gespräch über oralgenitale Kontakte,

also das Berühren der Genitalien mit dem Mund. Es gibt zwei
bekannte Möglichkeiten: Cunnilingus, der Mann leckt oder
lutscht dabei an der Vagina oder Klitoris, und Fellatio, die Frau
leckt dabei den Penis.

Ich empfinde das als völlig normales Bedürfnis, das man

äußern darf. Aber man muss als Mann damit rechnen, dass
Frauen eine ungeheure Angst davor haben, den Penis in den
Mund zu nehmen, etwa weil sie abschreckende Erlebnisse in der
Kindheit damit hatten oder weil sie sich einfach ekeln.

Umgekehrt können auch Männer Angst vor der Vagina haben.

Auch Frauen haben bisweilen Angst vor dem Geleckt-Werden,
weil sie sich für unrein halten. Vie lleicht hilft es ihnen schon,
wenn sie sich vor der intimen Begegnung waschen. Auch die
Männer sollten darauf achten, dass sie sich vorher waschen.

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Manchmal wird es vergessen, und im Lusterleben denkt man
dann: »Ach, das ist jetzt nicht mehr so wichtig.« Doch es ist
immer wichtig, sich vor intimen Begegnungen und Berührungen
sauber zu machen. Das wird von der Frau gewiss nicht als
störend empfunden, wenn man ins Badezimmer geht und sich
wäscht, eher im Gegenteil.

Manchmal wird von oralgenitalen Kontakten abgeraten mit

der Begründung, es könne auch ein wenig Urin in den Mund
gelangen. Ich halte diese Begründung schlicht für eine geschickt
getarnte Prüderie.

Wenn Mann oder Frau Hemmungen vor der Berührung der

Genitalien mit dem Mund haben, sollten sie darüber sprechen.
Vielleicht lösen sich die Vorbehalte mit zunehmender
Vertrautheit und beim rücksichtsvollen Umgang miteinander
auf. Oralgenitale Sexualpraktiken werden von vielen Menschen
als äußerst genussvoll erlebt, manche brauchen sie geradezu
(bisweilen auc h aus physiologischen Gründen). Solche Intimität
zu wagen, ist auch ein sehr intimer seelischer Vorgang.
Cunnilingus und Fellatio können gar als Vorgang der
Verehrung, der Bewunderung, der gegenseitigen Anerkennung
empfunden werden. Ich halte es für sehr wichtig, sich darüber
Gedanken zu machen und darüber zu sprechen.

25. Gespräch über Intimitäten

Über alles, was man miteinander ausprobiert und gewagt hat,

sollte man sprechen: »Wie hast du das empfunden?« Diese
wechselseitige Information ist wichtig, denn was den einen im
siebten Himmel schweben lässt, ist für den anderen vielleicht
nur wenig erregend. Manchmal merkt man auch ohne Worte,
was die Partnerin empfindet: an Körperbewegungen, am
Stöhnen - wie man überhaupt sich und der Partnerin das Stöhnen
erlauben sollte. Wenn Menschen im intimen Kontakt verhalten
sind, schmälert das die Lust. Wenn eine Frau laut stöhnt und
man in ihrem Körper den Orgasmus spürt, dann braucht man
natürlich nicht mehr zu fragen, ob sie den Koitus als lustvoll

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erlebt hat.

Trotzdem ist das Gespräch danach gut. Es ist auch ein

Zeichen dafür, wie viel Zeit man sich gibt, sich und der Frau
und der Beziehung. Wenn für den Liebesakt immer nur wenige
Minuten bleiben, ist das auf Dauer nicht befriedigend.
Liebesnächte können sich manchmal ziemlich lange hinziehen
und sind ein Beweis dafür, dass Liebe und Erotik da sind.

26. Körpererkundung

Ein Liebespaar hat oft ein sehr starkes Interesse, den Körper

des anderen zu erkunden und dies auch am eigenen Körper zu
erfahren. Hier gibt es viele Möglichkeiten: Beim Koitus ist das
relativ einfach, aber man kann ja auch andere Körperöffnungen,
zum Beispiel den Anus, und andere Körperregionen mit
einbeziehen. Die Brust, der Bauchnabel, die Achselhöhlen
prinzipiell kann jede Körperregion durch Berührunge n erotisiert
werden, doch hier gibt es sehr viele Vorurteile. Alle möglichen
intimen Erkundungen werden als »Perversion« gebrandmarkt,
das ist unanständig, verboten, oder gar krank.

Ich ermuntere an diesem Punkt zu mehr Abenteuer- und

Erkundungslust. Man darf da ruhig etwas riskieren: Auch
Beißen und Kratzen sind erlaubt - in einer sanften Art kann das
Spaß machen, selbstverständlich immer nur, wenn sich beide
dabei wohl fühlen und nicht so, dass man sich verletzt. Auch ein
wenig stärker auf den Po zu klatschen, kann man in
gegenseitiger Übereinstimmung, und wenn man danach im
Gespräch bleibt, wagen.

27. Der gemeinsame Orgasmus

Ein weit verbreitetes Vorurteil ist, dass der gemeinsame

Orgasmus das Tollste ist. Das ist absoluter Nonsens. Ich habe es
nie als besonders toll empfunden, weil ich sowohl meinen
Orgasmus genießen will als auch den Orgasmus der Frau ganz
unabhängig davon. Es kann ein ungeheurer Genuss sein, sich
gegenseitig zu stimulieren und dann zu erleben, wie die Frau

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-326-

ihren Orgasmus hat, wie sie sich dabei wohl fühlt, dabei wohlig
stöhnt. Es sind Glückserlebnisse, die unbewussten Signale ihres
Körpers kennen zu lernen, und die reduziert man meiner
Meinung nach, wenn man gleichzeitig den eigenen Orgasmus
erlebt. Gerade im gegenseitigen Genießen wird die Begierde viel
größer, das Begehren viel stärker.

28. Ganz nackt

Dazu kann auch gehören, einander überall und genau zu

betrachten, man kann sich mit großer Lust am Körper des
anderen erfreuen. Man sollte wagen, seine Wünsche zu äußern:
»Ich würde dich gern im Bett sehen, wenn du auf dem Bauch
liegst.« - »Mach doch mal die Beine breit, ich möchte dich gern
anschauen, nur anschauen.« Das ist erlaubt und fördert die
Erotik.

Es kann sein, dass die Partnerin Hemmungen äußert, sich

ganz offen zu zeigen. Das muss man respektieren, aber es ist
gut, wenn man darüber spricht. Nach dem Gespräch, nach ein
paar Tagen, vielleicht erst nach ein paar Wochen kann man den
Wunsch wieder vorbringen, und dann hat sich vielleicht etwas
verändert. Normalerweise nimmt in einer Beziehung die
Vertrautheit zu, und die Hemmungen verflüchtigen sich.

29. Austausch von sexuellen Fantasien

In einem sehr vertrauten, fortgeschrittenen Stadium der

Beziehung kann man auch wagen, einander seine sexuellen
Phantasien zu erzählen. Das ist sicher nur allmählich möglich.
Manche Menschen denken, dass ihre sexuellen Phantasien
unzumutbar seien oder zu unanständig. Hier empfehle ich die
Lektüre der Bücher von Nancy Friday: »Sexuelle Phantasien der
Frauen« und »Sexuelle Phantasien der Männer«.

Es kostet Überwindung, von seinen sexuellen Phantasien zu

erzählen, aber es ist aus der Psychoanalyse bekannt, dass die
Dinge am reizvollsten sind, bei denen Tabugrenzen
überschritten werden. Jeder Mensch hat andere Tabus. Diese

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-327-

Grenzen zu überschreiten, vorausgesetzt man macht es
allmählich und vorsichtig, kann ungeheuer lustfördernd sein. Bei
aller Rücksicht ist durchaus eine gewisse Hartnäckigkeit erlaubt,
wenn man das Zögern der Partnerin spürt. Erzählen heißt ja
nicht, dass man gleich alles in die Tat umsetzen muss. Es kann
allein schon stimulierend und erotisierend sein, sich das
mitzuteilen. Manches kann man auch probieren - aber
selbstverständlich immer nur bei gegenseitigem Einverständnis.

30. Benutzung unanständiger Wörter

Es kann im Sexualkontakt enorm erotisierend sein, so

genannte unanständige Wörter zu benutzen. Erotisierend kann
schon allein das Gespräch, der Austausch darüber sein, welche
Wörter man als erotisierend empfindet und welche die Erotik
töten.

Viele Frauen können bestimmte Wörter überhaupt nicht

ertragen - die sollte man auch nicht benutzen. Aber es gibt auch
Worte, die sind im normalen Alltag tabu, doch wenn im Bett das
gegenseitige Begehren ansteigt, können diese Tabus
überschritten werden. Auch diese Grenzen verändern sich im
Lauf der Beziehung: An unanständige Wörter kann man sich
allmählich gewöhnen, und sie entfalten ihre lustfördernde
Wirkung im Lauf der Zeit. Manche Menschen sind zum Beispiel
allergisch gegen das Wort »ficken« - andere wiederum »geilt es
auf«, zu sagen: »Fick mich«, oder: »Mach mich geil.«

Es ist eine Sache der Übereinkunft, welche Worte verwendet

werden können. Um solche Übereinkünfte zu treffen, braucht
man Zeit, Geduld und gegenseitigen Respekt. Partner haben
nichts davon, wenn einer Wörter verwendet, die für den anderen
lusttötend sind, aber auch hier kann sich im Lauf der Beziehung
viel verändern, und die erotischen Möglichkeiten dehnen sich
immer weiter aus.

Die Reihenfolge dieser 30 Punkte ist subjektiv, aber alle diese

Elemente spielen auf dem Weg zum erotischen Mann eine

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-328-

Rolle. Ein weiterer Punkt, der zu jeder Zeit möglich ist und eine
Partnerschaft bereichert, ist der Liebesbrief.

Manche Liebesbriefe beschränken sich darauf, Liebe zu

bekennen und Sehnsucht auszudrücken. Liebesbriefe im
eigentlichen Sinn aber beschreiben Wünsche, Phantasien,
gemeinsame sexuelle Erlebnisse - liebevoll, sehnsuchtsvoll,
entzückt. Solche Briefe sind erotisierend und sprengen Grenzen,
erweitern und schaffen Freiheitsräume. Ich empfehle jedem,
nicht nur über Liebe und Sexualität zu sprechen, sondern auch
Liebesbriefe dieser Art zu schreiben. Sie sind von Dauer und
auch zur Hand, wenn der Partner einmal weg ist, wenn man
traurig ist oder sich nach ihm sehnt. Im Geschriebenen kann
man sich der Gefühle des anderen vergewissern, kann sich den
Inhalt der Worte vergegenwärtigen, kann hoffen und spüren,
dass das, was da steht, noch immer gilt.

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Statt eines Schlusswortes:

Ein Gedicht von Wilfried Wieck

Zwei Tage nach Wilfrieds Tod fand ich Gedichte, die er im

Mai 2000 für mich geschrieben hat. Eines davon schenke ich
diesem Buch.

I.H.

Erfrischung

Das kurze Treffen beim Essen im Restaurant mit Dir hat
mich erfrischt.

Ich freue mich

über Dich bei diesem Treffen.

Du schautest wach und voller Neugier auf mich.

Du küsstest warm zum Abschied mich und zugewandt.

Beschwingt ging ich gestärkt und froh und schrieb bald
auf was mich bereicherte bei diesem lieben kurzen
Treffen.


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